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EIN LEBEN, KLAR WIE DIE STREICHER




I. DAS WEIßE RAUSCHEN


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Teil a. Der galvanisierte Himmel
Teil b. Hinter dem weißen Horizont
Teil c. Gorecki
Teil d. Bionik


a. Der galvanisierte Himmel




Seit drei Tagen hatte Mjú keinen Himmel mehr gesehen. Nur Baumstämme, Baumkronen, Farn, Moos... Und ständig das Rauschen des Meeres in der Ferne. Mjú war das nicht gewohnt.
"Antennen!" sagte er laut zu sich selbst, "wie kann der Mensch jemals ohne Antennen leben?"
Und Satelliten natürlich. Der ständige ätherische Austausch mit der Gottmaschine weit draußen im All.
"Kewl!" murmelte Mjú und blickte verträumt zu den Baumwipfeln, die vor seinen Augen ihre Antennenfinger in den galvanisierten Himmel streckten.

~



Miss Spyke kaute auf ihrer Unterlippe, während sie der Milch beim langsamen Überkochen zusah. Die kleine, hölzerne Küche hielt sie gefangen. Miss Spyke hasste Gefangenschaft, lieber wäre sie tot gewesen, doch zum Sterben war es noch zu früh, und so blieb sie hier auf der hölzernen Eckbank und sah über den Milchschaum aus dem kleinen Sprossenfenster hinaus auf den Fjord.
Die Milch kochte über. Und sie tat es in Zeitlupe. Slavey, ihr höriger Kater, taperte über die Arbeitsplatte und schielte begierig zur brodelnden Milch. Slavey war verwirrt. Nie in seinem Leben hatte er einen Schritt machen können, ohne den Blick seiner Miss zu spüren. Einmal hatte sie ihn zur Strafe sogar rasiert.
Und nun lebte Miss Spyke in Slow Motion. Und Slavey wusste, er war frei. Und dennoch mied er ihr Blickfeld, so verlockend die Milch auch über den Topfrand sprudelte. Er sprang behende auf den Boden und wartete darauf, dass es über den Rand des Herds tropfte. Heiße Milch auf seiner stechenden Zunge. Slavey sehnte sich nach...

~



Malín schreckte hoch. Ihr Herz pochte und sie schüttelte sich. Sie sah zum Fenster. Der Innenhof des Häuserblocks war bereits in nächtliches Dunkel getaucht. Sie sah zum Spiegel neben ihrem Laptop. Das flimmernde Licht des stockenden Bildschirmschoners färbte ihr Gesicht gespenstisch grün. Doch Malín wusste, dass ihr Anblick auch im Tageslicht nicht viel besser gewesen wäre.
Sie wischte mit den Fingerknöcheln über das Touchpad und blinzelte auf das Fenster der Webcam. Es war leer. Erwartungsgemäß. Das war nun schon der dritte Job, den sie wegen dieser Träumereien versaut hatte. Und immer war es das selbe. Sie sah irgendeinen Typen, der am anderen Ende der Webcamleitung tat, was sie sagte, und noch während sie die nächsten bezahlten Befehle eintippte, sah sie diesen dummen Kater, der nichts anderes wollte, als sich herumkommandieren zu lassen. Beim ersten Mal hatte es noch etwas gedauert, bis sie merkte, dass sie sich in einem Traum befand, doch Malín lernte schnell, neue Situationen zu akzeptieren.
Jedesmal lehnte sie sich zurück. Sie sah an sich hinab und stellte fest, das sie ganz normale Kleidung trug. Der Kater war irgendwo in ihrer Nähe. Sie wusste, sie sollte sich aufraffen, ihr albernes Kostüm anlegen und ihm die Leviten lesen, doch stattdessen starrte sie aus dem Fenster, der Blick durch den Milchschaum verklärt. Und alles bewegte sich in Zeitlupe.
Malín schloss das Webcamfenster und verwischte sich mit dem Handrücken die verlaufene Wimperntusche. Und immer musste sie heulen am Ende des Traums. Warum? Sie fühlte sich nicht niedergeschlagen, nur leer und kalt. Sie fragte sich, ob einer ihrer Kunden lange genug im Camchat geblieben war um mitanzusehen, wie sie langsam vornüber auf die Tischplatte sank. Sie schüttelte den Kopf. Vermutlich nicht. Diese Männer zahlten um sich herumkommandieren zu lassen, und sie zahlten viel Geld für wenig Zeit.
Das Licht im Badezimmer war flackernd weiß. Sie sah auf ihre blassen Finger, die zitternd das Wasser aufdrehten. Die engen Ärmel ihres Lederkostüms zeichneten sich schwarz ab. Die Ränder waren bereits verschlissen gewesen, als sie das Kostüm aus zweiter oder dritter Hand gekauft hatte. Sie brauchte Geld damals, und bevor sie sich endgültig dem Straßenstrich zuwandte, zog sie lieber die Webcam-Nummer durch.

~



Mjú ließ die leere Flasche Bier vom Dach rollen. Er sah ihr nach und wartete auf das Klirren weit unten. Es war dunkel geworden, während er auf den metallenen Stufen neben dem Schornstein gesessen hatte und auf Ideen wartete. Er hatte seinen Protagonisten in den Wald geschickt, hatte ihn die Gottmaschine sehen lassen. Und nun? Mjú war sich nicht sicher. In den Geschichten seiner Jugend war dies der Punkt, an dem ein mit Plasmaguns bewaffneter Engel mit mädchenhaften Brüsten und weißen wehenden Seidentüchern vom Himmel stieg und ihm seine wahre Bestimmung offenbarte.
Doch Mjú kam das nicht richtig vor. Es war billig. Wie ein erotischer Gabriel, der bewaffnet bis an die Zähne mit einem Strauß Lilien zu Maria hinabstieg und ihr die Geburt ihres noch nicht gezeugten Sohnes verkündete. Mjú dachte darüber nach, was passiert wäre, hätte man die Bibel in Japan geschrieben. Er beließ es bei der Feststellung, dass diese dann wohl von hinten nach vorne geblättert werden würde.
Unten in der kleinen Dachwohnung warf Mjú einen Blick in den Kühlschrank. Zwei kümmerliche Flaschen Bier und eine Schachtel Zigaretten lagen dort vereinsamt, wie auch immer letztere dorthin gekommen war. Seufzend zog sich Mjú eine Strickjacke über und ging hinunter auf die Straße. Der Imbiss an der Straßenecke war geschlossen. Mjú vermutete, dass wieder einmal das Gesundheitsamt vorbei gekommen war. Oder den alten Pelle hatte schließlich doch noch eine der unzähligen Straßengangs erwischt, mit denen er sich im Laufe seines langen Lebens angelegt hatte.
Mjú zog weiter, seinen letzten Geldschein für diesen Monat zwischen den Fingern drehend. Er sah die Straße hinunter zum Fjord und den noblen Bars am Rande des Kreivinsbjerg. Irgendwo zwischen hier und dort musste es noch eine kleine Pizzeria geben, die Mjú sich leisten konnte. Er war lange nicht mehr dort, aber schließlich musste er mit der Suche nach Essen beginnen. Die Supermärkte hatten bereits geschlossen, zudem war Mjús Küche längst nicht mehr in der Lage, verträgliches Essen zuzubereiten.

~



R°odâ schloss die Tür auf und warf ihren Rucksack auf den Sessel neben dem Aquarium. Die Wohnung war dämmrig, trotz der noch dicht über dem gläsernen Horizont hängenden Sonne. Hier unten in den engen Straßenschluchten war selten genug Licht, um in die Winkel der Wohnungen zu dringen, und auch die Spiegelinstallationen der Stadtverwaltung, die das Sonnenlicht weiter hinab leiten sollten, stellten sich als wenig hilfreich heraus.
"Ja, bin eben erst angekommen", R°odâ klemmte sich das Handy an den Hosenbund und das Headset-Mikro an den Kragen. Es war typisch für ihren Vater immer dann anzurufen, wenn sie sich anschickte, ihren wohlverdienten Feierabend zu nutzen.
"Nein Papa, ich werde... ja, ich..." sie rollte mit den Augen und wartete geduldig, bis er sie zu Wort kommen ließ.
"Versprochen, Papa, ich werde dieses Wochenende nicht wieder durcharbeiten."

Ihr Vater machte sich immer Sorgen um sie, dass sie zu viel arbeite, dass sie...
Naja,

dachte R°odâ, was rege ich mich auf? Er hat schließlich Recht.


Sie verabschiedete sich und rupfte das Headset vom Kopf. Ihr Blick wandte sich der Küche zu. Sie hatte Hunger, doch zum Kochen hatte sie keine Lust. Zudem bezweifelte sie ernsthaft, dass sich noch etwas essbares in ihrem Kühlschrank befand. Mit einem Seufzen knipste sie ihr Hausterminal an und warf einen Blick auf ihren Kontostand. Ein ausschweifendes Menü vom Franzosen war nicht mehr drin, doch für eine Pizza reichte es allemal. Schnell huschte ihre Hand über den Touchscreen und wählte eine Pizza Pepperoni an, dann wechselte sie ins hausinterne Menü und ließ sich Badewasser ein.

Sie hatte gerade im Bademantel die Pizza entgegen genommen und tauchte ihren linken Fuß prüfend ins Badewasser, als das Handy wieder klingelte. R°odâ fluchte leise, stellte die Pizza auf dem Wannenrand ab und holte das Handy, dass noch am Hosenbund steckte.
"Ja?" fragte sie unwirsch, ohne vorher auf die Nummer zu achten.

Es war ihr Chef, der ihr freundlicherweise mitteilte, dass er sie nachts um zwei noch in der Pathologie erwartete. R°odâ sagte widerwillig zu und stieg währenddessen in die Wanne. Sigurd - ihr Chef - war kurz angebunden, was R°odâ nicht störte. Dennoch beunruhigte es sie. Es war untypisch für ihn. Normalerweise teilte er ihr Überstunden mit einer geradezu widerlichen Heiterkeit mit. Dass er reserviert wirkte, konnte nur bedeuten, dass es ernsthafte Probleme gab.

~



Malín zitterte immer noch, als sie ihre Wohnung verließ. Sie brauchte Bewegung und frische Luft. Zischend öffnete sie eine Dose Energydrink, schlüpfte in die etwas zu großen Sneakers, dann machte sie sich auf den Weg in den Gamla-Park. Malín ließ sich viel Zeit für den Weg. Sie musste sich irgendwie gedanklich ablenken, doch ihr Leben war so leer, dass sie kaum an etwas anderes denken konnte als die seltsamen Träume und ihren Webcam-Job.
Wie lange war es eigentlich her, seitdem sie zum letzten mal einen echten Mann hatte? Oder eine echte Frau?

ergänzte sie stumm. Es mussten Jahre vergangen sein.
So ein Quatsch, Mädchen! So alt bist du doch noch gar nicht! ... Aber leider schon verbittert genug um Jahrzehnte hinter mir zu haben. Wenn ich nicht bald einen lebendigen Menschen treffe, dann...


Sie sah sich um und betrachtete die Menschen, die an ihr vorbeigingen, gehüllt in dunkle Mäntel, Anzüge und Abendkleider.
Malín beschleunigte ihren Schritt. Hier war niemand mehr lebendig. Nicht am Kreivinsbjerg. Sie hoffte, dass sie auf irgendeinen der letzten verbliebenen Obdachlosen traf, die sich in den Schlupfwinkeln des Parks herumtrieben. Abendfüllende Gespräche konnte man zwar auch mit diesen nicht führen, aber zumindest hatte Malín das Gefühl nicht ganz so einsam zu sein, wenn sie ihre Zigarette nicht alleine rauchen musste.

Der Park war aber auffallend verwaist, als Malín ankam. Die Sonne war bereits hinter den schroffen Klippen auf der anderen Seite des Fjords verschwunden, und Dämmerung ließ die Schatten verschwimmen. Malín seufzte und steckte sich eine Zigarette an, bevor sie weiterging. Dass sie sich alleine auf ihrem Weg in den großen, leeren Park nicht einsamer fühlte als sonst, machte ihr Sorgen.
Sie war Gesellschaft nicht mehr gewohnt, und das war auch der Grund, weshalb sie panisch zusammenzuckte, als eine Katze vor ihr über den Weg huschte und im Gebüsch verschwand.
Ich sag es dir, Mädel, du wirst noch total weich in der Birne...


Aber noch etwas bewegte sich im Gebüsch hinter den einst ziervollen Stauden; etwas, das kaum eine Katze sein konnte. Malín zögerte und schnippte ihre Zigarette weg. Dann näherte sie sich dem Gebüsch und drückte die Zweige zur Seite.
Diesmal erschrak sie nicht, obwohl sie dort einen Mann am Boden liegen sah. Sie wusste sofort, dass dieser tot war. Nachdenklich betrachtete sie die zusammengekrümmte Gestalt, die fahle Haut, die durchscheinende weiße Kleidung.
Ein schönes Gesicht,

stellte sie fest und sah sich unschlüssig um. Tote waren keine Seltenheit im Gamla-Park, doch normalerweise waren es alte Obdachlose. Dieser Mann sah edel gekleidet aus, zudem in guter physischer Verfassung.
Gut, mit Ausnahme dem Umstand, dass er tot ist...


Malín griff die erschreckend kalte Schulter und drehte den Toten vorsichtig um. Diesmal erschrak sie wirklich. Auf dem Rücken des Toten war die Kleidung an den Schulterblättern aufgerissen und zwei tiefe, blutige Löcher klafften im Fleisch.
Erneut sah sich Malín um, dann klopfte sie die Taschen des Toten ab und zog schließlich eine kleine, silberne Tabakdose hervor. Der galvanisierte Himmel

war auf dem schlichten Deckel eingraviert. Malín öffnete die Dose. Darin war eine abgerissene Ecke einer Comicseite.
Das weiße Rauschen. Seite 26.

las sie langsam. Sie steckte die Dose ein, als sich Polizeisirenen näherten. Malín ging den Weg weiter zum anderen Ende des Parks, von wo sie die öffentliche Gondel hinunter zum Hafen nehmen wollte. Der Fund eines Toten im Park hatte sie zwar nicht weiter beunruhigt, doch die Umstände gaben ihr zu denken. Und das letzte was sie wollte war, alleine mit einer gut gekleideten Leiche von der Polizei erwischt werden...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.07.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
- Fortsetzungsroman -

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