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Todmüde schlug sie ihre grossen Augen auf und das Grün darin sandte einen blitzschnellen Funken aus ihnen hinaus, als die gleissend helle Sonne schonungslos ihren Strahl geradewegs in diese Augen hinein stak. „Ah!“, schrie sie sofort dumpf auf und schlug sich schützend die linke Hand vors Gesicht. „Warum hat denn keiner die Vorhänge ge-zogen? Ist ja ätzend!“, reklamierte sie nuschelnd. Wut, Überraschung und Verwirrung kletterte ihre Kehle hoch, liess ihr Herz schneller schlagen und machte es ihr unmöglich, einfach weiter zu schlafen, da-bei war sie noch durch und durch müde, um nicht zu sagen erschlagen. „Mist! Wieder vergessen, die Vorhänge zu zuziehen!“ Hättest dran denken sollen, dumme Kuh! Aber wo war Pierre? Er dachte sonst immer daran, die Vorhänge zu ziehen, bevor sie frühmorgens nach-hause kam.
Ja, wo war der überhaupt? Sie konnte ihn nicht hören. Sonst hörte man ihn immer morgens.
„Pierre? Pierre!
Von Pierre war keine Antwort zu hören.
„Pierre!“, rief sie wiederholt, jetzt klang es beleidigt. Sie hatte eine für Pierre typisch schnoddrige Antwort erwartet. Doch da war nichts - weder schnoddrig, noch sonst wie. Morgens ohne seine Geräuschku-lisse zu erwachen war ungewöhnlich. Er hatte doch immer was zu re-ferieren, oder sonst wie rumzulärmen.
Pierre lebte mit ihr in dieser Wohnung. Er und Marga. Sie waren seit zehn Jahren befreundet und teilten sich Miete, Wohnung und auch sonst so einiges. Sie verstanden sich bestens. Pierre studierte Ge-schichte an der hiesigen Uni. Er war ein typischer Chaot, sonst aber ganz liebenswert, vierundzwanzig Jahre alt, absolut zuverlässig und stets dazu bereit, allen seinen Freunden hilfreich zur Seite zu eilen.
Marga, seine Freundin, war ein wahrer Schatz. Ohne Marga hätte sie längst das Handtuch geworfen. Marga war immer für sie da, an guten und schlechten Tagen. So oft hatten die beiden schon ganze Nächte lang geredet und unendliche Tage lang konstruktive Gespräche über das leben und die Liebe, Pierre… und alle anderen bewegten Themen dieser Welt geführt. Sie und Marga waren praktisch unzertrennlich. Pi-erre war der wichtige Faktor, der die beiden Frauen immer wieder auf den Boden des Alltags zurückholte, wenn ihnen alles wieder einmal viel zuviel wurde.
„Pierre, Marga? Hey!“ Missmutig schob sie die Decke von sich und erhob sich aus dem warmen, angenehmweichen Französischen Bett, das sie sich selber gekauft hatte. Ihre nackten Füsse berührten den verhältnismässig kalten Plattenboden und sie zuckte deswegen leicht zusammen. Der kleine Teppich vor dem Bett war wieder einmal ver-rutscht und befand sich momentan vermutlich irgendwo unter dem Bett. Oder wo auch immer. Warum ist der Teppich eigentlich nie da, wo er hingehört? Das fragte sie sich immer wieder, ohne je eine Ant-wort darauf zu bekommen.
Das war kein Start in den Morgen, wie sie sich ihn wünschte. Leichte Kopfschmerzen wollten sich einstellen und sie konnte kaum einen Meter weit sehen durch die entzündeten Augen.
Letzte Nacht war mörderisch gewesen. Vier Freier hatte sie gehabt und einer von ihnen, ausgerechnet der letzte in der Reihe, hatte eine Spezialeinlage gewünscht. Natürlich hatte er dafür ordentlich gezahlt, aber trotzdem, Sonderwünsche waren in ihrem Job immer anstrengend.
Mit bleichem Gesicht und wild zerzaustem Haar stand sie einige Au-genblicke still vor dem Bett, schlang sich fröstelnd die Arme um den Leib und horchte. Weder aus der Küche, noch aus dem Wohnzimmer war irgendetwas zu hören. Ohne sich danach umzudrehen tastete sie nach dem dünnen Morgenmantel aus Seide und fand ihn. Schnell schlang sie sich das knappe Teil um den nun rasch abkühlenden Leib.
Wo sind die? Es ist Samstag, überlegte sie sich stirnrunzelnd und warf einen schielen Blick auf den Wecker. Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht – es war bereits nach zehn Uhr. Pierre und Marga schliefen selten länger als bis Acht. Auch an den Wochenenden nicht. Beide waren freischaffend und konnten sich ihre Zeit nach Belieben einteilen – ausserdem waren beide sehr sportlich. Und keiner der beiden würde die Wohnung verlassen, ohne ihr bescheid zu sagen. Meistens lag ein Zettel auf dem Nachttisch neben dem Bett, wenn sie ausgingen, bevor sie aufwachte. Aber da lag kein Zettel.
Ausserdem haben wir heute gemeinsam was machen wollen, dachte sie irgendwie beleidigt und immer schlechter gelaunt.
„Marga! Pierre!“, rief sie nochmals sehr laut und setzte sich und ihre steifen Glieder leise stöhnend in Bewegung. Und warum riech ich keinen Kaffee? Was geht hier eigentlich ab? Hat Pierre morgens je-mals keinen Kaffee getrunken, überlegte sie kopfschüttelnd. Darauf gab es jedoch nur eine Antwort, ohne dass man lange überlegen musste: Nein! Also, wo blieb der Duft danach? Und Marga sang morgens immer ihr Lied, manchmal gut- und manchmal missgelaunt, aber sie sang, oder summte es immer. Manchmal konnte das schon nerven, auch wenn sie es meistens schon gar nicht mehr bewusst wahrnahm nach all den Jahren.
Während sie missmutig den Weg in die Küche einschlug, warf sie überall hin prüfende Blicke. Komisch, alle Türen stehen offen. Was? Eine berechtigte Frage, Marga schloss immer die Türen, sie war in solchen Dingen regelrecht pingelig.
So langsam wurde es unheimlich. Nichts deutete darauf hin, dass die beiden ihren üblichen morgendlichen Aktivitäten nachgegangen waren.
Sich mit einer fahrigen Geste das hellblonde, sehr lange Haar aus dem Gesicht wischend und sich dabei fast selber einen Nasenstüber verpassend, eilte sie nun in die Küche.
Alles stand noch genauso da, wie gestern morgen, nachdem sie ge-meinsam den Abwasch gemacht hatten.
„Die verarschen mich bestimmt“, sagte sie mit einer wegwerfenden Geste leise zu sich selbst. Dabei überlegte sie sich angestrengt, wes-wegen Marga und Pierre sie verarschen wollen mochten. Was für einen Anlass dafür gab es? Was hatte sie getan, um eine Verarsche zu verdienen? Ohne wirklich darauf zu achten was sie tat, bereitete sie sich per Knopfdruck einen Kaffee zu. Während das heisse Getränk in die geblümte Tasse plätscherte, in ihre geblümte Tasse, lehnte sie sich mit verschränkten Armen an das Küchenmöbel auf dem die riesige, jetzt laut surrende Kaffeemaschine stand und dachte nach. Sehr bald verlor sie jedoch die Lust am Nachdenken und rief genervt: „Ihr kommt jetzt sofort aus euren Verstecken und hört auf mit der Kacke! Wenn wir heute was unternehmen wollen, das einigermassen Sinn macht, ist für so was keine Zeit ihr zwei Kindsköpfe! Los, zeigt euch!“ Resigniert zuckte sie mit den Schultern und schüttelte den Kopf.
Während sie der Kaffeemaschine zuhörte und gleichzeitig überlegte, was sie denn überhaupt anstellen könnten, schweifte ihr Blick ziellos durch den Raum und blieb schliesslich auf der Schachtel Zigaretten haften, die auf dem Tisch lag. Mais oui! Genau euch hab ich vermut-lich gesucht, ihr Süssen! Dachte es und schritt mit wenigen, langen Schritten zum Tisch hinüber, um sich eine schmackhafte Brunette mit Doppelfilter anzustecken.
Und da blickte sie aus dem Fenster der Küche. Erst da. Zuvor nicht.
Ihre Gesichtshaut verlor augenblicklich alle Farbe, wurde aschgrau, fast durchsichtig und ihre Augen traten weit aus ihren Höhlen hervor.
„Da.. da.. da.. das gibt’s doch gar nicht! W.. w.. warum tust du das, du verdammter Spinner?“, wollte sie wissen und meinte Gott damit. Das sagte sie immer, wenn etwas in ihrer nahen Umgebung passierte, das sie sich nicht sofort erklären konnte. Sie stand mit Gott auf Kriegsfuss, denn er tat sehr oft überspitzte Dinge in ihrer Gegenwart, fand sie jedenfalls. Aber das hier war die Krönung aller Überspitztheit, soviel stand für sie absolut fest!
Durch die leicht beschlagene Scheibe des Küchenfensters sah sie ei-nen Schuh, und was für einen! Er war kolossal, gigantisch in seinen Ausmassen, genau wie der Knöchel des Fusses, der in dem Schuh steckte. Es war ein vornehmer, lederner Halbschuh, schwarz. Glänzend gewichst. In tadellosem Zustand. Die Socke um den Knöchel ebenfalls schwarz, glatt, makel- und faltenlos hochgezogen, vermutlich durch einen Sockenhalter fixiert, damit er nicht runterrutschen konnte. Das ganze ungefähr so gross wie die Titanic.
Sie stiess ein langes, endgültiges Stöhnen aus. Während der Riesen-schuh so unendlich langsam an dem Fenster der Küche vorbeizog, hob er sich immer mehr. Bald konnte sie deutlich die Sohle des Schuhs se-hen und riss ihren Mund so weit auf, wie es nur ging. Die Gelenke ihres Kiefers quietschten schon beinah, weil sie den Mund weiter aufsperren wollte, als die Natur zulassen konnte. Die Zigarette, die unangezündet zwischen ihrem Daumen und dem Zeigefinger hing, plumpste unbeachtet auf den Tisch, die Hand folgte der Zigarette, schlaff, vollkommen vergessen von ihrer Besitzerin.
An der glatten, ledernen Sohle des Schuhs klebte ein Körper, der blu-tende Kopf schlingerte leblos hin und her. Der Torso war zwar ziemlich platt gedrückt, doch man konnte ihn erkennen, wenn man die Person gekannt hatte, die Zeit ihres Lebens unzertrennlich mit diesem Torso verbunden gewesen war.
„Das Blut... da tropft Blut von deinem Kinn, Marga...“, lallte sie in ihrem Schock. „Und deine gelbe Bluse.. ist zerknü.. knüllt. Scheisse...“ Ganz langsam trat sie näher ans Fenster, obwohl sie eigentlich gar nicht mehr sehen wollte, als sie bereits gesehen hatte. „Moment mal. Der Schuh...“, ächzte sie plötzlich.
Irrsinn glänzte in ihren Augen. Ihr Verstand war auf gutem Wege da-zu, sich zu verabschieden. Das war eindeutig mehr, als sie verkraften konnte.
Das ist Pierres Schuh... Stöhnend liess sie alle Luft aus ihren Lungen entweichen, als sie es dachte. Ihr wurde schwindlig und schlagartig übel. Jedoch, das kupferfarbene Zeichen, das am hinteren Teil des Schuhs angebracht war, war eindeutig. Es war das Emblem des Her-stellers, ein grosses H. – Heryar, eine edle Marke. Pierre mochte diese Schuhe, weil sie so überaus bequem und trotzdem robust waren.
Das ist Pierres...
Augenblicklich drehte sie sich auf der Stelle um. Ungelenk wie ein mechanisch betriebenes Unding schritt sie durch die Küche und den kurzen Korridor zur Haustür. Mit einem Ruck riss sie die Tür auf und starrte mit toten, weit aufgerissenen Augen vor sich auf die nahe Strasse. Dort herrschte ein heilloses Durcheinander. An etlichen Stellen klebten Blut, Extremitäten und tote, plattgedrückte Menschen auf dem Asphalt, Menschen schrieen, fluchten, klagten. Manche irrten ohne Ziel und Verstand umher, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich wollten.
Und sie dachte nur: Warum habe ich davon drinnen nichts gehört? Und als es mit einem Mal dunkel über ihr wurde, richtete sie den Blick ohne wirkliches Interesse und ganz langsam zum Himmel über sich.
Etwas kam von oben herab auf sie sie zu geflogen. Es war knallrot und riesig. Und rund.
Unbeherrscht kreischend stürzte sie zur Seite. Nur knapp entkam sie dadurch dem sicheren Tod, starrte das Ding danach ungläubig an, das mit einem scheppernden, klackenden Knall trudelnd zum Liegen kam. Keuchend musterte sie es. Ängstlich, als könnte das Ding sie nächstens angreifen, oder beissen versuchte sie gleichzeitig davor zurück-zuweichen.
Es schimmerte wie Perlmutt in der Sonne, hatte zwei gleichmässig grosse Löcher etwa in der Mitte und war knallrot – ausserdem war es sicherlich so gross wie das Dach eines VW-Kombis. In einem der Lö-cher steckte so etwas wie ein rotes, etwa zwei Meter langes Tau, das an beiden Enden ausgefranst war.
Sie wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass dies ein Manschet-tenknopf von Pierres rotem Hemd war, das sie ihm letzten Winter zu seinem Geburtstag geschenkt hatte.
Ein schrilles Kichern entglitt ihrer Kehle. Nur ganz kurz, dann begann sie zu weinen, ohne dabei Tränen zu vergiessen. Die Kopfschmerzen wurden zu einem üblen Dröhnen.
Zitternd am ganzen Leib machte sie sich auf den Weg zurück in ihr Zimmer. Ihre Arme liess sie schlaff herabhängen und sie schlingerte kraftlos von einer Seite zur anderen. Mehrmals stiess sie gegen Möbel und Bilderrahmen, holte sich dabei blaue Flecke an den Armen und bemerkte es nicht. Bevor sie sich auf ihr Bett fallen lassen konnte, als sie keuchend atmend im Zimmer angekommen war, verdunkelte sich plötzlich der gesamte Raum um sie herum und sie blieb wie angewur-zelt stehen.
Etwas Gigantisches erschien vor dem Fenster, ein Ding, das sie nur sehr undeutlich erkannte. Sie schrie panisch auf, als die Scheibe in tausend Teile zersplitterte und ein gewaltiger Finger durch das split-ternde Chaos hindurch ganz langsam auf sie zukam. Hinter dem Finger erschien gleich darauf ein riesiges Auge im ausgefransten Durchlass des ehemaligen Fensters, das sie offen und interessiert anstarrte.
„Pierre...“, ächzte sie. Sie wusste einfach, dass das Pierres Auge war. Sie wusste es. Und konnte es nicht fassen.
Sein Schuh, sein Manschettenknopf, sein Auge... Ich will hier raus... Bitte!
„Was geschieht denn nur? Pierre...“, fragte sie das Auge stotternd und kraftlos und spürte, wie sich ihr Hirn in wabbelnde Gallert ver-wandelte.
„Kannst du mir sagen, wo Marga ist? Ich kann sie nirgends finden. Wir wollten doch was zusammen machen heute, wo bleibt sie denn?“, fragte Pierre besorgt nach. Seine Stimme schallte dermassen laut durch das zerbrochene Fenster hindurch in ihr Zimmer, dass sie sich sofort beide Hände auf die Ohren pressen musste. Ihr Kopf drohte zu explodieren.
Sie schrie und schrie und schrie, als ihre Nerven endgültig ausfransten und ihr Verstand gleich einem Luftballon zerplatzte.


Impressum

Texte: by sitchean
Tag der Veröffentlichung: 18.03.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An die Leute mit mehr als bloss Humor...

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