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Das Gespräch


„Grossvater, warum ist mein kleiner Bruder auf einmal nichtmehr da? Gestern haben wir noch zusammen gespielt und jetzt ist er weg. Wo ist er denn hin gegangen?“ Fragte das kleine Mädchen und seine Augen waren gross und rund und sein Gesicht ganz bleich. Vielleicht ahnte es die Antwort bereits. Es war aber erst etwa fünf Jahre alt.

Der alte Mann legte ihm unter Aufbietung all seiner Kräfte eine Hand auf den Kopf und streichelte sanft über das hellblonde Haar des unschuldigen Kindes. Er überlegte sich, was er wohl sagen sollte. Die Kleine würde nicht verstehen, was er zu sagen hatte. Egal wie er es sagen würde. Zudem fürchtete er sich sehr vor der Antwort. Er hatte gesehen, was mit dem Brüderchen des Mädchens geschehen war. Für den kläglichen Rest seines zerstörten Lebens, da war er sich leider ganz sicher, würde er das fürchterliche Bild niemehr vergessen können. Sein einziger, schwacher Trost war, dass sein Leben wohl nichtmehr lange genug dauern würde, als dass er sich darüber Gedanken machen musste. Das war kein Trost. Er wollte das Mädchen nicht alleine zurück lassen.

„Grossvater? Du weinst ja, Grossvater. Warum weinst du denn? Bitte wein doch nichtmehr.“ Die Stimme des Mädchens war dünn und voller Sorge für seinen Grossvater. Das Mädchen liebte seinen Grossvater sehr. Es erhob sein kleines, leicht angesengtes Händchen, das sehr schmerzte und streichelte ganz sanft über die Wange seines Grossvaters. Das Händchen zitterte, weil sich das Kind sehr schwach fühlte. Es hatte seit gestern nichtsmehr gegessen, oder getrunken. Der alte Mann auch nicht.

Der alte Mann versuchte sich zu beherrschen, doch es fiel im sehr schwer. Die kindliche Berührung der kleinen Fingerchen, die er nun auf seiner geschundenen Wange spürte, schmerzte eigentlich sehr, weil die obere Hälfte seiner Wange aufgeplatzt und wund war. Doch er liess das Mädchen gewähren. Vielleicht nur deshalb, weil er wusste, dass er niemehr eine andere Berührung an seiner Wange erfahren würde, jedenfalls von niemand anderem als diesem Mädchen.

Er versuchte zu sprechen, die Worte wurden aber von seinen bitteren Tränen erstickt und auch von dem stechenden Schmerz, den die spitzen Schrapnelle, die in seiner blutenden Brust steckten, verursachten. Was aber noch vielmehr schmerzte, war sein Herz. Denn er war nicht der Grossvater dieses Mädchens. Aber konnte er ihr das sagen? Wollte er das? Nein!

„Weißt du denn auch nicht, wohin er gegangen ist? Ich konnte es nicht sehen, weil da plötzlich soviel Rauch war. Konntest du auch nichts sehen, Grossvater?“ Fragte das Mädchen weiter und musste plötzlich husten. Es klang herzzerreissend, wie schlimm das Kind husten musste. „Schhh.“ Machte der alte Mann sanft und ganz leise und strich mit einer Hand ganz langsam über den schmalen Rücken des Kindes. „Schhh.“ Nochmals. Der Husten verging und das Mädchen legte seinen kleinen Kopf ganz vorsichtig an die Brust seines Grossvaters. Der alte Mann zuckte vor Schmerz heftig zusammen. Dennoch tat es gut, die Nähe des Kindes zu spüren.

„Ich weiss.. auch nicht.., wo dein Brüderchen hingegangen ist.“ Log er. Das Sprechen bereitete ihm grösste Mühe und die verräterischen Worte kamen nur ganz leise über seine Lippen. Das Mädchen spielte jetzt mit beiden Händchen am verbrannten Saum der Strickjacke des alten Mannes. Er konnte das leichte Nesteln durch das Baumwollhemd, das er unter der Jacke trug, an seinem alten Bauchnabel spüren. Es hätte bestimmt gekitzelt, wären da nicht die mörderischen Schmerzen gewesen, die alles andere bei weitem überwogen.

„Sollen wir ihn suchen, Grossvater? Er ist sicher ganz alleine jetzt und er ist doch noch so klein. Sollen wir ihn suchen?“ Fragte das Mädchen und der alte Mann konnte deutlich hören, wie das Kind dabei weinte. Doch er spürte, wie sehr sich das Mädchen zu beherrschen versuchte, damit er es nicht merkte, deshalb liess er es gut sein.

Liess es gut sein? „Oh Gott! Bitte mach dass das aufhört! Wie kannst du so etwas zulassen? Das Kind weint, weil es weiss, was mit seinem Brüderchen geschehen ist. Warum lässt du das zu?“ Dachte er, resigniert gegen die Göttlichkeit aufbegeh-rend, bei sich und seine alte, verwundete Brust zog sich vor lauter Kummer und Gram schmerzhaft zusammen.

„Weißt du,.. die Welt.. ist nicht immer gerecht, ..mein Kleines.“ Versuchte er dem Kind zu erklären und begriff im selben Moment, wie aussichtslos es war, einem so kleinen Kind das Leben erklären zu wollen. Er verstummte und weinte tonlos und bereute es, überhaupt etwas gesagt zu haben.

„Ich verstehe nicht, was du da sagst, Grossvater. Was meinst du denn damit?“ Fragte das Kind und richtete sich schwach und wie benommen wieder auf. Die Blicke des Kindes und des alten Mannes trafen sich einen ewigen Augenblick lang. Der alte Mann schlug seine Augen nieder. Er konnte dem Kind nicht in die Augen sehen. Er fühlte sich schuldig.

„Nichts.“ Sagte er kläglich und fühlte sich so hilflos, dass es schmerzte. Ein tiefes Röcheln, geboren aus tiefster Seelenpein löste sich aus seinem alten, kranken Schlund. Die grossen, blauen, feuchten Augen des Kindes fixierten die vergilbten, blutunterlaufenen Augen des alten Mannes kritisch. Er konnte fast hören, wie angestrengt das Mädchen dabei nachdachte. Ganz kurz erhob er seinen Blick. Oh, soviel ehrliches Interesse, so viele Fragen. Soviel Leben und doch soviel Hoffnungslosigkeit lagen vereint in diesen jungen, un-schuldigen Augen, dass der alte Mann wohl sogleich erblindet wäre, hätte er den Blick nicht sofort wieder gesenkt.

„Ist schon gut, Grossvater. Ich hab dich lieb. Du kannst doch nichts dafür, dass mein Brüderchen fort gegangen ist.“ Stellte das Mädchen fest und es kam bei ihm an, wie eine Kanonenkugel. Was sagt sie? Was hat sie gerade gesagt? Brüllte es tief in ihm drin. Sein Gesicht verzerrte sich bis zur Unkenntlichkeit. Ein lautes Stöhnen kroch zwischen seinen dünnen Lippen hervor und klatschte zu Boden wie ein totes, blutendes Organ. Vor seinen entzündeten Augen wurde plötzlich alles Grellweiss und sein Herz stellte für einen Moment ganz ab.

„Grossvater! Grossvater! Grossvater!“ Rief das Mädchen pa-nisch immer wieder und stellte sich schnell vor den alten Mann hin. Es hatte grosse Angst. Verstand nicht, was mit ihm geschah. Schnell legte es sein kleines Händchen auf seinen gesenkten Kopf und streichelte mit raschen, abgehackten Bewegungen über sein schütteres, graues Haar.

Röchelnd sog der alte Mann nach einer Weile frische Luft in seine Lungen und hustete schwach. Sein Gesicht war weiss und seine Augen von schwarzen Rändern umgeben, die Lippen bläulich. Noch immer lag zäher, dunkler Rauch in der Luft, der es dem Alten nicht leicht machte, wieder ins Leben zurück zu finden.

Ächzend hob er den Kopf ein Stück und öffnete seine Augen nur ein kleines Bisschen. Verschwommen nahm er das verbeulte Gesicht des Mädchens wahr, ohne im ersten Moment zu begreifen, was genau er sah. Furchtbare Schmerzen tobten in seiner Brust. Wohl die Vorboten meines baldigen Ablebens, so dachte er resigniert bei sich. Er kämpfte sich zurück zur Oberfläche. Wollte noch nicht sterben.

„Geht es dir nicht gut, Grossvater?“ Fragte die Kleine unter Tränen. Sie kniete sich neben den alten Mann hin und ergriff mit beiden Händchen die Hand, die er sich im Krampf an seine Brust gepresst hatte, bevor er ohnmächtig geworden war. Zuerst lockerte sich sein erstarrter Arm und der eiserne Griff seiner Hand um den zerfetzten Kragen seiner Strickjacke nicht und das Mädchen wollte die Hand bereits wieder loslassen. Dann löste sich die Sperre auf einmal. Er versuchte zu lächeln. Es misslang. Er fühlte die eisige Kälte ihrer kleinen Händchen auf seiner.

„Es… geht… mir gut.“ Log er unter grossen Schmerzen. Er presste die Worte mühsam ächzend hinaus, so als ob sie aus zäher Erde bestünden. Einen winzigen Moment sah er nicht-mehr das liebevolle, aber traurige Gesicht des Mädchens, sondern die bleiche, hämische Fratze des Todes vor seinen Augen. Geh weg Sensenmann, du bist zu früh. Dachte er grimmig und zutiefst erschrocken.

Das Mädchen schenkte ihm ein Lächeln und streichelte weiter seine Hand. Plötzlich sagte es ganz leise: „Ich habe solchen Durst.“ Den hatte er auch. Er würde fast alles geben für einen Schluck Wasser. Sein Gaumen war völlig verklebt und seine alten, malträtierten Innereien fühlten sich an, als bestünden sie aus loderndem Feuer.

Alles würdest du geben? Was würdest du denn geben? Was hast du denn noch? - Nichts. Nur Schutt, Asche und Schmer-zen. Das könnt ihr gerne alles haben, für einen einzigen Schluck Wasser, damit dieses unschuldige Kind nicht vor lauter Durst sterben muss!

Mühsam holte er nochmals Atem und keuchte unter grösster Anstrengung die Worte hervor: „Mein… Kind. Sieh.. dich um. Alles ist… zerstört. Es.. gibt.. nichtsmehr hier. Es tut… mir… sehr leid.“ Er weinte wie ein kleiner Junge. Bei jedem Wort etwas mehr. Das ganze Elend, das Krieg, Tod und Vernichtung in der Welt jemals verursachen konnten, brach über ihm zusammen. Jeder Schluchzer liess seinen geschundenen, blutenden Körper erbeben und liess ihn vor Schmerz beinah wieder besinnungslos werden.

Das Mädchen weinte mit ihm und rollte sich, ihren Kopf auf seine verkrüppelten Beine legend, die seit dem Sturz vollkommen gefühllos waren, zu einem ganz kleinen Häufchen Elend zusammen. Sein starrer Blick löste sich irgendwann von ihr und schwenkte hinüber zu den Trümmern der Häuser, Strassen und Plätze.

Nichts was er sah, war ganz, alles zerstört. Teilweise brannten noch immer kleinere Feuer. Überall stieg dicker Rauch aus den Trümmern auf und selbst der Himmel war dunkel und Schwarz und schien über den Irrsinn auf dieser Welt zu weinen.

Der alte Mann wusste nicht, weswegen man hier Krieg führte und warum dieser Ort zerstört worden war. Er konnte nicht lesen und sein Radio hatte vor Jahren schon aufgehört zu funktionieren. Er lebte seit dem Tod seiner Martha allein, ging selten nach draussen und unterhielt sich nie mit anderen Leuten.

Alles war plötzlich geschehen. Gestern Morgen hatte er sich noch Kaffee gekocht und sich damit ans Fenster gesetzt. Gelangweilt hatte er sich zum tausendsten Mal die nahen Hügel und Berge angesehen. Seine Tage verliefen ereignislos, fad und einfarbig. Ihm war es recht. Er verlangte nichtsmehr vom Leben. Er wartete bloss noch auf den Tod.

Urplötzlich war die Welt um ihn herum in Flammen aufgegangen. Dröhnender Donner erfüllte die ganze Atmosphäre und beissender Rauch stieg ihm in die Nase. Seine Tasse wurde ihm durch die enorme Druckwelle einer Explosion, direkt von seinem Haus, aus der Hand und in sein Gesicht geschleu-dert. Die vordere Wand des Hauses löste sich mit lautem Ächzen und Krachen und fiel auf die Strasse. Die zweite, nahe Explosion schleuderte ihn wie eine gliedlose Stoffpuppe aus dem Haus, mitten in die rauchenden Bruchstücke der Hauswand, wo er besinnungslos, mit gebrochenen Beinen und am ganzen Körper blutend liegen geblieben war.

Nun war er hier. Das Mädchen schien zu schlafen, rührte sich nichtmehr. Ihm blieben die Bilder vor seinen Augen und die Erinnerungen an seinen langweiligen Lebensabend. Und die Tränen. Jetzt fühlte er sich einsam. War das nicht seltsam? Seit fünfzehn Jahren war er allein, hatte sich in dieser Zeit um niemanden gekümmert und niemand hatte sich um ihn gekümmert. Damit hatte er sich stillschweigend arrangiert.

Nun, da alles verloren war, die Menschen um ihn herum alle tot, das Dorf zerstört, stieg in ihm das Bewusstsein hoch, dass er Einsamkeit hasste. Jetzt plötzlich wollte er sich unterhalten, mit anderen Leuten Kaffee trinken, spazieren gehen. Er wollte leben. Doch es war zu spät und das wusste er jetzt.

Abgrundtiefe Verzweiflung stieg in ihm hoch. Übermannte in zur Gänze und liess ihn er-starren. Bitterlich weinend legte er seine Hände auf den Rücken des Mädchens, ergriff den Stoff ihres Kleidchens und begann das Kind kraftlos hin und her zu bewegen. Er wollte das Mädchen wecken, denn er wollte sich unterhalten. Plötzlich ertrug er es nichtmehr länger, nichts zu sagen. Dumpfer Schmerz ergriff Besitz von seinen Armen, seiner Brust und seinem Kopf. Doch er konnte nicht aufhören damit, den Körper des Mädchens zu schütteln. Rasselnd ging sein Atem und er schwitzte fürchterlich durch die Anstrengung.

„Wach… auf! …Bitte! Wach… auf!“ Flehte er das Kind röchelnd an. Ein schmerzhafter Husten schüttelte ihn für Momente und machte es ihm unmöglich, weiterhin das Mädchen wecken zu wollen.

Auf einmal schoss ihm ein fürchterlicher Gedanke durch den Kopf und alles an und in ihm bäumte sich dagegen auf. „Nein!“ Stiess er atemlos hervor. Seine allerletzten Kräfte sammelnd ergriff er das Kleidchen des Kindes fester und drehte den Körper mit einer einzigen Bewegung um. Und starb an dem brutalen Stich, der als eisiger Speer tief in sein gemartertes Herz fuhr.

Das schneeweisse Gesichtchen des Mädchens war leblos. Der Körper eisig kalt. Die toten Augen blickten ihn an und schienen noch immer zu fragen: „Hast du meinen kleinen Bruder gesehen? Hast du gesehen, wohin er gegangen ist? Ich kann ihn nirgends sehen.“


Ende


Copyright © by Sitchean

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Im Angedenken aller Opfer aller Kriege dieser Welt.

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