Cover

1.

Harry wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Dieser Mai war bestimmt der heißeste, den er je auf Mallorca erlebt hatte.

Eine der Katzen, die häufig übers Gelände streunten, hatte es sich im Schatten eines Gartenstuhls gemütlich gemacht.

„Du hast es gut“, brummelte er, woraufhin ihn das Tier mit einem gelangweilten Blick streifte.

Sollte er wiedergeboren werden, wünschte er sich die Gestalt eines Katers. Faul rumliegen, bei Bedarf Streicheleinheiten einfordern und ein paar Mäuse fangen, wenn man Hunger hatte. Ein paradiesisches Leben im Vergleich zu dem der Menschen.

Er begab sich ins Haus, um etwas zu trinken. Ein Glas Wasser in der Hand stand er vorm Küchenfenster und guckte ins Leere.

Vor einiger Zeit hätte er sich keine Gedanken über eine Wiedergeburt gemacht. Ein Paradies war das Zusammenleben mit Merle nicht gewesen, so wie wohl fast jede Ehe, aber harmonisch. Sie hatten einander ergänzt. Merle schloss schnell Freundschaften, besaß ein Händchen für Dekoration und lachte gern. Harry, ein Eigenbrötler, tat sich schwer mit sozialen Kontakten.

Ein Pickup bog von der Straße aufs Grundstück. Es handelte sich um Dirk, der ihm Material aus dem Baumarkt brachte.

Harry wunderte sich immer wieder, dass die Leute weiterhin mit ihm befreundet sein wollten. Nach Merles Tod vor rund einem halben Jahr – zwischen der Diagnose und ihrem letzten Atemzug, waren nur vier Monate vergangen – hatte er gedacht, nun völlig allein dazustehen. Na ja, mit Ausnahme der Katzenbesuche. Tja, falsch gedacht. Manchmal wurde es ihm sogar zu viel, wenn jede Woche eine Einladung eintraf.

Der Wagen stoppte vor dem Carport. Eigentlich verdiente der Holzbau diesen Namen nicht, denn es stand nie ein Auto darin. Stattdessen lagerten dort Gartenmöbel, unter anderem ein Strandkorb, und einige Fahrräder, die er gelegentlich an Gäste verlieh.

Dirk stieg aus und marschierte aufs Haus zu. Er leerte sein Glas und verließ die Küche. An der offenstehenden Haustür trafen sie aufeinander.

„Von den Fliesen hab ich nur noch drei Kartons ergattert. In den nächsten Tagen soll Nachschub kommen“, teilte Dirk ihm mit. „Alles andere war vorrätig.“

„Dann muss ich eben langsamer arbeiten“, erwiderte Harry und folgte ihm zum Pickup.

Sie verfrachteten das Material in den Carport. Anschließend war Dirks Gesicht dunkelrot und glänzte feucht.

„Ein Himmelreich für ein eisgekühltes Cerveza.“ Dirk seufzte. „Aber Katja wartet mit dem Mittagessen. Wenn ich zu spät und mit Bierfahne auftauche, werde ich meines Lebens nicht mehr froh.“

„Möchtest du Wasser?“, bot Harry an.

Dirk winkte ab. „Ich düse lieber gleich wieder los.“

Gleich darauf rollte der Pickup in Richtung Straße.

Dirk und Katja wohnten mit ihren drei Kindern am anderen Ende von Pollenca. Die beiden stammten aus einem kleinen Ort in der Nähe von Hannover. Katja war Designerin und arbeitete online. Dirk betrieb eine Firma mit allen möglichen Leistungen rund ums Haus.

Wer behauptete, in Deutschland nähmen Migranten überhand, sollte sich mal auf Mallorca umschauen. Nicht-Mallorquiner hatten praktisch die gesamte Insel aufgekauft. Überall standen protzige Fincas, die über viele Monate im Jahr nicht bewohnt wurden. Dafür hausten Einheimische in Zelten oder Wohnwagen auf Campingplätzen, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten konnten. Das erinnerte an Sylt, wo die Situation in manchen Orten – Stichwort: Kampen - ähnlich eskaliert war.

Genau wie das Pendant in Deutschland, bildeten die Ausländer auf der Insel Rudel. Viele sprachen, leider auch Harry, kaum spanisch. Man blieb unter sich. Merle war der Landessprache zwar mächtig gewesen, aber selbst sie hatte sich mit keinem der Einheimischen näher angefreundet.

Richtig schlimm fand Harry die Touristenhochburgen. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er mit Merle in El Arenal gewesen war, hatte er sich für seine Landsleute geschämt. Das Motto von Rollo, dem Wikinger: Kommst du in ein fremdes Land, verhau sie und beklau sie, schienen viele verinnerlicht zu haben; natürlich nur im übertragenen Sinne. Es ging eher darum, die Gastfreundschaft der Spanier bis an die Schmerzgrenze zu testen.

Genauso ätzend fand er es, dass die Touristen ihr Verhalten damit rechtfertigten, dass die Mallorquiner schließlich von ihnen profitierten. Dabei wurde gern vergessen, dass viele Hotelkomplexe von ausländischen Investoren betrieben wurden; diesen gesichtslosen Reichen, die ihr Geld mit der Arbeit anderer Leute verdienten. Bei der Bevölkerung blieb von den Profiten nichts hängen, im Gegenteil: Sie wurden auch noch ausgebeutet.

Seufzend verdrängte er die negativen Gedanken. Merle hatte immer gesagt, dass man damit die Welt nicht retten konnte, und sie hatte recht.

Mittels einer Schubkarre transportierte er die Fliesen zu seiner aktuellen Baustelle, dem Kinderpool. Seit Merles Tod konnte er noch weniger als sonst stillsitzen. Wenn sich nicht von selbst eine Notwendigkeit ergab, schaffte er sich Arbeit. Auf diese Weise war er auf die Idee gekommen, neben dem großen Pool einen kleineren und flacheren zu bauen.

Im Relax-Bereich, wie Merle die Zone neben dem Bassin getauft hatte, hielten sich Gäste auf: Das Ehepaar Krüger, Stammgäste und liebenswürdige Menschen. Da er die beiden nicht mit Baulärm belästigen wollte, verzog er sich auf seine Terrasse. Ein sichtgeschützter Bereich, ausgestattet mit einem Strandkorb, Tisch und zwei Stühlen.

Das Möbel, das eigentlich an die Nord- oder Ostsee gehörte, war Merles Herzenswunsch gewesen. An die Aktion dachte er mit Grauen zurück. Drei von diesen Riesendingern, festgezurrt auf einem Anhänger, quer durch Europa zu kutschieren, hatte ihn reichlich Nerven gekostet. Sie stammten von Föhr, Merles Heimat. Da ihm damals die Zeit im Nacken saß, war er praktisch Nonstop durchgefahren. Sie hatten die Finca gerade erst übernommen und einen Berg Arbeit zu erledigen, damit die ersten Gäste anreisen konnten.

Das Anwesen hatte einem von Merles Verwandten gehört. Der Mann war mit dem Projekt restlos überfordert gewesen. Merle hatte es zu einem guten Preis erworben, dafür ihr Elternhaus auf Föhr verscherbelt. Das war inzwischen mehr als sechzehn Jahre her.

Er nippte an dem Kaffee, den er sich aus der Küche geholt hatte, gedanklich weiter in der Vergangenheit. Es war ihm wie eine glückliche Fügung erschienen, als er Merle kennenlernte. Für seinen Arbeitgeber hatte er eine Sparkassenfiliale eingerichtet, wobei sie sich über den Weg gelaufen waren. Sie behauptete, es wäre Liebe auf den ersten Blick gewesen. Er hatte erst nach einer Weile große Zuneigung für sie entwickelt.

Äußerlich war Merle keine Schönheit gewesen. Ihre Schönheit kam von innen. Ihre Herzlichkeit, ihr Lachen und dabei funkelnden Augen, besaßen hohe Anziehungskraft. Sie konnte zupacken und hatte ein Händchen für Innenarchitektur. Als kleine Angestellte in einer Sparkasse nützte ihr dieses Talent wenig. Das und der Tod ihrer Eltern – sie waren kurz hintereinander gestorben – hatten Merle veranlasst, ihren Lebensweg neu zu überdenken.

Wenn man es nüchtern betrachtete, hatte sie ihn wegen seiner handwerklichen Fähigkeiten genommen und er sie wegen der Chance, aus der Tretmühle rauszukommen. Ständig aus Pressspanplatten Ladenausstattungen zu tischlern, war nicht nach seinem Geschmack. Betrachtete man es romantisch, hatten sie aus Liebe geheiratet. Hätte es mit dem Kinderwunsch geklappt, wäre ihr Glück vollkommen gewesen.

Eine rot-weiße Katze gesellte sich zu ihm. Das Tierchen pflanzte sich vor seine Füße und guckte ihn herausfordernd an, als wollte sie sagen: „Leckerli, sonst gibt’s Saures.“

Er ignorierte sie.

Merle war untröstlich über den ausbleibenden Kindersegen gewesen. Er ebenfalls, doch hatte er das nicht offen gezeigt. Es hätte ihre Trauer nur befeuert. So gut es ihm möglich war hatte er versucht, ihr aus dem Tal herauszuhelfen.

Letztendlich gewann Merles optimistische Seite. Seine Frau hatte sich mit Feuereifer auf die Gestaltung des Gartens gestürzt. Ein ehrgeiziges Projekt, denn das Grundstück umfasste fast zehntausend Quadratmeter, die Hälfte davon allerdings unwegsames Gelände. Dank ihr glich es einem Park, mit etlichen Mandelbäumen und Pfingstrosen, von kleinen Steinmauern begrenzten Wegen und einem Wäldchen aus Aleppo Kiefern auf dem hinteren Abschnitt.

Das Knirschen von Kies riss ihn aus seinen Erinnerungen. Er begab sich ins Haus und guckte aus dem Küchenfenster. Ein weißer BMW, aus dem gerade eine korpulente Frau stieg, parkte neben seinem Caddy. Das dürften die neuen Gäste sein: Doktor Salomon Schneider und Doktor Corinna Herbst-Schneider nebst Anhang.

Nacheinander krabbelten ein Junge und ein Mädchen aus dem Wagen; schätzungsweise elf bis fünfzehn. Das Familienoberhaupt, ein hochgewachsener Mann in edler Freizeitkleidung und mit dunkler Sonnenbrille auf der Nase, entstieg auf der Fahrerseite und steuerte aufs Haus zu. Die Frau, in bodenlange Wallegewänder gekleidet, wandte sich dem Nachwuchs zu.

Im Flur schnappte sich Harry den Schlüsselbund für Bungalow vier und ging dem Mann entgegen. „Bienvenido.”

„Ola“, erwiderte dieser. „Mein Name ist Salomon Schneider. Ich habe bei Ihnen eine Ferienwohnung reserviert.“

„Angenehm. Harry Widmann. Bitte folgen Sie mir.“ Er wollte nicht wie ein mürrischer Herbergsvater klingen, doch das gelang ihm einfach nicht. Mit einem Lächeln versuchte er, seinen barschen Tonfall abzumildern.

„Schön haben Sie’s hier“, sagte Schneider in seinem Rücken, als sie sich am Pool vorbei bewegten.

Merle hatte Smalltalk mühelos beherrscht. Ihm fiel es ungeheuer schwer. „Danke.“

Zum Glück hielt Schneider, bis sie ihr Ziel erreichten, die Klappe. Beide Bungalows, die auf dem Grundstück standen, waren jeweils in zwei Hälften unterteilt. Schneiders hatten die größte angemietet: Drei Schlafzimmer, zwei Bäder. Alle Wohneinheiten verfügten über eigene Terrassen.

Harry schloss auf, ließ Schneider eintreten und führte ihn durch die Räume. Die Einrichtung war Merles Werk: hell, freundlich, mit einer Prise spanischem Charme.

„Sehr schön“, sagte Schneider. „Und das WLAN funktioniert zuverlässig?“

Er nickte.

„Kann ich einen zweiten Schlüssel bekommen?“

Wiederum nickte er.

Auf dem Rückweg war Schneider erneut stumm. Harry verlieh ihm dafür fünf Sympathiepunkte. Ein Spiel, das sich Merle ausgedacht hatte. Gäste, die keinen Punkt erreichten, gab es nur sehr wenige. Sie hatte an jedem etwas Gutes entdeckt. Bei ihm wäre die Nullpunkte-Quote viel höher.

Er händigte Schneider den verlangten Schlüssel aus, ließ sich dafür eine Unterschrift geben und bot an: „Soll ich Ihr Gepäck mit der Schubkarre zum Bungalow bringen?“

Schneider winkte ab. „Das schaffen wir allein.“

Harry atmete auf. Mit Schneiders Gattin wollte er möglichst nichts zu tun haben. Selbst von Weitem, ohne mit ihr gesprochen zu haben, wirkte sie auf ihn anstrengend.

Mit einem Sandwich kehrte er auf seine Terrasse zurück. Gewöhnlich verzogen sich die Krügers gegen halb zwei für ein Mittagsschläfchen in ihre Unterkunft. Dann konnte er endlich mit dem Pool weitermachen.

Die Katze hatte es sich im Strandkorb bequem gemacht. Unschlüssig, ob er sie von seinem Platz verjagen sollte, guckte er zwischen den Stühlen und ihr hin und her. Schließlich ließ er sich neben ihr nieder, wofür er sie ein Stück zur Seite schieben musste. Sie bedachte ihn mit einem empörten Blick über die Schulter – oder wie auch immer man dieses Körperteil bei Katzen nannte. Danach strafte sie ihn mit Missachtung.

Trauer war merkwürdig. An manchen Tagen vermisste er Merle mehr als kurz nach ihrem Tod. Sollte es nicht andersherum sein?

2.

 

„Der Señor hat eine schwarze Aura“, meinte Corinna, als sie in ihrem Schlafzimmer anfingen, die Koffer auszupacken.

Salomon war auch aufgefallen, dass Widmann schwermütig wirkte.

„Leider hab ich weder Rosenquarz noch Amethyst eingepackt“, fuhr seine Gattin fort. „Schade. Ich werde gleich mal gucken, ob man sowas hier bekommt.“

„Fahren wir gleich zum Strand?“, wollte Eva, die im Türrahmen aufgetaucht war, wissen.

„Sind deine Sachen ausgepackt?“, entgegnete Corinna.

„Dafür ist doch nachher noch Zeit.“

„Trotzdem musst du warten, bis dein Vater und ich fertig sind.“ Corinna legte einen Stapel Unterwäsche in den Kleiderschrank.

Eva schob die Unterlippe vor und verzog sich.

„Kaum zu glauben. Eben haben sie noch in die Windel geschissen und schon sind sie in der Pubertät.“ Corinna seufzte übertrieben.

„Ich erinnere mich gut an all die Jahre dazwischen“, erwiderte Salomon.

„Kann ich wenigstens mein Handy haben?“, maulte Eva, die erneut in der Tür stand.

„Dann will ich meins auch wiederhaben!“, meldete sich Johannes zu Wort.

Vorm Abflug hatte Corinna den beiden die elektronischen Armverlängerungen – so nannte sie Smartphones – abgenommen. Da es im Flugzeug Entertainment gab, war der Protest schnell verstummt. Nun, wo kein flimmernder Bildschirm in der Nähe war, litten die zwei bestimmt unter Entzug.

„Geht auf die Terrasse und genießt die wunderschöne Natur“, antwortete Corinna, nahm das letzte Kleidungsstück aus ihrem Koffer und begann, es umständlich auf einen Bügel zu drapieren.

Eva setzte ihren schönsten Welpenblick auf. „Mama, bitte!

„Wir haben darüber gesprochen, dass ihr im Urlaub handytechnisch ein bisschen kürzertretet. Ihr verpasst schon nichts. Die Bilder von Hamburgern, Pommes und Cola, die eure Freunde ständig posten, könnt ihr euch auch noch später angucken.“

„Aber ich hab Kim versprochen, dass ich ihr Fotos von der Location schicke“, begehrte Eva auf.

„Ihr bekommt eure Handys nach dem Abendessen.“ Corinna hängte das Kleid in den Schrank. „Ich wäre dann soweit.“

Salomons Koffer war ebenfalls leer. Er verstaute die beiden Gepäckstücke auf dem Schrank.

Die Kinder saßen auf der Couch im Wohnzimmer und schmollten.

„Habt ihr eure Strandsachen eingepackt?“, wollte Corinna wissen.

Keine Reaktion.

„Der Urlaub fängt ja gut an“, murmelte sie und fügte lauter hinzu: „Ihr dürft euch aussuchen, was wir heute Abend essen.“

Pizza!“, riefen die zwei nahezu gleichzeitig.

Das hätte Salomon vorhersagen können. Pizza stand bei den Kindern ganz oben auf der Beliebtheitsliste, dicht gefolgt von Hamburgern. Wahrscheinlich sollte er froh darüber sein, denn andere Eltern plagten sich mit veganen oder noch exotischeren Essenswünschen herum. Dennoch wäre es ihm lieber, wenn die beiden weniger fixiert wären. Ach, egal. Es gab wichtigere Dinge als die Nahrungsmittel-Monotonie der Kinder.

Anscheinend hatte die Aussicht auf ihre Lieblingsspeise seinen Nachwuchs beflügelt. Im Nu waren sie abreisebereit.

Von Pollenca nach Port de Pollenca, dauerte die Fahrt nur eine Viertelstunde. In einer Nebenstraße fand Salomon eine Lücke, in die er den BMW manövrierte. Ein Glücksfall, wie er feststellte, als sie den Weg zum Wasser zurücklegten. Dicht an dicht parkten die Autos am Bürgersteig.

An der Promenade gab es eine große Auswahl an Geschäften und Lokalen. Für Salomons Geschmack war zu viel los, doch kein Vergleich zu dem Trubel in El Arenal, wo sie für einen Mittagsimbiss einen Zwischenstopp eingelegt hatten. Die allgegenwärtige Deutschtümelei in der Touristenhochburg fand er schrecklich, genau wie die Gruppen rotgesichtiger Touristen, die am Strand und vor den Lokalen rumlungerten. Dagegen war das Hafenstädtchen richtig beschaulich.

„Da ist ’ne Pizzeria“, verkündete Eva und wies auf ein Restaurant, vor dem, vermutlich für Analphabeten, ein großes Schild mit dem Foto einer Salamipizza stand.

Die Lokalität machte den Eindruck eines Schnellimbisses.

Corinna war wohl zu dem gleichen Schluss gekommen. „Wir finden bestimmt noch etwas Schöneres.“

Erstaunlicherweise nahm Eva das ohne Schmollanfall zur Kenntnis.

Der Strand war nicht sonderlich breit und mit Sonnenschirmen, unter denen Liegen standen, bepflastert. Kaum näherten sie sich einem der Ensembles, eilte ein Typ herbei und verlangte Miete. Fünfundzwanzig Euro wechselten den Besitzer.

Mit Feuereifer begannen die Kinder, zwei Schwimmtiere aufzublasen. Manchmal benahmen sie sich wie fünf, dann wieder wie Pubertierende. Eva war dreizehn, Johannes vierzehn. Ein schwieriges Alter. Salomon erinnerte sich, dass er sich damals weder als Fisch noch als Fleisch gefühlt hatte.

Eva, einen pinken Flamingo in den Händen, lief ins Wasser. Johannes, ein Krokodil im Arm, rannte hinterher.

Als die beide außer Hörweite waren, sagte Salomon: „Ich finde, wir sollten mit ihnen darüber reden.“

Corinna seufzte sichtlich genervt. „Das haben wir doch schon tausendmal besprochen. Es ist besser, wenn wir sie vor vollendete Tatsachen stellen.“

Das war ihre Meinung, nicht seine. Wann hatte sich Corinna von der offenen, fröhlichen Frau in diese Alleinherrscherin verwandelt? Ihm war der Übergang gar nicht aufgefallen. Oder hatte er es nur ignoriert?

„Sie sind keine kleinen Kinder mehr“, widersprach er.

„Es sind große Kinder, aber immer noch Kinder.“ Sie kramte eine Flasche Sonnenmilch aus ihrer Tasche. „Magst du mir den Rücken eincremen?“

Er nahm ihr die Plastikflasche ab und kniete sich, während sie sich auf den Bauch drehte, neben ihre Liege. Auch das war so eine Sache. Im Laufe der Jahre hatte sich Corinna von pummelig zu adipös gemausert. Eigentlich sollte Liebe über Äußerlichkeiten hinwegsehen. Tja ... tat sie aber nicht. Ihm missfielen die Fleischmassen. Da sie aber überaus selten miteinander schliefen, war er jedes Mal total ausgehungert und bekam schon deshalb einen hoch. Er konnte also mit dem Zustand gut leben.

Als Therapeut müsste er es eigentlich besser wissen, anstatt sich in sein Schicksal zu fügen und zu glauben, dass er damit zurechtkam. Er wollte jedoch nicht an ihrem Status rütteln, weil die Kinder eine intakte Familie brauchten. Na gut, es war auch ein bisschen Bequemlichkeit. Aus seiner Ehe auszubrechen, würde immense Kraft erfordern; etwas, zu dem er sich nicht in der Lage sah.

Nach seinem Psychotherapie-Studium hatte er eine eigene Praxis eröffnet. Wenig später war Corinna das erste Mal schwanger geworden. Um seine Bafög-Schulden möglichst schnell zu tilgen, hatte er wie blöde geackert. Therapeuten waren gefragt, daher stellte es kein Problem dar, einen vollen Terminplan zu haben. Ein Problem war allerdings, dass er sich nicht ausreichend Auszeiten nahm, um all das Gehörte zu verarbeiten. Wer dachte, dass ein Therapeut davon unbelastet blieb – nun, falsch gedacht.

Auch als Corinna, die Medizin studiert und nach dem zweiten Kind auf Heilpraktikerin umgesattelt hatte, anfing zu arbeiten, behielt er seinen Arbeitsrhythmus bei. Auf diese Weise hatten sie es zu Wohlstand gebracht. Der Preis: Er fühlte sich ausgebrannt. Um dem entgegenzuwirken, trat er seit rund einem Jahr kürzer und konsultierte einmal pro Woche einen Kollegen. Das half ungemein.

Wahrscheinlich wäre es, zumindest bis die Kinder volljährig waren, so weitergelaufen, doch Corinnas Gesundheit spielte in letzter Zeit verrückt. Sie hatte von Kindesbeinen an Schuppenflechte und Rheuma. Mal zeigten sich kaum Symptome, mal setzten ihr Schmerzen dermaßen zu, dass sie sich kaum bewegen konnte. Mit zunehmendem Alter schien es schlimmer zu werden. Sie hatte daher beschlossen, dass sich etwas ändern musste und einen Umzug in den Süden ins Auge gefasst.

Die Wahl war auf Mallorca gefallen. Dort suchte man in einer Praxis in Port de Pollenca eine Kollegin. Der Standort, nahe am Wasser und mit vielen Sonnenstunden, wäre für sie ideal.

Salomon war mit einem Ortswechsel einverstanden. Das Verhältnis mit seinen Eltern war eh schwierig, kaum weitere Verwandtschaft vorhanden und den Kontakt zu Freunden konnte man per Skype und Co aufrechterhalten. Einen Interessenten für seine Praxis zu finden, dürfte nicht schwierig sein. Wie er sich hier beruflich orientieren würde, wusste er noch nicht. Das würde er entscheiden, wenn die endgültige Entscheidung feststand. Von dem Wechsel erhoffte er sich neue Impulse für ihre Ehe. Außerdem gefiel ihm die Vorstellung, ständig Sommer zu haben.

Nachdem er ausreichend Sonnenmilch auf Corinnas Rücken verteilt hatte, schraubte er die Flasche zu und kehrte zu seiner Liege zurück. Weiterhin tobten die Kinder im Wasser. Unglaublich, wie reizvoll das Nass und zwei aufblasbare Figuren waren. Es war kaum zu glauben, dass es sich um die gleichen Personen, die eben noch griesgrämig geguckt hatten, handelte.

„Ich finde es falsch, sie anzulügen“, nahm er den Faden wieder auf. „Was willst du ihnen denn erzählen, wenn du morgen für ein-zwei Stunden verschwindest?“

Corinna war am nächsten Tag mit dem Praxis-Team verabredet. Sie hatten bereits telefoniert und wollten sich nun persönlich treffen.

„Dass ich dringend zum Friseur muss. Was ja auch den Tatsachen entspricht.“ Sie zupfte an ihrer Mähne.

Corinnas Einstellung zur Wahrheit fand er moralisch bedenklich. Widerspruch lohnte aber nicht, daher beließ er es dabei.

Er machte es sich gemütlich und beobachtete das Treiben rundherum. Zwei Schirme entfernt lagerte ein älteres Pärchen. Sie häkelte, er las Zeitung. Nahe des Meeressaum hatte sich eine fünfköpfige Familie niedergelassen. Bestimmt war denen die Miete für Liegen und Schirm zu teuer. Früher, als die Kinder klein waren, hätte sich Salomon auch mit dem Sand begnügt. Inzwischen brauchte er nicht mehr auf den Cent achten.

Händchenhaltend flanierte ein junges Paar über den Strand. Ihnen entgegen kam ein älterer Herr, barfuß, in knielanger Hose, die Schuhe in der Hand. Schätzungsweise ein Rentner, der hier seinen Lebensabend genoss.

Salomon hätte sich nie träumen lassen, dass es ihn mal aus Deutschland fortziehen würde. So, wie sich die Dinge aktuell entwickelten, besaß ein Umzug plötzlich großen Reiz. Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit und der konsequente Abbau des Sozialstaates, der nach einem Rechtsruck zweifelsohne noch größere Ausmaße annehmen würde, bereitete ihm Sorge. Seinen Patienten ging es genauso. Seit einiger Zeit häuften sich die Fälle akuter Angst vor der Zukunft.

Anscheinend hatten die Kinder genug, denn sie verließen hintereinander das Meer. Beide kamen nach Corinna, hatten blaue Augen und straßenköterblonde Haare. Nur ihre Figur hatten sie gottseidank nicht geerbt. Sowohl Eva als auch Johannes waren schlank und sportlich. Na ja, eine Momentaufnahme. Vielleicht änderte sich das bald.

„Kann ich mir ein Eis holen?“, fragte Johannes, ließ das Krokodil fallen und schnappte sich ein Handtuch.

„Wo siehst du denn eine Eisdiele?“, wunderte sich Salomon.

Johannes zuckte mit den Schultern. „Irgendwo wird schon eine sein.“

„Ich hab Durst“, jammerte Eva.

Er zog mit den beiden los. Allein mochte er sie nicht in der fremden Stadt rumlaufen lassen. Letztendlich begnügte sich Johannes mit einem Wassereis. Eva bekam eine Apfelschorle und leierte ihm eine rosa Sonnenbrille aus dem Kreuz. Daraufhin wollte Johannes auch etwas haben und suchte sich ein Basecap mit Mallorca-Aufdruck aus.

Gegen fünf machten sie sich auf den Rückweg. Während der Fahrt begannen die Kinder zu jammern, dass sie vor Hunger sterben würden. Ein durchsichtiges Manöver. Es zielte klar darauf ab, so schnell wie möglich das Abendessen hinter sich zu bringen, um wieder in den Besitz ihrer Handys zu kommen.

Sie speisten in einem gemütlichen Lokal, von denen es eine große Auswahl in Pollencas Stadtmitte gab. Anschließend händigte Corinna den Kindern ihre Smartphones aus. Ab dem Moment herrschte allerschönste Harmonie.

3.

 

Am nächsten Morgen verabschiedete sich Corinna, mit der bereits erwähnten Begründung, nach dem Frühstück. Zwei Paar Augen verfolgten, wie sie davonschwebte. Kaum war der letzte Zipfel ihres Kleides aus dem Sichtfeld verschwunden, richteten Eva und Johannes den Blick auf ihn.

„Dürfen wir unsere Handys wiederhaben?“, bettelte Eva.

Corinna hatte die Geräte gleich nach dem Aufstehen eingesammelt. Salomon fand, dass man den Kindern im Urlaub mehr als sonst gestatten sollte. Corinna war anderer Meinung. Wenn er den Kindern die Smartphones aushändigte, erwartete ihn eine Standpauke über die schädliche Wirkung einer Hüh-Hott-Erziehung. Selbst wenn die beiden schworen, nichts zu verraten, würde eines der beiden sich früher oder später verplappern.

„Tut mir leid, aber ich bin nicht scharf darauf, dass eure Mutter mir den Kopf abreißt“, erwiderte er, woraufhin natürlich die Beteuerung, dass die beiden dichthalten würden, erfolgte.

„Außerdem hat sie die Dinger mitgenommen.“ Nun fing er auch schon an zu lügen. Die Geräte lagen im Schlafzimmer im Nachtschrank. „Ich finde, wir probieren mal den hauseigenen Pool aus“, versuchte er ein Ablenkungsmanöver.

Die Begeisterung hielt sich in Grenzen, dennoch rüsteten sich die beiden mit Badezeug aus.

Der Swimmingpool lag im Eingangsbereich. Auf dem Weg dorthin kamen sie an einer betonierten Senke, in der Señor Widmann werkelte, vorbei.

„Was wird das?“, wandte sich Johannes an Widmann, woraufhin dieser mitten in der Bewegung, eine Fliese in den Händen, innehielt und aufschaute.

„Ein Pool für Kleinkinder.“

„Der wird hübsch“, meldete sich Eva zu Wort.

Ein Lächeln veränderte Widmanns Gesicht total, vom Griesgram zu Prince Charming. „Dankeschön.“

„Darf ich helfen?“, erkundigte sich Johannes.

„Du hast doch bestimmt Schöneres vor“, erwiderte Widmann mit einem vielsagenden Blick auf das Krokodil, das sein Sohn mit sich trug.

Johannes schüttelte den Kopf. „Ich kann echt klasse graben oder so.“

„Nun störe den Señor nicht länger bei der Arbeit“, ermahnte Salomon seinen Nachwuchs.

„Ihr Sohn stört nicht“, wiegelte Widmann ab und richtete das Wort wieder an Johannes: „Ich sage dir Bescheid, wenn ich deine Hilfe brauche. Okay?“

Sein Sohn strahlte und nickte.

Als sie weitergingen, machte er sich gedanklich eine Notiz: Señor Griesgram mochte Kinder.

Rund um den Pool standen Schirme und Liegen. Zwei davon waren von einem älteren Ehepaar belegt. Er grüßte die beiden und ließ sich in gebührendem Abstand von ihnen nieder. Auch die Kinder sagten artig: „Guten Morgen“, bevor sie ihre Schwimmtiere ins Nass warfen und hinterher sprangen.

Die zwei Senioren wirkten amüsiert. Die Dame ließ ihr Häkelzeug sinken und meinte: „Sie haben reizende Kinder.“

Und laute noch dazu. Eva kreischte, als Johannes ihr mit dem Krokodil auf den Kopf schlug.

„Bitte entschuldigen Sie den Lärm“, erwiderte er.

„Bei Kindern, die leise sind, stimmt etwas nicht“, antwortete sie.

„Dann würde es bei einigen Völkern nur Kinder mit sozialen Störungen geben. Stichwort Japan.“

„Na ja, die japanische Kultur ist nun ganz anders als unsere.“

Es entspann sich eine Unterhaltung, in deren Verlauf er erfuhr, dass Widmanns Gattin vor einiger Zeit gestorben war.

„Eine reizende Person“, sagte die Dame. „Es ist tragisch, dass solche Menschen so früh gehen müssen. Und es passierte so schnell. Letzten Sommer haben wir noch zusammen gegrillt.“

„Merles Rippchen waren immer ein Gedicht“, mischte sich der Herr, der bislang geschwiegen hatte, ein. „Allein das war ein Grund, immer wieder herzukommen.“

Die Dame schmunzelte. „Neben der herrlichen Landschaft und der wunderbaren Unterkunft.“

Der Mann winkte ab. „Alles nebensächlich. Wahre Liebe geht durch den Magen.“

„Was für ein Glück, dass ich kochen kann. Sonst wärest du wohl schon lange mit einer anderen durchgebrannt“, sinnierte sie.

„Apropos kochen: Wir sollten uns langsam mal auf den Weg machen“, sagte ihr Gatte und faltete seine Zeitung zusammen.

„Wir wollen nach Port de Pollenca wandern und dort Mittagessen essen“, erklärte sie.

„Wie lange braucht man für die Tour?“

„Ungefähr zwei Stunden“, erwiderte ihr Gatte und stand auf. „Wenn man nicht trödelt.“

Die beiden verabschiedeten sich.

Trauerverarbeitung ... damit war Salomon schon häufig konfrontiert worden. Ihm tat Widmann leid. Es war schlimm, in der Fremde alleingelassen zu werden. Er erinnerte sich an eine Patientin, die sich mit ihrem Freund eine Existenz jenseits der Zivilisation, auf einer Alm, aufgebaut hatte. Der Tod ihres Partners stellte eine Katastrophe dar. Allein schaffte sie es nicht, die nötigen Arbeiten zu verrichten. Sie musste also alles aufgeben und war in ihre Heimat zurückgekehrt. In ihrem Fall gab es Familie, bei der sie erstmal unterkam, aber was geschah mit den Leuten, die kein Sicherheitsnetz besaßen?

„Papa?“, riss Evas Stimme ihn aus seinen Grübeleien. „Können wir Eis essen gehen?“

Er richtete den Blick auf seinen Nachwuchs. Eva und Johannes hatten die Arme auf den Poolrand gelegt und schauten ihn flehend an.

„Habt ihr im Ort eine Eisdiele gesehen?“ Ihm war keine aufgefallen.

Beide schüttelten den Kopf.

„Ich frag mal Señor Widmann. Der kennt doch bestimmt eine“, verkündete Johannes, stemmte sich aus dem Wasser und flitzte davon.

Eva rannte ihrem Bruder hinterher. Langsamer folgte Salomon den beiden.

„Harry sagt, er hat Eis in seiner Kühltruhe“, empfing ihn Eva.

„Aber das lagert schon fast ein Jahr da drin“, ergänzte Widmann. „Keine Ahnung, ob man das noch essen kann.“

„Gehen wir nachschauen?“, bat Johannes.

Widmann stieg aus der Senke, wischte sich die Hände mit einem Lappen ab und ging voraus. Obwohl er nicht offiziell eingeladen worden war, schloss sich Salomon der Prozession an.

Widmann führte sie ins Haus und durch die Küche, hinter der sich ein Hauswirtschaftsraum befand. Bei der Tiefkühltruhe handelte es sich um ein Modell, in dem man bequem den Leichnam eines Erwachsenen lagern konnte.

Widmann holten einen Plastikkorb mit mehreren Wassereissorten aus dem Gerät. „Meine Frau hat das Zeug immer in großen Mengen besorgt.“

Eva und Johannes nahmen sich je eine Wassereistüte mit Cola-Geschmack.

„Möchten Sie auch eines?“, sprach Widmann Salomon an.

„Danke, gern“, entgegnete er und schnappte sich das letzte Cola-Eis.

Sie verspeisten ihre Beute am Pool. Das Eis, das noch genauso wie in seiner Kindheit schmeckte, weckte Erinnerungen. Ein Ausflug an die Ostsee. Er war damals fünf oder sechs gewesen. Nach langem Betteln hatte er ein Cola-Eis bekommen, die Tüte mit den Zähnen aufgerissen und es nach oben gedrückt. Leider zu gierig, denn es flutschte in ganzer Länge heraus und landete im Sand. Vor Enttäuschung hatte er geheult. Es gab kein neues Eis, sondern eine Standpauke, dass er gefälligst besser aufpassen sollte. Woanders würden Kinder verhungern und er warf Lebensmittel einfach weg. Den verächtlichen Blick seines Vaters würde er niemals vergessen.

Aus heutiger Sicht verstand er das Verhalten seiner Eltern. Die beiden hatten nur wegen ihm geheiratet und ihren Frust über die unglückliche Ehe an ihm ausgelassen. Inzwischen waren sie geschieden und hatten neue Partner. Seine Mutter sprach oft von vergeudeten Jahren. Er sollte das nicht persönlich nehmen, dennoch tat es weh.

Genau das war die Crux: Er nahm vieles persönlich, selbst wenn es ihn nicht betraf. Als Therapeut eine ungünstige Eigenschaft. Salomon arbeitete daran, sich dagegen abzugrenzen, bezweifelte aber, dass es ihm je gelingen würde.

„Wo bleibt Mama so lange?“, wollte Eva wissen.

„Sie ist doch noch gar nicht lange weg.“ Sein Smartphone wollte er lieber nicht wegen der Uhrzeit konsultieren, weil dann garantiert die nächste Diskussion entbrannte.

Seine Tochter rollte die leere Plastikhülle zusammen. „Ist es okay, wenn ich Harry frage, ob ich noch ein Eis bekomme?“

Corinna würde nun auf das baldige Mittagessen hinweisen und nein sagen. Nun, Corinna war nicht da. „Nur, wenn du für deinen Bruder auch eines mitbringst.“

Die Kinder waren schneller weg, als er piep sagen konnte. Oh Mann, er liebte die beiden Racker. Selbst in den Momenten, in denen sie schmollten, wollte er sie um keinen Preis missen.

Er zückte sein Handy und stellte fest, dass fast zwei Stunden seit Corinnas Aufbruch vergangen waren. Wie viel Zeit ein Friseurbesuch in Anspruch nahm, entzog sich seiner Kenntnis. Bei ihm dauerte es nie länger als dreißig Minuten, aber bei Frauen war das bestimmt anders. Wusste Eva darüber Bescheid? Hoffentlich nicht. Und wenn doch, dann hatte sich Corinna hoffentlich eine weitere Ausrede ausgedacht.

Nachdem er das Gerät wieder in seine Hosentasche gestopft hatte, wanderten seine Gedanken zu Harry. Wie lange lebte der schon hier? Pflegte er soziale Kontakte, die den Tod seiner Gattin etwas ausglichen? Viele Auswanderer unterschätzten, wie wichtig ein soziales Umfeld war. Auch wichtig: Man sollte die Landessprache beherrschen.

Salomons Spanischkenntnisse waren eingerostet. Wenn der Umzug feststand, musste er unbedingt daran arbeiten. Schließlich wollte er sich nicht isolieren. Ob es je reichen würde, um Einheimische zu behandeln, stand allerdings in den Sternen.

Als das Thema Auswandern erstmals auf den Tisch kam, hatte er recherchiert, ob es Bedarf für Therapeuten auf Mallorca gab. Er hatte einige Praxen von Kollegen gefunden, womit die Frage geklärt war. Da er ohnehin kürzertreten wollte und ein finanzielles Polster vorhanden war, würde er schon irgendwie zurechtkommen.

Corinna hatte vorgeschlagen, eine gemeinsame Praxis zu eröffnen. Das lehnte er kategorisch ab. Mit Aroma-, Heilstein- und Klangtherapie hatte er nichts am Hut. Er präferierte die klassische Gesprächstherapie. Außerdem: Das Praxisteam Doktor Corinna Herbst-Schneider und Doktor Salomon Schneider könnten diejenigen abschrecken, die mit Eheproblemen kämpften. Oder diejenigen, die Doppelnamen Scheiße fanden.

Er gehörte in letztere Kategorie. Dazu, Corinnas Nachnamen anzunehmen, hatte er sich aber auch nicht überwinden können. Tja – selbst schuld.

Plötzlich streifte etwas seine Wade. Erschrocken zuckte er zusammen und atmete auf, als er sah, dass es sich um eine graugetigerte Katze handelte – nicht um irgendein Insekt mit todbringendem Stachel.

Der Stubentiger ließ sich im Schatten der Liege nieder und beobachtete die Umgebung. Kritisch beäugte er das Tier. Es wirkte gepflegt. Gerade hatte er entschieden, dass er es gefahrlos streicheln konnte, da ließ Motorengeräusch ihn aufhorchen. Er stand auf und ging zum Parkplatz. Wie vermutet, war Corinna zurückgekehrt. Ihre zufriedene Miene verriet, dass das Treffen ein voller Erfolg gewesen war.

„Hi Schatz“, begrüßte er sie und gab ihr pflichtschuldig ein Küsschen auf die Wange. „Ist es gut gelaufen?“

Sie nickte. „Und wie findest du meine Frisur?“

Hatte sich etwas verändert? „Sieht toll aus.“

„Nicht wahr?“ Sie verriegelte den Wagen. „Wo sind die Kinder?“

„Die schwirren hier irgendwo rum.“

Wie aufs Stichwort hörte er nackte Fußsohlen über die Gehwegplatten näherkommen, dann tauchten die beiden auf.

„Fahren wir jetzt zu der Grotte?“, fragte Johannes.

Darüber hatten sie beim Frühstück gesprochen.

Abends, als Corinna den Kindern die Smartphones ausgehändigt hatte, schlug sie vor: „Machen wir noch einen Spaziergang?“

Natürlich wollten weder Johannes noch Eva mitkommen. Beide starrten wie gebannt auf die Displays ihrer Handys.

Es war etwas abgekühlt. Auf dem Parkplatz standen, neben ihrem BMW und Widmanns Caddy, zwei weitere Fahrzeuge. Anscheinend waren weitere Gäste angereist. Harry hatte das gar nicht mitbekommen.

Nachdem sie das Grundstück verlassen hatten, wandten sie sich in Richtung Stadtmitte. Beidseitig wurde die Straße von niedrigen Mauern und Buschwerk gesäumt. Der Platz reichte knapp, dass zwei Fahrzeuge aneinander vorbeikonnten.

„Das Gespräch heute Morgen ist super gelaufen“, ergriff Corinna das Wort. „Ich werde so schnell wie möglich in die Praxis einsteigen. Die Kollegen werden uns bei der Suche nach einem Haus behilflich sein.“

Offenbar stellte sie gar nicht infrage, dass er mitziehen würde. Na gut, er hatte sich zu ihren Plänen positiv geäußert, trotzdem ...

„Ich würde natürlich gern möglichst nahe an meiner Arbeitsstelle wohnen, aber von hier oder einem der anderen umliegenden Dörfer ist es ja auch nicht weit“, redete sie weiter. „Außerdem müssen wir die Kinder eh jeden Tag nach Palma bringen.“

Dort gab es eine deutsche Schule, die alle Klassen bis zum Abitur anbot.

„Also steht es für dich fest, dass wir hierherziehen?“, hakte er nach.

Corinna blieb stehen und guckte ihn mit großen Augen an. „Ich dachte, wir sind uns darüber einig.“

Wollte er mit ihr streiten? Ach, nein, lieber nicht. Letztendlich würden sie sowieso das tun, was sie wollte. „Ich wollte nur sichergehen, dass ich dich richtig verstanden habe.“

Sie setzte sich wieder in Bewegung. „Dann ist ja alles gut.“

„Wie sieht dein Zeitplan aus?“

„Ich bin dafür, den Umzug so schnell wie möglich zu organisieren, damit die Kinder ihren Trennungsschmerz nicht zu sehr kultivieren. Wenn es nach mir ginge, würde ich sie noch vor den Sommerferien in der neuen Schule anmelden.“

„Ich brauche aber ein paar Monate, um einen Nachfolger für meine Praxis zu finden.“

Sie streifte ihn mit einem erstaunten Seitenblick. „Sagtest du nicht neulich, dass die Kollegen dir förmlich die Tür einrennen?“

Ja, es gab zwei ernsthafte Interessenten. Seine Patienten Knall auf Fall zu verlassen, widerstrebte ihm jedoch sehr. „Ein paar Monate ist sehr großzügig geschätzt. Wahrscheinlich klappt es schneller.“

„Wenn es okay für dich ist, allein mit den Kindern hierzubleiben, fliege ich morgen zurück und kümmere mich schon mal um meine Angelegenheiten.“

Es lag ihm auf der Zunge zu fragen, ob sie ihre Abreise wieder mit einem Friseurbesuch begründen wollte. Seit wann war er so zynisch? Das passte doch gar nicht zu ihm. „Für mich ist das okay, aber was sagen wir Eva und Johannes?“, erkundigte er sich vorsichtig.

„Dass wir das tun werden, was sich viele wünschen: Da leben, wo andere Urlaub machen.“

Die Bombe platzen und ihn mit den Folgen allein lassen. Na, super! Ach, reg dich ab, ermahnte er sich im Geiste. Zwei Wochen Urlaub mit den Kindern ohne Corinna. Das klingt doch verdammt gut.

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Tag der Veröffentlichung: 26.06.2025

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