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Sackratten

Nach einer Ansteckung mit Filzläusen treten in der Regel nach drei bis sechs Tagen erste Symptome auf, wie starker Juckreiz. Allerdings kann es auch sein, dass zunächst keine Symptome auftreten.

 

1.

Es begann ausgerechnet in einer Sitzung mit dem Vorstand. Das überwältigende Bedürfnis, sich im Schritt zu kratzen, zu unterdrücken, trieb Marco Schweißperlen auf die Stirn. Er konnte sich kaum noch konzentrieren und hätte, wenn seine Kräfte dafür reichen würden, den Kugelschreiber, an dem er sich festhielt, zerbrochen.

Als das Meeting endlich vorbei war, stürzte er aus dem Raum und zur nächsten Toilette. Dort verschanzte er sich in einer der Kabinen, riss sich die Hose runter und brachte seine Fingernägel zum Einsatz. Vor Erleichterung entwich ihm ein Stöhnen.

Als der Juckreiz nachgelassen hatte, inspizierte er seinen Schambereich. Abgesehen von den roten Striemen, die seine Kratzarie hinterlassen hatte, entdeckte er nichts Verdächtiges. Bestimmt waren die für die Jahreszeit ungewöhnlich hohen Temperaturen schuld. Hitzestau in der Unterhose.

Er richtete seine Kleidung, verließ die Kabine und wusch sich die Hände. Winfried, der mit ihm in der Sitzung gewesen war und vor einem der anderen Waschbecken stand, bedachte ihn mit einem verschwörerischen Grinsen. Glaubte der Idiot etwa, er hätte sich auf die PowerPoint Präsentation des Vorstands einen runtergeholt? Mühsam widerstand er der Versuchung, Winfried einen Vogel zu zeigen. Das würde der Kollege als Beleidigung auffassen und sich sofort bei der Geschäftsleitung beschweren.

Marco trocknete sich die Finger mit einem Einmalhandtuch ab und ging in sein Büro. Kaum saß er hinterm Schreibtisch, juckte es erneut. Zum Glück hatte er ein Einzelbüro, so dass er sich ungehemmt in die Hose greifen und für Abhilfe sorgen konnte.

Als der Anfall vorüber war, wanderten seine Gedanken zu Tommy. Dort verweilten sie stets, wenn ihn nichts ablenkte.

Vor einigen Tagen war er von einer Geschäftsreise nach Singapur zurückgekehrt. Sein Arbeitgeber unterhielt dort eine Zweigstelle. Eigentlich war seit Corona allen bewusst, dass man nicht rund um den Globus jetten musste, um miteinander zu reden. Ab und zu passierte es trotzdem, auch, um persönliche Kontakte zu pflegen.

Jedenfalls war er spät in der Nacht nach Hause gekommen. Am nächsten Tag, als er aufwachte, war Tommy schon auf der Arbeit gewesen. Abends hatte Tommy ihn vor vollendete Tatsachen gestellt. „Ich brauche eine Auszeit“, lautete die Begründung dafür, mit zwei Koffern ihre gemeinsame Wohnung zu verlassen.

Es hatte ihn eiskalt erwischt. Nichts hatte darauf hingewiesen, dass etwas nicht stimmte. Er war immer überzeugt gewesen, dass sie eine harmonische Beziehung führten. Sechzehn Jahre – wieso warf Tommy das einfach weg? Na gut, Auszeit bedeutete nicht Trennung, klang für ihn aber so.

Er wollte Tommy nicht verlieren. Sein Schatz war seine bessere Hälfte, sanftmütig, klug, ein guter Koch und im Bett verstanden sie sich prima. Marco hingegen regte sich schnell auf, war weitaus weniger belesen und in der Küche ein ziemlicher Tölpel.

Immer wieder ließ er die Tage vor seiner Abreise Revue passieren, um rauszufinden, was sich verändert hatte. Vergeblich. Alles war wie immer gewesen. Oder lag es genau daran? War Tommy ihre Beziehung zu eintönig geworden? Warum hatte er dann nichts gesagt? Sonst sprachen sie doch auch über alles.

Abermals juckte es wie blöde in seinem Schritt. Weil er der Sache auf den Grund gehen wollte, eilte er zur Herrentoilette. Mit einem angefeuchteten Einmalhandtuch zog er sich in eine der Kabinen zurück und ließ die Hosen runter. Das kühle Tuch brachte etwas Linderung. Bei der Inspektion seiner Unterwäsche und des Schambereiches stellte er zwei Dinge fest: 1. Es befanden sich braune Sprenkel in seiner weißen Pants, und 2. blau-graue Pusteln auf seiner Haut.

Eine Recherche im Internet ergab, dass es sich vermutlich um Mitbewohner handelte, nämlich Filzläuse.

In seiner Sturm- und Drangphase war er von den Viechern verschont worden. Gehört hatte er oft von Sackratten. Nie hätte er gedacht, dass er sich in späteren Lebensjahren welche einfing. Woher kamen die Dinger? Auf jeden Fall musste er zum Arzt, damit das grässliche Jucken aufhörte.

Sein Telefon klingelte. Der Chef fragte nach Zahlen, die er bis Feierabend liefern sollte. Er musste daher das Thema Sackratten erstmal vertagen.

Die Tabelle war erst spät fertig. Sämtliche Arztpraxen hatten bereits geschlossen. Seit der letzten Attacke herrschte Ruhe in seinem Schritt. Vielleicht irrte er sich und es war doch nur ein Hitzestau gewesen.

Bevor er in seinen Wagen stieg, versuchte er, Tommy zu erreichen. Die Mailbox ging ran, genau wie bei den letzten Malen. Entweder hatte Tommy seine Nummer gesperrt oder ließ seine Anrufe absichtlich auf die Quatschkiste laufen.

Er erwog zu Lars und Hannes, bei denen Tommy sehr wahrscheinlich untergekommen war, zu fahren. Mit den beiden war er nie richtig warm geworden. Na ja, mit Hannes schon. Der war so ruhig und intelligent wie Tommy. Lars war das krasse Gegenteil: Laut und ordinär. Der Typ drehte Pornos und hielt das für Kunst. Ach, nein, das musste er sich heute nicht antun. Dann probierte er es lieber später nochmal auf Tommys Handy.

Seine Wohnung war leer und kalt. Letzteres ließ sich ändern, indem er an den Thermostaten drehte. Ersteres war hoffentlich nur ein temporärer Zustand. Er wollte Thommy nicht verlieren.

In der Nacht wurde er bezüglich der Hitzestau-Theorie eines Besseren belehrt. Ein paarmal wachte er auf, weil das Jucken höllische Ausmaße annahm. Da er keine Unterwäsche trug, konnte es daran nicht liegen.

Am nächsten Morgen führte sein erster Weg zum Hautarzt. Die Sprechstundenhilfe wollte ihn wieder fortschicken, denn das Wartezimmer war voll, doch er blieb hartnäckig. Rund zwei Stunden musste er ausharren, bis er endlich zum Doktor durfte. Der bestätigte, was er bereits vermutet hatte.

„Es wäre sinnvoll, wenn Sie sich rasieren“, riet der Arzt. „Dann können sich die kleinen Racker nicht mehr so leicht festhalten.“

Bislang hatte er eine Intimrasur immer abgelehnt. Auch bei Thommy bevorzugte er Schamhaare, die seinen Partner als Erwachsenen auswiesen. Schließlich war er nicht pädophil.

„Genau wie bei Kopfläusen sollten Sie alles, was mit dem kontaminierten Bereich in Berührung kommt, möglichst heiß waschen. Und informieren Sie sämtliche Personen, mit denen Sie intimen Kontakt hatten oder haben.“

„Werden Filzläuse noch auf anderem Weg als Geschlechtsverkehr übertragen?“

Der Doktor nickte. „Ohne Wirt überleben die Tierchen vierundzwanzig Stunden. Man kann sich die Seuche also auch durch Kontakt mit kontaminierter Wäsche, beispielsweise Handtücher oder Bettzeug, holen.“

Hatte er die Dinger aus Singapur mitgebracht? Schwer vorstellbar. Sie hatten in einem Luxushotel residiert. Die Zimmer waren pieksauber gewesen.

Ausgestattet mit einem Rezept verließ er die Praxis. Nachdem er das Medikament in einer Apotheke besorgt hatte, informierte er seinen Arbeitgeber, dass er später kommen würde. Allein der Gedanke an die Krabbelviecher in seinem Schritt verursachte ihm Gänsehaut.

Daheim stellte er sich unter die Dusche und entfernte sorgfältig alle Haare in dem betroffenen Bereich. Anschließend benutzte er die Lotion und setzte sich auf den Klodeckel. Das Zeug musste einige Minuten einwirken.

Thommy weigerte sich weiterhin, seine Anrufe entgegenzunehmen. Er hatte es gleich nach dem Aufwachen und bevor er aufgebrochen war probiert. Nun führte kein Weg mehr daran vorbei, Lars und Hannes zu besuchen. Schließlich musste er Thommy über die Viecher informieren. Oder hatte er sich den Scheiß durch Thommy ...? In der Nacht, als er aus Singapur zurückkam, war er zu Thommy ins Bett gekrochen. Sie hatten eng aneinander gekuschelt geschlafen. Könnte es sein ...? Nein, auf gar keinen Fall. Thommy war der vorsichtigste Mensch der Welt und absolut treu.

Sollte sich Thommy wider Erwarten nicht bei Lars und Hannes aufhalten, wollte er eine Vermisstenanzeige aufgeben. Ach, lieber nicht, denn die Bullen würden ihn auslachen. Ein Erwachsener durfte sich frei bewegen. Er müsste Thommys Eltern und Geschwister abklappern. Ein Gedanke, der ihm noch weniger behagte als die Lars-Hannes-Nummer. Thommys Familie war nämlich ein bisschen distanziert – wenn man es diplomatisch ausdrückte.

Er schaute aufs Display seine Smartphones, das er auf dem Waschbeckenrand gelegt hatte. Die empfohlene Einwirkzeit war vorüber. Abermals stieg er in die Duschkabine. Er bildete sich ein, ein paar Läuse-Leichen in den Abfluss rutschen zu sehen.

Marco schlüpfte in saubere Pants, eine frisch gereinigte Anzughose und ein weißes Hemd. Während er vorm Spiegel seine Krawatte band überlegte er wieder, wo er sich die verdammten Viecher aufgehalst haben könnte. In Singapur im Schwimmbad des Hotels? Oder in dem Club, den er mit seinen Kollegen besucht hatte? Eines der hübschen Mädchen, die dort rumlungerten, hatte sich auf seinen Schoß gesetzt. Er bezweifelte aber, dass Sackratten derart scharf auf sein Blut waren, dass sie sich durch den Schlüpfer und Rock des Mädels sowie seine Hose in seine Pants schmuggelten.

Im Büro war nicht viel los. Er hatte also Zeit, sich weiter Gedanken zu machen. Ihm fiel keine Gelegenheit ein, bei der er sich den Kram hätte holen können. Er war weder fremdgegangen, noch hatte er sich in dreckigem Bettzeug gewälzt oder ebensolche Handtücher benutzt; auch keine fremde Unterwäsche angezogen. Sahen thailändische Filzläuse eigentlich anders aus als europäische? Das hätte er den Doktor fragen sollen, um die möglichen Tatorte einzugrenzen.

Um halb fünf verließ er das Büro. Lars und Hannes wohnten in Eimsbüttel. Für Autofahrer eine Herausforderung, weil Parkraum praktisch nicht vorhanden war.

Als er seinen Wagen in eine freie Lücke manövrierte, war er ein nervöses Wrack. Eine Dreiviertelstunde Suche, zusammen mit der Aussicht, ein unerfreuliches Gespräch zu führen, hatten ihn zermürbt. Würde Thommy ihm glauben, dass er nicht woanders rumgemacht hatte? Natürlich glaubt er dir. Ihr seid sechzehn Jahre zusammen, sprach er sich im Geiste Mut zu.

Auf sein Klingeln hin drang Hannes‘ Stimme aus der Gegensprechanlage: „Ja?“

„Ist Thommy bei euch?“

„Wer fragt das?“

„Marco.“

„Er will dich nicht sehen.“

„Ich muss ihn dringend sprechen. Es ist ein medizinischer Notfall.“

Der Summer ertönte. Ein Glück, dass er Hannes erwischt hatte. Lars hätte ihn garantiert länger hingehalten oder gar nicht reingelassen.

Er eilte die Stufen in den 2. Stock hoch. Sein Glück hatte sich gewandelt: Lars stand in der Wohnungstür, die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihm mit grimmiger Miene entgegen.

„Was genau verstehst du an ‚ich brauche ein bisschen Abstand‘ nicht?“, pflaumte das Arschloch ihn an.

Der Wunsch, Lars ein paar Sackratten abzugeben, war riesengroß, doch leider unerfüllbar. Dafür müsste er zum einen mit Lars kuscheln, zum anderen waren die Viecher wohl alle tot. „Ich sagte doch: es ist ein medizinischer Notfall.“

„Was für einer?“

„Das geht dich nichts an.“

Lars!“, mischte sich Hannes ein und schob selbigen beiseite. „Das geht uns wirklich nichts an.“

Wenn Blicke töten könnten, wäre er auf der Stelle umgekippt, aber er durfte endlich in die Wohnung. Es war nicht sein erster Besuch, daher kannte er sich aus und steuerte direkt das Gästezimmer an. Er klopfte und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, in den Raum.

Impressum

Texte: bei den Autoren
Bildmaterialien: Shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Sissi, Aschure, Bernd Frielingsdorf
Satz: Sissi
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2025

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