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1.

„Ich denke, dass du eine Art Bruderkomplex hast“, dozierte Consuela. „Eigentlich bist du gar nicht in Andreas verliebt, sondern versuchst nur, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, um die Ablehnung durch Aaron zu kompensieren.“

In Momenten wie diesen hasste Moritz seine Freundin. Er kannte sie von Kindesbeinen an. Sie war eine von vier Töchtern der elterlichen Nachbarn, Anneliese und Jens, beide Sozialpädagogen. Die zwei ließen sich von ihrer Brut mit Vornamen anreden und hatten Plastikspielzeug aus den Kinderzimmern verbannt, was seines Erachtens zu psychischen Störungen führte. Das würde er Consuela aber niemals auf die Nase binden. Es hätte für ihn weitreichende Konsequenzen, von Vorwürfen bis hin zur Kündigung ihrer Freundschaft.

„Das ändert nichts an den Tatsachen“, erwiderte er.

„Verliebt zu sein ist keine Tatsache, sondern ein Gefühlszustand.“

„Ein sehr realer Gefühlszustand.“

„Und dass er deine Liebe nicht erwidert, ist auch real.“ Consuela warf einen Blick auf das Display ihres Smartphones. „Ich muss los. Rafika hasst es, wenn ich unpünktlich bin.“

Alle vier Töchter der Nachbarn trugen Namen, die auf ‚a‘ endeten: Shakira, Mandraka, Rafika und Consuela. Seine Freundin war in seinem Alter. Die anderen drei folgten im Abstand von jeweils vier Jahren. Die dreizehnjährige Shakira war das Nesthäkchen, wirkte aber wie achtzehn, jedenfalls von der Klappe her.

Nachdem seine Freundin aufgebrochen war, begab er sich ein Stockwerk tiefer.

Er wohnte im gleichen Haus wie seine Eltern. Die hatten seinen Bruder und ihn als Teenager bei der Genossenschaft, der das Gebäude gehörte, angemeldet. Kurz nach Beginn seiner Ausbildung war die Wohnung über der seiner Eltern freigeworden. Er hatte zugegriffen. Wenig später war auch Aaron in eine Genossenschaftswohnung gezogen. Allerdings lag die einige Straßen entfernt, was er als Glücksfall einstufte. Ihr Verhältnis war nämlich etwas angespannt.

Schon im Flur erkannte er, was es zum Abendessen gab: selbstgemachte Pizza. Der Duft von Oregano und Basilikum hing in der Luft. Seine Mutter saß im Wohnzimmer, eine Zeitschrift in den Händen und klappte sie zu, als er in den Raum trat.

„Hi Schatz“, begrüßte sie ihn. „Dein Bruder müsste auch gleich eintreffen.“

Ein Grund, gleich wieder zu gehen, aber sein Kühlschrank war leer.

Seit seinem Outing behandelte Aaron ihn herablassend, so, als wäre er geistig zurückgeblieben. Na gut, vorher war es eigentlich auch schon so gewesen. Vielleicht bildete er sich nur ein, dass es danach schlimmer geworden war.

Das Abendessen verlief ohne besondere Vorkommnisse. Aaron schien friedlich gestimmt zu sein. Gleich im Anschluss verpisste sich Moritz in seine Wohnung. Er wollte das Schicksal nicht herausfordern, indem er länger als nötig blieb.

Im Wohnzimmer ließ er sich auf der Couch nieder und überlegte, ob Consuela mit ihrer These recht hatte. Obwohl er glaubte, sich damit abgefunden zu haben, dass Aaron ätzend zu ihm war, tat es immer noch weh. Daran würde sich wohl auch dann nichts ändern, wenn das mit Andreas etwas wurde.

Als nächstes grübelte er, ob er den Mut fand, allein ins Sugar Shack zu gehen. Consuela weigerte sich hartnäckig, ihn zu begleiten und sein Kommilitone Percy hatte ständig keine Zeit. Die Kumpel, mit denen er ab und zu abhing, brauchte er gar nicht erst fragen. Die waren alle hetero und würden niemals einen einschlägigen Club besuchen.

Seit Wochen drückte er sich nun schon davor, also sollte er sich endlich aufraffen. Oder seine Hoffnung begraben, doch das kam nicht infrage. Er wollte Andreas, wie er noch nie jemanden gewollt hatte. Na gut, mit Ausnahme von Justin Bieber, in den er als Teenager verknallt gewesen war.

Zwischen Justin und Andreas hatte er sich ein paarmal ein bisschen verliebt. Man konnte das wohl eher als schwärmen bezeichnen, da es nie länger als ein paar Wochen gehalten hatte. Sobald er den ersten Makel entdeckte, war’s vorbei mit der Liebe.

Zurück zu dem Sugar Shack Plan: Zu welcher Zeit ging man dorthin? Und was sollte er anziehen? Zu sexy mochte er nicht losziehen, aber auch nicht zu bieder. Schließlich wollte er Andreas gefallen.

Punkt eins erledigte er, indem er das Internet zu Rate zog. Am stärksten war der Club zwischen Mitternacht und zwei besucht. Für Punkt zwei wechselte er ins Schlafzimmer, um den Inhalt seines Kleiderschrankes zu inspizieren. Darin befanden sich schwarze und blaue Jeans sowie massenweise Hemden, weil er in seiner Ausbildung und danach im Job welche tragen musste.

Ein Klopfen an der Wohnungstür riss ihn aus seinen Betrachtungen. Genervt seufzend begab er sich in den Flur. Wie bereits vermutet, stand Shakira – sie war die einzige, die nicht die Klingel benutzte - im Treppenhaus. Seit einigen Monaten suchte sie ihn regelmäßig heim, wenn es ihr daheim zu langweilig wurde.

„Sorry, aber ich hab keine Zeit“, versuchte er sie abzuwimmeln.

„Warum nicht?“

„Weil ich gleich ausgehe.“

Sie musterte ihn von oben bis unten. „Aber bitte nicht in dem Outfit.“

Er trug ein verwaschenes Sweatshirt, dazu eine Jogginghose. „Ich bin gerade dabei, mich umzuziehen.“

Sie drängelte sich an ihm vorbei und steuerte sein Schlafzimmer an. „Ich helfe dir“, verkündete sie über die Schulter.

Moritz verdrehte die Augen. Aus Erfahrung wusste er, dass Protest zwecklos war. Er schloss die Wohnungstür und folgte Shakira.

„Wo willst du überhaupt hin?“, verlangte sie zu wissen, wobei sie den Inhalt seines Kleiderschranks stirnrunzelnd beäugte.

„In so ’nen Club.“

„Was für ein Club?“

„Einer, in den schwule Männer gehen.“

Mit aufgerissenen Augen drehte sie sich zu ihm um. „Du willst in einen Fick-Club?“

Also bitte! Es ist nur eine Disco.“ Laut Website gab es einen Darkroom, aber das brauchte er ihr ja nicht auf die Nase binden.

„So, so“, brummelte Shakira und wandte sich wieder dem Schrank zu.

Sie begann, Klamotten aus den Fächern zu kramen und schleuderte sie eine nach der anderen aufs Bett.

Ein Weilchen sah Moritz sich das an, dann hatte er die Schnauze voll. „Hör auf damit!“

„Ja, ja. Hab schon was gefunden.“ Triumphierend hielt sie ihm eine uralte Jeans mit zahlreichen Löchern hin.

„Die ist total out.“

„Ja und? Sie ist sexy.“ Sie warf die Hose zu den anderen Sachen und zog ein weißes T-Shirt aus einem anderen Fach. Kritisch betrachtete sie es, nickte schließlich und legte es zu der löchrigen Jeans.

„Ich erfriere, wenn ich darin losgehe“, beschwerte er sich.

„Wer scharf aussehen will, muss bibbern“, gab sie ungerührt zurück. „Hast du Redbull da? Oder wenigstens Cola?“

„Weder noch.“

Sie schob die Unterlippe vor.

„Deine Eltern haben mir eingeschärft, dass ich dich nicht vergiften darf.“ An das Gespräch erinnerte er sich mit Grausen. Er war sich wie ein Verbrecher vorgekommen. Dabei konnte er doch gar nichts dafür, dass Shakira zwei Flaschen Cola aus seinem Kühlschrank entwendet und hintereinander in ihrem Zimmer vernichtet hatte.

Shakira schlenderte an ihm vorbei in den Flur. Misstrauisch, weil er dem Mädel zutraute, seine Bude auf der Suche nach koffeinhaltigen Drinks auf den Kopf zu stellen, ging er hinterher.

Ihr Ziel war die Garderobe. Mit fachmännischem Blick begutachtete sie seine Jacken, zeigte auf eine fellgefütterte Jeansjacke und meinte: „Die sieht ziemlich cool aus. Die kannst du anziehen.“

Als nächstes war sein Schuhsortiment dran. Es bestand aus drei Paaren Sneakers in verschiedenen Abnutzungsstadien, zwei Paaren biederer Schnürschuhe (fürs Büro) und Winterstiefeln. Shakira entschied, dass die schwarzen Turnschuhe zu seinem Outfit passten und ging in die Küche. Er hörte, wie sie die Tür des Kühlschranks öffnete.

Das Mädel war wie ein Parasit. Hatte man sie sich einmal zugezogen, wurde man sie schwer wieder los.

„Darf ich was von der Himbeerbrause haben?“, rief Shakira.

„Klar“, erwiderte er, kehrte ins Schlafzimmer zurück und fing an, die Klamotten, die sich auf dem Bett türmten, in den Schrank zu räumen.

„Und darf ich dein Handy haben?“

Seufzend zog er das Gerät aus der Hosentasche, entsperrte es und brachte es in die Küche. Shakira dankte ihm mit einem strahlenden Lächeln.

Die Nachbarstöchter bekamen erst mit sechzehn Smartphones. Bis dahin mussten sie sich mit simplen Handys ohne Internetzugang begnügen. Shakira war der Meinung, dass dieser Zustand gegen den Grundsatz der Menschlichkeit verstieß. Ihre Eltern beeindruckte das genauso wenig wie Moritz.

Die Handy-Einschränkung war ein Punkt, bei dem er mit den Nachbarn übereinstimmte. Wenn’s nach ihm ginge, sollte man Smartphone nur eingeschränkt nutzen dürfen. Es nervte ihn, ständig erreichbar zu sein und mehr als einmal war er von einem Handy-Zombie fast über den Haufen gerannt worden. Ganz zu schweigen von lautstark geführten Telefonaten in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Ohne weitere Störung verstaute er die restlichen Klamotten. Anschließend betrachtete er das Outfit, das Shakira ausgewählt hatte. Ach, eigentlich war es okay. Etwas Besseres hatte sein Kleidervorrat eben nicht zu bieten.

Er schlüpfte hinein und beäugte sich in dem bodentiefen Spiegel, der neben dem Schrank hing. Der Aufzug wirkte unaufdringlich sexy ... sofern man auf schmächtige Typen mit roten Locken stand.

Er streifte ein Sweatshirt über und gesellte sich zu Shakira, die auf der Couch im Wohnzimmer hockte und Candy Crush spielte. Als er die Glotze anschaltete, schaute sie hoch, nur um sich gleich wieder aufs Display zu konzentrieren.

Er zappte durch die Kanäle, bis er bei einem TV-Duell landete. Vier Kanzlerkandidaten laberten mit zwei Moderatoren. Beim besten Willen wusste er nicht, welcher von den Pfeifen das kleinste Übel war. Zumindest stand für ihn fest, welches davon das größte wäre, und zwar die blonde Schnepfe.

Damit seine Laune nicht in den Keller sank, wechselte er zu einer Doku über deutsche Wiesen. Bienen beim Bestäuben von Blüten zuzugucken fand er wesentlich erbaulicher, als vier Backpfeifenvisagen beim Schlagabtausch.

Kurz vor zehn stieß Shakira einen Seufzer aus. „Scheiße! Ich muss gehen, sonst machen meine Alten Stress.“

„Liebe Grüße und schlaf gut.“

„Hmpf“, machte sie, legte das Handy auf den Couchtisch, sprang auf und trottete davon.

Sobald die Wohnungstür ins Schloss gefallen war, schaltete er den Fernseher aus und begab sich ins Bad. Sein Kosmetika-Sortiment bestand aus einer Hautcreme und einem Kajal-Stift, den er mal für Halloween gekauft hatte. Er machte nur von ersterem Gebrauch und bürstete seine Haare. Den Stift benutzt er lieber nicht. Er besaß kein Talent dafür. Sein Versuch, sich gruselig zu schminken, war gelungen. Moritz bezweifelte aber, ob er den gegenteiligen Effekt hinbekam.

Im Flur schlüpfte er in die schwarzen Sneakers und gefütterte Jeansjacke. Dann verließ er die Wohnung.

Glücklicherweise lagen die Temperaturen einige Grad über dem Gefrierpunkt. Schnellen Schrittes legte er die Strecke bis zum Bahnhof zurück und stieg in die U-Bahn.

2.

 

Wie stets am Wochenende waren viele Leute unterwegs. Bei einer Gruppe Frauen handelte es sich bestimmt um einen Junggesellinnenabschied. Sie trugen allesamt Haarreifen mit roten Herzchen und wirkten ziemlich angeheitert. Auf der Bank hinter den Damen döste ein Typ, eine Bierdose in der Hand. Ein älteres Pärchen betrachtete mal den Mann mit Missbilligung, mal die Frauen mit Wohlgefallen.

An der Haltestelle St. Pauli verließ er, zusammen mit der Gruppe, das Abteil.

Als Teenager war er mit Klassenkameraden über die sündige Meile gezogen. Mit wenig Geld in der Tasche und ohne Interesse an nackten Frauen, verlor das rasch seinen Reiz. Seitdem hatte er die Reeperbahn nur aufgesucht, wenn er ins Schmidts Tivoli oder zu einem Konzert wollte.

Weil er früh dran war – die Stoßzeit im Sugar Shack begann laut Statistik gegen halb zwölf – und Abstand zu der Junggesellenparty gewinnen wollte, schlenderte er gemächlich den Bürgersteig entlang. Einige Mal musste er Touristengruppen ausweichen. Diese erkannte man daran, dass sie eng beieinander blieben und sich vorwiegend aus Herrschaften im gesetzten Alter – jenseits der fünfzig – in beigen Jacken zusammensetzten.

Bevor er in eine Seitenstraße einbog, sah er Olivia Jones, umgeben von einer Traube Menschen. Er erinnerte sich, gelesen zu haben, dass sie Führungen über St. Pauli anbot. Vielleicht sollte er sich mal zu sowas anmelden. Er fand sie ziemlich cool.

Um die Sexarbeiterinnen, die vor den Häuserfronten Dienst schoben, machte er einen großen Bogen. Vor der Herbertstraße standen ein paar Leute und beäugten voller Ehrfurcht die Absperrung, auf der Schilder den Zutritt für Frauen verboten.

Hinter der nächsten Kreuzung entdeckte er die Neonreklame des Sugar Shack. Der Laden befand sich in der Kurve einer Gasse. Damals, mit seinen Klassenkameraden, waren sie daran vorbeigekommen. „Das ist ein Schwuchtelschuppen“, hatte Dirk stolz sein Insiderwissen geteilt. Zu dem Zeitpunkt wusste noch niemand, dass er auch eine war.

Vor dem Club parkten einige schwere Maschinen. Das eine war eine Indian, sofern sich Moritz mit seinen begrenzten Motorradkenntnissen nicht irrte. Ein paar Raucher lungerten herum. Die Tür wurde von einem bulligen Glatzkopf bewacht.

Er durfte passieren. Im Eingangsbereich, der lediglich durch einen dicken Vorhang abgeschirmt wurde, bezahlte er zehn Euro und gab seine Jacke ab.

Etwas mulmig, da er nicht wusste, was ihn erwartete, war ihm zumute, als er den Stoff beiseiteschob und den Clubraum betrat. Das erste, das ihm ins Auge fiel, war ein Riese, der ein Brustgeschirr trug. Oder wie hießen die Lederriemen, die man sich um den Oberkörper schlang? Kombiniert wurde das Ding mit einer tief sitzenden schwarzen Hose, vermutlich aus Leder. Es waren aber nicht die Klamotten, die Moritz‘ Aufmerksamkeit erregten, sondern die extreme Körperbehaarung, die Brustkorb und Arme bedeckte.

Mühsam riss er seinen Blick los und steuerte auf die Bar, die sich rechts befand, zu. Nachdem er sich auf einen Hocker geschwungen hatte, bat er um ein Pils. Seine Eintrittskarte, die ein Getränk beinhaltete, wechselte den Besitzer.

Die Bierflasche in der Hand drehte er sich in Richtung Tanzfläche. Selbige wurde an den vier Ecken von Säulen eingerahmt. Eine Discokugel, die in der Mitte hing, reflektierte die bunten Lichtblitze der Spots. Die Fläche war stark frequentiert. Besonders stachen die Tanzwütigen in weißen Klamotten im Stroboskopgewitter hervor.

An der anderen Wand gab es auch eine Bar, genau wie an der Stirnseite. Zwischen den beiden Tresen befand sich ein Torbogen, hinter dem vermutlich die Toiletten lagen. Links von Moritz‘ Standort führte eine Treppe zu einer Galerie, die über ihm verlief.

Er setzte die Flasche an seine Lippen. Wunderbar kühl und prickelnd rann das Pils durch seine Kehle. Obwohl nicht überfüllt, war es in dem Laden sehr warm. Na ja, es kam ihm wahrscheinlich nur so vor, weil er auf dem Herweg gefröstelt hatte.

Das Bier schien zu verdunsten. Im Nu hatte er es vernichtet. Er orderte Nachschub, mit dem er sich auf die Galerie verzog.

Am Geländer aus stählernen Streben standen Bänke, auf die je zwei Personen passten, sofern man sich eng aneinander kuschelte. Dazwischen: flache Tische, die genug Platz für ein paar Getränke boten. An der Wand reihten sich Sitzgruppen aus Clubsesseln mit runden Tischchen. Abgesehen von ihm war lediglich ein wild knutschendes Pärchen auf der Galerie.

Moritz ließ sich auf einer Bank nieder und spähte nach unten. Kein Andreas weit und breit. Er beobachtete den Torbogen, wo ein reges Kommen und Gehen herrschte. Der Verdacht, dass manche Gäste nicht wegen der Keramikabteilung den hinteren Gebäudeteil aufsuchten, lag nahe. Einige kamen nämlich arg derangiert von ihrem Ausflug zurück. So, als ob sie schweißtreibenden Sport betrieben hätten.

Dass Andreas regelmäßig ins Sugar Shack ging, wusste er von Tjark, einem Mitarbeiter des Queer-Referats. Der hatte es irgendwo aufgeschnappt. Je näher Mitternacht rückte, ohne dass Andreas auftauchte, desto mehr zweifelte Moritz allerdings am Wahrheitsgehalt dieser Aussage. Andererseits hatte der Club von Mittwoch bis Sonntag geöffnet. Die Chancen, Andreas auf einem Freitag hier anzutreffen, standen also 1:5.

„Na, was bist du denn für ein niedlicher Pumuckel?“, sprach ihn plötzlich jemand von der Seite an und zupfte an seinen Locken.

Langsam, weil er nach einer schlagfertigen Antwort suchte, drehte er den Kopf. Der Typ hatte Akne Narben und ein sympathisches Lächeln. „Sorry, aber ich habe schon einen Meister Eder.“

„Was spricht gegen zwei?“

„Ich bin monogam.“

„Och, wie schade.“ Der Mann seufzte und schlenderte davon.

Inzwischen hatte sich die Galerie gefüllt. Ihm gegenüber saßen zwei Typen, die aneinander eine Mandeluntersuchung durchführten. Nichts gegen Zungenküsse, aber die Angelegenheit sah für seinen Geschmack zu feucht aus. Lief dem einen nicht sogar Sabber aus dem Mundwinkel?

Er wechselte an die Bar im Erdgeschoss. Um weitere Anbaggerei zu vermeiden, setzte er eine abweisende Miene auf. Das funktionierte. Unbehelligt lenzte er sein drittes Bier, wobei er weiter nach Andreas Ausschau hielt.

Es hatte ihn echt schwer erwischt. Morgens dachte er als erstes an Andreas und abends, wenn er sich bei einem Handjob entspannte, war es sein letzter Gedanke vorm Einschlafen. Wäre die Uni kleiner, würde man sich vielleicht öfter über den Weg laufen. Die Vorlesungssäle der Sportwissenschaftler lagen nämlich weit von denen, die er besuchte, entfernt. Wenn es die queere Gruppe nicht gäbe, wären sie einander vermutlich gar nicht begegnet.

Ja, zugegeben, Andreas besaß ein bisschen Ähnlichkeit mit Aaron. Das energische Kinn mit dem Grübchen, der muskulöse Körper und die braunen Augen. Eventuell erinnerte ihn auch die hochnäsige Art an Aaron – ach, nein, Andreas war gar nicht hochnäsig. Das war nur eine Fassade.

Gegen eins hatte er die Schnauze voll vom Warten. Er bahnte sich einen Weg zum Ausgang, ließ sich seine Jacke geben und verließ den Club.

Beide Hände in den Hosentaschen vergraben legte er den Weg zur Reeperbahn zurück. Die frische Luft vertrieb den Anflug Müdigkeit, der ihn in dem stickigen Laden ereilt hatte. Er beschloss, eine Runde durch die sündige Meile zu drehen und wandte sich nach links.

Beim Schmidts Tivoli warf er einen Blick auf den Veranstaltungskalender. Einige Schritte weiter betrachtete er die Auslage in einem Schaufenster. Feuchtglänzende Bettstiefel ... wer zog sowas bitteschön an? In sein Bett würde er niemanden mit Stiefeln lassen. Nicht mal Andi.

Langsam ging er weiter, bis zur nächsten großen Kreuzung, um auf die andere Straßenseite zu wechseln. Besonders viel war an der Ecke Reeperbahn/Große Freiheit los. Menschenmassen bewegten sich die Straße, in der Neonreklamen dicht an dicht aufeinander folgten, rauf und runter.

Einige Meter dahinter, neben einem Kiosk, saß ein Obdachloser mit Hund. Moritz warf einen Euro in den Pappbecher, der vor dem Mann stand. Als nächstes wich er einer Gruppe Jugendlicher, die betrunken und auf Krawall gebürstet wirkten, aus.

Plötzlich hatte er genug von dem Trubel. Er beschleunigte und erreichte rasch die Bahnstation St. Pauli. Sein Timing war perfekt: Ein Zug fuhr ein, kaum dass er die Treppe zum Bahnsteig runtergejoggt war.

Während der kurzen Fahrt ließ er den Abend Revue passieren. Einerseits war er enttäuscht, Andreas nicht getroffen zu haben. Andererseits war es völlig okay gewesen, allein im Sugar Shack rumzusitzen. Er hatte damit gerechnet, sich unwohl zu fühlen, doch der Fall war nicht eingetreten.

In dieser Nacht träumte er, mit Andi zu tanzen und anschließend in den Darkroom zu verschwinden. Weder das eine noch das andere war sein Ding. Wenn er versuchte, das Tanzbein zu schwingen, sah das lächerlich aus, ungefähr wie ein Roboter auf Crack. Also, wie ein älteres Modell, das sich eckig bewegte, nicht wie die modernen Androiden. Und Sex in der Öffentlichkeit fand er abturnend. Na ja, außer er war dermaßen geil, dass ihm alles egal war.

Beim Frühstück erlaubte er sich, in der Erinnerung an den Traum zu schwelgen. Anschließend stellte er sich der Realität. Er musste sich auf eine anstehende Klausur vorbereiten.

Shakiras Outfit-Beratung blieb ihn an diesem Abend erspart. Dafür rief gegen halb zehn Consuela an und verlangte zu wissen, wie es gelaufen war. Dummerweise hatte er sie in seine Pläne eingeweiht.

„Gar nichts ist gelaufen. Er ist gar nicht aufgetaucht“, erzählte er.

„Hast du dir wenigstens einen anderen geschnappt und dich flachlegen lassen?“

„Das würde ich dir garantiert nicht auf die Nase binden.“

Sie seufzte. „Also hast du es nicht getan. Oh Mann! Dir muss der Saft doch schon bis zu den Ohren stehen.“

„Mein Saft geht dich gar nichts an!“

Abermals drang ein Seufzer an sein Ohr. „Mann, bist du zickig! Sieh zu, dass du endlich mal wieder ordentlich rangenommen wirst.“

Grußlos legte Consuela auf. Langsam ließ er das Handy sinken und überlegte, ob er wirklich derart stark untervögelt war, dass er unausstehlich wurde. Sein letztes Mal war ewig her. Nur vage erinnerte er sich daran oder – eher gesagt – wollte er sich gar nicht daran erinnern. Es handelte sich um einen Unfall im Suff. Danach hatte er sich geschworen, nie wieder zu tief ins Glas zu gucken.

Eine Stunde später brach er auf. Weil es nieselte, legte er den Weg zum Bahnhof im Eiltempo zurück. Als er im Zug saß und sich in der Spiegelung der Fensterscheibe betrachtete, registrierte er, dass seine Frisur ruiniert war. Na ja ... bevor sein Haar nass geworden war, hatte es auch nicht besser ausgesehen.

An der Zielhaltestelle stellte er erleichtert fest, dass der Regen aufgehört hatte. Schließlich wollte er weder klatschnass im Sugar Shack aufschlagen, noch die ganze Strecke rennen. Wobei das eine das andere nicht ausschloss.

Diesmal begab er sich gleich mit einem Getränk auf die Galerie.

Noch war wenig los, aber schon bald setzte ein steter Strom von Gästen ein. Er hatte seine Bierflasche zur Hälfte geleert, da sah er Andreas hereinkommen. Sein Herz vollführte einen freudigen Salto.

Andreas drehte eine Runde durch den Raum, redete mal mit dem einen oder anderen der Anwesenden. Sein Schwarm sah, wie immer, umwerfend aus. Die kurzen, braunen Haare trug Andreas im just-out-of-bed-Look. Schwarze Jeans, ein weißes T-Shirt, darüber ein offenes, grün-schwarz kariertes Hemd. Der lässige Look passte super zu dem sportlichen Andreas.

Moritz trank den letzten Schluck, stand auf und ging zur Treppe. Während er die Stufen runterstieg beobachtet er, dass sich Andreas mit einem Typen in Richtung Torbogen bewegte. Ein fieses Stechen in seinem Brustkorb veranlasste ihn, stehenzubleiben und tief Luft zu holen. Bestimmt gingen die beiden nicht zusammen pinkeln, sondern in den Darkroom.

Hey!“, motzte jemand hinter ihm. „Willst du hier festwachsen?“

Er trat beiseite, ließ den Mann vorbei und kehrte auf die Galerie zurück. Dann fiel ihm auf, dass er stechenden Durst hatte. Also besorgte er sich im Erdgeschoss Biernachschub, mit dem er sich erneut in luftiger Höhe niederließ. Von dort konnte er den Torbogen sehen, was an der Bar nicht möglich war, weil Leute die Sicht verstellten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte Andreas wieder auf. An ihm erkannte Moritz keine Veränderung, dafür an dem Typen, der kurz darauf in sein Blickfeld geriet. Der Kerl wirkte wie nach einem Saunabesuch. Insgeheim hoffte er, dass Andreas auf Toilette gewesen und der Typ von jemand anderem durchgenudelt worden war.

Auf der Bank ihm gegenüber ließen sich zwei Gäste nieder und begannen, sich gegenseitig die Zunge in den Hals zu stecken. Moritz ignorierte die beiden. Er überlegte, ob er auf Andreas zugehen oder warten sollte, bis der auf ihn aufmerksam wurde. Für letztere Option müsste er sich allerdings besser positionieren. Andreas guckte nämlich überall hin, nur nicht nach oben.

Letztendlich blieb er auf der Galerie. Andreas schleppte noch einen weiteren Typen in den Darkroom und verließ anschließend den Club. Betrübt begab sich Moritz auf den Heimweg. Aufgeben war keine Option. Irgendwie musste er es schaffen, Andreas für sich zu gewinnen.

Im Laufe der folgenden Woche sah er seinen Schwarm einmal auf dem Campus, allerdings nur von Weitem und von hinten. Egal. Er war schon mit wenig zufrieden.

Mittwochabend hielt er sich rund eine Stunde im Sugar Shack auf, ohne dass sich Andreas blicken ließ. Donnerstagabend blieb er daheim, weil er am nächsten Tag um acht einen Termin an der Uni hatte. Freitagabend schlüpfte er gegen halb elf in seinen Ausgehdress und machte sich auf den Weg zur Reeperbahn.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.04.2025

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