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1.

Obwohl Perseus seit einer Woche die Uni besuchte, hatte er sich auf dem Campus verlaufen. Wo, zum Henker, befand sich Gebäude 29? Zweimal war er bereits übers ganze Gelände gelatscht und wusste allmählich nicht mehr, wo er noch gucken sollte.

„Kann ich Sie was fragen?“, sprach er eine Frau mit grauen Haaren, die wie eine Dozentin aussah, an.

Sie blieb stehen. „Ja, bitte?“

„Wo finde ich Haus 29?“

Die Frau zeigte auf ein gelbes Backsteingebäude und setzte ihren Weg fort.

Die Vorlesung hatte schon begonnen. Er huschte zu einem freien Platz und packte sein Tablet aus. Der Dozent, der bei seinem Erscheinen kurz unterbrochen hatte, fuhr fort zu reden.

„Und für diejenigen, die erst jetzt zugeschaltet haben, stelle ich mich nochmals vor: Ich bin Doktor Carsten Brinkmann. Vor rund zehn Jahren habe ich promoviert und anschließend meine Doktorarbeit als Buch herausgebracht. Thema: Veränderungsprozesse in der Arbeits- und Personalpolitik vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung: Handlungsansätze für die betriebliche Praxis. Den Titel können Sie in jedem Buchhandel oder bei mir mit persönlicher Widmung bestellen. Das gebundene Buch kostet 79,90, das Taschenbuch 49 Euro und die Sonderausgabe 99 Euro.“

Perseus, noch dabei sich ins Netzwerk einzuloggen, nahm das nur mit halbem Ohr zur Kenntnis.

„Die Lektüre ist sehr hilfreich, um einige der folgenden Vorgänge zu verstehen und umzusetzen“, fuhr Brinkmann fort. „Ich empfehle daher, dass Sie sich eine Ausgabe zulegen.“

„Der kann mich mal“, brummelte sein Sitznachbar. „Scheiß Marketing Veranstaltung.“

Er schaute kurz hoch. Doktor Brinkmann war blond und besaß ein attraktives Gesicht. „Mich dürfte der auch gern am Arsch lecken“, murmelte er, bevor er sich wieder seinem Tablet widmete.

Ein leises Prusten veranlasste ihn, seinen Sitznachbarn zu mustern. Bei den vergangenen Vorlesungen hatte er den Typen bereits gesehen, erinnerte sich aber nicht an dessen Namen.

Brinkmann schaltete den Beamer an. Perseus richtete seine Aufmerksamkeit auf die Grafik, die von dem Gerät auf eine Leinwand hinter dem Rednerpult projiziert wurde.

Im Laufe der folgenden Stunde wuchs sein Interesse an dem Dozenten in dem gleichen Maße, wie selbiges für das trockene Thema abnahm. Brinkmann war irre sexy. In dem dunkelblauen Anzug, kombiniert mit einem hellblauen Hemd und schwarzen Schuhen, sollte der Typ eigentlich bieder wirken, doch das Gegenteil war der Fall. Vielleicht lag es an den lasziven Bewegungen oder dem großen Selbstbewusstsein. Warum auch immer Brinkmann so ein feuchter Traum war: Er musste den Mann unbedingt haben.

Das Licht des Beamers erlosch. Geschäftiges Rumoren setzte ein, als sich seine Kommilitonen zum Aufbruch rüsteten. Perseus erwachte wie aus einem Traum und blinzelte mehrmals, bevor er begann, ebenfalls seine Sachen zu packen.

Auf dem Weg nach draußen gesellte sich Moritz, den er in der letzten Woche bei einer queeren Veranstaltung getroffen hatte, zu ihm. „Gehst du morgen zur Ersti-Party?“

Für Erstsemester wurden in jeder Fachschaft Feiern veranstaltet, um Netzwerke zu bilden und so weiter.

Er zuckte mit den Schultern. „Das entscheide ich spontan.“

„Es gibt Glühwein und das Catering soll ziemlich gut sein.“

Die Anmerkung, dass er nicht am Hungertuch nagte und deshalb keinen Anlass sah, sich unter die Kinder zu mischen, behielt er für sich. Es würde überheblich klingen, zumal viele ihrer Kommilitonen auch schon Mitte zwanzig waren. Dennoch führten sich viele so auf, als hätten sie direkt vom Abi zur Uni gewechselt. Bei einigen, die nur ein einjähriges Praktikum in der Wirtschaft absolviert hatten, traf das ja auch fast zu.

„Ich denke darüber nach, okay?“

Moritz murmelte: „Okay.“

Vorm Gebäude trennten sich ihre Wege. Moritz wandte sich nach rechts, vermutlich, um in eine der Mensen zu gehen. Perseus ging in Richtung Grindelallee, wo er in einen Bus stieg.

Während ihn das Fahrzeug gen Heimat schaukelte, dachte er über Brinkmann nach. Laut der Biografie, die sich auf der Rückseite des angepriesenen Buches befand, lebte der Mann mit seiner Familie in Hamburg. Das konnte alles Mögliche bedeuten. Manche bezeichneten ihren Hund als ihre Familie, manche alle im Umkreis wohnenden Blutsverwandten. Doch selbst wenn eine Ehefrau gemeint war, sah er darin keinen Hinderungsgrund. Schließlich wollte er lediglich mit Brinkmann vögeln.

Von der Zielhaltestelle waren es nur wenige Minuten zu Fuß bis zu seiner Wohnung. Noch während seiner Ausbildung hatte er die Bude angemietet, weil es ihm zuhause zu eng und stressig wurde. Damals befanden sich seine Eltern in einer Krise. Mittlerweile waren sie wieder ein Herz und eine Seele.

Zu dem Zeitpunkt hatte er angefangen, nebenher im Pulverkasten zu strippen. Erst wollte er als Callboy arbeiten, aber das war doch nichts für ihn. Ausziehen vor aller Augen fand er okay, sich von einem x-beliebigen Typen begrabbeln zu lassen hingegen nicht. Außerdem tanzte er gern und litt nicht unter Lampenfieber. Es war also eine Win-Win-Situation. Er tat etwas, das ihm gefiel und bekam dafür auch noch Geld.

Eitelkeit spielte ebenfalls eine Rolle. Wer ließ sich nicht gern bewundern? Perseus fand nichts Schlimmes daran. Er konnte sich, dank der Gene seines Vaters, eines gebürtigen Griechen, durchaus sehen lassen. Seine Haut wies den gleichen Olivton auf und wurde im Sommer schnell dunkel. Die schwarzen Locken und mokkabraunen Augen stammten auch von seinem Vater. Zudem achtete er auf seine Ernährung und trieb regelmäßig Sport. Als Stripper war er es seinem Publikum schuldig, einen makellosen Körper zu präsentieren.

Im Hausflur guckte er in seinen Briefkasten. Trotz des Aufklebers Keine Werbung! steckte welche darin. Einige Bewohner hatten die Prospekte direkt in den Karton, der zu diesem Zweck unter den Kästen stand, entsorgt. Er legte seine auf den Stapel.

Im Hochparterre lag ein Roller, über den er hinwegsteigen musste, um zur Treppe zu gelangen. Auf der untersten Stufe hockten die Zwillinge, die zu der in diesem Geschoss wohnenden Familie Tüfekci gehörten. Die beiden Mädchen rückten beiseite, damit er an ihnen vorbei konnte. Das eine lächelte ihn schüchtern an. Ein süßes Ding, geschätzt fünf bis sechs Jahre alt.

Im Haus lebten überwiegend Leute mit Migrationshintergrund. Er zählte auch dazu, wobei er als halber Grieche eine Minderheit darstellte. Es überwogen die Bewohner mit türkischen Wurzeln. In der Wohnung neben seiner lebte ein Pärchen aus Syrien und im Dachgeschoss ein älterer Herr, der aus Polen stammte.

Sein erster Weg führte in die Küche, um den Rest Nudelauflauf vom Vorabend in die Mikrowelle zu stellen. Als nächstes entledigte er sich seiner Jacke und Schuhe. Die Tasche brachte er ins Wohnzimmer, wo er sie auf dem Schreibtisch auspackte.

Zu Anfang hatte er praktisch auf dem Boden gelebt. Sein Mobiliar bestand aus einer Matratze, einem Stuhl und diversen Müllsäcken und Umzugskartons. Im Laufe der Zeit hatte er ein Sofa, einen Couchtisch, Regale, ein Bettgestell und einen Kleiderschrank beschafft. Und natürlich einen Schreibtisch mit passendem Sessel. All das hatte er über ein Kleinanzeigen-Portal gefunden.

Die Mikrowelle verkündete mit einem elektronischen Pling, dass seine Mahlzeit erhitzt war. Er holte den Teller und verspeiste das Nudelgericht, während er seine Notizen über die Vorlesung anschaute. Grundlagen der Rechnungslegung. Ein trockenes Thema und ihm, dank seiner Ausbildung, geläufig. Eigentlich hätte er sich die Stunde sparen können, weil der Stoff nichts Neues beinhaltete.

Als die Portion vernichtet war, lehnte sich Perseus mit einem zufriedenen Seufzen im Sessel zurück. Kochen hatte seine Mutter ihm sowie seinen Geschwistern beigebracht. Er war daher imstande, gesunde und leckere Gerichte zu fabrizieren. Dazu waren sie günstiger als das Essen in der Mensa.

Sparsamkeit war ihm mit der Muttermilch eingeflößt worden. Seine Eltern mussten stets auf den Cent achten, weil seine Mutter nur halbtags arbeitete und sein Vater bei der Stadtreinigung keinen hohen Verdienst hatte. Im Gegenzug waren seine Geschwister und er überreichlich mit Liebe überschüttet worden. Das wusste er sehr zu schätzen. Sein Outing hatten sie gelassen aufgenommen, obwohl sein Vater katholisch erzogen worden war. Seinen Nebenerwerb hielt er jedoch vor seiner Familie geheim. Man musste sein Glück nicht überstrapazieren.

Wie aufs Stichwort hin vibrierte sein Smartphone. Seine Mutter rief an. Er hob das Gerät an sein Ohr. „Hi Mama.“

„Kommst du morgen zum Essen? Es gibt Kartoffelpuffer.“

Er hatte keine Vorlesung und es handelte sich um sein Lieblingsgericht. „Gerne.“

„Dann sei bitte um eins hier.“

„Wie geht’s Papa?“

Sie seufzte. „Er hat immer noch Rücken. Ein krankes Kind ist kein Vergleich zu einem kranken Mann. Dein Vater braucht doppelt so viel Pflege.“

„Wirst du’s überleben?“

„Natürlich. Liebe überwindet alles.“ Seine Mutter lachte. „Bis morgen, mein Schatz.“

Wenig später summte sein Handy erneut. Diesmal war es eine Nachricht, und zwar von Jordan. „Habe heute Abend eine Stunde Zeit.“

Seit ein paar Monaten hatten sie ein Verhältnis. Jordan war attraktiv, gut im Bett und verheiratet. Da er ein neues Ziel im Auge hatte, interessierte ihn ihre Affäre nicht mehr.

„Dann widme sie deiner Frau. Ich wünsche dir alles Gute“, textete er zurück.

Die Antwort bestand darin, dass Jordan anrief. Genervt verdrehte er die Augen, bevor er das Gespräch annahm. „Ja?“

„Soll das heißen, du machst Schluss mit mir?“, verlangte Jordan zu wissen.

„Haben wir denn je etwas angefangen?“

Nun komm mir nicht so!“, motzte Jordan.

„Uns war beiden von Anfang an klar, dass wir uns nur ein paarmal treffen werden. Also hör auf, mit mir ein Krisengespräch führen zu wollen.“

„Aber ich dachte ...“ Jordan seufzte. „Du hast recht. Ich find’s trotzdem schade.“

„Mach’s gut. Ciao.“ Er legte auf, ehe Jordan etwas erwidern konnte. Darauf, eine ellenlange Unterhaltung über das unausweichliche Ende ihrer Fickbekanntschaft zu führen, hatte er keinen Bock.

Um kurz nach sieben betrat er den Pulverkasten durch die Hintertür. Sein Auftritt dauerte nur wenige Minuten, die Vorbereitung länger als eine halbe Stunde. Im Flur begegnete er Bea, die im Restaurant hinterm Tresen stand.

„Hi, Zuckerschnecke. Du siehst mal wieder atemberaubend aus“, säuselte Beatrix, die ohne Makeup und Kostüm auf den Namen Malte Schneider hörte.

„Gracias.“ Er zwinkerte ihr zu und ging in die Garderobe.

Den Raum teilte er sich mit den drei Kollegen: Kenneth, der zu Joe Cocker alle Hüllen fallen ließ, Gunnar desgleichen zu wechselnden Songs der Bee Gees und Memet, der zu Mucke von ZZ Top strippte.

Es gab vier Spinde, zwei Kleiderständer und Schminktische. Da immer nur zwei Personen die Garderobe benutzten, reichte diese Ausstattung vollkommen. Lediglich am Samstag, wenn die erste Schicht auf die zweite stieß, wurde es etwas eng.

Perseus trat zweimal pro Woche in der Neunzehn-Uhr-Show auf. Manchmal tauschte er mit einem der beiden Kollegen, die am Sonnabend in der späten Vorstellung strippten; je nachdem, welche Termine am Wochenende anstanden.

Er holte sein Kostüm aus dem Spind, streifte seine Straßenkleidung ab und setzte sich auf einen der Stühle. Zur Einstimmung suchte er aus seiner Playlist Tito & Tarantula heraus und steckte sich In-Ears in die Ohren. Zu den Klängen von After dark verschaffte er sich eine Erektion, die er mit einem Cockring fixierte.

Gerade war er damit fertig geworden, da stürmte Memet herein. Der Kollege gehörte zu der Minderzahl Heten, die im Pulverkasten arbeiteten. Zudem war der Bursche generell spät dran. An die Hektik, die Memet jedes Mal verbreitete, hatte sich Perseus leider immer noch nicht gewöhnt.

Er wandte sich dem Spiegel zu, um seine Augen mit Kajal zu betonen. Unterdessen riss sich sein Kollege die Klamotten vom Körper. Es grenzte an ein Wunder, dass sie dabei heil blieben. Als nächstes kramte Memet das Kostüm aus dem Spind, stopfte stattdessen die Kleidung hinein und ließ sich auf den Stuhl neben seinem plumpsen.

Perseus nahm die Stöpsel aus den Ohren, weil Memet ihn mit einer Handbewegung dazu aufforderte und zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Ich hab Pickel am Arsch. Kannst du sie mit Abdeckstift zuschmieren?“

„Du willst mich damit ...“ Er zeigte auf seine Latte. „... an deinen Arsch lassen?“

Abdeckstift ist kein Synonym für Schwanz“, gab Memet grinsend zurück, kramte ein Exemplar aus dem Fundus des Schminktisches und drückte ihm selbiges in die Hand.

Perseus bezweifelte, dass die Aktion viel Nutzen hatte. Schweiß, der sich unweigerlich beim Tanzen im Scheinwerferlicht bildete, sowie Abrieb durch das Kostüm würden seine Bemühungen schnell wieder zunichtemachen. Dennoch ging er hinter Memet, der aufgestanden war, in die Hocke. Rasch schmierte er die vier roten Stellen auf den runden Arschbacken zu und begab sich wieder auf seinen Stuhl.

„Danke“, brummelte Memet, drehte ihm den Rücken zu und fing an, an sich rumzufuhrwerken.

Im Spiegel konnte er trotzdem sehen, wie sein Kollege selbst Hand anlegte. Nicht, dass ihn das sonderlich interessieren würde. Sexuell war er ausgelastet. Na gut, vorläufig war das nicht mehr der Fall, aber dieser Zustand würde bestimmt nicht lange andauern.

Jordan hatte er im Pulverkasten kennengelernt. Sein Ex war mit Geschäftsfreunden in einer Vorstellung gewesen. Danach hatte Jordan ihn am Hinterausgang abgepasst. Noch in derselben Nacht waren sie zusammen in die Kiste gesprungen. Mit Jordans Vorgänger war es ähnlich gelaufen.

Perseus‘ Plan lautete daher, Brinkmann in eine der Shows zu locken. Der Rest würde sich schon irgendwie ergeben. Die Frage war nur, wie er es anstellen sollte, Brinkmann in den Pulverkasten zu bewegen.

Er beendete sein Makeup und machte sich daran, sein Kostüm anzulegen. Ausgezogen war der Kram schnell, doch umgekehrt erforderte es große Sorgfalt. Ein klemmender Verschluss stellte eine mittlere Katastrophe dar. Einmal, ganz zu Anfang, hatte er sich mit einem Ruck seiner halben Bekleidung, anstatt nur des Oberteils, beraubt. Schuld war ein im Stoff des Hosenbeins verhakter Klettverschluss. Sowas wollte er nie wieder erleben. Damals war ihm fast das Herz stehengeblieben. Heutzutage würde es ihn nicht mehr dermaßen schocken, aber weiterhin aus dem Takt bringen.

2.

 

„Er gehört zu mir“, drang wenig später Marilyns raues Organ an sein Ohr.

Sein Auftritt war als nächstes dran. Er schlüpfte in weiße Flipflops, drapierte eine anderthalb Meter lange Plüschschlange um seine Schultern und setzte einen Sombrero auf. Derart ausstaffiert begab er sich hinter die Bühne.

Als Applaus aufbrandete, atmete er tief durch. Wie bereits erwähnt, litt er nicht unter Lampenfieber, aber aufgeregt war er schon. Alfons, der Regieassistent, zeigte ihm fünf Finger, also die Sekunden bis zu seinem Einsatz.

Rosamunde rauschte an Alfons vorbei. Die ersten Takte von After dark erklangen. Abermals nahm Perseus einen tiefen Atemzug, dann ging’s los.

Seine Choreografie war angelehnt an Salma Hayeks Tanz in From dusk till dawn. Natürlich stopfte er weder einem der Zuschauer seine Zehen in den Mund, noch schubste er sie oder klaute ihre Getränke. Auch spazierte er nicht über die Tische, sondern blieb auf der Bühne. Sein Hüftschwung hingegen war genau abgeguckt, genau wie der laszive Blick.

Als erstes flog der Sombrero auf den Boden, anschließend die Flipflops. Zwei Tänzer nahmen ihm übertrieben vorsichtig die Schlange ab, so, als wäre sie lebendig. Nach und nach fielen seine Klamotten, bis auf den String, den er sich beim Schlussakkord vom Leib riss. Das Publikum durfte einen kurzen Moment schauen, dann hob er sein Hemd auf und bedeckte damit seine Mitte.

Reizüberflutung, lautete das Credo des Programmdirektors, sollte um jeden Preis verhindert werden. Nackte Tatsachen mussten daher sparsam eingesetzt werden. Umso mehr brannten die Zuschauer darauf, welche zu sehen.

Er huschte hinter den Vorhang. Einer der Tänzer ging auf die Bühne und sammelte seine Kostümierung ein. Den Arm voller Klamotten, begab er sich in die Garderobe.

Memet, inzwischen in voller Montur, drehte Runden in der Kabine. Sein Kollege hatte stets starkes Lampenfieber. Dafür wurde Memet direkt vorm Auftritt sehr ruhig. Na ja, das konnte täuschen. Vielleicht spielten sich dann in Memets Innerem dramatische Szenen ab.

Perseus ließ das Kleiderbündel fallen und zog sich den Cockring vom Schwanz. Mit einem erleichterten Seufzer nahm er vorm Schminktisch Platz.

„Meine Mutter will eine Show angucken“, berichtete Memet. „Ich war so unvorsichtig zu erwähnen, dass uns ein Kontingent Freikarten zur Verfügung steht.“

„Dann gönn deiner alten Dame doch den Spaß.“ Memets Mutter war vor einiger Zeit Witwe geworden. Bestimmt konnte sie jede Art von Ablenkung gebrauchen.

Memet blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Ich könnte ihr hinterher nie wieder in die Augen gucken.“

„Warum?“

„Weil sie dann doch weiß, wie ich untenrum aussehe.“

„Ähm ... du erinnerst dich aber schon, dass sie diejenige ist, die dich gewindelt hat, oder?“

„Seitdem hat sich da einiges verändert.“

„Und du bist auch irgendwie gezeugt worden. Das Gehänge deines Vaters wird nicht so viel anders aussehen als deins.“

„Ich glaube nicht, dass sie dabei Licht anhatten.“

„Dann erzählst du ihr einfach, dass die Stripper Monster sind, bei denen – was weiß ich –Bananen im Schritt wachsen.“

„Sie will in eine Show, in der ich auftrete.“

„Oh weh. Tja ...“ Perseus kratzte sich am Kinn. „Weiß sie denn, was du auf der Bühne machst?“

Erneut schüttelte Memet den Kopf. „Ich hab nur gesagt, dass ich tanze und so.“

„Meinst du nicht, dass sich deine Mutter ihren Teil dazu denkt?“

„Keine Ahnung.“ Memet begann erneut, im Raum herumzulaufen.

Armer Kerl! Perseus wollte auch nicht, dass seine Mutter im Publikum saß und zuschaute, wie er blankzog. Da er keine Lösung für Memets Problem wusste, wandte er sich dem Thema Freikarten zu. Damit sollte es gelingen, Brinkmann zu ködern.

Er griff nach einem Feuchttuch und wischte sich damit übers Gesicht. Im Anschluss holte er seine Klamotten aus dem Spind und schlüpfte hinein. Unterdessen murmelte Memet vor sich hin und tigerte umher.

Plötzlich blieb sein Kollege stehen und lauschte. Maryam Rose sang gerade Weiße Rosen aus Athen. Anschließend kam eine Jongliernummer, dann war Memet dran.

„Reite doch schon mal zur Bühne“, schlug Perseus vor. Memets Herumgerenne war schwer zu ertragen.

Sein Kollege schnappte sich das Steckenpferd, das zum Kostüm gehörte und zischte ab.

Endlich herrschte Ruhe, abgesehen von den Geräuschen im Hintergrund.

Perseus faltete sein Kostüm zusammen, verstaute es im Spind und hängte die Schlange sowie den Sombrero an einen der Garderobenständer. Danach setzte er sich wieder hin und inspizierte sein Äußeres. Mit dem Ergebnis war er zufrieden.

Wie könnte er Brinkmann die Freikarte zukommen lassen? Sie direkt zu überreichen, kam nicht infrage. Das würde wie Bestechung aussehen. Sollte er sie wie zufällig vorm Rednerpult verlieren? Nein, keine gute Idee. Wahrscheinlich würde Brinkmann sie für Müll halten und liegenlassen.

In Gedanken versunken verließ er den Pulverkasten.

 

Am nächsten Morgen fand er problemlos den Hörsaal. Diesmal setzte er sich neben Moritz. Der Dozent war bereits da und blätterte in seinen Unterlagen. Perseus loggte sich ein und lud die Folien. Erziehungswissenschaften fand er interessant. Aktuell ging es um Integration.

„Hast du ’ne Ahnung, wo die Profs parken?“, wandte er sich im Flüsterton an Moritz.

„Ich glaube, es gibt eine Tiefgarage.“

„Wo könnte die sein?“

Moritz zuckte mit den Schultern. „Frag doch mal Google.“

Kurz darauf hatte er eine Antwort. Nun brauchte er nur noch rausfinden, welchen Wagen Brinkmann fuhr. Bestimmt handelte es sich um einen der gehobenen Klasse, wobei wahrscheinlich viele der Dozenten sowas besaßen.

Perseus hatte sich nach dem Ende seiner Ausbildung ein Auto beschafft, es aber wieder verkauft, als er sich entschied zu studieren. Es war ohnehin stets nervig gewesen, in seiner Wohngegend einen Parkplatz zu finden. Teilweise hatte er den Wagen sogar, wenn er einen ergattert hatte, stehen lassen und lieber die Bahn genommen. Das ergab doch keinen Sinn. Dann konnte er auch ganz auf Fahrrad und öffentlichen Nahverkehr umsteigen.

„Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten“, meldete sich der Dozent zu Wort.

Das allgemeine Gemurmel erstarb.

„Guten Morgen. Mein Name ist Martin Hoecker. Ich werde Sie jetzt weder mit meinem Lebenslauf langweilen, noch für eines meiner Bücher werben. Wir gehen gleich in medias res.“

Der Typ war Perseus auf Anhieb sympathisch. Äußerlich entsprach Hoecker, mit dem braunen Cord Jackett und der Hornbrille, dem Klischee eines Professors. Auch der Vollbart und die schulterlangen Haare passten ins Bild. Hoecker war schlaksig und ungefähr so groß wie er, nämlich eins fünfundachtzig. Die Füße steckten in soliden, braunen Schuhen, dazu trug er eine gleichfarbige Anzughose.

Die Vorlesung handelte von der Beurteilung von Schülern mit Migrationshintergrund. Laut Studien wurden solche bei gleicher Leistung schlechter benotet als ihre Mitschüler mit deutschen Wurzeln.

Das Thema schien Hoecker sehr am Herzen zu liegen. Das merkte er an den intensiven Blicken, mit denen der Dozent sein Publikum bedachte und der Leidenschaft, mit der er sprach. Perseus konnte die These nicht bestätigen. Er hatte sich nie schlechter als die anderen behandelt gefühlt, jedenfalls nicht durch die Lehrer. Seine Mitschüler hingegen ... Kinder waren echt grausam. Olivenfresser, Kanake und Gyros hatten sie ihn genannt.

Unter der letzten Folie war in kleiner Schrift ein Hinweis auf Lektüre gedruckt. Also hatte Hoecker auch ein Buch geschrieben. Das wollte sich Perseus gleich mal angucken.

„In dem Seminar nächste Woche geht es um praktische Problemlösungen“, beendete Hoecker die Stunde.

Um Perseus entstand Bewegung. Er begann auch, seine Sachen zu packen. Gedanklich war er bereits wieder bei Brinkmann. Außerdem waren da noch die Kartoffelpuffer seiner Mutter.

„Kommst du denn nun mit zur Party?“, wollte Moritz wissen.

Vielleicht wusste jemand auf der Fete, welchen Wagen Brinkmann fuhr. Die Option, sich an der Zufahrt zu den Parkplätzen auf die Lauer zu legen, fand er wenig reizvoll. Er nickte.

Moritz‘ Mundwinkel bogen sich hoch. „Dann sehen wir uns nachher.“

Da noch Zeit bis zum Mittagessen war, drehte er eine Runde durch die Tiefgarage. Über die Einfahrt konnte man als Fußgänger ungehindert hinein. Es war nur ungefähr ein Drittel der Plätze belegt. Vorwiegend handelte es sich um Wagen der Oberklasse, wie ein Porsche 911, ein Jaguar XJ und verschiedene Mercedes-Modelle. Keines der Kennzeichen beinhaltete CB – also Brinkmanns Initialen. Das wäre ohnehin keine Garantie, denn es gab ja noch mehr Menschen mit diesen Anfangsbuchstaben.

Seine Eltern lebten nur wenige Straßen von seiner Wohnung entfernt.

Sein Bruder Ajax, der noch zuhause wohnte, öffnete die Tür. „Hi, Alter. Was macht die Kunst?“

„Wieso bist du nicht auf der Arbeit?“, erwiderte Perseus.

„Hab Nachtschicht.“

In der Küche roch es wie in einer Frittenbude. Seine Mutter stand vorm Herd und hantierte mit zwei Pfannen.

Er küsste sie auf die Wange, bevor er am gedeckten Tisch Platz nahm. Auf einem Teller lag ein Stapel Kartoffelpuffer. Dazu gab es Zucker, Apfelmus und – speziell für Ajax – Nussnougatcreme.

„Also: wie läuft’s denn so?“, fragte sein Bruder.

Er zuckte mit den Achseln. „Ich hab doch gerade erst angefangen.“

Sie nahmen sich je einen Puffer.

„Dann wirst du doch einen ersten Eindruck haben.“ Ajax griff nach dem Glas Nougatcreme.

„Ich möchte auch wissen, wie es dir gefällt“, meldete sich seine Mutter, die sich ihm zugewandt hatte, zu Wort.

Als er von seinem Plan zur Uni zu gehen erzählt hatte, war die Reaktion seiner Familie gemischt gewesen. Seine Mutter und sein Bruder fanden die Idee toll. Sein Vater hingegen schimpfte, ein Studium wäre Zeitverschwendung. Seine Schwester war unentschlossen.

Perseus betrachtete es als Vergeudung von Zeit, weiter im Büro zu sitzen und entweder in der Nase zu bohren oder vor Arbeit nicht zu wissen, was er zuerst tun sollte. Das Ganze für einen Hungerlohn. Er hatte sich daher entschieden, Berufsschullehramt zu studieren. Das dauerte zwar ein paar Jahre, doch danach bekam er ein anständiges Gehalt und hatte fünfundsiebzig Tage Urlaub im Jahr. Ganz zu schweigen davon, dass er weniger als vierzig Stunden pro Woche arbeiten würde.

„Manche Dozenten benutzen Vorlesungen als Marketingveranstaltung für ihre geistigen Ergüsse.“ Angesichts der ratlosen Mienen seiner Lieben präzisierte er: „Für die Bücher, die sie geschrieben haben.“

„Vielleicht steht in ihren Büchern etwas Wichtiges drin“, sinnierte seine Mutter und drehte sich zurück zum Herd.

„Die wollen bloß Geld verdienen.“ Perseus schmierte Apfelmus auf seinen Puffer, streute Zucker darüber und schnitt ein Stück ab. „Wahrscheinlich kauft niemand den Scheiß, weshalb sie den Kram uns armen Studierenden unterjubeln wollen.“

„Böses Wort!“, reklamierte seine Mutter.

„‘tschuldige“, brummelte er, wobei er einen amüsierten Blick mit Ajax tauschte.

Flink verspeiste er seine Portion und lud einen weiteren Kartoffelpuffer auf seinen Teller. Sein Bruder eiferte ihm nach, genau wie zu alten Zeiten, als sie um die Wette gegessen hatten.

„Was ist denn nun?“, hakte seine Mutter nach. „Gefällt’s dir oder bereust du deine Entscheidung?“

„Ich will auf keinen Fall zurück.“

„Und kommst du finanziell wirklich klar?“ Sie packte weitere Puffer auf den Stapel.

„Natürlich.“ Offiziell lebte er von seinen Ersparnissen und einem Minijob bei seinem alten Arbeitgeber.

„Sonst sagst du Bescheid!“ Sie drohte ihm mit dem Pfannenwender.

Perseus nickte.

„Du kannst mein Zimmer haben und ich nehme deine Wohnung“, bot Ajax an. „Dann sparst du Miete.“

Seine Mutter wies mit dem Küchengerät auf seinen Bruder. „Du suchst dir erstmal einen Ausbildungsplatz!“

Ajax zog den Kopf ein, woraufhin sie sich mit zufriedener Miene zurück zum Herd drehte.

Nach dem Schulabschluss war sein Bruder einige Monate in der Welt herumgetingelt. Danach hatte er mal hier, mal da gejobbt. Seit rund einem Jahr arbeitete er bei einem Versanddienstleister. Es schien ihm zu gefallen und der Verdienst war recht gut. Ihre Mutter war damit nicht zufrieden, denn nach ihrer Meinung benötigte man eine solide Grundlage, um nachhaltig in der Berufswelt Fuß zu fassen.

In mancher Hinsicht hatte sie recht. Sollte Ajax die Stelle verlieren, gab es wenige Alternativen. Zwar besaß er einen LKW-Führerschein, aber die meisten Speditionen zahlten beschissen. Außerdem wollte Ajax nicht quer durch Europa gondeln. Na ja, vielleicht würde er es wollen, wenn seine Freundin nicht dagegen wäre.

Abends ging Perseus zu der Ersti-Party und hatte Glück: Von einem der Anwesenden erfuhr er, dass der mitternachtsblaue Jaguar Brinkmann gehörte. Der Typ wusste auch, welche Wagen zwei weitere Dozenten fuhren: Hoecker den Opel Vectra und Doktor Shania Marquardt, die Wirtschaftsenglisch unterrichtete, den Porsche Macan.

„Dermaßen viel Knete für eine Porsche ausgeben und dann das hässlichste Modell auswählen.“ Mit angeekelter Miene schüttelte der Typ den Kopf. „Na ja, es ist irgendwie ja auch eine Tussen-Karre.“

Ein Mädel, das in Hörweite stand, marschierte zu ihnen rüber und begann, einen Vortrag über die Diskriminierung von Frauen zu halten.

Perseus flüchtete. In solchen Momenten hasste er die Campus-Szene. Ein frauenfeindliches Wort, und man wurde sofort gemaßregelt, aber die Weiber durften nach Herzenslust männerfeindlich reden. Ach, in Deutschland lebten einfach zu viele ständig Empörte. Mehr Gelassenheit würde allen das Leben leichter machen.

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Tag der Veröffentlichung: 10.02.2025

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