Der graue Himmel konnte Lukas‘ Stimmung nicht trüben. Endlich war er am Ziel seiner Reise! Elf Jahre Studium, danach nochmal zwei als Assistenzart lagen hinter ihm. Nun war er auf dem Weg nach Wyk, um im dortigen Klinikum eine Stelle anzutreten.
Seine Kindheit hatte er auf Föhr verbracht. Er war in der dritten Klasse, als seinem Vater ein lukrativer Posten in Husum angeboten wurde. Seine Mutter, seine Geschwister und er blieben, sein alter Herr ging ans Festland. Ein Jahr später folgten sie seinem Vater in die graue Stadt am Meer.
Seitdem war es sein größter Wunsch, wieder auf Föhr zu leben. Na ja, sein zweitgrößter, denn Mediziner zu werden stand ganz oben auf seiner Liste. Den Punkt hatte er abgehakt. Er war nun approbierter Arzt, Fachbereich Anästhesie.
Auch seine Geschwister hatten eine medizinische Laufbahn eingeschlagen. Seine Schwester betrieb eine Zahnarztpraxis und sein Bruder, das Nesthäkchen, studierte noch.
Inzwischen hatte die Fähre den Anleger fast erreicht. Sie drosselte das Tempo. Aus den Lautsprechern dröhnte die Ansage, dass Passagiere, deren Ziel Wyk war, in wenigen Minuten von Bord gehen konnten.
Lukas begab sich zum Unterdeck, wo er sein Gepäck abgestellt hatte. Er war mit einem Trolley unterwegs. Der Rest, den er einem Versanddienstleister übergeben hatte, würde im Laufe der nächsten Tage eintreffen.
Es fanden sich weitere Passagiere ein. Zu dieser Jahreszeit zog es nur Hardcore-Föhr-Fans auf die Insel. Entsprechend hielt sich das Gedränge in Grenzen.
Ein Ruck ging durch den Rumpf. Damit hatte Lukas gerechnet, denn das passierte jedes Mal beim Anlegemanöver. Kurz darauf wurde die Luke, die zum Fahrgastausstieg führte, geöffnet. Er reihte sich in die Schlange ein.
Obwohl er seiner Oma gesagt hatte, dass sie ihn nicht abholen brauchte, entdeckte er sie auf dem Anleger.
Der Wortwechsel, wenn er sie anrief, um seine Ankunftszeit mitzuteilen, war immer gleich: „Oma, du musst nicht wegen mir durch die ganze Stadt rennen“, lautete sein Text und ihrer: „Wenn mich mein Lieblingsenkel besucht, dann nehme ich ihn gebührend in Empfang.“ Es kam ihm vor wie bei Dinner for one.
Irma Lautenschläger war die Mutter seines Vaters. Manchmal behauptete sie im Scherz, dass man ihren Sohn im Krankenhaus vertauscht hatte, weil er null Ähnlichkeit mit ihr oder ihrem – schon vor langer Zeit verstorbenen - Mann aufwies. Damit meinte sie nicht die Äußerlichkeiten, denn da gab es Parallelen, sondern den Charakter.
„So ein Spießer ist niemals aus mir rausgekrochen“, pflegte sie zu scherzen. „Und erzogen hat den auch jemand anderes.“
Sein alter Herr war in der Tat ein bisschen engstirnig und hasste es, wenn man von gesellschaftlichen Normen abwich. Lukas‘ Outing hatte entsprechende Wellen aufgeworfen. Letztendlich musste sich sein Vater damit abfinden, doch nur unter Protest. Seine Mutter hatte es hingegen gelassen aufgenommen. Sie meinte, sie hätte es schon lange geahnt.
Abgesehen davon war sie das genaue Gegenteil seiner Oma: asketisch dünn, stets geschminkt und in eine teure Parfumwolke gehüllt. Oma war herrlich kuschlig, trug nie Makeup und duftete nach ... na ja, eben nach Irma Lautenschläger. Vermutlich eine Mischung aus Waschmittel, Kuchen und Veilchen – ihrem Lieblingsduft.
Er marschierte auf seine Großmutter zu, die bei seinem Anblick anfing zu strahlen. Genau wie er trug sie eine Brille. Ihre weißen Haare hatte sie zu einem Dutt frisiert. Wegen des kühlen Wetters hatte sie sich in einen blauen Wollmantel gehüllt und einen weißen Schal um ihren Hals geschlungen. Ein Stilbruch: Ihre knallgelben Gummistiefel.
„Endlich bist du da“, empfing sie Lukas und drückte ihn an ihren ausladenden Busen. „Ich hab Gugelhupf für dich gebacken.“
Natürlich hatte sie das, wie jedes Mal, wenn er zu ihr kam. Sie war die weltbeste Gugelhupf-Bäckerin. Er liebte ihren Kuchen.
„Mama und Papa haben mir aufgetragen, dich herzlich zu grüßen“, erwiderte er.
Sie hakte sich bei ihm unter. „Erfreulich, dass sie bei all ihren Verpflichtungen dazu gekommen sind, eine Sekunde an mich zu denken.“
Seit dem Umzug nach Husum war er so oft wie möglich bei ihr gewesen. Sowohl seine Eltern als auch seine Geschwister hatten es nicht mit halb so häufig nach Föhr geschafft. Erstere waren immer zu beschäftigt und was seine Schwester und seinen Bruder betraf: Die bevorzugten Urlaub in wärmeren Gefilden.
Sie setzten sich in Bewegung. Hier und da wies seine Oma auf ein neues Geschäft oder eine andere Veränderung hin. Ansonsten fragte sie ihn aus, wie es ihm in den letzten Monaten ergangen war.
Sie hatten sich zuletzt im Juni gesehen. Drei Wochen Sommerferien. Danach war sein Urlaubsanspruch nahezu aufgebraucht gewesen. Sein zweites Jahr als Assistenzarzt hatte er in einer Klinik in Dresden absolviert. Von dort war der Weg zu weit, um mal eben für ein verlängertes Wochenende an die Nordsee zu fahren.
Zu Fuß waren es rund zwanzig Minuten bis zu dem Haus seiner Oma; ein schlichter Rotklinkerbau mit Spitzdach und Gauben auf beiden Seiten. Im Erdgeschoss wohnte sie. Das Obergeschoss vermietete sie an Feriengäste, was nun der Vergangenheit angehörte, denn Lukas zog dort ein.
Das ganze Projekt war von langer Hand geplant. Als vor fünf Jahren der Anästhesist der Klinik Wyk in Rente gegangen war, hatte sein Vater dafür gesorgt, die Stelle nur befristet zu besetzen. Vitamin B auszunutzen, bereitete Lukas kein schlechtes Gewissen. Jeder andere hätte an seiner Stelle genauso gehandelt.
„Ich bin so froh, den Mist los zu sein“, vertraute sie ihm an und schloss die Haustür auf. „Ständig hängt einem das Finanzamt an den Fersen und immer diese Putzerei.“
Sie hatte bis zuletzt die Endreinigung selbst erledigt. Eigentlich hätte sie sich dafür Personal leisten können, aber sie gehörte nun mal zu der Generation, die an jeder Ecke sparte. Na gut, nicht an jeder. Beim Lebensmitteleinkauf achtete sie mehr auf Qualität als den Preis.
Er brachte seinen Trolley ins Obergeschoss und schaute sich kurz um, bevor er sich zu seiner Oma in die Küche gesellte. Es duftete herrlich nach Kuchen. Sie brühte gerade Kaffee auf, mit der Hand statt einer Maschine.
„Was dir an Möbeln nicht gefällt, wirst du einfach raus.“ Sie streifte ihn mit einem Seitenblick und konzentrierte sich wieder auf den Filter. „Hübscher Pulli.“
„Hat mir Mama geschenkt.“ Er ließ sich am Tisch nieder und strich über den weichen Ärmel. Seine Mutter besaß einen guten und teuren Geschmack. Der Pullover bestand aus einem Woll-Kaschmir-Gemisch und hatte die gleiche Farbe wie seine Augen. Das meinte jedenfalls seine Mutter. Er scherte sich nicht um sowas.
Seine Oma stellte den Wasserkessel beiseite und reichte ihm ein Messer. „Schneide dir selbst ein Stück ab.“ Mit dem Kinn wie sie auf den Gugelhupf, der in der Mitte des Küchentisches stand.
Lukas wertete das als Erlaubnis, sich ein Riesenstück abzuschneiden. Unterdessen nahm seine Oma den Filter von der Kaffeekanne, stellte sie neben den Kuchenteller und nahm ebenfalls Platz.
Während er den ersten Bissen genoss, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Die Einrichtung war noch dieselbe, die er aus Kindertagen kannte. Am liebsten mochte er das alte Buffet, in dem seine Oma das gute Geschirr und allerlei Schnickschnack aufbewahrte. Daneben hing ein Sammelsurium aus gerahmten Bildern an der Wand. Überwiegend zeigten die Fotos seine Geschwister und ihn. Die drei größten waren Babyfotos, die seine Eltern jeweils zur Geburt eines ihrer Kinder an die Familie verschenkt hatten.
Lukas Linus Lautenschläger, 5. Juli 1993, 2.900 Gramm, 48 cm, stand unter dem geröteten Gesicht eines der Säuglinge. Seine Schwester, Lara Lucina Lautenschläger, hatte viel hübscher ausgesehen und tat es heute noch. Auch sein Bruder, Lars Lasse Lautenschläger, war ein schönerer Anblick.
Bei der Namensgebung hatten seine Eltern wohl bei jedem Kind vorher einen Clown gefrühstückt. In der Schule waren sie häufig 3-L genannt worden. Ihn hatten seine Klassenkameraden auch als Föhrer Landei verspottet. Glücklicherweise war er damals noch nicht out gewesen, sonst hätten sie sich bestimmt etwas richtig Fieses ausgedacht.
„Du warst so ein süßes Baby“, schwärmte seine Oma, die seinen Blick bemerkt hatte. „Und du bist heute noch süß.“
Süße Brillenschlange hatte ihn sein letzter One-Night-Stand genannt und danach gründlich durch die Matratze genagelt. Leider schienen süße Brillenschlangen vorwiegend auf dem Speiseplan von Dumpfbacken zu stehen. Anders konnte er sich nicht erklären, wieso er immer nur bei solchen Typen Erfolg hatte.
„Guck nicht so angesäuert.“ Sie streckte den Arm aus und streichelte seine Wange. „Ich mein’s doch nicht böse.“
„Weiß ich doch“, brummelte er, goss Kaffee in seinen Becher und fügte Milch hinzu.
„Und du bist intelligent. Intelligenz ist sexy.“
„Geld ist sexy“, korrigierte er sie.
Sie winkte ab. „Geld hat gewissen Reiz, nutzt sich aber schnell ab. Ein kluger Kopf hingegen hält ein Leben lang.“
Lukas schob sich ein weiteres Stückchen Kuchen in den Mund, zückte sein Handy und nuschelte kauend: „Um halb vier musch ich in der Klinik schein.“
„Ich komme mit.“
Entgeisterte starrte er seine Oma an.
„Ich wollte eh Kuchen dort vorbeibringen. Seit Doktor Cherif meinen Finger wieder angenäht hat, bringe ich regelmäßig welchen hin.“
Sein Blick huschte zu ihren Händen. Er schluckte den Bissen runter. „Finger wieder angenäht?“
„Letzten Monat hatte ich ein Malheur mit der Rosenschere. Ich bin gleich rüber zur Klinik und die haben mich liebevoll versorgt. Ich musste nicht mal warten.“
„Dein Finger war ab?“, vergewisserte er sich, immer noch auf ihre Hände fixiert.
„Nein, nur zur Hälfte.“ Sie zeigte ihm ihre Daumenkuppe, an der man eine Narbe erkannte. „Das hat ganz schön geblutet. Meine Lieblingslatzhose ist hinüber. Die Flecken hab ich nicht wieder rausbekommen.“
„Warum hast du mich nicht angerufen?“
„Wegen der Flecken?“
„Wegen dem Finger!“
„Ich brauchte keine Dröhnung, sondern jemanden, der mit Nadel und Faden umgehen kann.“
„Du hättest dir eine Blutvergiftung holen können!“
Sie verdrehte die Augen gen Himmel. „Nun übertreib mal nicht.“
„Ich möchte trotzdem, dass du mich anrufst, wenn sowas passiert.“
„Da du nun bei mir wohnst, werde ich einfach bei dir klopfen, wenn ich mir das nächste Mal was abschneide.“
„Du schneidest dir bitte nichts mehr ab!“
Sie seufzte. „Du bist schlimmer als dein Vater.“
„Ach, Oma ...“ Er griff über den Tisch nach ihrer unverletzten Hand. „Ich möchte dich noch möglichst lange und in einem Stück behalten.“
Sie schenkte ihm ein liebevolles Lächeln. „Ich gebe mein Bestes.“
Das Krankenhausgebäude hatte sich im Laufe der Jahre stark verändert. Ein Teil war abgerissen und neu gebaut, der Rest modernisiert worden.
Mit achtzehn Betten gehörte die Klinik zu den kleinsten in Deutschland. Das besaß, neben der Lage, für Lukas besonderen Reiz. Er mochte eine familiäre Atmosphäre und hasste Hektik. Natürlich konnte er stressige Situationen aushalten, aber auf Dauer würde er daran kaputtgehen.
Im Empfangsbereich saß Jutta Mommsen, eine Nachbarin seiner Oma, hinterm Tresen. Sie begrüßte ihn mit einem herzlichen Lächeln. „Willkommen, Lukas. Ich freu mich, dass du wieder da bist.“
Angeblich hatten sie zur gleichen Zeit die Grundschule besucht. Er erinnerte sich nicht daran. „Moin Jutta. Magst du Herrn Specht Bescheid geben, dass ich da bin?“
Bei seines letzten Inselaufenthalt im Juni hatte er mit Michael Specht, dem Leiter der Klinik, gesprochen und vereinbart, dass er sich blicken ließ, sobald er auf Föhr eingetroffen war.
Jutta griff zum Telefonhörer.
Seine Oma, die einen Weidenkorb mit den Resten des Kuchens trug, flüsterte ihm zu: „Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz.“
Von ihr hatte er das schon x-mal gehört, von seinen Eltern noch nie. Wahrscheinlich hielten sie es für selbstverständlich, dass er gute Leistungen brachte, genau wie seine Geschwister.
Eine Frau in blauem Kasack und gleichfarbiger Hose durchquerte die Lobby, entdeckte sie und steuerte auf sie zu. „Irma! Wie schön, dich zu sehen!“
„Hallo Bianca. Kennst du schon meinen Enkel?“, erwiderte seine Oma. „Lukas fängt bald bei euch an.“
Bianca, schätzungsweise in seinem Alter, besaß ein sympathisches Gesicht und Lächeln. „Hi. Ich hab schon von dir gehört.“
„Eilt mir mein schlechter Ruf voraus?“, witzelte er.
Sie lachte. „Eher dein guter und natürlich der deines Vaters.“
Ernst Friedrich Lautenschläger arbeitete seit zwanzig Jahren nicht mehr auf Föhr, war aber wohl allen ein Begriff.
„Ich habe Kuchen mitgebracht“, mischte sich seine Oma ein.
Ein Glück, denn er wusste nicht, was er erwidern sollte.
„Wow! Dankeschön!“ Bianca spähte in den Korb. „Gugelhupf?“
Seine Oma nickte. „Und ein paar Kekse.“
„Herr Specht holt Sie gleich ab“, meldete sich Jutta zu Wort.
„Ich bringe den Kuchen ins Schwesternzimmer“, verkündete seine Oma und schloss sich Bianca, die vorausging, an.
Lukas beäugte unschlüssig die Sitzgelegenheiten, entschied sich, stehenzubleiben und betrachtete die Bilder an den Wänden. Schwarzweiß Fotografien der Insel. Strandhafer, dahinter ein Strandkorb. Der Leuchtturm, der im Wyker Hafen stand, durfte natürlich nicht fehlen.
Nach einem Weilchen tauchte Michael Specht, ein gutaussehender Grauhaariger im grauen Anzug, auf. Sie schüttelten einander die Hände.
„Ich freue mich, Sie endlich begrüßen zu dürfen“, sagte Specht. „Wir haben Sie schon sehnsüchtig erwartet.“
Sie begann in die Richtung, in der seine Oma entschwunden war, zu spazieren. Specht erzählte von den jüngsten Veränderungen im Kollegium und Klinikbetrieb. Lukas lauschte nur mit halbem Ohr. Gedanklich war er in der Zeit, in der er seinen Vater auf der Arbeitsstelle besucht hatte, und hielt nach etwas Vertrautem Ausschau. Er entdeckte ein Bild, das noch immer an der gleichen Stelle hing, und eine Vase, die er schon damals hässlich gefunden hatte.
„Ich stelle Sie mal einigen Kollegen vor“, beendete Specht den Monolog und führte ihn in ein Schwesternzimmer, von dem eine Tür in einen Aufenthaltsraum führte.
Neben Bianca und seiner Großmutter waren dort vier Personen versammelt. Specht machte sie miteinander bekannt und bat: „Bewahrt mir ein Stück Kuchen auf.“
Anschließend begaben sie sich in Spechts Büro. Der Raum lag im 1. Stock. Durch die bodentiefen Fenster sah man auf das angrenzende Waldstück.
„Ich trete mit einer großen Bitte an Sie heran“, sagte Specht, der sich hinterm Schreibtisch niedergelassen hatte. „Ihr Vorgänger würde gern so bald wie möglich die Insel verlassen. Wären Sie bereit, vor Ihrem offiziellen Dienstantritt die Übergabe zu machen und seinen Bereitschaftsdienst zu übernehmen?“
„Natürlich. Ich stehe zur Verfügung.“
Specht seufzte erleichtert. „Vielen Dank.“
Sie erledigten noch ein paar Formalitäten, wie die Aushändigung eines Generalschlüssels sowie seines Dienstplanes und -handys. Danach erhob sich Specht und geleitete ihn zur Tür. „Kommen Sie mit zur Kuchenschlacht?“
Lukas schüttelte den Kopf. „Meine Großmutter hat mich bereits gemästet, bevor wir aufgebrochen sind.“
Specht lachte. „Das kann ich mir vorstellen. Nochmals vielen Dank, dass Sie einspringen.“
Er winkte ab. „Das ist doch selbstverständlich.“
„Finden Sie den Weg, oder soll ich Sie zum Ausgang bringen?“
Abermals winkte er ab. „Das schaffe ich allein.“
Am Fuß der Treppe trennten sich ihre Wege. Specht eilte in die eine Richtung davon, er schlenderte in die andere. Vor dem Bild, das er vorhin entdeckt hatte, blieb er stehen. Es handelte sich um ein Aquarell. Ein reetgedecktes Haus stand hinter einer üppigen Blumenrabatte. Das Gemälde wirkte, als würde ein zarter Schleier darüber liegen. Er fand es zauberhaft.
Eilige Schritte kamen näher. Ein dunkelhaariger Mann mit milchkaffeefarbener Haut in blauer Pflegerkluft bog um die Ecke und rauschte an ihm vorbei.
Lukas schaute dem Typen hinterher. Derart viel Attraktivität auf einem Haufen gehörte verboten. Es sollte ein Gesetz geben, dass jeder Mensch nur ein Attribut erhielt, wie schöne Augen, lange Wimpern oder eine klasse Figur.
War das Doktor Cherif? Es würde zu dem exotischen Äußeren passen. Er musste dem Mann auf jeden Fall dafür danken, seine Oma erstklassig versorgt zu haben. Vor ihrem Aufbruch hatte er die Wunde inspiziert und war mit dem Heilungsprozess sehr zufrieden.
Samir kam gerade rechtzeitig, um das letzte Stück Kuchen zu ergattern. Kaffee gab es hingegen noch reichlich.
Er ließ sich auf einem Stuhl nieder, streckte die Beine aus und trank einen Schluck.
Zum Glück war seine Schicht bald vorbei. Kurz nach seinem Dienstantritt war ein kleiner Junge, Fraktur des Unterschenkels sowie Kopfverletzungen, eingeliefert worden. Ein Autounfall. Der Bursche würde wieder vollständig genesen, trotzdem ... sowas durfte einem Kind nicht passieren. Na gut, das durfte niemandem passieren, aber bei den Kleinen tat es ihm besonders leid.
„Wie geht’s deiner Hand?“, wandte er sich an Irma.
„Prächtig.“ Sie zeigte ihm den Finger, den er genäht hatte. „Sieht doch fast wie neu aus.“
„Du solltest deine Hand noch eine Weile schonen.“
Irma seufzte. „Das sagt mein Enkel Lukas auch.“
Ach ja, der Sohn des Klinikleiters, wegen dem die Stelle des Anästhesisten nur befristet besetzt worden war. Vitamin B war toll, sofern man darüber verfügen konnte. Bestimmt hatte der feine Herr Sohn während des Studiums auch nicht, so wie andere – beispielsweise er, nebenher arbeiten müssen.
Er brach ein Stückchen vom Kuchen ab und steckte es sich in den Mund. Genüsslich seufzende schloss er die Augen. Würde er auf Frauen stehen, wäre Irma seine erste Wahl. Wahrscheinlich kochte sie genauso göttlich wie sie buk.
„Apropos: Wo ist Lukas eigentlich?“, wandte sich Irma an Michael.
„Der wollte den Weg zum Ausgang allein finden“, antwortete Michael.
„Dann werde ich euch auch wieder verlassen.“ Sie stand auf und lächelte in die Runde. „Passt gut auf euch auf.“
„Ich muss auch los“, sagte Michael, erhob sich ebenfalls und verließ hinter ihr den Raum.
„Irma ist ein Schatz. Wenn sie noch öfter kommen würde, müsste ich allerdings über eine Diät nachdenken.“ Bianca seufzte.
Anna, die Pflegedienstleitung, lachte. „Was soll ich denn sagen?“ Unter ihrem Kasack zeichnete sich ein praller Bauch ab.
„Ich hätte auch gern solche Oma. Lukas kann von Glück reden“, meldete sich Marlies zu Wort.
„Jutta ist mit ihm zur Schule gegangen. Sie meint, damals wäre er ein süßer Junge gewesen. Ich finde, er ist heute noch süß. Schade, dass ich schon versorgt bin.“ Bianca seufzte abermals.
Flink vernichtete Samir den restlichen Kuchen, leerte seinen Becher und sprang auf. „War schön mit euch Mädels.“
Er mochte seine Kolleginnen, aber mittendrin zu sein, wenn sie Frauengespräche führten, war echt nicht sein Ding.
In seinem Büro wartete ein Berg Arbeit. Die Dokumentation fraß fast genauso viel Zeit wie der Dienst am Patienten.
Samir ließ sich am Schreibtisch nieder, griff nach einem Kuli und tippte sich damit gegens Kinn. Seine Gedanken wanderten zu dem Telefonat mit seiner Schwester Zuleika. Gestern Abend hatte sie angerufen und erzählte, dass seine Nichte im Kindergarten von einem Mädchen dumm angemacht worden war. „Geh wieder dahin, wo du herkommst“, soll die Zicke gesagt haben.
Dalia, seine Nichte, war das Ebenbild seiner Schwester, schwarze Haare, dunkelbraune Augen und milchkaffeefarbener Teint, obwohl ein blonder Mann in ihrem Genpool steckte. Das behauptete Zuleika. Gesehen hatte er Dalias Erzeuger nie.
Eine der Erzieherinnen hatte sich das Mädel und Dalia geschnappt, um die Angelegenheit zu klären. Dadurch war seiner Nichte erst bewusst geworden, was mit dem Spruch gemeint war. Manchmal war Nichtwissen echt besser, wobei Dalia sowieso über kurz oder lang mit Rassismus konfrontiert worden wäre.
Zuleika überlegte, den Kindergarten zu wechseln, wovon Samir ihr abgeraten hatte. „Es ist doch überall das Gleiche. Dumme Eltern sind leider keine Ausnahme.“
Weil sich Zuleika weigerte, den Vater seiner Nichte oder einen anderen Mann zu heiraten, war ihr das gleiche Schicksal wie ihm widerfahren: Der Ausschluss aus ihrer Familie. Sowohl Schwule als auch ledige Mütter passten nicht in die muslimische Gemeinschaft.
Ihre Eltern stammten aus Marokko. Eigentlich zählten sie zu den gemäßigten Muslimen, aber seit sich zwei Brüder seines Vaters, beide strenggläubig, in Hamburg niedergelassen hatten, gab es etliche Regeln. Ständig war von das ist haram die Rede. Nach seiner Meinung sollte dieses dämliche Gelaber haram sein. Nur, weil irgendeine Koryphäe behauptete, die Verse des Korans wären so und so auszulegen, musste das noch lange nicht stimmen. Davon mal abgesehen: Es wurde Zeit, den Mief aus dieser Religion zu fegen und im aktuellen Jahrhundert anzukommen. Das traf ebenfalls auf alle anderen zu, ganz vornean die Katholiken. Die waren auch nicht besser als Muslime.
Bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr hatte Samir seine homosexuelle Neigung verheimlicht, dann war er aufgeflogen. Jemand hatte gesehen, wie er mit einem Typen rumknutschte und es an seine Familie weitergegeben. Seine Eltern bestanden darauf, dass er sich einer Konversionstherapie unterzog. Die Alternative bestand darin, sofort auszuziehen.
Er war erstmal bei einem Kumpel untergekommen. Zum Glück klappte der BAFÖG-Antrag ziemlich schnell und auch die Zuweisung eines Zimmers im Studierendenwohnheim. Zwölf Semester durfte er dort bleiben, dann musste er sich eine andere Unterkunft suchen. Außerdem musste er die Stunden, die er nebenher jobbte, aufstocken. Ein WG-Zimmer kostete nämlich ein Vermögen.
Zurück zu Zuleika: Seine Schwester machte sich Sorgen wegen der aktuellen Entwicklung in Deutschland. Berechtigt, denn Fremdenhass breitete sich aus wie ein Krebsgeschwür. Über die Gründe wollte Samir gar nicht nachdenken. Davon bekam er Kopfschmerzen.
Im Sommer war Zuleika mit Dalia, wie schon im Jahr davor, drei Wochen bei ihm gewesen. Seine Schwester war begeistert von der Insel und meinte, dass es das ideale Umfeld für Dalia wäre. Das menschliche Miteinander der Insulaner war tatsächlich positiv. Natürlich gab es auch hier Zoff, aber man war eine kleine Gemeinschaft, was nun mal zusammenschweißte.
Zuleika arbeitet in einer Model-Agentur und liebte ihren Job. Etwas Adäquates war auf auf Föhr nicht zu finden, sonst wäre sie sofort auf die Insel gezogen.
Im Dezember hatte Zuleika die Chance, an einer Geschäftsreise nach Dubai teilzunehmen. Ihr Arbeitgeber veranstaltete dort einen Model-Wettbewerb und benötigte dafür Personal. Um mitzureisen, müsste sie allerdings jemanden finden, der Dalia zwei Wochen betreute. Der Rückflug würde am vierundzwanzigsten Dezember erfolgen.
„Kannst du sie nehmen? Ich weiß sonst niemanden, dem ich sie anvertrauen würde“, bettelte Zuleika. „Außerdem wollten wir doch eh Weihnachten bei dir verbringen.“
Seit er auf Föhr lebte, waren die beiden an den Feiertagen bei ihm. Im letzten Jahr hatte er für Dalia sogar einen kleinen Tannenbaum aufgestellt. Es war auch eine Art Protest gegen die Religionsgemeinschaft, die sie ausgeschlossen hatte, gewesen.
In diesem Jahr war geplant, dass Zuleika und Dalia bis Neujahr blieben. Die Einschränkung seiner Privatsphäre in dem Zwei-Zimmer-Appartement nahm Samir gern in Kauf. Zuleika und Dalia waren schließlich alles an Familie, was er noch hatte.
Er würde seiner Schwester die Reise nach Dubai von Herzen gönnen. Sie besaß lediglich knappe Mittel und könnte sich sowas nicht leisten. Derzeit bezahlte er noch seinen Studienkredit ab. Sobald er damit durch war, plante er, sie zu unterstützen. Vorher waren leider keine großen Sprünge drin.
Seufzend, weil er keine Lösung wusste, wandte er sich dem Monitor zu und weckte den Computer, indem er die Maus bewegte.
Später, als er in seiner Wohnung saß und ein in der Mikrowelle aufgewärmtes Fertiggericht verspeiste, dachte er wieder über das Problem nach. Vielleicht kannte eine seiner Kolleginnen eine Tagesmutter, die flexible Betreuungszeiten anbot. Anna hatte zwei Kinder. Die würde er mal fragen.
Der nächste Morgen begann mit Schreibtischarbeit. Gegen halb zehn erschien eine Touristin mit der Überweisung eines örtlichen Allgemeinmediziners. Ihre gebrochene Zehe schiente Samir mittels eines Tapes. Danach schaute er bei dem am Vortag verunfalltem Kind vorbei. Der Kleine erholte sich rasch.
Außerhalb der Saison war es ruhig in der Klinik. Die meisten Operationen waren geplante Eingriffe. Im Sommer kam es vor, dass es im Gebäude summte wie im Bienenstock. Im Vergleich zu der Hektik in Krankenhäusern am Festland, war es aber immer noch sehr beschaulich.
Mittags gesellte er sich zu den Kollegen in den Aufenthaltsraum. Der Geruch eines Kohlgerichts hing in der Luft.
Das Essen wurde vom Festland geliefert. Entsprechend abgestanden kam das Zeug in der Klinik an. Besonders schlimm waren die Tage, an denen es Fisch gab. Dann stank die Abteilung bestialisch.
Zu seiner Verwunderung entdeckte er Julius Moser unter den Anwesenden. Eigentlich befand sich der Anästhesist im Bereitschaftsdienst.
„Wer hätte gedacht, dass ich meinen Abschied mit Weißkohl feiere?“, witzelte Julius.
„Wolltest du nicht Sekt und Kaviar springen lassen?“, erwiderte Samir.
„Das verwechselst du mit Weißwurst und Weizenbier.“ Julius feixte und auf die Schüsseln mit Kohl, Kartoffeln und Würstchen, die auf dem Tisch standen. „Bedien dich.“
Er setzte sich zu den anderen und begann, einen Teller vollzuladen. „Und wie kommt es, dass du heute schon einen ausgibst?“
„Mein Nachfolger ist so lieb, ab sofort für mich einzuspringen. Wir haben eben die Übergabe gemacht.“
Das war wirklich nett von Lautenschläger Junior, änderte aber nichts an seiner Meinung. „Und wo steckt er jetzt?“
„Er musste los, aufs Festland, sein Auto holen.“ Julius schob sich ein Stück Wurst in den Mund und fuhr kauend fort: „Schonscht wäre er gern dabeigeweschen.“
Samir begnügte sich mit Kartoffeln und Kohl. Ab und zu aß er Schweinefleisch, Scheiß auf haram, aber die Würstchen reizten ihn nicht. Irgendwie erinnerten ihn die schrumpeligen Dinger an das Körperteil, das er vorhin auf der Toilette, um zu pinkeln, aus seiner Hose befreit hatte.
Die Unterhaltung drehte sich um Julius‘ neue Stelle in einer Klinik in Bayern. Sein zukünftiger Ex-Kollege freute sich auf eine große, günstige Wohnung. Auf Föhr war die Lage zwar nicht dermaßen angespannt wie auf den benachbarten Inseln, wovon man ja immer wieder las und hörte, aber bezahlbarer Wohnraum ebenfalls knapp. Die Klinikleitung stellte daher ein Appartement, das sich im Gebäude befand, für Angestellte bereit, damit sich diese in Ruhe nach einer Bleibe umschauen konnten.
Julius war auf der Flucht nach einer schmutzigen Scheidung gewesen. Offenbar hatte er sich inzwischen davon erholt, denn die Begeisterung über seine Heimkehr war ihm deutlich anzumerken. Das konnte nicht allein von der Aussicht auf eine schönere Wohnsituation herrühren.
Erst als Samir seine Portion verspeist hatte, fiel ihm sein Anliegen wieder ein. Er wandte sich an Anna, die neben ihm saß. „Kannst du mir eine Tagesmutter empfehlen?“
„Willst du dir Kinder anschaffen?“, rief Julius quer über den Tisch. „Hast du etwa zu hetero konvertiert?“
Bei der ersten gemeinsamen Weihnachtsfeier hatte er sich gezwungenermaßen geoutet. Eine Kollegin, die inzwischen ausgeschieden war, hatte ihn massiv angebaggert. Er wusste sich nicht anders zu helfen, auch um sie nicht zu verletzen, als die Karten auf den Tisch zu legen.
Anna ignorierte den Einwurf. „Es geht bestimmt um deine Nichte, nicht wahr?“
Ein paarmal hatten Zuleika und Dalia ihn während ihrer Aufenthalte in der Klinik besucht, daher kannte Anna die beiden. Er nickte.
„Ist was mit deiner Schwester?“
„Sie muss beruflich verreisen und braucht in der Zeit eine Kinderbetreuung.“
Anna wollte mehr Details wissen und schlug schließlich vor, dass er für den Zeitraum entweder unbezahlten Urlaub – seinen hatte er bereits aufgebraucht – nahm oder den Chef bat, zum Bereitschaftsdienst eingeteilt zu werden.
„Und wenn ich dann gerufen werde?“, hakte Samir nach.
„Dann bringst du Dalia mit her. Sie ist alt genug, um sich eine Weile allein zu beschäftigen.“ Anna zwinkerte ihm zu. „Das ist zwar nicht erlaubt, aber es muss ja keiner wissen.“
Im Anschluss ging er trotzdem zu Doktor Christian Müller, dem Chefarzt, und schilderte sein Problem. Christian war verständnisvoll und versprach, ein Auge zuzudrücken, wenn er gegen die Regeln verstieß. Außerdem änderten sie den Dienstplan nach seinen Wünschen. Auch Michael, den er danach aufsuchte, nickte seinen Plan ab.
Samir atmete auf. Zwei Wochen Verdienstausfall hätten ihn arg geschmerzt.
Abends überbrachte er seiner Schwester die frohe Kunde. Im Hintergrund hörte er Dalia, als Zuleika die Nachricht weitergab, jubeln.
„Sieht so aus, als könnte sie es gar nicht abwarten, von mir wegzukommen“, meinte seine Schwester trocken.
„Unsinn! Sie wird dich schon am ersten Tag vermissen.“
Zuleika lachte. „Ich werde mein Mädchen auch vermissen. Danke, dass du den ganzen Umstand auf dich nimmst.“
„Das ist doch selbstverständlich.“
„Hab dich lieb.“ Sie schickte ihm einen Luftkuss.
„Ich dich auch“, erwiderte er.
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2024
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