Patrick schulterte seinen Rucksack und steuerte auf den Eingang von Erikas Eck zu. Die Kneipe lag in der Nähe des Bahnhofes und war ein Anlaufpunkt für alteingesessene Insulaner. Er zählte sich dazu, weil er hier geboren war.
Vor fünfzehn Jahren hatten seine Eltern die Insel verlassen, um in Flensburg zu leben. Dort hatte er sein Abitur gemacht, ein Studium angefangen, abgebrochen und eine Ausbildung zum Tischler absolviert. Einige Zeit war er danach durchs Land getingelt, um mal hier, mal da zu jobben, doch es zog ihn zurück nach Sylt. Als ihm eine Stellenanzeige, in der von einem Westerländer Unternehmen ein Facility Manager gesucht wurde, in die Finger fiel, hatte er zugegriffen.
Der Grund für den Umzug seiner Eltern, nämlich Wohnungsmangel, war immer noch aktuell. Einige von Patricks Kollegen teilten sich winzige Zimmer mit zwei Betten. Er hatte anfangs auch mit einem von ihnen in solcher Butze gehaust. Die mangelnde Privatsphäre sowie Olafs Schnarchen waren jedoch unerträglich gewesen. Er hatte daher einen Wohnwagen auf dem Zeltplatz angemietet.
Die Kosten waren vergleichbar. Während der warmen Monate konnte man es gut aushalten, doch im Winter war diese Lebensform nur etwas für Hartgesottene. Bei eisigen Temperaturen zum Duschen und Pinkeln den Camper verlassen zu müssen, kostete echt Überwindung.
Patrick war nicht der einzige, der solche Wohnmöglichkeit nutzte. Es gab noch ungefähr zehn weitere Dauercamper. Mit denen teilte er sich außerhalb der Saison einen Waschraum mit einer Duschkabine und Toilette. Um Kosten für Heizung und Reinigung zu sparen, blieben die anderen sanitären Anlagen in dieser Zeit geschlossen.
An diesem Morgen war, wie eigentlich an jedem Tag, der Andrang groß gewesen. Er hatte deshalb lediglich das Klo benutzt, seinen Kulturbeutel eingepackt und sich auf den Weg zu Erika gemacht.
Als er die Kneipe betrat, wehte ihm abgestandene Luft entgegen. Fast alle Tische waren besetzt. Günstige Preise und Erikas warmherzige Art lockten die Gäste her.
„Einen Pott Kaffee und ein Mettbrötchen“, rief er der Wirtin zu, bevor er sich zu Fiete und Jens gesellte.
Die beiden arbeiteten bei der Müllabfuhr. Für sie hatte der Tag lange vor seinem begonnen.
„Moin Sonnenschein“, begrüßte ihn Fiete. „Bist du aus dem Bett gefallen?“
„Mal wieder Stau vorm Waschbecken. Haltet mal meinen Platz frei. Ich muss kurz was erledigen.“ Er kramte seinen Kulturbeutel aus dem Rucksack, den er neben Fietes Stuhl abstellte und verzog sich in die Keramikabteilung.
Bei Erika waren die Toilettenräume stets blitzsauber. „Wie geleckt“, pflegte Fiete zu sagen. Keiner der Gäste wagte, die Heiligtümer zu dreckig zu verlassen. Man legte sich nicht mit Erika an. Das hatte lebenslanges Hausverbot zur Folge.
Patrick putzte sich die Zähne, wusch sein Gesicht, die Hände und bändigte seine Haare mit einem Kamm. Ein sinnloses Unterfangen, weil der Wind seine Frisur eh, sobald er vor die Tür trat, zunichtemachte.
Bei seiner Rückkehr standen Kaffee und Frühstück parat. Er ließ sich am Tisch nieder und stopfte seinen Kulturbeutel in den Rucksack.
„In sechs Jahren haue ich in den Sack“, verkündete Fiete, so wie nahezu jeden Tag. „Dann können mich alle mal fix an die Füße fassen.“
Jens, der im Gegensatz zu Fiete noch über dreißig Jahre vor sich hatte, verdrehte bloß die Augen.
„Gestern Nachmittag im Wachtelweg - du weißt ja, wie eng das da ist – kommt mir ein Porschefahrer entgegen. Der Geldsack war der Meinung, dass ich rückwärts aus dem Schlauch rausfahren und ihn vorbeilassen soll“, erzählte Fiete. „Dem hab ich die Leviten gelesen. Weißte, was der gedroht hat?“
Patrick zuckte mit den Achseln.
„Der Wichser will sich bei unserem Vorgesetzten beschweren“, fuhr Fiete fort. „Ich hab ihm gesagt, er soll sich keinen Zwang antun. Und er soll sich nicht wundern, wenn wir zukünftig seine Mülltonne vergessen zu leeren.“
„Lass mich raten: Das hat ihn null tangiert“, riet Patrick.
„Der hat geschimpft wie ein Rohrspatz. Letztendlich hat er aber seine Scheißkarre aus dem Weg gefahren.“ Fiete seufzte. „Irgendwann leihe ich mir einen Panzer und mach die ganzen Kampener Protzkarren platt.“
„Sag bitte rechtzeitig Bescheid. Ich will das filmen und bei TikTok hochladen.“ Patrick nippte an seinem Kaffee. Das Zeug war heiß und stark. Genau richtig an einem trüben Morgen wie diesem.
„Wo musst du heute hin?“, erkundigte sich Jens.
„Erst nach List, dann nach Kampen. Gartenpflege und Kontrolle, ob alles okay ist.“ Nach dem Sturm vor einigen Tagen sorgten sich viele Hausbesitzer um ihre kostbaren Immobilien. Allerdings nicht so sehr, dass sie selbst nachschauten.
Fiete klopfte auf die Tischplatte und stand auf. „Wir müssen weiter. Halt die Ohren steif.“
Patrick, der gerade in sein Brötchen gebissen hatte, nickte nur.
Jens und Fietes Plätze blieben nicht lange leer. Noch bevor er fertig gegessen hatte, setzten sich neue Gäste auf die Stühle. Er leerte seinen Becher, bezahlte und verließ das Lokal.
Bleigraue Wolken hingen am Himmel. Es sah nicht so aus, als ob er seinen Job heute trockenen Fußes erledigen konnte. Regenzeug hatte er natürlich dabei. Als Insulaner war man stets für jedes Wetter gewappnet.
Bis List waren es zwanzig Minuten Fahrzeit. Wie bereits vermutet, begann es zu regnen. Die Scheibenwischer hinterließen einen Schmierfilm auf dem Glas. Der Wischi-Waschi-Tank war leer, stellte Patrick fest, als er den entsprechenden Schalter betätigte. Leise fluchend lenkte er seinen Wagen auf den Seitenstreifen und verschwendete eine Flasche Mineralwasser sowie einige Taschentücher, um sich klare Sicht zu verschaffen.
An der nächsten Tankstelle füllte er Wasser nach und prüfte den Reifendruck. Außerdem besorgte er neue Pfefferminzbonbons, denn sein Vorrat war alle.
Sein erstes Ziel war ein großes Grundstück mit einem ebenso großen, reetgedeckten Haus. Wie die meisten Anwesen der Reichen, war dieses von einem Friesenwall umgeben. Seine Aufgabe bestand darin, letzteren von Unkraut und den Rasen vom Laub zu befreien. Als nächstes checkte er das Gebäude von außen, danach von innen. Besonderes Augenmerk galt dem Keller, denn es hatte nicht nur gestürmt, sondern auch geschüttet wie aus Eimern. Überschwemmungen im Untergeschoss kamen nach solchem Unwetter vor.
In List arbeitete er zwei weitere Immobilien auf diese Weise ab. Im Anschluss fuhr er in sein Domizil, um einen Eintopf aus der Konserve zu verspeisen. Sein Gehalt erlaubte keine großen Sprünge. Na gut, er hätte schon irgendwo zum Mittagstisch einkehren können, aber lieber legte er etwas Geld zur Seite. Man wusste ja nie, was die Zukunft für einen bereithielt.
Der Wohnwagen, in dem er hauste, hatte die besten Zeiten hinter sich. In einer Ecke leckte es manchmal durchs Dach und in der kombinierten Klo-/Duschkabine schimmelte es. Da er sie nicht benutzte, ging ihm das am Arsch vorbei. Es war ja eh nur für den Übergang, bis er etwas Besseres gefunden hatte.
Momentan lief eine Riesenaktion der Behörde, illegale Ferienwohnungen aufzuspüren und die Besitzer zu animieren, auf feste Mieter umzusteigen. Ein schöner Gedanke, aber wer wollte denn bitteschön auf einen Riesenbatzen Einnahmen zugunsten von Kleckerkram verzichten? Kleckerkram war beispielsweise eine Kaltmiete von tausend Euro für ein dreißig Quadratmeter Appartement. Touristen zahlten hingegen hundertfünfzig pro Tag für solche Bude.
Patrick erhoffte sich nichts von der Aktion. Die einzige Möglichkeit, bezahlbaren Wohnraum zu ergattern, war über Vitamin B. Fiete besaß ein Haus mit zwei Ferienappartements, die, sobald die letzte Hypothek abgelöst war, für erschwingliche Preise an Einheimische vermietet werden sollten. Wenn sich bis dahin nichts anderes ergab, würde er bestimmt dort unterkommen.
Mit einem Becher Instant-Kaffee setzte er sich auf die Stufe, die zum Wohnwagen führte. Die Bewölkung hatte sich aufgelockert. Sonnenstrahlen vertrieben das triste Grau des Vormittags. In solchen Momenten wusste er wieder, warum er Sylt liebte. In den vergangenen Stunden war ihm dieses Gefühl ein bisschen abhandengekommen.
In dem Camper gegenüber wohnte Manni, ein griesgrämiger Typ, der in einer Imbissbude an der Promenade arbeitete. Patrick wäre auch griesgrämig, wenn er den ganzen Tag nach Frittierfett stinken würde.
Rechts und links von ihm hausten Pärchen, von denen er kaum etwas sah oder hörte. Na gut, nachts hörte er sie, wenn sie poppten, schon. Der männliche Part auf der linken Seite war ein lauter Zeitgenosse. Im Gegenzug stöhnte sich das Mädel auf der anderen Seite jedes Mal die Seele aus dem Leib.
Nachdem er seinen Kaffeebecher geleert hatte, brach er auf.
In Kampen hatte sein Chef einen neuen Kunden aufgetan. Okke, dem Alles-aus-einer-Hand gehörte, war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Es mangelte nie an Aufträgen, obwohl es etliche Facility Management Firmen auf der Insel gab. Vielleicht war Okkes Charme und Auftreten – stets makellos, in Anzug mit Krawatte - das Geheimrezept für den Erfolg.
In der kühlen Jahreszeit glich Kampen einer Geisterstadt. Jedes zweite Haus – in manchen Straßen jedes erste – war unbewohnt. Nur zwischen Weihnachten und Neujahr sowie zum Biikebrennen ließen sich einige Immobilienbesitzer blicken.
Bei dem Anwesen des neuen Kunden handelte es sich um ein riesiges Eckgrundstück. Patrick bedauerte die armen Teufel, die das Areal mit einem Friesenwall eingefriedet hatten. Das war mordsschwere Handarbeit. Die Heckenrosen, die auf den Wall gepflanzt worden waren, wirkten ohne Blätter und Blüten trostlos. Dahinter standen immergrüne Gewächse, die das Untergeschoss des Hauses vor Blicken schützten.
Er parkte seinen Wagen vor der Gartenpforte und kramte den Schlüssel des Kunden aus dem Handschuhfach hervor. Oft war auf dem Schlüsselanhänger nur die Adresse vermerkt. Bei diesem befand sich ein Name darauf: Z. Bruhn.
Das Besondere an dem Auftrag war, dass seine Ausbildung zum Tragen kam. Er sollte sämtliche Türen und Fenster prüfen und, wenn nötig, justieren.
Patrick holte seinen Werkzeugkasten aus dem Kofferraum, schloss die Pforte auf und ging aufs Haus zu. Es war natürlich reetgedeckt, Pflicht in Kampen. Giebel guckten in jede Himmelsrichtung. Die Rahmen der Sprossenfenster waren grün gestrichen, was gut zu dem roten Mauerwerk passte.
Hinter der Haustür erwartete ihn ein geräumiger, quadratischer Flur. Auf einer Seite führte eine Treppe ins Obergeschoss. Auf der anderen befanden sich ein Gäste-WC und der Zugang zur Küche, die zum Wohnzimmer offen war. Daneben: Ein Arbeits-, Schlafzimmer und Bad.
Wann immer Patrick eines der unbewohnten Häuser betrat, überkam ihn Kotzreiz. Etliche Menschen auf Sylt suchten verzweifelt nach Wohnraum. Hier gab es im Überfluss welchen, der nicht benutzt wurde, weil es reiche Popel gab, die gar nicht wohin wussten mit ihrer Knete. Im Grunde hatte sich die Gesellschaft zurück zum Feudalsystem entwickelt, nur dass der Adel nicht aus Blaublütigen, sondern aus Geldsäcken bestand. Diese Geldsäcke regierten den Staat, nicht die Schießbudenfiguren, die so taten, als würden sie Politik machen.
Er schloss die Augen und atmete, um die negativen Gedanken zu vertreiben, ein paarmal tief durch. An dem System etwas zu verändern würde erfordern, dass es Empathie regnete und Geldgeilheit verschwand. Beides sehr unwahrscheinliche Ereignisse, also fand man sich besser mit den gegebenen Bedingungen ab.
Er begann im Erdgeschoss mit der Arbeit. Mal benötigte ein Scharnier etwas Fett, mal eine Türangel einen Spritzer Öl. Anschließend stieg er die Treppe in den Keller hinunter. Die Räumlichkeiten waren zu einer vollständigen Wohnung ausgebaut. Dank großzügiger Kasematten fiel reichlich Licht in die Zimmer. Es gab auch einen separaten Eingang. Wurde hier, wenn die Herrschaften auf Sylt weilten, das Dienstpersonal untergebracht?
Das Fenster im Heizungsraum klemmte. Er brauchte eine Weile, um es gängig zu machen. Danach setzte er seine Tätigkeit im Obergeschoss fort. Neben vier Zimmern gab es ein riesiges Bad, in dem sein ganzer Wohnwagen Platz finden würde. Nun ja ... vielleicht hatte Z. Bruhn zehn Kinder, dann benötigte man so viel Raum. Die Einzelbetten in den Zimmern sprachen allerdings dagegen.
Um fünf rief er seinen Chef an und teilte ihm mit, dass er am folgenden Tag nochmal herkommen musste. „Im 1. Stock ist fast jedes Fenster ein Pflegefall.“
„Verschiebe das auf Freitag. Wenningstedt hat Vorrang.“
„Okay“, brummelte Patrick.
„Schönen Abend“, verabschiedete sich Okke und legte auf.
Er packte sein Werkzeug ein, verließ das Haus und begab sich auf den Heimweg. Obwohl er sich echt Mühe gab, positiv zu denken, wallte erneut Verärgerung hoch. Während er in einem schimmligen Camper hausen musste, hatten andere Leute gleich mehrere Häuser. Es sollte ein Gesetz, das leerstehende Immobilien hoch besteuerte, erlassen werden. Natürlich würde das nie passieren, weil diejenigen, die dafür zuständig waren, selbst über mehr als ein Domizil verfügten.
Als er seinen Wagen am Campingplatz abstellte, entdeckte er Manni, der wahrscheinlich von der Bushaltestelle kam. Neulich hatte jemand Mannis Fahrrad gestohlen. Seitdem benutzt der Arme den Bus, mit dem man genauso lange unterwegs war wie zu Fuß.
Patrick stieg aus und winkte. „Hallo Nachbar!“
Manni wartete, bis Patrick ihn erreicht hatte und grummelte: „Was’n Scheißtag.“
„Kannste laut sagen.“
„Hab kaum Umsatz gemacht.“
„Aber dann ist es doch ein guter Tag, oder bekommst du neuerdings Gewinnbeteiligung?“
Manni zeigte ihm einen Vogel.
Den Rest des Weges schwiegen sie. Das war auch besser so, denn wenn er Manni auf Politik oder reiche Säcke ansprechen würde, ein Thema, das ihn immer noch beschäftigte, käme der aus dem Schimpfen gar nicht wieder raus.
Patrick hielt sich nur kurz im Wohnwagen auf, um seinen Kulturbeutel und ein Handtuch zu holen und begab sich zum Waschraum. Die Duschkabine war frei. Einer der Vorbenutzer hatte Haare im Abflusssieb und einen seifigen Schmierfilm auf den Kacheln hinterlassen. Mit angeekelter Miene griff er nach dem Putzzeug, das in einem Eimer unterm Waschbecken stand.
Nachdem er geduscht und seine Haare geföhnt hatte, kehrte er in sein Domizil zurück. Zum Abendessen gab es Brot mit Salami und Käse.
Gerade hatte er den letzten Krümel vertilgt, als es klopfte und Thore in den Wagen spähte. „Störe ich?“
„Komm rein.“ Er stellte den leeren Teller auf die Arbeitsplatte der Küchenzeile, die sich neben der Sitzecke befand. Ein Vorteil des beengten Raumes: Alles war in der Nähe.
Ohne Umschweife ging Thore zum Bett, das den gesamten hinteren Bereich des Wohnwagens in Anspruch nahm.
Nachdem sie eine Nummer geschoben hatten, öffnete Patrick ein Fenster. In dem Camper stank es nämlich wie im Pumakäfig.
Thore, der neben ihm auf dem Rücken lag, drehte sich in seine Richtung. „Ich hab gekündigt. Ende des Monats bin ich weg.“
Damit war zu rechnen gewesen. Der Grund, aus dem Thore von Kassel auf die Insel gezogen war, hatte sich schon vor einiger Zeit in Luft aufgelöst: Ein Urlaubsflirt mit Hinnerk, einem Surflehrer aus Hörnum. Hinnerk traf keine Schuld. Es war Thore, der sich etwas vorgemacht hatte, das gab er selbst zu.
Was die Unterkunft betraf, die Thores Arbeitgeber bereitstellte: Das war auch eine Arschkarte. Zwei Leute in einem Zimmer mit Etagenbett und Gemeinschaftsbad, das sie sich mit zwei weiteren teilten.
„Schade“, murmelte Patrick. „Ich werde dich vermissen.“
Thore grinste. „Wohl eher meinen Schwanz.“
„Den auch.“ Zuerst war das zwischen ihnen eine reine Fickbekanntschaft gewesen. Inzwischen schätzte er Thore ebenfalls als Freund.
„Ich hab schon eine Wohnung gefunden. Willst du nicht mitkommen?“
So weit ging die Liebe nun doch nicht. Er schüttelte den Kopf. „Meine Wurzeln sind hier.“
Thore seufzte. „Hast du ein Bierchen für mich?“
Nachdem er zwei Flaschen Pils aus dem Kühlschrank geholt hatte, machte er es sich wieder im Bett gemütlich. Sie plauderten über dies und das. Thore war ein positiv eingestellter Mensch und besaß Humor. Es gab daher oft etwas zu lachen, bis sie erneut übereinander herfielen. Danach zog sich Thore an und verabschiedete sich.
Am nächsten Tag pflegte er in Wenningstedt 4 Gärten und kontrollierte den Zustand der Häuser. Bei einem hatte der Sturm den Blitzableiter vom Dach gerissen. Patrick informierte seinen Chef, der einen Fachmann mit der Reparatur beauftragte. Wegen des Versicherungsschutzes ließen sie lieber die Finger davon.
Freitagmorgen herrschte im Waschraum mal wieder Überfüllung. Er fuhr also zu Erika, wo er sich frisch machte, ein Mettbrötchen aß und Kaffee trank. Anschließend begab er sich nach Kampen, parkte seinen Wagen vorm Grundstück der Familie Bruhn und holte seinen Werkzeugkasten aus dem Kofferraum.
Nachdem er die Haustür aufgeschlossen hatte, tauschte er seine Arbeitsschuhe gegen Filzlatschen. Die stellte der Chef zur Verfügung, damit sie die Fußböden der Schönen und Reichen nicht verschmutzten.
Im Flur erwartete ihn eine Überraschung: Die Kellertür stand offen. Außerdem stank es nach Zigarettenrauch. War der Hausherr überraschend auf die Insel gekommen?
„Hallo?“, rief er. Keine Antwort.
Er spähte ins Wohnzimmer. Auf dem Boden und der Couchgarnitur waren Kissen und Decken verteilt. Mehrere Teller mit Kippen sowie leere Schnaps und Bierflaschen standen und lagen herum. Schubladen waren aufgerissen. Auch in der Küche hatte jemand rumgewühlt.
Patrick bezweifelte, dass die Eigentümer diese Unordnung verursacht hatten. Er stellte sein Werkzeug ab und schlich die Kellertreppe runter. Leer. Die Tür, die zur Außentreppe führte, war aufgebrochen. Auf Zehenspitzen bewegte er sich von Raum zu Raum und guckte hinein. Keine Menschenseele zu entdecken, dennoch verließ er das Haus, - Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste - bevor er seinen Chef anrief.
„Was für eine Scheiße!“, schimpfte Okke. „Ich informiere die Polizei und komme gleich rüber.“
Um keine Spuren zu zerstören, benutzte er erneut die Haustür, wechselte sein Schuhwerk und verzog sich in den Wagen. Das Wetter war heute derart ungemütlich, dass er sich im Freien den Arsch abgefroren hätte.
Nach zehn Minuten wurde ihm trotzdem kalt. Er stieg wieder aus und begann, die Straße rauf und runter zu laufen. Die Lage der Bruhnschen Immobilie war wunderschön. Man blickte auf die Dünenlandschaft, über der sich graue Wolkenberge türmten. Vereinzelt blitzte blauer Himmel hervor. Wenn der Wind nicht so kühl wäre, hätte er glatt Lust auf einen Strandspaziergang.
Endlich, nach weiteren fünf Minuten, kreuzte sein Chef in einem mitternachtsblauen Chevy Pickup auf. Zu Okkes Verteidigung, solches PS-Monster zu fahren: Ab und zu transportierte sein Chef damit sperrige Sachen.
Okke, wie gewöhnlich im Anzug, darüber einen edlen Wollmantel, gesellte sich zu ihm. „Haben die Arschlöcher viel zerstört?“
Patrick zuckte mit den Achseln. „Auf den ersten Blick sieht es nur nach Übernachtungsbesuch aus.“
Sein Chef seufzte. „Ich warte auf den Tag, an dem die ganzen leerstehenden Hütten von Aktivisten besetzt werden. Das wäre zwar schlecht fürs Geschäft, aber mal ein klares Zeichen, dass es so nicht weitergeht.“
„Das wäre doch gut fürs Geschäft. Wir dürften hinterher den ganzen Scheiß aufräumen.“
„Auch wieder wahr.“ Okke zwinkerte ihm schmunzelnd zu. „Es ist trotzdem eine Schande, was mit unserer schönen Insel geschieht.“
Auch Okke war geborener Westerländer. Sie trennten zwanzig Jahre. In vielen Dingen waren sie unterschiedlich, doch bezüglich Sylt teilten sie die gleiche Meinung.
„Ist ja nicht nur hier so. Überall, wo Touris gern hinfahren, ist doch das gleiche Desaster. Investoren sahnen ab, Einheimische gucken in die Röhre.“
Okke brummelte zustimmend.
In diesem Moment rollte ein Bullenwagen die Straße runter und hielt neben dem Pickup. Zwei Uniformierte stiegen aus. Mit dem einen, Arne, war Patrick zur Schule gegangen.
„Moin“, grüßte der Ältere der beiden. „Dann wollen wir uns den Schaden mal ansehen.“
Zu viert schritten sie aufs Haus zu. Patrick schloss auf und ließ den anderen den Vortritt. Er blieb mit Okke im Hintergrund, während die Bullen durchs Haus streiften.
„Wir hätten ihnen sagen sollen, dass sie ihre Schuhe ausziehen müssen“, flüsterte er Okke zu.
Sein Chef grinste.
Die Beamten kehrten in den Flur zurück.
„Wissen Sie, ob etwas gestohlen wurde?“, fragte der Ältere.
Patrick schüttelte den Kopf.
„Ich habe den Eigentümer informiert. Er wird im Laufe des Tages eintreffen“, erwiderte Okke.
„Können Sie die Kellertür sichern?“, wandte sich Arne an Okke.
Der warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Ich gucke mir das mal an“, antwortete Patrick.
Die Tür war mit brachialer Gewalt aufgebrochen worden. Um sie notdürftig zu sichern, müsste er von Innen einen Stahlriegel anschrauben. Im Baumarkt fand er bestimmt passendes Material.
Okke bestand darauf, mitzukommen. Sie stiegen also in den Pickup. Bevor’s losging, aktivierte Okke die Freisprecheinrichtung fürs Handy.
„Wenn du mich fragst, haben ein paar arme Teufel eine warme Bleibe gesucht“, sinnierte sein Chef.
„Sehe ich genauso. Sie hätten aber wenigstens zum Rauchen rausgehen können.“
Okke lachte.
Den Rest der Fahrt bestritt das Radio die Unterhaltung. Gedanklich war Patrick dabei, eine Liste der benötigten Materialien zusammenzustellen. Aus dem Lager brauchte er auf jeden Fall die Schlagbohrmaschine. Wie Z. Bruhn es finden würde, wenn er Löcher in die Kellerwände bohrte, überlegte er auch. Bestimmt stand ihm eine Diskussion, ob man das nicht anders hätte lösen können, bevor.
Im Baumarkt trennten sich ihre Wege. Okke blieb an der Kasse stehen und fing an, sich mit der Angestellten zu unterhalten, Patrick begab sich in die Eisenwarenabteilung. Rasch fand er etwas Passendes, mit dem er zurück zu seinem Chef ging.
Als nächstes fuhren sie zum Lager, anschließend nach Wenningstedt.
Mittlerweile hatten die Beamten ihre Spurensicherung abgeschlossen und warteten ungeduldig auf sie. Nachdem geklärt war, wann ein Putzkommando anrücken durfte, nämlich erst dann, wenn der Eigentümer die Freigabe erteilte, zog sich Okke zum Telefonieren in den Pickup zurück. Patrick brachte das Material in den Keller und begann mit der Arbeit.
Gerade hatte er die Löcher angezeichnet und die Bohrmaschine eingestöpselt, da erschien Okke.
„Warte! Ich hole einen Staubsauger“, bat sein Chef. „Weißt du, wo ich den finde?“
„Das ist jetzt bitte nicht dein Ernst. Ist doch eh dreckig hier.“ Der Gestank der von den Einbrechern vollgeschissenen Toilette hing in der Luft und über den hellen Teppich waren sie mit schmutzigen Schuhen gelaufen. Vereinzelt erkannte man Abdrücke der Sohlen.
Seufzend beäugte Okke den Bodenbelag. „Du hast recht.“
„Wann trifft der Eigentümer ein?“
„Voraussichtlich gegen drei. Was meinst du, wie lange du hier noch zu tun hast?“
„Wenn ich mir die Fenster im Obergeschoss vornehmen darf, wahrscheinlich bis Feierabend.“
„Ich kläre das gleich mit den Bullen.“ Sein Chef stieg die Kellertreppe wieder hoch.
Patrick setzte die Bohrmaschine in Betrieb. Als er sie etliche Löcher später wieder ausschaltete, tauchte Okke am Treppenabsatz auf.
„Es ist besser, dass wir, sobald du fertig bist, von hier verschwinden. Es könnte sonst sein, dass der Eigentümer dich wegen irgendwelcher verschwundenen Sachen verdächtigt.“
Darauf hatte er natürlich überhaupt keinen Bock. „Gib mir noch zehn Minuten.“
Letzten Endes benötigte er fast eine Dreiviertelstunde, bis der Riegel an Ort und Stelle saß. Okke, der geduldig gewartet hatte, lud ihn zu seiner Überraschung anschließend zum Mittagessen ein.
„Harte Arbeit muss belohnt werden“, brummelte sein Chef und klopfte ihm auf die Schulter.
Normalerweise fuhr Okke mittags nach Hause, um mit der Gattin zu speisen. Eine sympathische Frau, die halbtags in einem Klamottenladen arbeitete. Patrick hatte sie auf der letzten Weihnachtsfeier kennengelernt.
„Zu Hause alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.
Okke nickte. „Marie muss heute den ganzen Tag im Laden stehen. Hab keine Lust, mir ’ne Dose aufzumachen.“
Konserven war er auch leid. Diesbezüglich sprach Okke ihm aus der Seele.
Sie fuhren mit dem Pickup nach Westerland, wo sie im Friesenpesel hervorragend speisten. Sein Chef ließ sich nicht lumpen und gab auch noch Dessert und Kaffee aus.
Als sie sich rüsteten, um das Lokal zu verlassen, meldete sich Okkes Handy. Ich will zurück nach Westerland, ein Song von Die Ärzte, schallte es aus der Manteltasche.
Okke holte es hervor, guckte aufs Display und hielt sich das Gerät ans Ohr. „Hallo, Herr Bruhn.“
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2024
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