Schnaufend ließ sich Benedikt auf den Rücken fallen. Yannik tat es ihm gleich, allerdings vorsichtiger. Sein Hintern war von der groben Nummer ziemlich mitgenommen.
„Jetzt hätte ich Bock auf einen Latte“, verkündete Benedikt, griff nach der Box mit den Feuchttüchern, die auf dem Nachtschrank stand und zog ein Tuch heraus.
Übersetzt bedeutete das: Beweg deinen Arsch und hol mir einen. So lautete der unausgesprochene Deal. Dafür, dass Yannik im Luxus lebte, musste er nicht nur die Beine breit machen, sondern Benedikt auch noch bedienen. Warum er das mit sich machen ließ? Ganz einfach: Er hoffte, dass ihm Benedikt bei der angestrebten Karriere als Fotograf behilflich war.
Frauen gingen solche Beziehungen ein. Wieso sollte er nicht auch die Chance ergreifen, unter Einsatz seines Körpers seine Startbedingungen zu verbessern? Damit war man ja noch lange kein Prostituierter.
„Und wasch dir vorher die Hände“, brummelte Benedikt, der mit dem Tüchlein das Kondom abzog und es darin einwickelte.
Sein Sugardaddy – wie er Benedikt insgeheim nannte – hatte einen Hygienefimmel.
Übertrieben ächzend, um auf seinen desolaten Zustand hinzuweisen, - völlig überflüssig, denn Benedikt war ein Egoist – erhob er sich und trottete in die Küche.
Sie residierten in Ibiza Stadt in einem Luxus-Apartment. Für Benedikt war das Beste gerade gut genug. Als Eigner eines Großhandels für Friseurbedarf besaß er dafür ausreichend Mittel. Wie Yannik auf die Idee gekommen war, dass so jemand nützlich sein könnte? Ganz einfach: Sie hatten sich auf einer Vernissage kennengelernt. Benedikt verkehrte in den Kreisen der Reichen und Schönen, wobei letzteres überwiegend auf die Damen zutraf. Kontakte, auch Vitamin B genannt, waren als Künstler immens wichtig
Im Vergleich zu den hässlichen Friedhofsverweigerern, die sich einige Frauen an Land zogen, hatte er ziemliches Glück. Benedikt war gepflegt, muskulös, attraktiv und erst Anfang vierzig. Im Ganzen war er auch recht umgänglich, sofern alles nach seinen Vorstellungen lief.
„Schlaf nicht ein!“, rief Benedikt.
Wie gesagt: Man musste springen, wenn der Herr es befahl.
Yannik stellte einen Becher in den Kaffeeautomaten, betätigte die entsprechende Taste und lehnte sich gegen den Kühlschrank. Das Metall war angenehm kühl an seiner Haut, wobei die Wohnung selbstverständlich über eine Klimaanlage verfügte.
Nachdem die Maschine ihre Arbeit erledigt hatte, wusch er sich die Hände am Spülbecken und transportierte das Getränk ins Schlafzimmer. Benedikt, der mit seinem Smartphone beschäftigt war, würdigte ihn keines Blickes.
Im Bad genoss Yannik eine ausgiebige Dusche, rasierte sich und putzte seine Zähne. Anschließend kehrte er zu Benedikt, der weiterhin mit dem Handy rumspielte, zurück und kramte aus seinem Koffer frische Klamotten hervor.
Das Gepäckstück, ein schicker Hartschalenkoffer, beherbergte seinen kostbarsten Besitz: Seine Fotoapparate nebst Zubehör. Er hoffte, auf Ibiza lohnenswerte Motive zu finden.
Nachdem er sich angezogen hatte, trat er auf den Balkon. Der Ausblick war klasse. Man guckte auf den Hafen, in dem reihenweise schicke Yachten lagen. Dahinter erstreckte sich das Meer. Gerade rauschte eine Fähre ins Hafenbecken. Es gab Verbindungen zum Festland, nach Mallorca und Formentera. Er hatte sich vor ihrer Abreise ein bisschen schlau gemacht, um zumindest grundlegende Kenntnisse über die Insel zu haben.
Seine Eltern waren mit der Entscheidung, sein WG-Zimmer zu kündigen und zu Benedikt zu ziehen, nicht sonderlich glücklich. Sie hatten ihm angeboten, erstmal wieder bei ihnen zu wohnen, aber das würde er nur im äußersten Notfall tun. Kein Mensch wollte mit Mitte zwanzig wieder bei seinen Alten hausen.
Vor ungefähr einem Jahr hatte er sein Studium abgeschlossen. Seitdem jobbte er und suchte nebenher nach einer passenden Stelle. Kein leichtes Unterfangen, denn diese Posten waren heißbegehrt. Er wollte sich ohnehin selbständig machen, daher hatte er das Ganze nur halbherzig betrieben.
Die Idee, auf Vernissagen nach einem Mäzen Ausschau zu halten, stammte von seinem ehemaligen Mitbewohner Clever. Normalerweise hörte er nicht auf den Blödmann, der dachte, genau wie der Name vermuten ließ, clever zu sein. Im Rückblick war der Einfall gar nicht so dumm gewesen. Allerdings wäre es super, wenn sich sehr bald eine Chance, ein berühmter Künstler zu werden, ergab. Benedikt fiel ihm nämlich mit jedem vergehenden Tag mehr auf den Sender. Seit drei Monaten hielt er schon den Arsch hin und spielte das Dienstmädchen. Passiert war in dieser Zeit wenig, jedenfalls nichts in die angestrebte Richtung. Benedikt hatte unglaublich viel gearbeitet, beziehungsweise durch Abwesenheit geglänzt, was ihm zumindest den Freiraum verschaffte, seiner Passion – Fotografieren und Bildbearbeitung - nachzugehen.
Im Schlafzimmer bewegte sich etwas. Er spähte in den Raum. Das Bett war verwaist, also befand sich Benedikt im Bad. Rasch schüttelte er die Kissen auf, legte die Decken glatt hin und entsorgte das benutzte Kondom. Jenes hatte Benedikt auf dem Nachtschrank liegenlassen.
Danach betrachtete er seinen Koffer und überlegte, ob er die Sachen in einen der Schränke sortieren sollte. Sie waren erst vor wenigen Stunden angekommen, daher war dazu noch keine Muße gewesen. Seine kostbare Ausrüstung wollte er lieber in dem sicheren Behältnis lassen und der Rest lohnte nicht, um dafür Aufwand zu betreiben.
Erneut ging er auf den Balkon. Den Anblick der Riesenyachten fand er zwar schön, fragte sich aber, wieso jemand Geld für solchen Scheiß ausgab. Bestimmt lagen die meisten dieser Schiffe mehr an der Mole, als dass sie auf See unterwegs waren. Es wäre doch viel günstiger, bei Bedarf eines zu chartern.
Wenn er jemals zu Vermögen käme, würde er es möglichst lukrativ anlegen, um irgendwann nicht mehr arbeiten zu müssen. Es war doch Unsinn, sich den Arsch abzurackern, nur um die Knete für eine Luxusyacht aus dem Fenster zu werfen. Oder für sonst welchen Luxus, wie Privatjets und ähnlichen Kram. Und so lange es Menschen, die hungerten, gab, würde er immer ein schlechtes Gewissen haben, wenn er mit den Moneten derart nachlässig umging.
Rumoren im Schlafzimmer deuteten darauf hin, dass sich Benedikt ankleidete. Essen gehen, anschließend durch die Clubs ziehen, stand auf der Agenda. Viel lieber würde sich Yannik auf Motivsuche begeben, aber seine Bedürfnisse mussten hintenanstehen. Schließlich lebte er auf Benedikts Kosten.
Sie wanderten am Hafenbecken entlang in Richtung Altstadt. Die ganze Zeit hatte Benedikt das Handy am Ohr und quatschte mit jemandem auf Spanisch. Da Yannik der Sprache nicht mächtig war, schaltete er auf Durchzug.
Ehrlich gesagt wäre seine Wahl niemals auf Ibiza Stadt gefallen. Stark frequentierte Urlaubsorte waren nicht sein Ding. Viel schöner fand er Gegenden, in denen man auf urtümliche Gebäude und Menschen traf. Davon gab es ja leider nicht mehr viele, denn die Touristen fielen wie Heuschreckenschwärme über die Welt her.
Das Lokal, in das Benedikt ihn führte, wirkte nobel. Die Speisekarte enthielt keine Fotos und war ausschließlich in Spanisch. Egal. Benedikt bestellte sowieso immer für ihn mit.
Gerade hatte der Ober ihre Getränkewünsche aufgenommen, da tauchten zwei Männer auf und setzten sich zu ihnen. Das erklärte, wieso der Tisch für vier gedeckt war.
Die beiden unterhielten sich mit Benedikt auf Spanisch und nahmen kaum Notiz von ihm. Yannik war das gewohnt, nur verstand er sonst wenigstens die Sprache. Weil er sich langweilte, trank er mehr von dem Rotwein, als er es normalerweise getan hätte.
Nach dem Restaurantbesuch, der sich endlos hinzog, ging’s weiter in einen Club. Die Musik war ätzend. Wieder schaute er tiefer ins Glas als gewöhnlich. Scheiß drauf! Schließlich waren sie im Urlaub. Da durfte man sich mal besaufen.
Mit dem richtigen Pegel war die Mucke einigermaßen erträglich. Er tanzte sogar einmal mit Benedikt und einmal mit einem der beiden Typen, Diego, wenn er das richtig mitbekommen hatte.
Nach dem x-ten Caipirinha brachen sie auf. Ob Diego und Dingsbums in die gleiche Richtung mussten oder die Party in ihrem Appartement weitergehen sollte, wusste er nicht. Jedenfalls torkelten sie zu viert die Mole entlang. Oder nur er torkelte und bekam dadurch den Eindruck, dass die anderen drei ebenfalls unsicher auf den Beinen waren.
Es lief wohl auf die Fortsetzung der Party hinaus, denn Diego und Dingsbums folgten Benedikt und ihm in die Wohnung. Obwohl er stinkbesoffen war, breitete sich ein ungutes Gefühl in ihm aus. Das konnte daran liegen, dass er auf dem Rückweg wiederholt Hände an seinem Arsch gespürt hatte, wovon mindestens eine nicht zu Benedikt gehörte.
Sein Instinkt riet ihm zur Flucht. Der Mittelpunkt eines Gangbangs zu werden, befand sich nicht auf seiner Wunschliste. Andererseits sah er vielleicht bloß Gespenster. Mit Benedikts übertriebenen Hygienebedürfnissen ließe sich ein Vierer außerdem nicht vereinbaren.
Diego verzog sich aufs Gäste-WC. Auch Yannik musste pissen und ging ins Schlafzimmer, von dem aus man ins Bad gelangte. Misstrauen veranlasste ihn, hinter der Tür innezuhalten und zu lauschen.
„Damit das klar ist“, hörte er Benedikt sagen. „Nur mit Gummi. Auch beim Blasen. Der Bursche soll keimfrei bleiben.“
Einen Moment war er wie erstarrt, weil es das eine war, etwas zu argwöhnen, das andere, Gewissheit zu erlangen. Dann schnappte er sich seinen Koffer, brachte ihn auf den Balkon, hievte ihn über die Brüstung und ließ ihn in das darunter liegende Gebüsch fallen. Glücklicherweise handelte es sich lediglich um ungefähr zwei Meter bis zum Boden. Andernfalls hätte er ein echtes Problem.
Nachdem er ebenfalls in die Tiefe gesprungen war, griff er nach dem Trolley und schlich davon; dabei mied er anfangs den befestigten Weg, damit die Räder kein Geräusch verursachten. Erst als er sicher war, dass er sich außer Hörweite befand, wagte er, den Bürgersteig zu benutzen.
Die Straße mündete in einen großen Parkplatz, an den ein Areal mit dichtem Buschwerk grenzte. Yannik kämpfte sich durchs Dickicht, bis er meinte, vor Blicken ausreichend geschützt zu sein. Mit einem abgrundtiefen Seufzer ließ er sich im Schneidersitz nieder. Nun, wo sein Adrenalinpegel sank, spürte er wieder die Wirkung des Alkohols. Übelkeit wallte so schnell hoch, dass er fast auf den Koffer gekotzt hätte. Im letzten Augenblick schaffte er es, sich vorher umzudrehen.
Danach drehte sich die Welt weniger schnell. Eine klare Verbesserung, wenn nicht stechender Durst ihn plagen würde. Dazu, nach einem Kiosk zu suchen, um Wasser zu kaufen, fehlte ihm die Kraft. Er kramte seine Jeansjacke aus dem Trolley und machte es sich damit so gut es ging auf dem sandigen Untergrund gemütlich.
In den frühen Morgenstunden wachte er auf. Seine Kopfschmerzen waren erträglich, wahrscheinlich dank der Kotzattacke. Dafür war das Verlangen nach Flüssigkeit nicht länger zu ignorieren.
Er pinkelte neben die Stelle, an der er seinen Magen geleert hatte, stopfte die Jacke zurück in den Koffer und schlängelte sich durchs Buschwerk bis zur Straße. Fortuna meinte es gut mit ihm. Schon bald fand er einen Supermarkt, in dem er sich mit zwei Flaschen Wasser und ein paar Müsliriegeln ausstattete.
In einer schattigen Häuserlücke setzte er sich auf den Trolley, verspeiste zwei Riegel und leerte eine Wasserflasche zur Hälfte. Option eins war, zum Flughafen zu latschen und zu versuchen, einen günstigen Rückflug zu ergattern. Sein Ticket befand sich leider in Benedikts Gewahrsam. Es war aber gut möglich, dass dort jemand nach ihm Ausschau hielt. Wie schon erwähnt, wurde Benedikt sehr zornig, wenn etwas anders als gewünscht lief. Yannik traute ihm sogar zu, die Polizei unter irgendeinem Vorwand auf seine Fährte zu setzen.
Option zwei war, mit einer der Fähren zu flüchten. Das sollte er besser schleunigst tun. Noch bestand die Möglichkeit, dass Benedikt zu verkatert war, um nach ihm zu fahnden.
Wieder war Fortuna ihm hold: An der Mole lag ein Schiff, für das er einen Fahrschein löste und das gleich, als er an Bord gegangen war, ablegte. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Ermordet hätte Benedikt ihn zwar nicht, aber bestimmt gründlich bestraft. Über die näheren Details dieser Strafe dachte er lieber nicht nach.
Während der Überfahrt putzte sich Yannik im Toilettenraum die Zähne, vernichtete den Inhalt der angebrochenen Flasche und aß einen weiteren Müsliriegel. Außerdem grübelte er, ob er vielleicht überreagiert hatte. Im Grunde war Benedikt kein schlechter Mensch. Also, kein allzu schlechter. Es gab schon erhebliche Charaktermängel, aber im Großen und Ganzen konnte man Benedikt als erträglich bezeichnen. Hätte er Yannik wirklich den beiden Typen überlassen oder hatte er das eventuell falsch verstanden? Im Brausebrand bildete man sich manches ja nur ein.
Wie auch immer: Wenn Benedikt wirklich einen Vierer– oder einen Dreier, bei dem er lediglich zuschaute - im Sinn gehabt hatte, wäre die Chance, sich dagegen zu wehren, gleich Null gewesen. Ein Twink zu sein besaß den Vorteil, bei Twink-Liebhabern gut anzukommen. Ein Nachteil war, dass man sich gegen größere Männer, insbesondere in der Überzahl, nicht behaupten konnte.
Der erste Eindruck, als Formentera in Sichtweite geriet, war schon mal klasse. Eine langgestreckte Landzunge, die nur aus Felsen und Sand zu bestehen schien. Zahlreiche Boote ankerten vor dem Ufer.
Je näher sie dem Hafen kamen, desto breiter und grüner wurde die Fläche. Nur vereinzelt entdeckte Yannik Gebäude.
Als die Fähre angelegt hatte und er von Bord gegangen war, stieß er nach einigen Schritten auf ein Schild, gemäß dem Camping auf der Insel verboten war. Diese Info kannte er bereits aus dem Internet. Beim zweiten Frühstück hatte er mit seinem Smartphone Formentera gegoogelt.
Er wanderte an der Mole entlang. In einem Gebäude mit Arkaden befanden sich Geschäfte, Restaurants und Cafés. Yannik beschloss, ein wenig von seinem schmalen Budget in Koffein zu investieren. Sein Konto wies genug Guthaben für ein Rückflugticket auf. Darüber hinaus war der Spielraum gering.
Ein Kellner, bestimmt nicht wesentlich älter als er, nahm seine Bestellung auf. Er nutzte die Wartezeit, um seine Eltern über den Stand der Dinge zu informieren. Seine Mutter verkniff sich den Spruch ‚warum hast du auch nicht auf uns gehört?‘, wofür er ihr sehr dankbar war.
„Brauchst du Geld?“, erkundigte sie sich.
„Ich komm schon klar. Wenn es eng wird, sage ich Bescheid.“ Er war unendlich froh, derart verständnisvolle Eltern zu haben.
„Ich erwarte, dass du dich alle zwei Tage meldest“, verlangte sie.
„Reicht eine SMS?“
Sie seufzte. „Klar. Hauptsache, du gibst ein Lebenszeichen.“
„Du bist die Beste. Grüß Papa von mir.“
„Pass auf dich auf, mein Schatz“, verabschiedete sie sich.
Als er auflegte, wurde ihm bewusst, dass der Kellner, der seinen Café con leche gebracht hatte, in der Nähe stand und wahrscheinlich alles mitbekommen hatte. Der neugierige Ausdruck in den dunklen Augen war ein klares Indiz dafür.
Er ließ ein paar Münzen in das Glas, in dem die Quittung steckte, fallen und nippte an seinem Getränk. Obwohl seine Flucht gelungen war, fühlte er sich immer noch angespannt. Das würde sich wohl erst legen, wenn er eine Unterkunft gefunden hatte.
„Du suchen Hotel?“, sprach ihn der Kellner an.
Der Typ wollte ihn bestimmt an jemanden vermitteln und dafür Provision kassieren. Er schüttelte den Kopf.
Der Kellner beäugte seinen Trolley, dem man ansah, dass er ein paar Millionen gekostet hatte. Okay, keine Millionen, aber mehr, als er jemals für sowas ausgeben würde.
„Das ist ein Geschenk von meinem Ex-Lover“, erklärte Yannik. „Ich bin arm wie eine Kirchenmaus.“
Abgesehen von seiner Kameraausrüstung stimmte das ja auch. Im Nachhinein war er froh, sie mitgenommen zu haben. In Benedikts Haus lagen nun nur noch ein paar Klamotten, auf die er verzichten konnte. Er hegte keinen Zweifel, dass sein Ex sie kurzerhand entsorgen würde. Den größten Teil seiner Habe hatte er bei seinen Eltern untergestellt und lobte sich im Geiste selbst für diese Weitsicht.
„Ah! Estar sin blanca“, erwiderte der Kellner.
Blanca klang wie blank, also nickte er.
„Miércoles y domingo hippie mercado en El Pilar de la Mola”, erzählte der Typ. „Du fragen da.“
Mithilfe seines Smartphones fand Yannik heraus, dass miércoles y domingo mittwochs und sonntags bedeutete. Der Ort El Pilar de la Mola lag am anderen Ende der Insel. „Wie komme ich da hin?“
„Bus.“ Der Mann zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war. „Fahren an Puerto.“
„Dankeschön.“ Er schenkte dem Typ ein dankbares Lächeln und warf einige zusätzliche Münzen in das Glas mit der Quittung.
„De nada.“ Der Kellner deutete eine Verbeugung an, schnappte sich das Gläschen und huschte davon.
Yannik trank einen Schluck Kaffee und konsultierte erneut sein Handy. Der Hippie Markt wurde in den höchsten Tönen gelobt. Neben dem in El Pilar gab es noch welche in Sant Francesc und Es Pujols. Letzterer schien das Touristenzentrum der Insel zu sein. Ein guter Grund, den Ort zu meiden. In Sant Francesc, der Hauptstadt Formenteras, würde er sich als erstes umgucken. Dort sollte es ein günstiges Hostal geben. Er sehnte sich nach einer Dusche, weil er aus jeder Pore nach Sprit stank, und einem weichen Bett. Die Nacht auf dem harten Boden steckte ihm in den Knochen.
Nachdem er die Tasse geleert hatte, begab er sich zum Anleger und fand auf Anhieb die Bushaltestelle. Daran war er vorhin, ohne sie zu sehen, vorbeigelaufen. Der Bus fuhr jede Stunde. Der nächste kam in zwölf Minuten.
Die Route führte durch ein Industriegebiet. Ansonsten gab es Felder links und rechts von der Straße. Schön waren die Mauern aus locker übereinandergeschichteten Steinen in unterschiedlichen Terrakottafarben, die sich endlos an der Strecke entlang zogen. Von denen mussten unbedingt welche auf ein Foto.
Sant Francesc entpuppte sich als ebenso kleiner Ort wie La Savina. Den Trolley im Schlepptau wanderte er durch die Straßen, bis er das im Internet angepriesene Hostal entdeckte. Ein Einzelzimmer kostete dreiunddreißig Euro pro Nacht, inklusive Frühstück. Das konnte er sich durchaus leisten. Zusätzlicher Bonus: Ein Kaffeeautomat in der Lobby, der für einen Euro schwarze Brühe ausspuckte. Milch und Zucker gab’s gratis dazu.
In dem sauberen, spartanisch eingerichteten Zimmer ließ sich Yannik auf dem Bett nieder und öffnete seinen Koffer. Seine kostbare Fotoausrüstung hatte er von beiden Seiten mit Klamotten abgepolstert. Sie waren unversehrt. Er stöpselte die Stromzuleitung seines Notebooks in eine der beiden vorhandenen Steckdosen. Für das Ladegerät des Smartphones musste er die Nachttischleuchte ausstöpseln.
Nach einer Dusche fühlte er sich wie neugeboren. Mit seiner Nikon, die er gebraucht für tausendsechshundert erstanden hatte, begab er sich auf Fotosafari.
Die Kamera kam nur ein paarmal zum Einsatz. Es schien, als ob man das Städtchen im Laufe der Jahre vollständig saniert hatte. Verwunschene Gässchen, schöne Fassaden: Fehlanzeige. Kaum charmante Winkel oder Ecken.
Im Supermarkt besorgte er zwei weitere Flaschen Wasser, Oliven, Käse und Baguette, bevor er ins Hostal zurückkehrte. In seinem Zimmer verspeiste er ein spätes Mittag- oder frühes Abendessen, ja nach Betrachtungsweise. Danach kramte er seine Badehose sowie ein Handtuch aus dem Trolley und begab sich in den Innenhof.
Rund um den Pool standen Liegen. Er wählte eine, über die ein Sonnenschirm Schatten warf. Außer ihm befanden sich nur zwei Leute in dem Areal. Ein Pärchen, vermutlich ein paar Jahre älter als er.
Yannik gefiel die Location sehr. Wenn sein Budget es zulassen würde, hätte er gern ein paar Tage in dem Hostal verbracht. Mit den weißen Wänden und blauen Fensterläden, verströmte es südländischen Flair. Auch die Türen und Balkongeländer des zweistöckigen Gebäudes waren blau gestrichen. In seinem Zimmer war von dieser Atmosphäre zwar wenig zu spüren, aber darin würde er sich ja nur zum Schlafen aufhalten.
Seufzend, weil er nur die Wahl zwischen nach Hause fliegen oder einer noch günstigeren Unterkunft hatte, zückte er sein Smartphone. Ein Weilchen las er in dem Buch, das er auf dem Flug nach Ibiza angefangen hatte, dann wanderten seine Gedanken zu Benedikt.
Was hatte sich der Arsch dabei gedacht, ihn Diego und Dingsbums anzubieten? Bis zum gestrigen Abend hatte Yannik gedacht, dass Benedikts einziger Kink etwas härterer Sex war. Offenbar ein Irrtum. Oder hatte es am Alkohol gelegen? Klar, denk dir auch noch eine Entschuldigung für den Mistkerl aus, spottete sein Verstand und das zu Recht. Benedikt war zwar ein Egomane, aber selbst als solcher müsste er Grenzen kennen.
Auf der anderen Seite gab es Typen, die es oberaffengeil fanden, sich gleichzeitig in jedes verfügbare Loch ficken zu lassen. Vielleicht hatte Benedikt gedacht, Yannik wäre auch so einer, weil er gern pauschalisierte; so in der Art: Alle Twinks sind Bottoms. Zugegeben: er bevorzugte den passiven Part, aber das galt ja lediglich für ihn. Und grob angefasst wurde er auch gern mal, aber nicht ständig.
Er verscheuchte die Anwandlung einer psychologischen Analyse. Das war nicht sein Fachgebiet. Die Sache mit Benedikt war eh gegessen, so what?
Als die Schatten länger wurden, zog er sich aufs Zimmer zurück, um von seinen Vorräten zu zehren. Da er keine Campingausrüstung besaß, konnte er kein warmes Gericht zaubern und wäre ständig auf Brot angewiesen. Davon bekam man Monotonie. Er musste sich echt was einfallen lassen, wobei es nicht infrage kam, seine Eltern um Geld anzuhauen. Schade, dass er nicht versuchen konnte, mit seinen Fotos Knete zu machen. Dafür fehlte ihm das nötige Equipment, angefangen bei einem Drucker.
Er rüstete sich mit einer der Wasserflaschen sowie seiner Nikon aus und verließ das Hostal. Vielleicht fand sich in der Abenddämmerung ein lohnenswertes Motiv.
Im selben Gebäude befand sich ein Restaurant. Die Tische, vorhin nur vereinzelt belegt, waren nun alle besetzt. Auf einem Barhocker saß ein Bärtiger und zupfte an den Saiten einer Gitarre.
Yannik ließ sich auf der gemauerten Umrandung eines Blumenbeetes nieder. Die Stimmung war wunderschön. Die leisen Gitarrenklänge untermalten das Reden und Lachen der Gäste. In einigem Abstand lungerten ein paar Katzen herum. Während seines nachmittäglichen Rundganges waren ihm bereits etliche Stubentiger aufgefallen. Auch hatte er ein blaues Regal, in dem Näpfe mit Futter und Wasser standen, entdeckt. Anscheinend kümmerte sich jemand um die herrenlosen Streuner.
Ihm gelangen ein paar schöne Aufnahmen eines zuckersüßen Kätzchens, das an ihn herangepirscht war und ihn aus großen Augen anguckte. Kurz überlegte er, dem Tier etwas von seinem letzten Müsliriegel abzugeben, entschied sich jedoch dagegen. Bestimmt war das klebrige Zeug nicht für Katzen geeignet.
Zu dem Gitarrenspieler gesellte sich ein Mann mit einer Trommel sowie eine Frau mit einem Tamburin. Die Musik schwoll an, im Gegenzug wurden die Geräuschkulisse der Lokalgäste leiser. Die Frau begann zu singen.
Als er später im Bett lag, trug er ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Solch einen harmonischen Abend hatte er seit einer Ewigkeit nicht erlebt.
Am nächsten Morgen fraß er sich richtiggehend durchs Frühstücksbuffet, damit nicht so schnell wieder Hunger aufkam. Anschließend spazierte er zur Busstation. Außer ihm standen noch einige Leute an der Haltestelle. Drei davon, ein Mann mit zwei Mädels, alle in bunten Klamotten und mit Rucksäcken, hatte er im Hostal gesehen.
„Willst du auch nach El Pilar?“, sprach ihn eines der Mädchen an.
Yannik nickte.
„Wegen dem Markt?“
„Unter anderem. Ich suche nach einer günstigen Bleibe“, vertraute er ihr an.
„Wir auch. Da soll es Hippies geben, die einen kostenlos bei sich wohnen lassen.“
Wenn sich das schon rumgesprochen hatte, dürften bei diesen Leuten kein Platz mehr sein. Ach, immer positiv denken, ermunterte er sich im Geiste. „Wo kommt ihr her?“
„Flensburg. Und du?“
„Hamburg.“
„Ich bin Bobo“, stellte sie sich vor und zeigte auf die anderen zwei. „Und das sind Mark und Sanne.“
Die beiden lächelten ihm zu.
„Ich bin Yannik.“
„Bist du allein unterwegs?“, erkundigte sich Bobo.
Abermals nickte er.
Im Bus setzte sich Bobo neben ihn. Glücklicherweise dauerte die Fahrt nur zwanzig Minuten, denn sie quatschte die ganze Zeit. Als sie ausstiegen, klingelten ihm die Ohren. Seine Schwester redete auch ohne Punkt und Komma. Bei ihr durfte er: „Halt endlich mal die Klappe!“, sagen. Bei Bobo traute er sich das nicht.
Weil es dämlich aussehen würde, mit dem Trolley über den Markt zu latschen – und weil er sich sowieso keine der ausgestellten Waren leisten konnte – suchte er sich einen Platz am Rand der Veranstaltung. Seine Begleiter zogen ohne ihn los.
Es wimmelte nur so vor Menschen. Je länger Yannik das Treiben beobachtete, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass er hier seine Zeit verschwendete. Das Ganze wirkte sehr kommerziell. Die Standbesitzer, die er von seinem Sitzplatz aus sah, besaßen zwar Bärte, Piercings und auch sonst alle Insignien der Hippiegemeinde, aber es machte auf ihn den Eindruck einer Verkleidung.
Bobo, Sanne und Mark gesellten sich zu ihm.
„Wir haben eine Adresse bekommen“, verkündete Bobo und wedelte mit einem Smartphone. „Ist ein ganzes Stück zu laufen.“
Er schaute sich die Strecke auf ihrem Handy an. Laut Routenplaner waren es rund dreißig Minuten zu Fuß. Eigentlich wäre das mit dem Koffer, der über stabile Rollen verfügte, kein Problem, doch es schien sich hauptsächlich um unbefestigte Wege zu handeln. Tja ... da musste er nun durch.
Entgegen seinen Befürchtungen gab es eine halbwegs asphaltierte Straße. Halbwegs deshalb, weil sie an den Seiten abgesackt und teilweise von Sand bedeckt war.
Das erste, was man von ihrem Ziel sah, war ein Gebäudekomplex mit zwei Satteldächern. Es war von einer Steinmauer, hinter der etliche verblichene Sonnenschirme aufragten, umfriedet.
Als sie sich dem Haus näherten, wehten ihnen Gitarrenklänge entgegen. Sie stammten von einem Mann, der auf der Veranda saß, eine Zigarette im Mundwinkel.
„Das ist Eric“, flüsterte Bobo mit Ehrfurcht in der Stimme. „Er ist eine Legende.“
Eine Legende, von der Yannik noch nie gehört hatte.
Als sie an der Veranda ankamen, schaute Eric hoch, stellte das Spielen ein, zupfte sich die Kippe aus dem Mundwinkel und rief: „Monica! Wir haben Gäste! Bring was zu trinken!“
Der Typ war ja echt mega-entspannt. Vermutlich enthielt die Zigarette nicht bloß Tabak.
Eine Frau, nach Yanniks Schätzung um die dreißig, tauchte im Türrahmen auf. Ihre versteinerte Miene verriet, dass sie von Erics Gastfreundschaft wenig begeistert war. Wortlos verschwand sie wieder ins Innere des Hauses. Eric bedeutete ihnen mit einem Wink, die Veranda zu betreten und sich niederzulassen.
Auf dem runden Tisch, an dem Eric saß, lag eine Wachstuchdecke, auf der ein voller Aschenbecher und eine Bierdose standen. Monica brachte ein Tablett mit Gläsern und Getränken, stellte es dazu und nahm auf einem der Holzstühle Platz.
„Wo kommt ihr her?“, wollte sie wissen.
„Aus Flensburg“, erwiderte Bobo. „Wir waren ein paar Tage auf Ibiza, aber da hat es uns nicht gefallen.“
Die folgende Unterhaltung zwischen Monica und Bobo blendete Yannik aus. Sein geübtes Auge hatte bereits ein paar lohnenswerte Motive entdeckt. Er fotografierte seit seiner Kindheit. Im Laufe der Jahre hatte er sich auf Natur und Gegenstände spezialisiert. Gerade letztere faszinierten ihn. Viele erzählten ihre eigenen Geschichten, wie beispielsweise eine zerbrochene Brille in hohem Gras. Das besaß ein bisschen Sesamstraße-Charakter, à la: Was ist hier passiert?
„Und du?“, wandte sich Monica an ihn.
Wie viel sollte er erzählen? „Ich war mit meinem Freund – jetzt Exfreund – auf Ibiza. Wir haben uns gestritten. Ich bin abgehauen und nun bin ich hier.“
Bobo, Sanne und Mark starrten ihn an.
„Ja, ich bin schwul“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage.
„Gute Einstellung“, brummelte Eric, der inzwischen die Kippe ausgedrückt hatte und dabei war, sich eine neue zu drehen. Wie vermutet, bestand der Inhalt nicht nur aus Tabak. „Frauen machen nix als Ärger.“
Monica seufzte. „Männer auch, insbesondere du.“
Eric grinste, leckte das Drehpapier an und konzentrierte sich darauf, es fachgerecht zusammenzukleben.
„Können wir ein paar Nächte hierbleiben?“, fragte Bobo.
„Klar“, murmelte Eric.
„Nehmt euch selbst zu trinken“, fügte Monica hinzu.
Eine Frau mit verlebtem Gesicht kam auf die Veranda, streichelte Erics Schulter und ließ sich neben ihm auf einem Stuhl nieder. Sie griff nach einem der Gläser und schenkte sich Wasser ein.
Yannik war in Bezug auf zwischenmenschliche Verhältnisse kein Fachmann, erkannte jedoch, dass die Frau Erics Gattin oder Geliebte sein dürfte. Die besitzergreifende Geste sprach dafür.
Bobo versorgte Sanne, Mark, ihn und sich selbst mit Getränken. Unterdessen schwängerte das Aroma von Marihuana die Luft. Eric zog ein weiteres Mal an dem Joint, dann bot er ihn Bobo, die sofort zugriff, an.
„Im Wohnwagen sind Matratzen und Decken“, ergriff Monica das Wort. „Da könnt ihr auch schlafen oder im Anbau.“ Sie wies auf den niedrigen Gebäudeteil. „Bei den Katzen.“
Von denen streunten einige auf dem Gelände herum. Zwei hatte Yannik bereits bei ihrer Ankunft durch die Büsche schleichen gesehen. Drei weitere räkelten sich auf den Dielen der Veranda.
„Gibt’s hier ein Klo?“, erkundigte sich Yannik, weil er ein dringendes Bedürfnis verspürte.
Als Monica ihn hinters Haus schickte, schwante ihm schon, dass ihn kein Wasserklosett erwartete. Er lag richtig. In dem Holzverschlag befand sich eine Komposttoilette. Innen, an der Tür, hing ein Zettel, auf dem die Handhabung in Englisch, Deutsch, Spanisch und Niederländisch erklärt wurde.
Zum Händewaschen stand ein Kanister mit Wasser bereit. Ein Waschbecken, auf dem ein Stück Seife lag, war an der rückwärtigen Hauswand festgeschraubt.
Er kehrte zur Veranda zurück, um seinen Trolley zum Wohnwagen zu rollen. Über dem Gefährt lag eine Plane, die zugleich als Markise diente, indem man sie an der gegenüberliegenden Wand des Anbaus befestigt hatte. Drinnen war es dermaßen stickig, dass Yannik beschloss, lieber bei den Katzen zu schlafen. Er schleppte eine der Matratzen sowie eine Decke in sein ausgewähltes Domizil. Anschließend nahm er die Nikon aus dem Koffer und begab sich auf Motivsuche.
Das Grundstück war nur an drei Seiten von einer Mauer eingrenzt. In Richtung Meer erstreckte sich eine Wiese, – wenn man das gelbe, verdorrte Gras so bezeichnen wollte – auf der Bäume standen. Yannik beäugte die Früchte, die sie trugen. Waren das Feigen? Die kannte er nur in getrockneter Form.
Ein Sonnenschirm abseits des Schirmwaldes erregte seine Aufmerksamkeit. Darunter befand sich ein Schacht, wahrscheinlich ein Brunnen. Irgendwoher musste das Wasser ja kommen, da es nicht aus einer Leitung floss.
Auf einem großen Stein entdeckte er eine gelbe Eidechse, die sich sonnte. Es gelang ihm, ein paar Fotos zu knipsen, bis er sie mit einer unbedachten Bewegung verscheuchte.
Jenseits der Feigenbäume bestand die Landschaft aus felsigem Untergrund, auf dem Sträucher, Kakteen, Moos und niedrige Bäume wuchsen. Dahinter erstreckte sich das Meer. Links, in der Ferne: ein weißer Leuchtturm.
Ihm gefiel die Umgebung sehr. Es war bestimmt herrlich, hier zu leben ... wobei sich jedes Paradies irgendwann abnutzte. Er hatte mal einen Bericht über einen Auswanderer, der lange Zeit auf einer Insel vor Mauritius verbracht hatte, gesehen. Nach ungefähr fünfzehn Jahren war der Typ, mit genau dieser Begründung, nach Deutschland zurückgekehrt. Vielleicht kam es auf die Gesellschaft an. Auf intellektueller Basis hatte der Mann nämlich keinen Anschluss gefunden.
Gemächlich wanderte er an der Mauer entlang. Wozu hatte sich jemand die Mühe gemacht, die Abgrenzung Stein für Stein aufzuschichten? Und wann war das geschehen? Wie auch immer: Dieser jemand hatte sich sehr viel Mühe gegeben, denn das Bauwerk wies kaum Beschädigungen auf.
Eric saß allein auf der Veranda und werkelte an der Gitarre herum. Yannik setzte sich an den Tisch und griff nach seinem Glas, das er vorhin nur zur Hälfte geleert hatte.
„Du bist Fotograf?“, fragte Eric, ohne die Arbeit zu unterbrechen.
„Ich wäre gern einer. Vorläufig ist es nur ein Hobby.“
„Du fotografierst, also bist du ein Fotograf.“ Eric zwinkerte ihm zu.
Dem Akzent zufolge war er Niederländer; und den im Schatten eines der Schirme prächtig gedeihenden Marihuana-Pflanzen zufolge, ein Mann mit grünem Daumen.
Außerdem konnte Eric hervorragend kochen. Das fand Yannik später heraus.
Er hatte, wie versprochen, seiner Mutter eine SMS geschickt und sich zum Lesen auf ein schattiges Plätzchen zurückgezogen. Als er zum Haus zurückkehrte, empfing ihn köstlicher Duft. Direkt hinter der Veranda befand sich die Küche, in der jemand rumorte. Als er neugierig in den Raum spähte, winkte Monica ihn herein und drückte ihm einen Stapel Teller in die Hände. Eric stand am Herd und rührte in einem Topf.
„Tisch decken“, befahl sie knapp.
Sie folgte ihm nach draußen. Weil der runde Tisch nicht für sieben Leute reichte, stellten sie einen rechteckigen dazu. Monica ging wieder rein und kehrte mit Besteck zurück. Während sie es zusammen verteilten, erkundigte sich Yannik: „Wovon lebt man eigentlich, wenn man hier wohnt?“
„Viele vermieten. Da aber mein Vater Gäste kostenlos wohnen lässt, verdienen wir unser Geld auf Märkten.“ Sie legte die letzte Gabel an ihren Platz. „Wir verkaufen Selbstgebackenes. Er spielt Gitarre, ich singe.“
Sein schlechtes Gewissen regte sich. „Kann ich bei irgendwas helfen?“
Sie musterte seine Hände, als wollte sie seine Fingerfertigkeit abschätzen. „Klar. Morgen ist Backtag.“
Yannik half ihr, Wasser vom Brunnen zu holen. Danach ließ er sich von Eric Arbeit zuteilen. Er durfte nur untergeordnete Tätigkeiten, wie Zwiebeln schneiden, ausführen. Alles andere erledigte Eric mit erstaunlicher Effizienz. Da behaupte doch noch mal einer, dass Kiffer nichts auf die Reihe bekämen.
Gegen halb acht standen alle Speisen auf dem Tisch. Es gab Reis, Fleischspieße in roter Sauce, Eier in Erdnusssauce, Kichererbsensalat, geraspelte Gurke sowie Möhre, grünen Dip und Kräuterbaguette.
Die Unterhaltung war lebhaft. Carola beteiligte sich kaum. Yannik hielt sich ebenfalls zurück. Er konzentrierte sich lieber auf das leckere Essen.
Irgendwann griff Eric zur Gitarre. Monica sang dazu. Diverse Joints machten die Runde. Außer Eric kifften noch Bobo und Carola.
Gegen Mitternacht verzog sich Yannik in sein Domizil. Eine grau getigerte Katze hatte es sich auf der Matratze gemütlich gemacht. Er musste sie ein bisschen zur Seite schieben, um genügend Platz zu haben. So ein schnurrendes Fellbündel besaß einschläfernde Wirkung. Rasch glitt er in Morpheus‘ Arme.
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2024
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