Cover

1.

„Die Kekse waren auch schon mal besser“, murrte Manfred und schnappte sich einen weiteren von einem der beiden Teller, die auf dem Tisch standen.

Nicht nur die Kekse waren vor der Machtübernahme – wie Julian es nannte – besser gewesen. Den Kaffeeautomat hatte man durch eine Filtermaschine, die Plörre produzierte, ersetzt und die Möglichkeit, im Homeoffice zu bleiben, streng limitiert. So gut wie jedes Sendeformat wurde von dem neuen Chef unter die Lupe genommen und die Verantwortlichen mit tausend Fragen bombardiert.

Julian hatte es besonders schwer getroffen. Er war zuständig für das Ressort Dokumentationen. Von dem alten Chef, Werner Brömmer, hatte er immer nur Lob erhalten. Seit Werner durch Dr. Korbinian von Welsenburg ersetzt worden war, stand er im Kreuzfeuer. Nichts konnte er dem Neuen recht machen. Sein letztes Projekt, Leben im Ghetto, hatte von Welsenburg kurzerhand in die Tonne befördert.

„Sowas will heutzutage niemand sehen. Wir brauchen positive Themen. Denken Sie sich etwas Entsprechendes aus“, lautete die Begründung.

Positiv ... dazu war ihm der Anstieg von HIV-Infektionen eingefallen. Von Welsenburg würde ihn in der Luft zerreißen, wenn er mit dem Thema: HIV-positiv aufkreuzte.

Endlich, mit zehn Minuten Verspätung, betrat der Chef den Konferenzraum und ließ sich am Kopfende des Tisches nieder. Wie immer hatte von Welsenburg ein Notebook dabei, das er aufklappte und auf der Tastatur rumtippte, bevor er in die Runde blickte.

„Es freut mich, dass Sie Zeit für mich erübrigen konnten“, ergriff der Chef das Wort. „Bitte halten Sie Ihre Antworten kurz. Wir wollen das Meeting ja nicht unnötig ausdehnen.“

Auch darin unterschied sich der Neue von Werner. Beim alten Chef waren Meetings eher ein geselliges Zusammensein gewesen. Man hatte viel gescherzt und so manche Stunde auf diese Weise zugebracht. Von Welsenburg hingegen wurde schnell ungeduldig und duldete keine witzigen Bemerkungen.

„Lieber Herrn Knott. Wie weit sind Sie mit ihrer neuen Sendung?“, wandte sich von Welsenburg an Florian, der das Pech hatte, direkt neben dem Chef zu sitzen und das Quiz-Ressort leitete.

Alle Kollegen bemühten sich, möglichst weit weg vom Chef einen Platz zu finden. Das führte dazu, dass einige bereits eine halbe Stunde vor dem Termin in den Raum schlichen. Bald würden sie morgens Zelte vor der Tür aufbauen, genau wie die Leute vor den Apple-Stores, wenn ein neues Produkt rauskam.

„Das Konzept steht. Nächste Woche ist die erste Probe geplant“, erwiderte Florian.

Von Welsenburg hackte etwas in die Tastatur und richtete das Wort an Monika, die den Seniorenbereich betreute.

Alles, was sie sagten, wurde protokolliert. Spätestens eine halbe Stunde nach dem Sitzungsende erhielt jeder Teilnehmer eine E-Mail mit dem Protokoll sowie eine stichpunktartige To-do-Liste.

Julian kam als Vorletzter dran. Hat sich die Verkehrssituation durch die in den letzten Jahren geschaffenen Radwege geändert?, war sein erster Themenvorschlag. Sein zweiter galt für eine Serie: Mit der Bahn kreuz und quer durch Europa. Leider war Irina für die Sparte Natur-Dokus zuständig, sonst hätte er vorgeschlagen, das Liebesleben der Rotkehlchen oder welches Tieres auch immer zu beleuchten. Er hatte den Posten Soziales/Politisches inne. Da gab es eben kaum Positives zu berichten.

Mit stoischer Miene hörte sich von Welsenburg seine Vorschläge an, tippte und richtete den Blick auf Irina. „Frau Kaulfeld?“

Seine Kollegin sagte irgendwas mit Bären und Wölfen. Er hörte nur mit halbem Ohr hin. Gedanklich war er bei der Planung seines Abendessens.

Stille trat ein. Julian riss sich von seinem Speiseplan los und beobachtete, wie von Welsenburg auf die Tastatur einhackte. Schließlich klappte der Chef das Notebook zu, erhob sich und lächelte in die Runde. Das megaweiße Gebiss erinnerte an einen Filmstar. Von Welsenburg wäre für die Rolle des Bösewichts geeignet. Erst lächeln, dann ein Messer in den Rücken rammen.

„Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben. Bis zum nächsten Mal.“ Sprach’s, klemmte sich den Computer unter den Arm und eilte aus dem Raum.

„Puh!“, machte Irina neben ihm. „Mein Deo hat versagt.“

„Und ich hab kalte Füße“, brummelte Manfred auf seiner anderen Seite. „Ich überlege, ob ich zur Konkurrenz gehe.“

Als ob man dort sehnsüchtig auf ihn warten würde. Die Arbeitsplätze bei den Privatsendern waren genauso heiß begehrt wie bei den öffentlich-rechtlichen. Einen bei Letzteren zu ergattern, galt als Hauptgewinn. Sowas gab man nicht wieder auf. Rein kam man nur, wenn man Vitamin B besaß. In Julians Fall durch den Gatten einer Freundin seiner Mutter. Das Paar war kinderlos, sonst hätten der Mann garantiert den eigenen Nachwuchs protegiert.

In seinem Büro ließ er sich in den Schreibtischsessel fallen und drehte sich zum Fenster. Nach seinem Journalismus Studium hatte er hier und da gearbeitet, zuletzt bei einer großen Tageszeitung. Was dort passierte, hatte mit objektiver Berichterstattung nichts zu tun. Einzige Prämisse: Steigerung der Auflagezahlen, egal um welchen Preis.

Als er vor sechs Jahren beim Sender angefangen hatte, war er überglücklich gewesen. Das ruhige Fahrwasser hätte ihn in als Berufseinsteiger verrückt gemacht. Nach der Erfahrung im Affenzirkus war es hochwillkommen. Zudem wurde es gut bezahlt.

Er drehte sich zurück zum Schreibtisch, weckte den Monitor und tippte sein Passwort ein. Drei E-Mail waren eingetroffen. Zwei stammten von Kollegen. Irina hatte einen abgedroschenen Management-Witz geschickt. Florian fragte, ob sie am nächsten Tag zusammen essen gehen würden.

Die dritte hatte von Welsenburg geschickt: „Bitte kommen Sie morgen um halb neun in mein Büro. Ich möchte mit Ihnen über Ihr neues Projekt sprechen. Mit freundlichem Gruß.“

Welches der beiden Projekte meinte sein Chef? Sollte er nachhaken? Nein, lieber nicht. Wer dumm fragte, bekam dumme Antworten. Hoffentlich bevorzugte von Welsenburg die Fahrradwege. Die lösten ja nicht nur positive Reaktionen aus. Er könnte einige negative Meinungen als Gegenpol einflechten. Seine Nachbarin, die alte Frau Dill, wäre neulich fast von einem Radler, der den Radweg in der falschen Richtung benutzte, umgenietet worden. Verkehrsregeln schienen viele Fahrradfahrer nicht zu kennen oder sie als Kann-Vorgabe zu betrachten.

Noch viel lieber würde er über E-Scooter berichten. Dieses Verkehrsmittel hatte sich explosionsartig ausgebreitet. Alle naslang stolperte man über Roller, die kreuz und quer auf den Gehwegen standen. Mehr als einmal hatte er der Versuchung widerstanden, das Ding kurzerhand ins nächste Gebüsch zu werfen. Warum man diese Fahrzeuge bislang noch nicht auf die gleiche Stufe wie Mofas gestellt hatte, war ihm ein Rätsel. Das Ausbleiben von Restriktionen ließ vermuten, dass es mal wieder Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik gab. Im schlimmsten Fall gehörten die E-Scooter-Verleihe sogar irgendeinem Parteifuzzi. Wer sich in Deutschland über Korruption in anderen Staaten aufregte, sollte erstmal vor der eigenen Tür kehren. Hier war einiges im Argen.

Er guckte auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zum Feierabend. Nachdem er Florian eine Zusage geschickt hatte, begab er sich in die Teeküche. Dort fand sich immer, um die restliche Zeit rumzukriegen, jemand zum Plaudern.

Auf dem Heimweg besorgte er die Lebensmittel, die er für seine Abendessenpläne benötigte. Im Supermarkt bettelte ihn ein kleiner Junge, schätzungsweise zwischen acht und zwölf Jahren, um einen Euro an. Er gab dem Bengel einen Fünfer mit der Ermahnung, sich dafür nur gesundes Zeug zu kaufen. Freudestrahlend flitzte der Junge davon und zwar in die Gasse mit den Süßwaren.

Julian begab sich zur Kasse, wobei er amüsiert schmunzelte. Als Kind war er genauso drauf gewesen.

Sein Arbeitsplatz befand sich in Wandsbek, seine Wohnung im gleichen Stadtteil. Von Tür zu Tür brauchte er nur dreißig Minuten. Durch den Abstecher ins Einkaufscenter kam er aber erst um fünf nach Hause. Wie immer tauschte er als erstes sein Hemd gegen ein T-Shirt aus, bevor er die Lebensmittel wegräumte.

Genau wie sein Job, war die Wohnung ein Glücksgriff: zentral und trotzdem ruhig. Vom Balkon guckte man in eine gepflegte Grünanlage. Sie bestand aus zwei großen Zimmern mit Einbauküche und Vollbad und das Tüpfelchen auf dem I war die Tiefgarage. Parkplätze gab es in der Umgebung nämlich nur wenige.

Kochen war sein Hobby. Stets kaufte er frische Zutaten und züchtete in den Balkonkästen einige Kräuter. Entgegen dem allgemeinen Trend zur asiatischen Küche, bevorzugte er italienische und spanische Rezepte. Aktuell hatte er vor, Saltimbocca mit mediterranem Gemüse zuzubereiten.

Kurz nach sechs saß er auf dem Balkon und verspeiste sein Mahl. Das Kalbfleisch, das er beim Schlachter seines Vertrauens erworben hatte, war herrlich zart. Bei jedem Bissen schloss er genüsslich die Augen. Seinen letzten Freund hatte er abserviert, weil der Banause seine Mühen nicht zu würdigen wusste. Na gut, nicht nur deswegen. Gero war ihm auch auf den Zeiger gegangen. Von wegen Gegensätze zogen sich an. Intellektuell hatte Gero ihm nicht das Wasser reichen können, was sich auf Dauer nicht mit Sex kompensieren ließ.

Im Anschluss recherchierter er zu dem Thema Radwege. Sein Beruf war nun mal zugleich seine Passion. Oder nannte sich das nur penetrante Neugier? Na ja, die gehörte dazu, wenn man Erfolg haben wollte. Er konnte nur über Dinge schreiben oder berichten, die ihn interessierten.

 

Am nächsten Morgen klopfte er um Punkt halb neun an von Welsenburgs Tür. Auf das durchs Holz gedämpfte „Herein“ hin öffnete er sie. Sein Kollege Karel Sass, altgedienter Kameramann und Multitalent, saß bereits auf einem der beiden Besucherstühle. Er nahm auf dem anderen Platz.

„Einen wunderschönen guten Morgen.“ Von Welsenburg schenkte ihm ein Haifischlächeln. „Sie und Herr Sass fliegen am Montag auf die Kanaren.“

Mühsam unterdrückte Julian den Impuls, dem Chef einen Vogel zu zeigen. Werner hatte ihn nie einfach so irgendwohin geschickt ...

„Ihr Ziel ist La Gomera. Dort gibt es Höhlen, die regelmäßig von Hippies bewohnt werden. Sie werden einen Beitrag darüber produzieren“, fuhr von Welsenburg fort.

... geschweige denn, ihm irgendwelche Themen aufs Auge gedrückt.

„Hört sich super an“, brummelte Karel. „Wollte schon immer mal Höhlenforschung betreiben.“

„Eine Woche haben Sie für die Vorbereitungen, zwei weitere sind für das Sammeln von Material eingeplant. Wenden Sie sich wegen der Flugtickets und Hotelbuchungen an Cordula.“ Von Welsenburg lehnte sich zurück. „Natürlich stehe ich jederzeit für Rückfragen zur Verfügung.“

Cordula war die Assistentin des Chefs und genauso unglücklich über Werners Ausscheiden wie alle anderen Kollegen.

Julian fand seine Sprache, die es ihm verschlagen hatte, wieder. „Aber das ist doch nicht positiv.“

Sowohl Karel als auch von Welsenburg guckten ihn mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an.

„Wir produzieren einen Beitrag über Obdachlose“, erklärte er. „Leute ohne Perspektive.“

„Aussteiger und Obdachlose sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Letztere leben nicht freiwillig auf der Straße“, erwiderte von Welsenburg.

„Und sie fliegen nicht auf die Kanaren“, sagte Karel, der Verräter.

Julian wurde den Verdacht nicht los, dass sein Kollege hinter der Sache steckte. Karel, eingefleischter Gomera-Fan, verbrachte jeden Urlaub auf der Insel.

Von Welsenburg warf einen unmissverständlichen Blick auf die garantiert schweineteure Armbanduhr, die er am Handgelenk trug.

Karel erhob sich und ging zur Tür. Julian folgte ihm.

Auf dem Flur funkelte er seinen Kollegen böse an. „Das ist doch auf deinem Mist gewachsen.“

„Kann sein, dass ich in der Gegenwart des Chefs irgendwas gesagt habe, was ihn auf diese Idee gebracht hat.“

Streit war kontraproduktiv, daher zügelte er seinen gerechten Zorn und steuerte auf die Teeküche zu.

Karel heftete sich an seine Fersen. „Sieh’s doch mal so: Es ist praktisch bezahlter Urlaub.“

„Und du weißt bestimmt auch schon, wo wir nach diesen Leuten suchen müssen“, gab er zurück.

„Klar“, entgegnete Karel. „Es ist allerdings fraglich, ob wir schnell jemanden finden, der bereit ist, sich filmen zu lassen und mit uns zu reden.“

Julian pumpte Kaffee-Plörre in einen Becher. „Was für eine Scheiße! Ich wollte Mittwoch mit ein paar Leuten zum Swift-Konzert.“

„Du bist ein Swiftie?“, staunte Karel.

„Du etwa nicht?“

„Nein, aber meine Frau. Verkaufst du mir deine Karte?“

Sie verhandelten über den Preis. Letztendlich war Karel bereit, den horrenden Schwarzmarktwert zu zahlen. Einigermaßen besänftigt wegen des guten Geschäftsabschlusses begab sich Julian in sein Büro.

2.

 

Montagmorgen um sechs stieg er mit Karel in einen Flieger. Bis zur Landung pennte sein Kollege. Julian beneidete Karel um die Gemütsruhe. Hoffentlich war er in dem Alter, mit Ende fünfzig, auch so gelassen drauf. Er war nicht mehr so aufbrausend wie in jungen Jahren, aber noch weit davon entfernt, sein Temperament im Griff zu haben.

Von Welsenburgs überhebliche Art brachte ihn zur Weißglut. Das ganze Wochenende hatte er sich über den Typen geärgert. Die Stimme, die in seinem Kopf flüsterte, dass er zu lange eine ruhige Kugel geschoben hatte, befeuerte den Zorn, zumal er ihr recht geben musste. Unter Werner war das Arbeitsleben ein ruhiger, vorhersehbarer Fluss gewesen. Sinkende Zuschauerzahlen hatten zwar manchmal zu Schelte aus der Führungsriege geführt, doch sonst keine Konsequenzen gehabt.

Um kurz nach elf landeten sie auf Teneriffa. Ein Taxi brachte sie nach Los Christianos, wo sie an Bord der Fähre gingen.

„Meine Holde wäre am liebsten mitgekommen“, berichtete Karel, der ekelhaft ausgeruht wirkte. „Nur das Konzert hat sie davon abgehalten, ein Ticket zu buchen.“

Karels Gattin war eine sympathische Frau. Die beiden hatten sich verdient.

„Nun hör auf, so griesgrämig zu gucken.“ Karel tätschelte seine Schulter. „Wir frühstücken die Aussteiger-Sache schnell ab und legen uns den Rest der Zeit an den Strand.“

„Kennst du das Hotel, in dem wir untergebracht sind?“

Karel nickte. „Aber nur von außen. Greta und ich mieten immer das gleiche Appartement.“

„Kriegt man davon nicht Monotonie?“

Karel lachte. „Ich mag Monotonie.“

In San Sebastian stand ein Mietwagen bereit. Ihr Gepäck, Karel war mit zwei riesigen Hartschalenkoffern unterwegs, passte nur knapp hinein. Entweder war Cordula gezwungen, das günstigste Fahrzeug buchen oder sie hatte sich einen Spaß erlaubt. Schließlich wusste sie, dass Karels technische Ausrüstung umfangreich war.

Julian setzte sich hinters Steuer. Ein Navi gab es nicht, aber er hatte ja Karel, der sich bestens auskannte.

Anfangs war die Steigung der Straße gemäßigt, dann folgten Serpentinen. Sie schraubten sich einen Berg hoch, wobei Julian Mühe hatte, sich von der grandiosen Aussicht nicht ablenken zu lassen. Er musste höllisch aufpassen, da oft Grünzeug den Blick auf die nächste Haarnadelkurve verstellte.

Die - laut Karel – Abkürzung führte sich durch ein Dorf, durch das sich nur ein schmaler Asphaltstreifen schlängelte. Das erforderte noch mehr Konzentration. Danach fuhren sie über eine Piste, die man bestenfalls als Feldweg bezeichnen konnte. Die Stoßdämpfer ächzten bei jedem Buckel.

Endlich, als Julian schon überlegte, das Steuer an Karel zu übergeben, erreichten sie wieder eine Straße. Dichte Vegetation säumte die Strecke. Die Büsche und Bäume wichen gedrungenen Häusern. Anschließend kamen sie an einem Stausee vorbei, bevor sich der Blick aufs Tal öffnete. Zunehmend dichte Bebauung sowie zahlreiche am Straßenrand parkende Autos wiesen darauf hin, dass sie sich dem touristischen Epizentrum näherten.

Julian war bisher nur auf Lanzarote und Teneriffa gewesen. Er fand, dass Gomera landschaftlich mehr zu bieten hatte als die beiden anderen Inseln.

Karel lotste ihn zum Hotel. Als er den Wagen abstellte und einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett warf, wunderte er sich, dass nur anderthalb Stunden seit ihrem Aufbruch in San Sebastian vergangen waren. Ihm kam’s viel länger vor.

Sein Zimmer war hell und freundlich. Vom Balkon aus sah man in die Berge. Seeblick wäre ihm lieber, aber er hatte ja eh nicht vor, viel Zeit in dem Raum zu verbringen.

Er packte seinen Koffer aus, machte sich im Bad frisch und studierte die Preisliste der Minibar. Garantiert bezahlte von Welsenburg keine Extragetränke. Egal. Ihm ging’s finanziell hervorragend, also holte er eine Flasche Bier aus dem Kühlgerät und ging nach draußen.

Karel, der das Zimmer nebenan bezogen hatte, befand sich ebenfalls auf dem Balkon. Angesichts der Bierflasche in seiner Hand grinste sein Kollege, huschte nach drinnen und kehrte mit einem Pils zurück.

„Auf produktive fünf Tage.“ Karel prostete ihm zu.

Stumm erwiderte er den Toast, trank einen Schluck und ließ den Blick schweifen. Unter dem Balkon lag eine Brachfläche – oder Wiese, je nach Betrachtungsweise. Dahinter standen Häuser vor einem imposanten Bergmassiv. Stromleitungen hingen wie Wäscheleinen an Holzmasten, die in so geringer Höhe niemals in Deutschland aufgestellt werden dürften. Vereinzelt ragten Mauern, die aus rauen, eckigen Steinen bestanden, aus dem Boden. Wesentlich charmanter: Überreste alter Begrenzungswälle, gefertigt aus großen Natursteinen.

Am Wochenende hatte er, trotz der Wut auf von Welsenburg, seine Hausaufgaben gemacht. Auf Gomera lebten rund 22.000 Menschen. Fünfundzwanzig beziehungsweise sechzehn Prozent (diese Zahl laut statistischem Bundesamt gilt für die gesamten Kanaren) der Personen im erwerbsfähigen Alter waren arbeitslos. Man lebte ausschließlich vom Tourismus, nachdem die landwirtschaftliche Produktion weitestgehend eingestellt worden war. Es wurde nur noch für den Eigenverbrauch angebaut. Für Massentourismus war die Insel wegen fehlender Sandstrände und des Flughafens, auf dessen kurzer Landebahn keine großen Maschinen landen konnten, nicht geeignet. Man konzentrierte sich auf Qualitätstourismus, Natur- und Wanderliebhaber.

Über die Aussteiger, die in Felsenhöhlen hausten, hatte er auch recherchiert. Die Reportage von Arte fand er ziemlich gut, wobei der Fokus für seinen Geschmack zu sehr auf einzelnen Personen lag. Außerdem war das Leben in der Höhle stark romantisiert worden. Der Film erweckte den Eindruck, als ob die Leute jeden Abend zusammen aßen, musizierten und tanzten. Er ging davon aus, dass die Kulisse nur fürs Kamerateam inszeniert wurde.

„Vorschlag: Wir latschen ein bisschen durch die Stadt und essen in einem der Restaurants an der Promenade“, meldete sich Karel erneut zu Wort. „Dann können wir gleich nach geeigneten Protagonisten Ausschau halten.“

Mit diesem Plan war Julian mehr als einverstanden. Zuletzt hatte er auf der Fähre einen Schokoriegel gegessen, davor den Kantinenfraß im Flugzeug.

Wenig später verließen sie das Hotel. Karel trug Cargoshorts, Flipflops und ein Hawaiihemd, bei dessen Anblick jeder Blindenhund knurren würde. Über seiner Schulter hing die Tasche mit technischer Ausrüstung. Julian hatte ebenfalls Cargoshorts sowie Flipflops angezogen, dazu ein blaues T-Shirt, das mit seiner Augenfarbe harmonierte. Da er eine Sonnenbrille aufgesetzt hatte, ging der Effekt leider verloren.

Sie folgten der Avenida Maritima, die auf der einen Seite von Gebäuden, auf der anderen von der Promenade gesäumt wurde. Die Restaurants, an denen sie vorbeikamen, reizten Julian nicht. Sie verströmten keine Atmosphäre. Er wollte in einem rustikalen Lokal speisen.

Am Hafen entdeckte er eines, das ihm gefiel. Karel kannte es bereits und ging hinein, um einen Tisch zu reservieren. Sie hatten Glück, denn er konnte einen für halb sieben ergattern.

Anschließend streiften sie durch die Gassen. Karel filmte den Rundgang, hielt bei besonders schönen Haustüren oder Ecken an und schwenkte immer wieder in Richtung Bergmassiv. Sie hatten schon oft zusammen gearbeitet und verstanden sich ohne Worte. Im Grund wäre Karel ein idealer Partner, wenn er denn auf Männer stehen würde. Ach ja, die Bierwampe müsste auch weg und dann war da noch Karels Gattin …

Julian besaß gewisse ästhetische Ansprüche. Da er sich in Form hielt und pflegte, erwartete er das Gleiche von anderen. Eine schöne Hülle reichte aber nicht, um es miteinander auszuhalten. Diese Erfahrung hatte er inzwischen mehrfach hinter sich und war entsprechend desillusioniert. Für ihn gab es anscheinend keine zweite Hälfte.

Der Ort war überschaubar. Binnen kurzer Zeit hatten sie sämtliche Straßen erkundet. Neben einigen Lokalen gab es einen Supermarkt, Fahrradverleih, eine deutsche Bäckerei/Konditorei, ein Rent a car, einen Buchladen und diverse mit Klamotten und Schnickschnack. Architektonische Schönheiten entdeckte er nicht, dafür eine Bauruine, bestehend aus Betonpfeilern und -decken. Außerdem eine Reihe Müllcontainer, neben denen jemand weiteren Unrat gestapelt hatte.

Sie ließen sich auf einer Steinmauer in der Nähe des Hafens nieder.

„Letztes Jahr haben die Höhlenbewohner jeden Abend am Strand getrommelt“, erzählte Karel. „Zum Glück liegt das Appartement, das Heike und ich immer anmieten, in dritter Reihe. Wir hätten sonst die volle Lautstärke abbekommen.“

Hoffentlich hatten sich die Trommler ein anderes Hobby zugelegt oder beschränkten ihr Tun auf maximal eine halbe Stunde. „Woher weißt du, dass es Höhlenbewohner waren?“

„Ich gehe davon aus. Es könnte aber auch eine große Reisegruppe gewesen sein.“

„Servus Karel“, sprach jemand sie von der Seite an.

Es handelte sich um den weiblichen Teil eines älteren Pärchens. Karel sprang auf, um die beiden mit Umarmungen zu begrüßen.

„Wo ist denn Heike?“, wollte die Frau wissen.

„Ich bin beruflich unterwegs. Das ist mein Kollege Julian“, erwiderte Karel.

„Angenehm. Ich bin Gerda und das ist Toni“, stellte die Frau sich und ihren Begleiter vor.

„Habt ihr auch im Esperanto reserviert?“, fragte Karel.

Toni nickte. „Es ist unser letzter Abend. Da lassen wir’s richtig krachen.“

Gemeinsam gingen sie zum Lokal. Sie durften ihre reservierten Tische zusammenrücken.

Richtig krachen lassen bedeutete, dass Toni und Gerda einen Sherry als Aperitif, einen Vorspeisenteller für zwei Personen, eine Flasche Wein und die beiden teuersten Hauptgerichte bestellten. Julian würde sich darunter eher ein Besäufnis vorstellen, aber vielleicht wurden die beiden ja schnell betrunken. Karel und er begnügten sich mit Oliven als Vorspeise, Bier und einem Hauptgang im moderaten Preisbereich.

„Eine Reportage über Aussteiger“, murmelte Gerda, als Karel den Anlass ihrer Reise näher erläutert hatte. „Vor vierzig Jahren bin ich zum ersten Mal hier gewesen. Die Typen, die jeden Tag in dem einzigen Café in Playa Santiago rumhingen, hielten sich für die Könige des Dorfes, nur weil sie lange Haare, Türkisschmuck und bunte Klamotten getragen haben.“

„Wir hielten uns nicht dafür, wir waren es“, empörte sich Toni. „Und ich hab dich zu meiner Königin gemacht.“

Es war schwer vorstellbar, dass die beiden recht bieder wirkenden Leute einst Blumenkinder gewesen sein sollten. Auf der anderen Seite hatte sich Julian äußerlich auch angepasst. Früher war er viel experimentierfreudiger gewesen. Inzwischen trug er hauptsächlich blau, weiß und schwarz und ging regelmäßig zum Friseur.

„Toni war der coolste unter den Typen. Ich hab mich auf den ersten Blick in ihn verliebt. Nach meinem Urlaub hab ich festgestellt, dass ich schwanger bin. Meine Eltern sind nach Gomera geflogen und haben Toni ins Gebet genommen. Er wollte aber nichts davon, Vater zu werden, wissen. Trotzdem hat er einige Wochen später sein Höhlenleben aufgegeben und mich geheiratet.“

„Es waren nur die sanitären Missstände, die mich dazu bewegt haben.“ Toni feixte.

„Apropos: Wo kack... ähm, wie entsorgen die Höhlenbewohner eigentlich ihre Ausscheidungen?“, fragte Julian.

„Das meiste ging ins Meer. Einiges wurde hinter einem Busch erledigt“, verriet Gerda.

„Also ist man beim Schwimmen ab und zu alten Bekannten begegnet“, konstatierte Karel.

„Aus heutiger Sicht finde ich diesen Umgang mit Exkrementen ziemlich verantwortungslos. Damals hatten wir aber andere Sorgen, wie den befürchteten Ausbruch des 3. Weltkriegs und so“, erklärte Toni. „Und Kacke schwimmt nicht oben, sondern sinkt auf den Meeresgrund. Sie kann einem also nur beim Tauchen begegnen.“

Der Kellner brachte ihre Getränke und Vorspeisen.

„Ich bezweifle, dass Anbieter von Mobiltoiletten die Dinger per Schiff anliefern – oder per Hubschrauber. Oder Huckepack. Deswegen müssen sich die Bewohner derart entlegener Plätze eben etwas anders überlegen“, merkte Karel an.

„Können wir bitte das Thema wechseln?“, erkundigte sich Gerda mit flehendem Blick.

„Wie ist das mit dem Essen gelaufen? Habt ihr schon morgens ein Lagerfeuer gemacht, um Kaffee zu kochen?“, ging Julian auf ihre Bitte ein.

„Manchmal schon, vor allem, wenn vom Abendessen noch was übrig war. Ansonsten haben wir Campingkocher benutzt“, antwortete Toni.

Während Vorspeise und Hauptgang erzählten Gerda und Toni Anekdoten aus ihren vielen Urlauben auf Gomera. Beim anschließenden Kaffee berichtete Gerda: „Vorgestern waren zwei Feuerkünstler am Strand. Vielleicht haben wir Glück und sie kommen heute wieder.“

„Haben die Feuer geschluckt? Oder was verstehst du unter Feuerkünstlern?“, hakte Karel nach.

„Sie fuchteln halt mit Fackeln rum. Im Dunkeln sieht das magisch aus“, präzisierte Gerda.

„Und das, ohne sich selbst in Brand zu stecken. Ich würde mir das nicht zutrauen“, fügte Toni schmunzelnd hinzu.

Sie zahlten und wechselten in eine Bar, wo sie einen Tisch mit Blick auf den Strand mit Beschlag belegten. Karel und Julian hielten sich weiterhin an Bier. Ihre Begleiter bestellten Cocktails.

Der Sonnenuntergang war ein farbenprächtiges Schauspiel, das die Wolken in orange, braun und lila tauchte.

„Da sind sie!“, riss Gerda ihn aus seinen Betrachtungen.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Strand. Dort waren zwei Leute damit beschäftigt, ein Lagerfeuer zu entfachen. Ein dritter gesellte sich dazu, ein Ding, das Julian an eine Radkappe erinnerte, unter dem Arm.

Auf der Promenade versammelten sich mehr und mehr Leute, so dass ihnen die Sicht verstellt wurde. Sie leerten ihre Gläser und suchten sich einen Platz, um das Spektakel zu beobachten.

Mittlerweile war es vollends dunkel geworden. Lediglich ein paar Straßenlaternen und die Beleuchtung der umliegenden Lokale spendete etwas Licht. Umso heller wirkte das inzwischen lodernde Feuer.

Der Typ mit der Radkappe ließ sich im Schneidersitz nieder, legte sich das Ding auf den Schoß und begann, darauf zu trommeln.

„Was ist das?“, wandte sich Julian an Karel, der eine Art wandelndes Lexikon war.

„Eine Zungentrommel.“

Das Instrument klang magisch, als ob sich die Töne wellenartig über die ganze Umgebung ausbreiteten; wie ein melodisches Tuch, das sich über die Anwesenden senkte. Auch der Musiker schien davon gefangen zu sein. Die Augen geschlossen, ein feines Lächeln auf den Lippen, ließ er seine Hände über die gewölbte Fläche wandern.

Die beiden anderen fingen an, einen Tanz aufzuführen. Der Typ schwang zwei brennende Fackeln, die Frau zwei Objekte, die mehrarmigen Kerzenleuchtern ähnelten. Je schneller sie sich bewegten, desto mehr entstand der Eindruck, sie würden Licht in die Luft malen. Julian, normalerweise schwer zu beeindrucken, fand die Darbietung bezaubernd.

3.

 

Nathan erwachte aus seiner Trance, als das Publikum applaudierte. Mit einer letzten Sequenz beendete er seine Darbietung und guckte zu, wie Mo mit einem Kingelbeutel die Runde machte. Es sah aus, als ob die Leute ziemlich spendabel waren. Fast jeder warf etwas in die Kollekte. Das breite Grinsen, mit dem Mo zu Tonia und ihm zurückkehrte, sprach auch für reichliche Beute.

Er stand auf, klopfte sich den Sand vom Hosenboden und wartete, bis Tonia und Mo ihre Siebensachen eingesammelt hatten.

„Heute hat sich’s echt gelohnt“, bestätigte Mo seine Vermutung, als sie sich in Bewegung setzten.

„Dann können wir uns ja morgen einen Storch braten.“ Meist kochten sie gemeinsam. Das hatte sich, seit die beiden vor einigen Wochen angekommen waren, so eingebürgert.

Tonia versetzte ihm einen spielerischen Schubs. „Alter Fleischfresser.“

„Wir brauchen dringend Gewürze“, sagte Mo. „Und einen neuen Grillrost.“

Beides stimmte. Der vorhandene war total verrostet und mit Gewürzen konnte Mo, der Koch gelernt hatte, aus allem leckere Gerichte zaubern.

Schweigend legten sie die Strecke bis zur Vinca Argayall zurück. Von dem ummauerten Grundstück drang Stimmengewirr und Lachen an Nathans Ohren. Vor langer Zeit hätte es ihn gereizt, Teil dieser Gemeinschaft zu werden. Das war, bevor ihm alles über den Kopf wuchs und er keinen anderen Weg sah, als in selbstgewählter Einsamkeit zurück zu sich selbst zu finden.

Zusammen mit der Mauer endete auch der Weg. Ab da mussten sie über Steine balancieren. Zum Glück war Vollmond, so dass man ausreichend sehen konnte und nicht Gefahr lief, sich die Gräten zu brechen.

Als sie die Schweinebucht erreichten, empfing sie Gitarrenklänge. Geronimo saß auf einem Findling und spielte etwas Melancholisches. Wastl, Chris und Agneta hockten in der Gemeinschaftshöhle vor der Feuerstelle. Der Duft von gegrilltem Gemüse hing in der Luft.

Nathan war kein Veganer, nicht mal Vegetarier. Er hatte sich lediglich der Lebensweise der wechselnden Population der Bucht angepasst. Das ersparte ihm Diskussionen. Auf die hatte er genauso wenig Bock wie darauf, sich über seine Zukunft Gedanken zu machen.

Ihm war nicht nach Gesellschaft zumute, daher verabschiedete er sich von Mo und Tonia und trat den Heimweg an. Dafür musste er die nächste Felsnase umrunden und den Hang ein Stück nach oben kraxeln. Von unten nicht sichtbar befand sich in etwa drei Meter Höhe ein schmaler Pfad, der zu seiner Behausung führte.

Er legte die Sonodrum – manche nannten das Instrument Zungentrommel, er bevorzugte den anderen Begriff – neben seinen Schlafplatz, setzte den Campingkocher in Betrieb und inspizierte seinen Teevorrat. Nachdem er einen Beutel Pfefferminze in einen Becher gehängt hatte, suchte er seinen persönlichen Abort auf. Es handelte sich dabei um eine Felsspalte hinter der Höhle. Größere Geschäfte bedeckte er mittels einer Schaufel mit Sand. Benutztes Papier sammelte er in einer Mülltüte, die er in regelmäßigen Abständen in Valle Gran Rey entsorgte.

Wenig später saß er auf seinem Schlafsack, nippte am Tee und betrachtete den Sternenhimmel. In Momenten wie diesen, kam er sich klein und unbedeutend vor.

Am nächsten Tag gesellte er sich erst mittags zu den anderen. Den Morgen hatte er mit seinem Hygieneritual verbracht, wofür er zum nächstgelegenen Barranco, in dem klares Wasser floss, gegangen war.

Tonia und Mo sowie zwei ihm unbekannte Männer befanden in der Gemeinschaftshöhle. Der Rest trieb sich am Meeressaum herum. So, wie er die beiden Typen einschätzte, waren es entweder neugierige Touris oder Journalisten.

„Das sind Julian und Karel“, stellte Tonia die zwei vor. „Sie arbeiten fürs Fernsehen.“

Also hatte er richtig gelegen. „Wollt ihr hier die nächste IBES Folge drehen?“ Er ließ sich auf einem Felsblock nieder.

„Nette Idee“, fand der attraktivere der beiden.

„Das Format passt nicht ins Konzept. Ich will ja nicht behaupten, dass die öffentlich-rechtlichen nur hochwertige Beiträge senden, aber derart tief ist das Niveau noch nicht gesunken“, sagte der andere.

„Sie wollen eine Doku über Aussteiger auf Gomera machen“, erklärte Tonia. „Mo und ich sind dabei. Wie sieht’s mit dir aus?“

Nathan zuckte mit den Achseln. „Klar.“

„Wir müssen erstmal den Papierkram erledigen.“ Der Attraktive kramte eine Mappe aus der ledernen Umhängetasche, die neben seinen Füßen auf dem Boden stand und zückte einen Kuli.

Es gab eine Menge Kleingedrucktes zu lesen. Er überflog es bloß, kritzelte seinen Namen in das entsprechende Feld und unterschrieb. Die Entlohnung war mager, aber weit besser als das, was man auf der Insel verdienen konnte. In Spanien lag der Mindestlohn bei rund sieben Euro pro Stunde.

Mo und Tonia studierten ihre Dokumente ausführlich. Nathan guckte ihnen ein Weilchen zu. Als ihm langweilig wurde, stibitze er eine Banane und wechselte von seinem schattigen auf einen Platz in der Sonne.

Der Attraktive folgte ihm. „Soll ich dich Nathan oder Nate nennen?“

„Das darfst du dir aussuchen. Und wie darf ich dich nennen? Karel oder Julian?“

Der Typ lachte. „Julian.“

Irgendwie passte der Name auch besser als der andere.

„Wie lange lebst du schon hier?“, fragte Julian.

„Ungefähr fünf Jahre.“

„Wechselt die Besatzung regelmäßig oder sind die anderen auch schon so lange hier?“

„Die meisten bleiben nur drei bis vier Monate.“

„Um dann wieder nach Hause zu fahren?“

„Teils, teil. Manche ziehen in eine andere Gegend, in der Aussteiger leben.“

„Ich warte mit weiteren Fragen, bis Karel seine Kamera startklar hat.“ Julian schob beide Hände in die Hosentaschen und ließ den Blick übers Meer schweifen.

Nathan betrachtete den Mann aus dem Augenwinkel. Hübsches Profil, ansprechender Körper, angenehme Stimme. Unter anderen Umständen hätte er Julian angegraben, um festzustellen, ob sie gleich tickten. Seine Libido hatte sich vor nämlich vor einiger Zeit, nachdem sie jahrelang verschütt gegangen war, zurückgemeldet. Da sie in einem beruflichen Verhältnis standen, kam Sex aber nicht infrage. Sowas trennte er strikt.

Karel tauchte neben Julian auf. „Die beiden haben unterschrieben.“

„Wunderbar. Vorschlag: Wir laden die drei zum Essen ein und reden dabei übers Konzept.“

„Gefällt mir.“ Karel klopfte sich auf den Bauch. „Mein leerer Magen ist auch dafür.“

Nathan gefiel die Idee ebenfalls.

„Wie heißt das Restaurant, in dem wir gestern waren?“, erkundigte sich Julian.

Esperanto, aber die haben erst abends geöffnet. Lass uns ins La Salsa gehen. Da gibt’s durchgehend warme Küche.“

Tonia und Mo, die sich inzwischen zu ihnen gesellt hatten, waren ebenfalls mit dem Vorschlag einverstanden. Sie verabredeten, sich um vier im Lokal zu treffen.“

Julian und Karel brachen auf. Als die beiden außer Hörweite waren, wandte sich Nathan an Mo und Tonia. „Irgendwie ist es doch ein bisschen wie IBES. Wenn der Beitrag ausgestrahlt wird, bekomme ich bestimmt haufenweise Heiratsanträge.“

„Als ob du darauf scharf bist.“ Mo klopfte ihm auf die Schulter. „Wobei du echt überlegen solltest, für eine reiche Alte zu konvertieren.“

„Vergiss es. Geld wiegt Unfreiheit nicht auf.“

 

Um kurz vor vier trafen sie im La Salsa ein. Das Lokal verfügte über einen Außenbereich, der durch Mauern geschützt und mit blühenden Pflanzen vollgestellt war. Man kam sich vor wie in einem privaten Garten.

Karel und Julian saßen bereits an einem der Tische. Sie ließen sich auf den freien Stühlen nieder. Tonia hatte ihre volle Montur angelegt: Gesichtsbemalung – eine stilisierte Sonne auf der Stirn, weiße Punkte halbmondförmig unter den Augen - und hochgebundene Dreadlocks.

Carmen, die das Restaurant mit ihrem Mann Manuel führte, brachte ihnen die Karten. Im Laufe der Jahre hatte Nathan viele Dorfbewohner kennengelernt und mit einigen Freundschaft geschlossen. Manuel und Carmen gehörten dazu. Sie nahmen für ihn Pakete, wenn er etwas bestellte, entgegen. Man bekam in Valle Gran Rey nicht alles, wie beispielsweise seine Sonodrum. Das Instrument hatte er vor ein paar Jahren gekauft. Die teuerste Anschaffung seit seinem Aufbruch von daheim.

Als sie Carmen ihre Wünsche mitgeteilt hatten, ergriff Julian das Wort: „Wir möchten eine positive Reportage über das Aussteigerleben produzieren. Das heißt, es sollen schöne Momente eingefangen werden. Ich betrachte es als eine Art Werbeprojekt für alternatives Leben.“

„Wir wollen aber keine Leute anlocken“, wandte Tonia ein.

„Das Publikum wird schlau genug sein, die Risiken solcher Lebensweise zu erkennen“, erwiderte Julian.

„Wer auf der Couch hockt, wird sie nicht mal eben gegen einen Felsbrocken eintauschen“, stimmte Karel zu.

„Welche Risiken hat denn unsere Lebensweise?“, hakte Nathan nach.

„Keine Krankenversicherung, keine Altersvorsorge, kein soziales Netz im Alter“, gab Julian trocken zurück.

„Bis dahin fließt noch viel Wasser den Barranco runter“, entgegnete Tonia. „Vielleicht macht es morgen puff!, weil sich die Supermächte gegenseitig Bomben auf den Kopf werfen. Dagegen hilft keine Versicherung.“

„Sowas lassen wir besser außen vor, aber du hast natürlich recht.“ Julian schenkte Carmen, die ihre Getränke servierte, ein Lächeln.

„Ab und zu üben wir abends unseren Auftritt. Wenn sie überwiegend im Schatten bleiben, machen die anderen bestimmt mit. Chris jongliert, Geronimo spielt Gitarre. Das wäre doch eine hübsche Szene.“ Tonia nippte an ihrem Gin Tonic.

„Das hört sich gut an“, sagte Karel.

Als sie gegen sieben das Lokal verließen, stand der Plan für die nächsten Tage fest. Freitag reisten Karel und Julian ab und würden eine Woche später wieder herkommen, um weitere Szenen zu drehen.

Auf dem Rückweg quatschten sie über das Gespräch mit Julian und Karel. Tonia war überzeugt, die anderen Höhlenbewohner als Statisten gewinnen zu können. Sie fand, dass die Aktion super Werbung für ihre Sache war. Momentan hatte ihr Instagram Profil rund hundert Follower. Sie versprach sich von der Mitwirkung an der Reportage großen Zuwachs.

Tonia bot nicht offiziell Lebensberatung an, sondern nur, wenn sie jemand danach fragte. Auch nahm sie kein Honorar, lediglich Spenden. Ihr ging es wirklich bloß darum, Liebe unter die Menschen zu bringen. Bewundernswert.

In der Schweinebucht trennten sich ihre Wege. Nathan begab sich zu seiner Höhle und verbrachte den Abend damit, Stichpunkte für das Interview, das Julian mit ihm führen wollte, zu notieren.

Am nächsten Morgen beeilte er sich damit, sein Äußeres präsentabel zu machen. Er bändigte seine Mähne mit einem Haargummi, zog ein weißes – oder ehemals weißes, denn es wirkte eher grau – T-Shirt an und schlüpfte in seine Sneakers.

Sein Spiegel war vor ein paar Monaten runtergefallen und in tausend Scherben zerbrochen. Seitdem hatte er sich nicht mehr rasiert. Ihm stand lediglich ein kleiner Taschenspiegel zur Verfügung, der völlig reichte, um zu prüfen, ob etwas zwischen seinen Zähnen oder ein Popel in seiner Nase hing.

Karel und Julian warteten schon in der Schweinebucht. Er führte sie zu der Stelle, an der er stets mit Hilfe eines Seils, das an einem Stahlanker hing, die Felswand erklomm. Julian schaffte es mühelos, daran hochzuklettern. Karel ächzte, stöhnte und kam blass und mit Schweißtropfen auf der Stirn oben an.

„Deine Kondition ist für’n Arsch“, spottete Julian in nachsichtiger Tonlage.

„Leck mich“, brummelte Karel.

Er ging voran zu seiner Höhle. Karel baute ein Kamerastativ auf und probierte ein paar Einstellungen, bis sie den günstigsten Platz für den Dreh gefunden hatten: Nathan auf einem Felsvorsprung, hinter ihm der Ozean.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: Shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Arschure
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2024

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