Gustav blinzelte in die Dunkelheit. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Ein Käuzchen schrie. Es raschelte im Unterholz. Vielleicht ein Dachs oder ein anderes nachtaktives Tier. Über ihm flitzten Schatten zwischen den Baumstämmen hin und her. Fledermäuse. Als er sie das erste Mal erblickte, hatte er sich gefürchtet. Inzwischen war das vorbei. Er näherte sich dem Erwachsenenalter, womit solche Ängste wohl verschwanden. All das waren gewohnte Geräusche, also nichts, das ihn aus dem Schlaf reißen würde.
Wie immer hatte er einen Platz so weit wie möglich von Franz entfernt gewählt. Sein Herr schnarchte zwar nur, wenn er dem Branntwein zugesprochen hatte, doch es war zur Gewohnheit geworden.
Seit zehn Jahren tingelte er mit Franz, einem Bader, durchs Land. Er hatte gelernt, wie man Männer rasierte, Zähne zog, Wunden und Fieber behandelte. Auch Lesen und Schreiben hatte Franz ihm beigebracht.
Gustav war der Erstgeborene von sieben Geschwistern. Im Alter von neun Jahren hatten seine Eltern ihn dem Bader als Lehrling übergeben, damit sie ein Maul weniger stopfen mussten. Im Ganzen ging es ihm bei Franz besser als daheim. Er litt keinen Hunger, brauchte keine harte Feldarbeit verrichten und sein Bett nicht mit drei Geschwistern teilen.
Im Winter übernachteten sie in Scheunen oder bei Leuten, die ihnen gegen eine Behandlung Logis anboten. Im Frühjahr, Sommer und Herbst schliefen sie unterm Himmelszelt.
Bert, der Haflinger, der ihren Karren zog und den sie in der Nähe an einen Baum gebunden hatten, schnaubte. Gustav spähte hinüber. Im selben Moment huschte eine Gestalt über die Lichtung. Das geschah so lautlos, dass es unbemerkt geblieben wäre, hätte er nicht hingesehen. Oder hatte er sich geirrt? Nein! Da war sie wieder. Im Licht des halben Mondes beobachtete er, wie sie sich über Franz beugte. Ein Räuber? Sollte er sich still verhalten oder Alarm schlagen?
Er vernahm ein ersticktes Keuchen, dann einen Seufzer. Handelte es sich um eine Dirne? Solchen Frauenzimmern begegneten sie manchmal auf ihren Reisen. Ab und zu nahm Franz die Gelegenheit wahr, mit einer von ihnen hinter einen Busch zu gehen.
Wie gebannt beobachtete er die dunkle Gestalt. Nach einer gefühlten Ewigkeit richtete sie sich auf und guckte zu ihm rüber. Ihre Augen schienen rot zu leuchten. Ein eisiger Schauer rann ihm über den Rücken. Sein Verstand riet ihm, sein Heil in der Flucht zu suchen, doch er konnte sich nicht bewegen. Es war, als ob der Blick ihn lähmte.
Die Gestalt pirschte auf ihn zu. Bert wieherte schrill, genauso wie damals, als ein schlimmer Sturm aufzog. Gustav wurde von so großer Angst heimgesucht, dass seine Blase drohte, sich zu entleeren.
Dann war die Gestalt bei ihm. Ein wachsbleiches Gesicht, in dem tatsächlich rote Augen glühten, schaute auf ihn runter. Langsam kniete sie nieder, wobei sie die Zähne bleckte. Spitze Zähne, die im Mondschein weiß schimmerten.
Er musste träumen. Solche Monster gab es gar nicht! Gustav hatte Geschichten über sie gehört, glaubte aber nicht daran.
Die letzten Zentimeter überwand die Gestalt schnell und versenkte die scharfen Eckzähne in seinem Hals. Das fühlte sich nur im ersten Augenblick unangenehm an. Im zweiten war es auf morbide Art erregend. Das war das letzte, was ihm durch den Kopf schoss.
Im Morgengrauen weckte ihn ein Vogelkonzert. Gähnend schälte er sich aus der Decke, in die er sich gewickelt hatte und begab sich, um seine Notdurft zu verrichten, hinter einen Baumstamm. Was für ein böser Traum. Bestimmt war ihm der Kanincheneintopf, den Franz am Vorabend gekocht hatte, nicht bekommen.
Als er zur Feuerstelle ging, warf er einen prüfenden Blick auf seinen Herrn, der daneben lagerte. Franz‘ Augen waren geschlossen und er wirkte blass ... wie ein Toter. Alarmiert näherte er sich seinem Herrn, wobei er sich am Hals kratzte.
Eigentlich war es unnötig, denn er hatte schon viele Leichen gesehen, dennoch kniete er nieder und suchte nach Franz‘ Puls. Nein, nichts zu finden.
Er empfand Bedauern, doch weniger wegen Franz‘ Tod, sondern weil er nun auf sich allein gestellt war. Sein Herr hatte ihn zwar meist gut behandelt, doch manchmal, wenn lange keine Dirne zur Verfügung gestanden hatte, auf widerwärtige Weise benutzt. Insofern sah er Franz‘ frühes Ableben als gerechte Strafe an.
Ein Mal an seinem Hals erregte Gustavs Aufmerksamkeit. Er beugte sich tiefer, um es zu untersuchen. Zwei winzige Löcher, eine Spur getrockneten Blutes. Sein Traum fiel ihm wieder ein. Oder war es gar keiner und wirklich ein Vampirwesen auf der Lichtung gewesen?
Einige Momente starrte er Franz an, bevor er aufstand und zum Karren ging, um einen Spiegel aus einer der Kisten zu kramen. In seiner Halsbeuge entdeckte er zwei bereits verschorfte Einstichstellen. Der Grund, weshalb es dort fortwährend juckte. Die Indizien sprachen für sich: die Gestalt hatte ihn gebissen, aber am Leben gelassen. Franz hingegen war von ihr ausgesaugt worden.
Diese Erkenntnis ließ er ein Weilchen sacken, dann kehrte er zu Franz zurück und zog die Decke, unter der jener lag, über dessen Gesicht. Anschließend erledigte er seine morgendliche Routine, wie Feuer machen, um Wasser zu erhitzen und Bert füttern. Dabei dachte er nach. Der Karren gehörte nun ihm, genau wie Bert und alle anderen Habseligkeiten. Wissen besaß er genug, um als Bader zu arbeiten und die Leute in den Dörfern kannten ihn bereits.
Die Frage war, ob der Biss Folgen für ihn hatte. In den Schauermärchen wurde man dadurch zu einem Geschöpf der Nacht. Da er Helligkeit weiterhin vertrug hoffte er, dass sich auch sonst keine Veränderung ergab.
Beim Frühstück bekam seine Hoffnung einen Dämpfer Das Gebräu, das er normalerweise gerne trank, erzeugte bei ihm Übelkeit und allein der Anblick einer Brotscheibe reichte, um bei ihm Ekel zu erzeugen. Vielleicht war es nur der Umstand, dass er neben einem Leichnam hockte, dass es ihm an Appetit mangelte.
Nachdem er Franz‘ leblosen Körper mit Reisig und Moos bedeckt hatte, räumte er Decken und Geschirr in den Karren, spannte Bert an und verließ die Lichtung.
Im Laufe des Tages wurde es zur Gewissheit: Das Vampirwesen hatte ihn in ein Monster verwandelt. Wann immer er ein Lebewesen sah, spürte er unbändigen Durst nach Blut.
Gen Abend stillte er seinen Hunger an einer Bäuerin, die allein auf einem Feld arbeitete. Ihm war bewusst, dass so etwas eine Ausnahme bleiben musste. Er durfte keine Spur aus Leichen hinterlassen, sonst würde man ihn schon bald an den Galgen bringen. Oder war er nun unsterblich? Konnte nur ein Pflock in sein Herz, wie es in den Gruselmärchen hieß, ihn töten? Ausprobieren wollte er das lieber nicht. Er sollte sich also überwiegend von Tierblut und nur selten von Menschen ernähren.
„Wir nehmen an, dass es sich um eine Art Allergie handelt“, dozierte Ralf, Vorsitzender des Vampirrats und Heilpraktiker. „Die Erkrankten entwickeln eine Aversion gegen alles tierische und wenden sich der veganen Lebensform zu. Ausgelöst wird das vermutlich durch die grassierende Ernährungsumstellung der Studierenden an Hochschulen und Universitäten.“
„Mit anderen Worten: die werten Herren haben keine Ahnung“, flüsterte Michel in Felix‘ Ohr. „Und Sperma ist keineswegs vegan.“
Vor rund siebzig Jahren hatte Gustav seinen Namen geändert, weil ihm der ursprüngliche nicht mehr zeitgemäß erschien. Auch seinen Nachnamen hatte er den gängigen angepasst. Aus Stoiber war Müller geworden. Felix Müller ging in der Menge unter. Genau das war als Vampir wichtig: Sich unsichtbar zu machen. Deshalb war er bestrebt, stets unter dem Radar der Öffentlichkeit zu bleiben.
Michel hatte sich aus den gleichen Gründen umbenannt. Michelangelo war in dieser Zeit einfach zu auffällig.
„Wie immer“, gab er ebenso leise zurück.
Karsten, der in der Reihe vor ihnen saß, warf einen giftigen Blick über die Schulter und zischte: „Ruhe!“
Grinsend zeigte Michel dem armen Würstchen den Stinkefinger. Armes Würstchen, weil Karsten mit fünfzig gebissen wurde und zu dem Zeitpunkt in ziemlich schlechter Verfassung war. Durch die Wandlung hatte sich zwar der Bierbauch vermindert, doch der Kahlkopf war geblieben. Mit chirurgischen Eingriffen könnte man daran einiges ändern, aber dafür fehlten Karsten die monetären Mittel. Beruflich war der Typ nämlich eine Niete.
Während Ralf statistische Fakten runterleierte, wanderten seine Gedanken zurück zu dem Tag, an dem ihn das Schicksal ereilt hatte. Bis heute wusste er nicht, wer oder was ihn gebissen hatte. Sicher war nur, dass von diesen Wesen damals nur wenige existierten. Im Laufe der Jahrhunderte waren es mehr und mehr geworden.
Inzwischen gab es weltweit eine flächendeckende Population. Viele saßen an entscheidenden Stellen, um den Nahrungsnachschub und ihre Tarnung zu garantieren. Viele verdienten sich damit eine goldene Nase. Nun, Karsten gehörte nicht dazu.
„Mir schlafen die Füße ein“, flüsterte Michel ihm zu.
Erneut wurden sie von Karsten mit einem bösen Blick bedacht.
„Ein Gegenmittel haben wir bisher noch nicht gefunden. Ich biete aber eine Hypnose-Therapie an, von der ich mir einigen Erfolg verspreche. Wer Interesse daran hat, kann sich bei mir melden“, redete Ralf weiter. „Das wär’s für heute. Oder hat jemand ein Anliegen, das wir dringend besprechen müssen?“
Karsten hob die Hand. „Ich stelle den Antrag, einen Fond für finanziell benachteiligte Mitglieder zu gründen.“
„Wende dich bitte an Belinda“, bat Ralf. „Sie wird dir helfen, eine schriftliche Eingabe zu formulieren.“
Belinda war Buchhalterin und Sekretärin des Vereins. Wenn Ralf keinen Bock auf etwas hatte, verwies er an sie. An ihr biss man sich die Zähne aus ... nicht, dass das jemals ein Mitglied probiert hätte.
„Aber ...“, setzte Karsten zum Protest an, doch Ralf unterbrach ihn: „Diejenigen, die mein Angebot nutzen wollen, bleiben bitte noch. Dem Rest wünsche ich eine erfolgreiche Nacht.“
Alle strömten so eifrig nach draußen, als gäbe es irgendwo Freiblut. Felix steuerte auf seinen Porsche zu, Michel im Schlepptau.
Das Treffen hatte in Hannover stattgefunden, weshalb sie mit seinem PS-Monster gefahren waren. Für Meetings, die weiter entfernt abgehalten wurden, benutzten sie ihre zweite Gestalt. Als Fledermaus war man querfeldein schneller als mit 480 Pferdestärken unterwegs, zumal sie ihre tierischen Artgenossen an Geschwindigkeit weit übertrafen. Der Nachteil: Man hatte am Ziel keine Klamotten parat. Dafür wurden stets Bademäntel bereitgestellt, denn es waren ja alle weit Angereisten von diesem Manko betroffen. Felix zog es jedoch vor, in seiner eigenen Kleidung an solchen Events teilzunehmen.
Michel schimpfte oft darüber, dass der Wandlungsvorgang in Vampir-Filmen derart verzerrt dargestellt wurde. Schwupps!, stand der eben noch in Fledermausgestalt herumflatternde Schauspieler in vollem Ornat und in menschlicher Gestalt da. Das ergäbe nur Sinn, wenn die Klamotten ein fester Bestandteil des Vampirkörpers wären; also wenn sich Vampire nicht ausziehen könnten.
Ab und zu warf Felix in solche Monologe ein, dass es künstlerische Freiheit gab, was Michel stets zu weiteren Schimpftiraden animierte. „Künstlerische Freiheit heißt nicht, sich in Unlogik zu wälzen! Das heißt nur, dass man sich keinem Diktat von oben unterwirft. Wenn die Drehbuchschreiber zu faul oder zu prüde sind, um uns richtig darzustellen, sollen sie den Job wechseln!“
Meist hatte er keine Lust, Michel anzustacheln. Er konnte zwar gut auf Durchzug schalten, aber Stille war ihm lieber.
Nachdem sie den Parkplatz verlassen hatten, ergriff Michel das Wort: „Was hältst du von dem Scheiß?“
„Unnötige Panikmache.“ Mal im Ernst: Ihm war noch kein Artgenosse begegnet, der anstelle von Blut Sperma bevorzugte.
„Ich denke auch, dass die aus einer Mücke einen Elefanten machen. Aber mal rein theoretisch: Was würdest du tun, wenn es dich trifft?“
„Es wird mich nicht treffen.“ Vor Krankheiten und Allergien war er gefeit, so, wie jeder andere Vampir.
„Aber mal angenommen ...“
„Keine Ahnung. Ich denke, dann werde ich mir selbst einen Pflock in das Loch, wo mal mein Herz war, treiben.“
„Harakiri auf vampirisch?“ Michel lachte. „Davon mal abgesehen, hast du ein Herz.“
„Ach ja?“ Er lenkte den Wagen in eine scharfe Kurve.
„Sonst würde Igor nicht bei dir wohnen.“
„Igor wohnt nicht bei mir. Er ist nur interimsweise bei mir untergekommen.“
„Klar.“ Erneut gluckste Michel. „Seit mittlerweile ... sind es schon zwanzig Jahre?“
„Für unsereiner ein Klacks.“
„Schon, aber es sieht nicht so aus, als ob er nach einer neuen Bleibe sucht.“
In der Tat. Igor betrachtete sich als Felix‘ unabkömmlicher Diener. Ehrlich gesagt würde er den Kerl vermissen. „Ich werde demnächst mit ihm darüber reden.“
„Mhm“, machte Michel und öffnete das Handschuhfach, um darin herumzukramen. „Hey! Keine Bonbons?“
„Sorry. Ich muss neue besorgen.“
Seufzend klappte Michel das Fach zu. „Wenn Ralfs Zahlen stimmen, müssten in Hamburg ungefähr fünfzehn spermaabhängige Artgenossen rumlaufen. Wieso habe ich noch nie einen von denen gesehen?“
„Denkst du, die rennen rum und binden jedem auf die Nase, dass sie neuerdings Schwänze lutschen?“
„Auch wieder wahr, wobei man ja nicht lutschen muss, um an Wichse zu kommen. Schließlich gibt es Samenbanken und die Möglichkeit, vorher abgemolkenes Zeug zu trinken.“
Darüber wollte er lieber nicht nachdenken. Zu seiner Erleichterung, weil ihm das Thema Unbehagen verursachte, zückte Michel sein Handy und hüllte sich den Rest der Fahrt in Schweigen.
Nachdem er seinen Kumpel abgesetzt hatte, steuerte er sein Zuhause an. Er lebte in einer ruhigen Seitenstraße in Rahlstedt, in einer Villa, die er vor rund fünfzig Jahren erworben hatte. Dank hoher Mauern war das Anwesen vor neugierigen Blicken abgeschirmt. Kontakte zu Nachbarn pflegte er keine. Es schien auch niemand darauf Wert zu legen.
Viele Artgenossen mussten häufig – wobei häufig eine andere Bedeutung als die unter Menschen üblichen besaß, denn unter Artgenossen entsprach das einer Zeitspanne von etwa zwanzig Jahren – ihren Wohnort wechseln, um keinen Argwohn zu wecken. Ihm blieb das, wegen der Abgeschiedenheit seines Heimes, glücklicherweise erspart.
Gerade hatte er die Einfahrt zu seinem Grundstück erreicht, da vibrierte sein Smartphone. Er zog es aus der Jackentasche, warf einen Blick aufs Display, steckte es zurück, wendete und schlug den Weg in Richtung seiner Arbeitsstelle ein.
Felix arbeitete im Wandsbeker Krankenhaus. Er könnte mit seinem jahrhundertealten Wissen auch als Gehirnchirurg praktizieren, zog aber den weniger anstrengenden Job des Anästhesisten vor. In dieser Position brauchte er keinen Schichtdienst schieben, sondern hatte lediglich Rufbereitschaft. Nur wenn ein eingelieferter Notfall nicht bis zum nächsten Werktag warten konnte, wurde er angefordert. Zudem bot diese Position noch andere Vorteile.
Er stellte den Porsche nicht auf dem Personalparkplatz ab, sondern auf dem für Besucher. Niemand brauchte mitbekommen, dass er solchen Wagen besaß. Das verursachte nur Spekulationen.
Als erstes ging er in die Notaufnahme. Agnes, die am Tresen Dienst tat, schenkte ihm ein müdes Lächeln. „Hi. Du bist aber schnell.“
„War gerade auf dem Heimweg. Was ist Sache?“
„Der Patient hat Stichwunden am Oberkörper. Stark alkoholisiert. Doktor Schubert will ihn so schnell wie möglich auf dem OP-Tisch haben.“
Er eilte ins Bereitschaftszimmer, tauschte seine Jacke gegen einen Kittel, wusch und desinfizierte seine Hände und kehrte zu Agnes zurück. Sie überreichte ihm ein Klemmbrett mit den Unterlagen des Patienten. „Er ist in Raum 9.“
Während er über den Flur eilte, überflog er den Einweisungsbericht. Stichverletzungen am Thorax. Die Lunge schien intakt zu sein, die Leber weniger.
Bei dem Patienten handelte es sich um einen Zwanzigjährigen mit Migrationshintergrund. Als er sich dem Mann näherte, schlug ihm einen Spritwolke entgegen.
„Guten Abend. Mein Name ist Doktor Müller. Ich bin Ihr Anästhesist und muss Ihnen ein paar Fragen stellen“, sprach er den Patienten an.
Mit Mühe und Not bekam er die nötigen Informationen aus dem benebelten Typen raus. Er bereitete eine Spritze mit der passenden Dosis vor, injizierte sie dem Patienten und kontrollierte dessen Puls, während das Medikament seine Wirkung tat.
Sobald der Mann im Reich der Träume war, verriegelte er leise die Tür, bevor er sich einen Snack gönnte. Der Kerl besaß seine favorisierte Blutgruppe, die durch den Alkohol noch besser schmeckte. Anschließend überprüfte er im Spiegel überm Waschbecken, ob seine Augen, die im Blutrausch stets rot leuchteten, wieder ihre normale Farbe angenommen hatten. Dann schloss er die Tür auf und informierte Agnes, dass der Patient nun bereit für den OP war.
Es gab Artgenossen, die Whisky und andere harte Getränke vertrugen. Für ihn galt das nicht. Ihm bekam nur das Blut von alkoholisierten Menschen. Igor experimentierte zwar an einer Methode, solches Gemisch mit Tierblut herzustellen, doch das Projekt war bislang noch kein Erfolg.
Wenig später lag der Patient auf dem Edelstahltisch in OP 3. Die Leber war zur Hälfte zerstört. Schubert musste ein Teil des Organs entfernen. Somit war die Trinkerkarriere des Burschen beendet, aber es gab ja noch andere schöne Hobbys.
Kurz nach Mitternacht verließ er die Klinik. Der Patient war wie geplant aus der Narkose erwacht und schlief nun seiner Genesung entgegen. Zwischendurch hatte Felix Igor, der sich bestimmt Sorgen machte, angerufen und informiert, dass er spät nach Hause kommen würde.
Er hatte den Alten damals, bei einem nächtlichen Streifzug, getroffen. Igor saß, in Gesellschaft einer Flasche Whisky, auf einer verwitterten Bank. Eigentlich war Felix auf der Suche nach einem Nagetier gewesen, doch die Aussicht, alkoholangereichertes Menschenblut zu trinken, war weitaus verlockender.
Im Rückblick wusste er nicht mehr genau, warum er sich zu Igor gesellt hatte. Vielleicht, weil der Alte so einsam wirkte, wie er sich oft fühlte. Vielleicht, weil er sicherstellen wollte, dass sein leckerer Snack nicht floh. Jedenfalls waren sie ins Gespräch gekommen. Eher gesagt hatte Igor angefangen, ihn voll zu labern.
Igors Frau war vor einigen Jahren gestorben. Unfähig, ihren Tod zu verarbeiten, hatte er begonnen zu saufen. Seinen Job hatte er dadurch verloren und lebte von Hartz IV. Igors größter Wunsch war, Vergeltung an dem Typen, der seine Frau bei einem Verkehrsunfall getötet hatte und mit einer Bewährungsstrafe davongekommen war, zu üben.
Das Leid des Alten hatte ihn gerührt. Der kleine, halb kahle Mann, die Mischung aus abgrundtiefer Trauer und ebenso großem Hass, war bis in sein Herz vorgedrungen. Dahin, wo mal sein Herz geschlagen hatte.
Es war strengstens verboten, Menschen zu wandeln. Dennoch hatte er es getan.
Ein paar Tage später wurde die Leiche eines Mannes gefunden. Die Polizei ging von einem Suizid aus, denn warum kletterte man sonst auf einen Baum und sprang von dessen Krone in die Tiefe? Es gab keinen Hinweis auf Fremdeinwirkung. Eventuell überstieg es die Vorstellungskraft der Bullen, dass jemand den Typen den Stamm hinauf gejagt oder getragen hatte, um ihn von oben runter zu schubsen.
Es handelte sich um den Typen, der Igors Frau auf dem Gewissen hatte; ein Sohn reicher Eltern, die vermutlich mit Schmiergeldern dafür gesorgt hatten, ihren Sprössling vor dem Knast zu bewahren. Der Unfall war passiert, weil das Arschloch im besoffenen Zustand ein Autorennen mit anderen besoffenen Arschlöchern veranstaltet hatte.
Die Eltern machten einen Höllenaufstand und prangerten die Untätigkeit der Polizei an, dennoch wurde die Sache zu den Akten gelegt.
Vor dem Vampirrat hingegen musste sich Felix nicht nur für die Wandlung eines Menschen, (denen blieb nichts verborgen), sondern auch für den Mord verantworten. Er kam mit einem blauen Auge davon. Man sperrte ihm lediglich für ein Jahr sämtliche Zugänge zu menschlichem Blut und ermahnte ihn, sich in den folgenden hundert Jahren gesetzestreu zu verhalten. Andernfalls würde man ihn aus sämtlichen Verbindungen verbannen.
Das wäre ein harter Schlag, denn er bezog seine Nahrung natürlich, so wie alle Artgenossen, aus einschlägigen Quellen. Ohne diese müsste er jeden Tag auf die Jagd gehen. Ein höchst unerfreulicher Gedanke.
Als weitere Maßnahme wurde ihm befohlen, sich um Igor zu kümmern. Da er das ohnehin vorhatte, kratzte es ihn nicht die Bohne. Igor war ihm sympathisch und er– ehrlich gesagt – froh, nicht mehr allein in seiner Riesenvilla zu hausen.
Er stellte seinen Porsche in die Garage, begab sich zur Haustür und wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, da wurde sie von innen aufgerissen.
Igor bat ihn mit einem andeuteten Diener herein. „Sie sind bestimmt erschöpft. Ich habe einen Schlummertrunk für Sie vorbereitet.“ Obwohl sie schon so lange zusammen lebten, bestand Igor auf die formelle Anrede.
„Danke. Ich hatte schon einen Drink.“
Ein freudiges Lächeln erschien auf Igors Lippen. „Ich hoffe, er hat Ihnen gemundet. Und? Gibt es Neuigkeiten?“
„Allerdings.“ Felix seufzte.
„Möchten Sie nicht doch meine neue Kreation probieren?“, schlug Igor vor.
Er konnte nicht ablehnen, weil Igor ihn voller Hoffnung anguckte.
Im Blauen Salon ließ er sich auf einem der beiden einander gegenüberstehenden Sofas nieder und schaltete den elektrischen Kamin an. Der Raum war kleiner als das Wohnzimmer, das die Dimensionen eines Fußballstadions besaß, daher fand er ihn behaglicher.
Igor, der in den Keller entschwunden war, erschien mit einem Tablett, auf dem ein Glas mit roter Flüssigkeit stand. Wie stets befand sich darunter eine blütenweiße Serviette. Igor legte viel Wert auf Stil.
„Wohl bekomm’s.“ Igor stellte den Drink vor ihm ab und nahm auf dem anderen Sofa Platz.
Vorsichtig probierte er einen Schluck und hob erstaunt die Augenbrauen. Das Zeug schmeckte weit weniger scheußlich als das letzte Gebräu, das Igor ihm kredenzt hatte.
„Ich habe Hamster mit Kaninchen gemischt“, erklärte Igor. „Und einen Tropfen Menschenblut zugefügt.“
Letzteres war teuer, darum gingen sie sorgsam damit um. An Geld mangelte es Felix zwar nicht, aber deswegen musste man es ja nicht zum Fenster rauswerfen.
Nachdem er ein weiteres Mal an dem Drink genippt hatte, lehnte er sich zurück und schlug ein Bein übers andere.
Igor war ein leidenschaftlicher Fan der Adams Family und Rocky Horror Picture Show. Sein Styling bestand entsprechend aus einer Mischung von Riff Raff und Large. Dank Extensions reichte ihm das graue Haar bis über die Schultern. Stets trug er ein weißes Hemd, darüber ein schwarzes Jackett und Hosen in der gleichen Farbe. Zu festlichen Anlässen – derer es wenige gab – wurde das Outfit um schwarz umrandete Augen und weiße Gamaschen ergänzt. Alltags blieb es bei blankgeputzten, schwarzen Schnürstiefeln.
„Ralf macht sich Sorgen. Dieses Virus, das unsereiner zum Spermakonsumenten mutieren lässt, scheint zu grassieren.“
„Also sollten wir auf den Ernstfall vorbereitet sein?“, erkundige sich Igor.
„Noch sehe ich keine Gefahr. Wir haben ja nur minimalen Kontakt zu anderen Personen, also kaum ein Infektionsrisiko.“
„Aber Sie sind doch den ganzen Tag unter Leuten.“
„Darunter befindet sich aber kein Artgenosse.“
„Vielleicht wird das Virus von Menschen übertragen ... oder durch Tiere.“
Oder es war gar kein Virus, sondern eine psychische Störung. Er wechselte das Thema: „Fühlen Sie sich hier noch wohl?“
Igor guckte entrüstet. „Natürlich!“
„Okay. Sollte sich das je ändern, helfe ich Ihnen gern, eine Wohnung zu finden.“
„Und wer wird sich dann um Sie kümmern?“
„Ich brauche keinen Kümmerer.“
Igor wirkte nicht überzeugt, ließ es jedoch auf sich beruhen. „Ich werde ins Bett gehen, außer Sie benötigen noch etwas.“
„Danke. Ich bin vollauf zufrieden.“ Abermals setzte Felix das Glas an seine Lippen und leerte es zur Hälfte. Das Zeug war echt nicht übel.
Nachdem Igor den Raum verlassen hatte, sah er eine Weile in die künstlichen Flammen, wobei er den Rest seines Drinks vernichtete. Anschließend brachte er das Glas in die Küche, um es in die Geschirrspülmaschine zu stellen. Schließlich war Igor nicht sein Angestellter. Er bezahlte den Mann zwar, doch das betrachtete er eher als Freundschaftsleistung. Ja, sie waren wirklich gute Freunde geworden, auch wenn sich Igor wie ein Diener benahm.
Als er in den ersten Stock hochstieg, betrachtete er den Kronleuchter, der von der hohen Decke hing. Das Teil hatte Igor im Keller gefunden, wohin es wohl von den Vorbesitzern verbannt worden war. Die opulente Leuchte passte gut ins Ambiente der Halle, mit dem Fischgrät-Parkett und gelb tapezierten Wänden.
Im Obergeschoss befanden sich fünf Zimmer, von denen er nur eines nutzte, sowie zwei Bäder. Auch hier hatte sich Igor, genau wie im Erdgeschoss, innenarchitektonisch ausgetobt. Der grässliche Stil der Siebziger war nüchterner Eleganz gewichen. Felix besaß kein Händchen für sowas und hatte nach seinem Einzug daher alles so belassen. Er fand es wundervoll, dass sich Igor der Sache angenommen hatte.
Weder Putzpersonal noch Handwerker durften im Haus umherstreifen. Das Risiko, dass sie etwas Ungewöhnliches entdeckten, war zu groß. Im Keller befanden sich sowohl die Vorräte als auch die Entsaftungsvorrichtung. Niemand durfte sie sehen. Insofern waren Igor und er darauf angewiesen, alles selbst zu erledigen.
Im Bad schälte er sich aus seinen Klamotten und stellte sich unter die Dusche. Ihm fiel Michels Rumgemotze bezüglich Bekleidung von Vampiren in Filmen ein, was ein Grinsen auf seine Lippen lockte. Natürlich musste er sich auch waschen. Er sonderte zwar keinen Schweiß ab, aber schmutzig wurde er trotzdem. Wenn er sich nicht ausziehen könnte, würde er bald ziemlich stinken.
Stinken ... das erinnerte ihn an seine Anfänge. Damals hatte es etwas gedauert, seinen Job ordentlich hinzubekommen. Nicht von der medizinischen Seite her, sondern von der finanziellen. Ein Vampir erlangte ja nicht automatisch professionelles kaufmännisches Denken. Er hatte sich oft übers Ohr hauen lassen oder war ganz leer ausgegangen, bis er begriff, wie er mit den Leuten umzugehen hatte. In der Not hatte er sich ein paarmal an den Klamotten seiner Opfer bedient und in eiskalten Flüssen gewaschen. Nicht, dass ihm die Kälte viel ausmachte. Seine Körpertemperatur war niedriger als die von Menschen.
In einen Bademantel gewickelt putzte er sich am Waschbecken die Zähne. Karies drohte zwar nicht, aber vergilben würden die Beißerchen schon, wenn er sie nicht pflegte.
Für immer neunzehn zu sein, hatte Vor- sowie Nachteile. Seinen Lebenslauf musste er, um als Arzt arbeiten zu dürfen, sorgfältig frisieren. Da die Menschen immer gläserner wurden, – nein, nicht in visueller, sondern bürokratischer Hinsicht – wurde das zunehmend schwieriger. Ohne Artgenossen in den Behörden wäre das nahezu unmöglich.
Glücklicherweise waren seine Gesichtszüge durch die Wandlung kantiger geworden. Er ging locker für Mitte zwanzig durch. Andernfalls hätte ihm niemand seinen Doktortitel abgenommen.
Als er kurz darauf im Bett lag, ließ er den Abend Revue passieren. Obwohl er das ungern zugab, bereitete die Seuche – wie Ralf es bezeichnete - ihm Sorge. Blut war in größeren Mengen als Sperma vorhanden. Selbst wenn man Zugang zu einer Samenbank hatte, würde das dort lagernde Material niemals reichen, um die gesamte Vampir-Population zu ernähren. Davon mal abgesehen war die Ware namentlich zugeordnet. Fehlte etwas, würde das die Bullen auf den Plan rufen. Deren Ermittlungen könnten selbst die Artgenossen, die im Polizeipräsidium saßen, nicht verhindern.
Kritisch beäugte Sandro seine Erscheinung im Spiegel. War der Lippenstift vielleicht doch zu grell? Ach, nein, er passte zu dem Rest: ein knallrotes Schlauchkleid, zu dem er eine grüne Federboa und Pumps in der gleichen Farbe trug.
Er schnappte sich die Clutch aus schwarzem Lackleder, in der Schlüsselbund, Geld und Kondome Platz fanden und stöckelte aus seinem Zimmer. Seine Absätze erzeugten so viel Lärm auf den Holzdielen, dass das Gespräch in der Küche verstummte. Andre, Mark und Kilian erschienen im Türrahmen.
„Heiß“, kommentierte Kilian, ebenfalls auf Männer fixiert, seinen Aufzug.
„Willst du echt so losziehen?“, wunderte sich Andre, der erst vor einer Woche eingezogen war und ihn noch nie so gesehen hatte.
„‘n bisschen nuttig, oder?“ Missbilligend schüttelte Mark den Kopf.
„Das soll es ja auch sein“, erwiderte er, klimperte mit den Wimpern und stolzierte zur Wohnungstür.
„Viel Spaß!“, rief Kilian ihm hinterher.
Es war kein Vergnügen, mit den neuen Pumps die Stufen ins Erdgeschoss runterzusteigen. Im 3. Stock eines Altbaus zu wohnen, hatte eben Nachteile. Dafür lag das Gebäude mitten in St. Georg, seinem Lieblingsstadtteil. Dafür nahm er einiges in Kauf.
Bis zum Gaylord, seinem Ziel, waren es nur wenige Schritte. Vor dem Club standen ein paar Raucher. Zwei kannte er vom Sehen und nickte ihnen zu. Der eine pfiff anerkennend.
Auch Kemal, der Türsteher, musterte ihn mit Wohlgefallen. „Hübsch siehst du aus.“
„Danke“, entgegnete Sandro und zwinkerte ihm zu, bevor er das Etablissement betrat.
Wie immer steuerte er direkt auf den Tresen an der rechten Wand zu. Wie immer hockte dort Gerald, auf dem immer gleichen Platz. Der Typ war Mitte sechzig und behauptete, schon ins Gaylord gegangen zu sein, als Sandro noch in Windeln geschissen hatte. Natürlich Unsinn, denn so lange gab es den Club bestimmt noch nicht. Schließlich hatte Sandro bereits die Mitte zwanzig überschritten und war schon mit drei stubenrein gewesen.
„Na, min Deern“, sprach Gerald ihn an, sobald er sich auf einen Barhocker gepflanzt hatte. „Heut so schmuck unterwegs?“
Gerald benutzte gern Plattdeutsch, was Sandro ziemlich charmant fand.
„Gefällt es dir?“ Er drapierte die Federboa dekorativ über eine Schulter und übte seinen schönsten Augenaufschlag.
„Wenn ich auf Deerns stehen würde, wärest du min erste Wahl.“ Gerald tätschelte sein Knie. „Möchtest du was trinken?“
Bei jedem anderen hätte er nein gesagt, doch Gerald gehörte nicht zu denen, die für einen Drink sexuelle Gefälligkeiten einforderten. Der Mann stellte für ihn eher eine Vaterfigur dar. Vom Alter her passte das ja auch. „Gern. Ein Pils, bitte.“
In Null Komma Nix stand eine Flasche vor ihm. Er schnappte sie sich und prostete Gerald zu. „Danke an den edlen Spender.“
Während er einen Schluck trank, ließ er den Blick umherschweifen. Die üblichen Verdächtigen befanden sich unter den Gästen. Mit den meisten von denen hatte er bereits gevögelt und brauchte keine Wiederholung. Keiner davon hatte fünf Sterne verdient. Er war auf der Suche nach einem richtig guten Fick, weshalb er sich heute besonders hübsch gemacht hatte.
„Wie löpt‘s mit dem neuen Mitbewohner?“, erkundigte sich Gerald.
Er hatte Gerald von Andre erzählt. Wenn’s nach ihm gegangen wäre, hätten sie nach einem anderen Mitbewohner gesucht. Der Typ hatte nämlich gleich beim ersten Treffen erzählt, dass er Aro-Ace war. Er fand es ätzend, wenn jemand gleich mit seiner sexuellen Ausrichtung rausplatzte; als ob sowas eine Person ausmachen würde. Außerdem zählte das zu den Dingen, die ihn null interessierten. Er ging doch auch nicht damit hausieren, dass er schwul und vorwiegend passiv war.
„Ich sehe ihn kaum.“
„Denn is ja alles god“, brummelte Gerald.
Eigentlich schon, aber ihm fehlte Mossad, Andres Vorgänger. Mossad hatte alle WG-Bewohner mit großer Herzlichkeit behandelt, oft gekocht und Spieleabende veranstaltet. Das war nun vorbei. Es fühlte sich an, als ob ein Teil seiner Familie verlorengegangen und der Rest entfremdet war.
Seine Eltern waren, kurz nachdem er sein Abitur bestanden hatte, zurück nach Spanien gegangen. Sie vermissten die Wärme ihrer Heimat und den Familienanschluss. Als einer seiner vielen dort lebenden Verwandten den beiden anbot, in einer Appartementanlage als Hausmeister und Reinigungskraft zu arbeiten, hatten sie zugeschlagen.
Obwohl ihr Verhältnis nach seinem Outing abgekühlt war, vermisste er die beiden. Mossad nach sechs Jahren des Zusammenwohnens zu verlieren war, als ob er ein zweites Mal verlassen wurde. Er hatte den Mann wie einen Bruder geliebt.
Besonders in Erinnerung geblieben war ihm der Abend, an dem Josef mit ihm Schluss gemacht hatte. Er hatte sich in Mossads Armen ausgeheult. Es gab nichts tröstlicheres, als eine breite, männliche Brust und starke Arme, die einen festhielten.
Josef, diese miese Ratte, hatte ihn als Versager bezeichnet. Als ob es ein Verbrechen wäre, mehrmals das Studienfach zu wechseln. Er hatte sich eben zweimal falsch entschieden, doch nun endlich das richtige gewählt. Außerdem musste er nebenher jobben, derzeit als Fahrradkurier. Josef hingegen, mit finanziellem Background, brauchte das nicht.
Inzwischen war er darüber hinweg. Jedenfalls war sein Herz geheilt. Josef hasste er nach wie vor.
Erneut setzte er die Flasche an seine Lippen, da fiel ihm ein vielversprechender Kandidat ins Auge. Der Typ war riesig, blond und irre attraktiv. Zu schwarzen Jeans trug der Mann ein weißes Netzhemd. In einem Ohrläppchen blitzte ein heller Edelstein.
Der Typ schien seinen Blick zu bemerken, guckte zu ihm rüber und runzelte mit deutlichem Missfallen die Stirn. Tja. Dann musste er wohl nach einem anderen Fickpartner Ausschau halten. Oder er ging nach Hause, wechselte die Klamotten und versuchte erneut sein Glück. Ach, nö. Dazu hatte er keine Lust.
Letztendlich trank er insgesamt drei Bier und kehrte ungevögelt, da er keinen Ersatz für Mister Groß-und-blond gefunden hatte, in sein WG-Zimmer zurück. Mit Zweitklassigem gab er sich nicht mehr zufrieden. Da nahm er lieber mit seiner Faust vorlieb.
Am nächsten Tag widmete er sich der Uni. Wirtschaftswissenschaften war genau sein Ding. Im Nachhinein begriff er nicht, wieso er zuerst Soziologie und dann Informatik studiert hatte. Na ja, seine Interessen waren eben breit gefächert.
Montagmorgen meldete er sich per App um halb neun bei der Kurierzentrale zum Dienst. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel. Es versprach, ein herrlicher Tag mit wenig Umsatz zu werden, denn bei solchem Wetter waren viele Kollegen unterwegs. Sandro bevorzugte daher Regen. Noch besser war’s im Winter.
Kurier war ein Knochenjob, auf dem Fahrrad dazu noch hammergefährlich. Dafür ersparte es einem den Besuch im Fitnesscenter.
Gemächlich schlenderte er die Lange Reihe runter, wobei er sein Fahrrad neben sich her schob. Abgesehen von Cafés und Kiosken waren noch alle Läden geschlossen und nur wenige Passanten unterwegs.
Plötzlich entdeckte er einen Blondschopf, der ihm im Businessanzug schnellen Schrittes entgegenkam. Es handelte sich um seinen Wunsch-Sexpartner von Samstagnacht. In dem formellen Aufzug gefiel ihm der Typ noch besser als im Freizeitlook.
Ihre Blicke trafen sich. Blondie wirkte interessiert. Tja. Pech. Die Chance hatte der Typ vertan. Jeglicher Gedanke an Sex erübrigte sich eh, weil die App ein akustisches Signal sendete. Er zückte sein Handy und checkte, wohin man ihn schickte, schwang sich aufs Bike und radelte an dem Blonden vorbei.
Mittags schaffte er es pünktlich zur Vorlesung. Er stank zwar nach Schweiß, doch der war ehrlich erworben, so what? Danach legte er eine zweite Schicht ein. Sein Konto befand sich am Limit, daher hatte er gar keine Wahl und musste wieder auf den Sattel.
Als er gegen sieben in seine WG kam, wehte ihm köstlicher Essensduft entgegen. Hoffnungsvoll spähte er in die Küche, doch leider stand Andre am Herd. Der kochte stets nur für sich selbst. Bei Kilian und Mark hingegen fiel oft etwas für ihn ab.
Wieder empfand er Wehmut. Mossad hatte eine riesige Lücke hinterlassen. Der Ex-Mitbewohner war nach Mannheim gezogen, um dort einen Posten als Sozialarbeiter anzutreten.
Er verschanzte sich im Bad. Nachdem er geduscht hatte, wickelte er sich in ein Handtuch und stellte sich vors Waschbecken. Traurige, braune Augen sahen ihm aus dem Spiegel entgegen. Im Moment war sein Leben kein Quell der Freude. Daran musste sich unbedingt etwas ändern.
Es passierte ohne Vorwarnung. Eine Woche nach dem Meeting in Hannover wachte Felix auf, verspürte keinen Appetit auf Blut und empfand beim Gedanken daran sogar Widerwillen. Er schob sein Unwohlsein, obwohl er sowas seit seiner Wandlung nicht mehr kannte, auf eine Magenverstimmung.
Damit sich Igor keine Sorgen machte, behauptete er, zu sehr in Eile zu sein, um daheim zu frühstücken.
Mit missbilligender Miene goss Igor seinen morgendlichen Drink in einen verschließbaren Thermobecher und drückte ihm diesen in die Hand. „Man darf nicht mit nüchternem Magen aus dem Haus gehen.“
Einige Zeit später, als er einen männlichen Patienten ins Reich der Träume befördert hatte, wurde seine insgeheime Befürchtung wahr: Seine Aufmerksamkeit richtete sich nicht auf die Halsschlagader des Bewusstlosen, sondern auf dessen Unterleib. Nun war guter Rat teuer. Er konnte ja schlecht die Eier des Typen aussaugen. Das würde auffallen, zumal eine Operation in der Leistengegend anlag. Davon mal abgesehen hatte er keinesfalls vor, am Sack des Kerls zu lutschen!
Er unterdrückte einen Anfall von Panik. Die Jahrhunderte hatten ihn gelehrt, einen kühlen Kopf zu wahren.
In den folgenden Stunden dachte er über sein Problem nach. Würde er verhungern? Oder gab es einen Weg, Sperma zu beschaffen, ohne in die Nähe eines Schwanzes zu kommen? Wie sah es mit tierischen Samen aus? Hatte Ralf etwas dazu gesagt? Es sollte doch genauso funktionieren wie mit Blut, oder?
Eine Zeit lang hatte Felix als Veterinär gearbeitet. Er wusste daher, dass Schweine und Pferde das meiste Ejakulat produzierten. Die Anzahl der Spermien war bei beiden dafür vergleichsweise gering. Besaß das eine Auswirkung auf den Nährwert? Das konnte er wohl nur mit einem Selbstversuch herausfinden.
Er verzog sich in seinen Wagen, um Schweine-, Pferde und Bullensperma per Express zu bestellen. Der Lieferant sicherte ihm zu, dass die Ware verlässlich in den Abendstunden eintreffen würde. Anschließend informierte er Igor über das erwartete Paket und die aktuelle Entwicklung.
„Ich hab’s geahnt“, sagte Igor. „Noch nie haben Sie Ihren Morgentrunk ausgelassen.“
„Vielleicht sollten wir in Zukunft einen Mundschutz tragen, wenn wir uns begegnen, damit das Virus nicht auf Sie überspringt.“
„Papperlapapp! Wenn es passiert, dann soll es so sein und: Geteiltes Leid ist halbes Leid.“
Die treue Seele. Er hatte es noch keine Sekunde bereut, Igor gewandelt zu haben. „Bis nachher“, verabschiedete er sich.
Damals hatte er nicht nur eine leckere Mahlzeit bekommen, sondern auch einen guten Freund. Als den sah er Igor. Der Mann war ihm nicht nur treu ergeben, sondern auch verschwiegen und intelligent. Manchmal überlegte er, wie wohl Igors Frau gewesen sein mochte. Da er so sehr und lange um sie getrauert hatte, musste sie ebenfalls besonders gewesen sein.
Mit Genugtuung erinnerte er sich an den Moment, in dem ihr Mörder in die rot leuchtenden Augen seines Schicksals geschaut hatte. Das Arschloch hatte sich vor Angst in die Hosen geschissen. Es war ein Kinderspiel gewesen, den Typen auf einen Baum zu befördern. Der Drecksack hatte gebettelt und ihnen viel Geld angeboten, wenn sie ihn leben ließen. Diese Chance hatte Igors Frau einst nicht bekommen. Sie hatten ihn also runtergeschubst.
Pünktlich machte er Feierabend und fuhr nach Hause. Die Lieferung war bereits eingetroffen. Dafür hatte er ja auch ordentlich geblecht.
„Wir sollten Ihre Nahrung erst durch das Analyseprogramm laufen lassen“, schlug Igor, der ihn in der Halle mit dem Paket erwartete, vor.
Im Keller befand sich ein Labor. Igor benutzte es, um alkoholische Drinks zu kreieren.
„Später“, entschied er, geplagt von nagendem Hunger, riss den Karton auf und holte eines der in Plastik eingeschweißten Präparate heraus.
Bullenejakulat, 8 Milliliter, stand darauf. Er entfernte die Umverpackung und spritzte sich das Zeug direkt auf die Zunge. Der Geschmack war neutral. Das Gefühl, als es durch seine Kehle glitt, nicht unangenehm. Die Erleichterung, die einsetzte, als es in seinem Magen ankam und der zehrende Durst nachließ, war überwältigend.
„Übrigens hat sich Herr Berg für heute Abend angekündigt“, sprach Igor weiter. „Ich habe ihm natürlich nichts von dem Malheur erzählt.“
Überflüssig, das zu erwähnen. Igor war verschwiegen wie ein Grab. „Nennen Sie ihn bitte endlich Michel.“
Igor deutete einen Diener an. „Ich werde mir Mühe geben.“
Was bedeutete, dass seine Bitte zum einen Ohr rein und zum anderen wieder rausgeflogen war.
Mit dem Paket begab sich Felix in den Keller, wo er die Qualität der Ware prüfte. Alle Spermaproben entsprachen seinen Erwartungen. Ihm lief, als er sie unterm Mikroskop begutachtete, das Wasser im Mund zusammen. Das war echt pervers. Andererseits war es ihm vorher so bei Blut ergangen.
Igor gesellte sich zu ihm. „Herr Berg ist bereits eingetroffen. Ich habe ihn in den Blauen Salon geführt.“
„Würden Sie ihm bitte einen Ihrer hervorragenden Cocktails mixen?“
„Selbstverständlich.“ Igor ging zu einer der Tiefkühltruhen, in der sie ihre Vorräte verwahrten.
Er ertappte Michel dabei, mit der Fernbedienung für den elektrischen Kamin zu spielen. Es gab blaue, rote und grüne Flammen, außerdem eine Taste für Funkenflug und unterschiedliche Geräuschkulissen, wie beispielsweise prasselndes Feuer oder knackendes Holz.
Michel warf die Fernbedienung auf den Couchtisch. „Du hast lange nichts von dir hören lassen.“
Das stimmte. „Sorry, Liebling, dass ich dich vernachlässigt habe.“
„Du musst noch sagen: Das wird nie wieder vorkommen“, ergänzte Michel, ließ sich auf die andere Couch plumpsen und streckte die Beine aus. „Wie läuft’s so?“
„Tja ...“ Er nahm auf dem anderen Sofa Platz. „Mich hat’s auch erwischt.“
„Wie? Du hast dich in jemanden verknallt?“
„Die Seuche hat mich erwischt.“
Michel fiel die Kinnlade runter.
„Gestern war noch alles in Ordnung. Heute Morgen dachte ich, mich trifft der Schlag“, fuhr Felix fort.
„Ach du Scheiße! Und nun?“
„Ich hab mir tierisches Sperma besorgt.“
„Kluger Schachzug, aber meinst du, das hat ausreichend Nährstoffe?“
„Keine Ahnung. Hat Ralf irgendwas darüber gesagt?“
Michel zuckte mit den Achseln. „Hab nicht zugehört.“
„Da wir uns von Tierblut ernähren können, wird’s bei Samen das Gleiche sein.“
„Du weißt genau, dass die ältere Generation ab und zu Menschenblut braucht. Schließlich gehörst du dazu.“
„Und wo soll ich menschliches Sperma herbekommen? Das gibt’s nicht im Internet zu kaufen.“
„Dann besorgst du dir eben einen menschlichen Samenspender. Es laufen doch etliche Typen rum, die dauergeil sind.“
„Ich will aber keinen Typen!“
„Dann nimmst du eben einen Transvestiten.“
Igor, ein Tablett in den Händen, betrat den Raum und stellte je ein Glas vor Michel und eines vor Felix ab. „Wohl bekomm’s.“
Argwöhnisch beäugte Felix den milchigen Glasinhalt. „Was ist da drin?“
„Ich habe Hengstsperma mit etwas Eiweiß gestreckt und zwei verschiedene Sorten Rum zugefügt.“
„Klingt lecker.“ Michel feixte, schnappte sich den dunkelroten Drink und nippte daran. „Wow! Das erinnert mich an Tequila Sunrise.“
Igor verbeugte sich. „Vielen Dank.“
„Was halten Sie davon, wenn sich Felix eine Kuh beschafft?“, hakte Michel nach.
Über Igors Stirn erschien ein Fragezeichen.
„Mit Kuh meine ich einen menschlichen Samenspender“, präzisierte Michel. „Und da Felix nicht auf Männer steht, muss es ein Transvestit sein.“
„Eine famose Idee“, erwiderte Igor. „Ich werde mich nach einem geeigneten Objekt umschauen.“
„Wir können nicht einfach jemanden kidnappen“, protestierte Felix.
„Wieso können wir das nicht?“, wunderte sich Michel.
„Ersetze können durch dürfen.“
„Seit wann scherst du dich darum, was man darf?“
„Freiheitsberaubung ist etwas anderes, als hier und da an einer Halsschlagader zu naschen.“
„Wenn du gut zu der Kuh bist, wird sie schon nicht meckern.“
„Ich benötige ein Budget, um einen der Räume im Obergeschoss entsprechend herzurichten“, mischte sich Igor ein. „Mir schwebt ein Himmelbett, rosa Vorhänge und eine hübsche Schminkkommode vor. Das wird einiges kosten.“
„Ein begehbarer Kleiderschrank sollte auch drin sein. Schließlich brauchen solche Damen haufenweise Kostüme.“ Michel trank einen Schluck. „Und Schuhe.“
„Ich kann nicht einen Menschen hier einsperren“, widersprach Felix.
„Und ein paar Spielkonsolen“, fuhr Michel fort. „Dein Gast soll sich doch nicht langweilen.“
„Es gibt allerdings ein Problem.“ Igor kratzte sich am Kinn. „Was machen wir mit den Fenstern?“
„Zumauern?“, schlug Michel vor.
„Ich hab’s: Panzerglas.“ Igor strahlte.
„Ihr seid verrückt“, murmelte Felix und nippte an seinem Drink. Das Zeug schmeckte gut, viel besser als jede vorherige Kreation.
„Also: Wie viel darf ich ausgeben?“, drängelte Igor.
„Gar nichts. Hier wird niemand eingesperrt!“
Michel und Igor guckten ihn an, als wäre er, nicht die beiden, der von Wahnsinn befallene im Raum.
Eine Woche später war sein Widerstand zerbröckelt. Er starrte jedem männlichen Patienten, egal ob jung oder alt, auf den Schwanz, na ja, die Eier, in denen sich die kostbare Nahrung verbarg. So konnte das nicht weitergehen, sonst fand er sich eines Tages mit den Fangzähnen im Sack eines Patienten wieder.
Tierisches Sperma stillte zwar seinen physischen Hunger, doch seine Psyche blieb unbefriedigt. Es war wie beim Blut ... natürlich war es das. Wie hatte er bloß annehmen können, es wäre anders?
Igors Augen leuchteten so freudig auf, wie die eines Kindes am Heiligabend beim Anblick der Geschenke, als Felix ihm ein großzügiges Budget einräumte. „Ich wusste, dass Sie zur Vernunft kommen würden.“
„Wohl eher zum Irrsinn“, brummelte Felix und begab sich nach draußen, um seinen Frust an den Pflanzen auszutoben.
Igor hielt das Haus in Schuss, er das Außengelände. Dabei beschränkte er sich auf die Pflege des Bestandes. Auf Kinkerlitzchen, wie jahreszeitliche Bepflanzung, hatte er keinen Nerv. Seine Passion galt Gerätschaften, die möglichst viel Schaden anrichteten – oder Nutzen, je nach Anwendung. So brutal, wie er die Heckenschere aktuell einsetzte, um damit Büsche zu rasieren, war es eher Schaden. Drei Gehölze massakrierte er, dann war sein Zerstörungstrieb einigermaßen zufriedengestellt, so dass er die nächsten am Leben ließ und lediglich stutzte.
Der Garten mündete in ein sumpfiges Waldstück. Der hohe Grundwasserspiegel erlaubte nur eine Bebauung der vorderen Hälfte und sorgte zugleich für erschwingbare Preise. Entsprechend groß waren die Grundstücke, die auf dieser Seite der Straße lagen.
In dem fruchtbaren Areal gedieh fast alles, das nass und schattig mochte. Die Rasenfläche bestand daher mehr aus Moos als aus Gras. Rundherum wuchsen Rhododendren, Azaleen und jedwedes Buschwerk, gesäumt von hohen, immergrünen Heckenpflanzen. Man käme sich vor wie in einem verwunschenen Park, wenn nicht ab und zu Großstadtgeräusche diesen Eindruck stören würden.
Nach getaner Arbeit kredenzte Igor ihm einen Drink. Es war beängstigend, dass dieses Zeug besser schmeckte als die Blut-Cocktails. Andererseits hatte es etwas Beruhigendes, nicht mehr auf den Lebenssaft von Menschen oder Tieren angewiesen zu sein, wobei Sperma ja in etwa das gleiche darstellte. Es tötete aber niemanden, sich daran zu bedienen. Jedenfalls hatte er noch nie davon gehört, dass jemand an zu großem Samenverlust gestorben war.
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2024
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