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Ballett bricht Herzen

 

 

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

 

Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

 

Korrekturen: Aschure, Dankeschön!

 

Fotos: shutterstock_1846328656, Silhouette Balletttänzer erstellt mit KI, IStock, lizensiert

 

Kontakt: https://www.sissikaipurgay.de/

 

Ballett bricht Herzen


Merlin ist Mitte dreißig und weiß, dass er bald seine Karriere als Tänzer beenden muss. Sein Körper ist der intensiven Beanspruchung nicht mehr gewachsen. Was er danach machen will, steht noch in den Sternen.

Fazel Yildirim hat seine Leidenschaft fürs Ballett erst spät entdeckt. Aktuell ist er von dem Primaballerino Allessandro fasziniert. Als er am Hinterausgang rumlungert, um von selbigem ein Autogramm zu ergattern, trifft er Merlin.

Außerdem sind da noch Pjotr, den der Ballett-Chef als Ersatz für einen krankheitsbedingten Langzeitausfall in Warschau rekrutiert hat und Gunnar, der sich in den hübschen Tänzer verliebt.

1.

Manchmal wünschte sich Merlin, wie sein berühmter Namensvetter zaubern und die Zeit zurückdrehen zu können. Auf der anderen Seite wollte er auf die Erfahrungen dieser Jahre nicht verzichten. Insofern war es okay, dass ihm keine Magie innewohnte.

Mit zwanzig war er ins Ensemble des Hamburger Balletts aufgenommen worden. Inzwischen hatte er die Mitte dreißig etwas überschritten. Obwohl er fit wie ein Turnschuh war, fiel es ihm zunehmend schwerer, sein Pensum zu leisten. Ihm war bewusst, dass er nicht mehr ewig auf der Bühne stehen konnte. Seit einiger Zeit hatte er daher sein altes Hobby – Fotografieren – wiederaufgenommen. Vielleicht schaffte er es, an die Erfolge seiner Teenagerzeit anzuknüpfen. Damals hatte er mit seinen Bildern ein paar Preise abgeräumt. Sollte das nicht gelingen, musste er eben von dem, was die von seinen Eltern geerbte Mietskaserne abwarf, leben. Auch kein schlechtes Los. Die Einnahmen reichten locker für seinen Lebensunterhalt und ein bisschen Luxus.

„Traume nicht“, flüsterte ihm Pjotr zu. „Wir mussen gleich heraus.“

Pjotr stammte aus Polen und kämpfte noch mit den Finessen der deutschen Sprache.

Merlin lauschte. In der Tat stand ihr Einsatz unmittelbar hervor. Er folgte Pjotr auf die Bühne. Sobald er im Rampenlicht stand, gab es für ihn nur noch die Musik und seinen Körper. Und – klar – die Choreografie, aktuell die des Stückes Illusionen - wie Schwanensee. Er hatte die Rolle des Prinzen Leopold inne, Pjotr die des Grafen Alexander.

Wie der Name wohl schon verriet, handelte es sich um eine moderne Inszenierung. Na ja, modern ... die Uraufführung fand 1976 statt. Die Choreografie stammte von John Neumeier. Kernpunkt war die Person Ludwig II., bayerischer Märchenkönig, der Irre, der Schloss Neuschwanstein hatte erbauen lassen. Diese Rolle hatte Alessandro, gebürtiger Spanier, bekommen.

Als Merlins Einsatz vorüber war, huschte er hinter den Vorhang und spähte durch einen Spalt ins Publikum. In den ersten Reihen und vorderen Logen saßen die üblichen Verdächtigen: Honoratioren der Stadt sowie Geldadel. Er kannte viele der Gesichter aus der Presse. Einer der Logengäste beäugte durch ein Opernglas das Bühnengeschehen. Vermutlich begutachtete der Typ Allessandros Vorzüge. Der Ballerino performte nämlich gerade allein auf weiter Flur. Es gab also nichts anderes zu sehen.

Er gesellte sich zu Pjotr und den anderen Kollegen. Nur zwei waren genauso lange wie er dabei. In einem Beruf, den man nicht ewig ausüben konnte, fand nun mal häufiger ein Wechsel statt. Manche Tänzer gingen in seinem Alter, manche mit vierzig, manche früher.

Während der Aufführung neigte keiner der Kollegen zum Reden. Lampenfieber empfand Merlin nicht mehr, doch die Anspannung war geblieben. Genau wie die anderen wollte er stets sein Bestes geben, obwohl die Aussicht, vor seinem Ausscheiden noch eine Hauptrolle zu ergattern, inzwischen minimal war. Darum war’s ihm eh nie gegangen. Sein Talent reichte nicht für einen Ballerino.

Eine halbe Stunde später fiel der letzte Vorhang. Es gab frenetischen Applaus. Dreimal musste das gesamte Ensemble wieder auf die Bühne, um sich zu verbeugen. Danach eilte Merlin in den Umkleideraum. Nur die Primaballerina und der Ballerino hatten eigene Kabinen. Er teilte sich eine mit den übrigen männlichen Tänzern.

Wie üblich flogen dumme Sprüche hin und her. Es gab Sprach-Kauderwelsch, weil viele Nationen vertreten waren. Beispielsweise kam Amal aus Indien und benutzte ein Englisch, das kein Mensch verstand.

Rasch schminkte er sich ab, befreite sich aus seinem Kostüm, griff nach einem Handtuch und begab sich in den Waschraum. Schwaden von Wasserdampf schlugen ihm entgegen. Einer der Kollegen sang etwas, das türkisch klang.

Er stellte sich in eine freie Duschnische und die Brause an. Das heiße Wasser war wohltuend. Allzu lange verweilte er jedoch nicht darunter, denn sein Bett rief nach ihm. An den Tagen, an denen Aufführungen stattfanden, beschränkte sich seine Freizeit auf wenige Stunden. Morgen in aller Frühe klingelte der Wecker. Dann ging’s zum Yoga, danach Frühstück und ab zum Training.

Zum Glück stand bald die Sommerpause an. Dass er sich darauf freute war ein weiteres Indiz, dass sich seine aktive Zeit dem Ende näherte. Früher hatte ihm davor gegraust, so viele Wochen der Bühne fernzubleiben.

In Windeseile trocknete er sich ab, zog sich an und winkte den Kollegen zum Abschied zu. Auf dem Weg zum Hinterausgang checkte er sein Smartphone. Keine Anrufe, keine Nachrichten. Von wem auch? Sein soziales Leben fand in der Oper statt – wenn man es denn so bezeichnen wollte. Leute wie er führten ein einsames Leben. Zwischen Tanzen, Tanzen und Tanzen blieb keine Muße, Kontakte zu Menschen, die nicht tanzten, zu pflegen.

Vor der Tür erwartete ihn frischgewaschene Luft. Wie so oft hatte es geregnet. Der Duft von Frühling hing in der Luft. Obwohl sich das Gebäude in Hamburgs dichtbesiedelter Innenstadt befand, war der Jahreszeitenwechsel deutlich spürbar; wahrscheinlich, weil sich in unmittelbarer Nähe ein großer Park befand.

Nachdem er sie tief in seine Lungen gesogen hatte, wandte er sich nach links und stoppte abrupt, als er unversehens einem Typen gegenüberstand. Der Mann hielt das aktuelle Programmheft in der einen, einen Kuli in der anderen Hand.

„Entschuldigung. Sind Sie ... sind Sie Herr Martinez?“, stotterte der Typ.

Ihre Fotos waren in dem Heft abgedruckt. Besondere Ähnlichkeit zwischen ihm und Allessandro, abgesehen von den kurzen, braunen Haaren, gab es nicht. Da die Lichtverhältnisse auf der Rückseite des Gebäudes nicht berauschend waren, konnte man sie aber durchaus verwechseln.

War das einer von Alessandros Verehrern? Es kam vor, dass jemand aus dem Publikum versuchte, einen der Tänzer abzuschleppen. Ihm passierte das auch gelegentlich.

„Nö. Und falls Sie planen, Alessandro mit Ihrem Kuli zu erstechen: Bitte, tun Sie das nicht. Es gibt keinen Ersatz.“ Das stimmte nicht, aber das brauchte der Mann ja nicht zu wissen.

„Ich ... Nein! Ich möchte nur ein Autogramm“, erwiderte der Typ.

Der Mann - schwarze Locken, dunkle Augen - besaß bestimmt südländische Wurzeln und wirkte verunsichert. Merlin fand das sehr charmant. Die Möchtegern-Liebhaber, die sonst am Hinterausgang standen, waren zumeist arrogante Schnösel und hielten sich für ein Geschenk an die Menschheit.

„Sie sind Ballett-Fan?“, erkundigte er sich.

Der Typ nickte eifrig. „Ich hab Schwanensee schon viermal gesehen. Es ist wunderschön.“

Jap, der Mann war eindeutig sehr süß. „Ich bin Merlin. Möchten Sie von mir vielleicht auch ein Autogramm?“

Die Miene des Typen hellte sich auf. „Ja! Natürlich! Bitte ... bitte unter Ihrem Foto.“

Als er versuchte, die Seite mit den Konterfeis der Darsteller aufzublättern, entglitt ihm das Heft. Gleichzeitig bückten sie sich, stießen mit den Köpfen aneinander und taumelten zurück.

Merlin rieb sich die schmerzende Stelle und lachte. „Nun haben Sie zusätzlich noch einen Kopfabdruck von mir.“

Der Typ lächelte zaghaft, hob das Heft auf und wischte übers Cover, wohl, um eventuellen Dreck zu entfernen. „Tut mir leid.“

„Ist ja nichts passiert.“ Merlin nahm ihm das Programmheft weg, schlug die richtige Seite auf und streckte eine Hand nach dem Kuli aus. Nachdem er schwungvoll seinen Namen unter sein Bild gesetzt hatte, schrieb er seine Mobilnummer dazu. Anschließend gab er Schreiber und Heft zurück. „Ich bin Hobbyfotograf. Es würde mich freuen, wenn ich Porträts von Ihnen machen dürfte. Sie haben ein interessantes Gesicht.“

Der Einfall war ihm spontan gekommen. Seine Profession waren eigentlich Detailaufnahmen, wie ein Glassplitter im Sonnenlicht, ein Tropfen und ähnliches. Damit konnte er den Mann, den er gern kennenlernen würde, aber schlecht ködern.

Der Typ guckte verdutzt. „Ich?

Merlin nickte.

Wieder erschien ein zögerliches Schmunzeln und ließ weiße Zähne erahnen. Jap, definitiv sehr süß. „Ich ... ich überleg’s mir.“

Hinter Merlin sprang die Tür auf. Kollegen strömten nach draußen. Die Aufmerksamkeit des Typen richtete sich auf die Neuankömmlinge.

„Ich hoffe, von Ihnen zu hören“, verabschiedete er sich und schlug den Weg in Richtung Bahnhof ein.

Er vermutete, dass er den Mann wohl nie wiedersehen würde. Dazu war der Typ zu schüchtern. Schade. Es war eine Ewigkeit her, dass ihm jemand, bei dem sein Gaydar ausschlug, auf den ersten Blick so sehr gefallen hatte.

Daheim angekommen wärmte er Milch auf und rührte einen Löffel Honig hinein. Das war sein Entspannungsritual.

Auf der Couch im Wohnzimmer trank er sie in kleinen Schlucken, wobei er den Abend Revue passieren ließ. In der vierten Szene hatte er gepatzt. Daran musste er unbedingt arbeiten. Wenn sie in großen Gruppen agierten, fielen solche Kleinigkeiten zwar nicht besonders auf, trotzdem ... Eine Aufführung musste perfekt ablaufen. Alles andere war Käse.

Nachdem er im Bad seine abendliche Routine abgespult hatte, kroch er ins Bett. Der Schlummertrunk bewirkte, dass er nahezu sofort einschlief.



An den darauffolgenden Abenden hielt er, während Allessandros Solo, vergeblich nach dem Mann im Publikum Ausschau. Auch sein Handy, dem er mehr Beachtung als sonst schenkte, blieb stumm.

Nach einer Woche gab er es auf. Es hatte keinen Sinn sich etwas herbeizuwünschen, das nicht eintreten würde.

2.

Fazel hatte der Vorfall am Bühnenausgang derart mitgenommen, dass er kaum ein Auge zu bekam. Am nächsten Tag war er entsprechend unkonzentriert. Zweimal ertappte er sich bei einem Zahlendreher. Ein untragbarer Zustand. Zudem kleckerte er Tee auf seine Tastatur. Beides zusammen stellte für ihn eine Katastrophe dar.

„Fazel, krieg dich wieder ein“, mahnte seine Kollegin Mirja, mit der er sich ein Büro teilte, als er das vierte Feuchttuch für die Beseitigung des Schadens aus der Packung zog.

„Aber ich muss ...“ „Wenn die Tastatur im Arsch ist, kriegst du eine neue. Und nun hör mit der dämlichen Rumwischerei auf“, fuhr sie ihm über den Mund, die Augenbrauen verärgert zusammengezogen.

Weil er sich nicht mir ihr anlegen wollte, schob er das Tuch zurück in die Packung und verstaute diese in seiner Schreibtischschublade. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Monitor richtete, zupfte er heimlich ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte damit über die Tasten.

Ich kann dich sehen“, flötete Mirja, woraufhin er es hastig in den Papierkorb entsorgte.

Zugegeben: Er besaß einen Putzfimmel. An manchen Tagen war dieser stärker ausgeprägt als an anderen. Wenn er emotional aufgewühlt war, wurde es meist schlimmer.

Seufzend lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und nippte am Tee, eine neue Sorte im Programm von Rübezahl, seinem Arbeitgeber. Das Unternehmen hatte sich auf den Online-Handel mit Bio-Produkten spezialisiert. Für ihn, als Veganer, war das der optimale Job.

Der Sencha-Tee schmeckte hervorragend und besänftigte seine Nerven. Nach einigen Schlucken gelang es ihm, vom Putz- zurück in den Arbeitsmodus zu wechseln.

Erst nach Feierabend erlaubte er sich, an die Begegnung mit Merlin Bergmann, dem Tänzer, zu denken. Noch immer erstaunte es ihn, dass jemand sein Gesicht als interessant bezeichnete. Er fand es bestenfalls gewöhnlich.

Seine Faszination fürs Ballett hatte er erst vor Kurzem entdeckt, als er auf YouTube einen Clip anschaute. Danach war er in Illusionen – wie Schwanensee gewesen und für diese Inszenierung entbrannt. Erst bei seinem vierten Besuch hatte er es gewagt, vorm Hinterausgang zu warten, um den Star der Aufführung um ein Autogramm zu bitten.

Zurück zu Merlin Bergmann: Wieso wollte der Mann ausgerechnet sein Gesicht fotografieren? Es gab doch massenhaft Leute, die wesentlich hübscher oder markanter aussahen. Konnte es sein, dass Bergmann ihn angebaggert hatte? Das war noch unglaubwürdiger als die Foto-Sache. Er war nun echt kein Adonis, sondern eher der Typ haariges Streichholz. So hatten sie ihn jedenfalls in der Schule genannt.

Fazel kam zu dem Schluss, dass sich Bergmann einen Scherz mit ihm erlaubt hatte.

Einen weiteren Opernbesuch gönnte er sich erstmal nicht. Die letzten hatten einiges gekostet. Beim ersten Mal hatte er einen billigen Platz gewählt, die anderen Male eine bessere Kategorie. Rund fünfhundert Euro waren dafür insgesamt geflossen. Leisten konnte er sich das, weil er sparsam lebte, doch genau deshalb legte er eine vorläufige Pause ein.

Am Wochenende fand eine Geburtstagsfeier statt. Er war einer von sechs Kindern und hatte drei Nichten. Somit gab es in jedem Monat mindestens einen Geburtstag zu feiern, da auch noch Onkel und Tanten mitsamt Cousins und Cousinen in Hamburg wohnten. Wenn es keinen Anlass gab, traf man sich trotzdem regelmäßig im großen Kreis.

Diesmal war seine jüngste Schwester Derya dran. Sie wurde dreiundzwanzig. Alle zwei Jahre hatte seine Mutter ein Kind zur Welt gebracht. Er befand sich an dritter Stelle. Seine älteste Schwester Meryem war die einzige, die bisher weiteren Nachwuchs geboren hatte.

Als er am Samstag um drei bei seinen Eltern eintraf, war der Rest der Sippe schon da. Dilan, eine seiner drei Nichten, fünf Jahre alt, kreischte bei seinem Anblick: „Fassel!“, und flitzte auf ihn zu, um an ihm hochzuspringen.

Im Wohnzimmer herrschte Trubel. Vier seiner Geschwister hatten ihre Partner beziehungsweise Partnerinnen mitgebracht. Lediglich das Geburtstagskind und er waren noch solo.

Erst um neun, als seine Schwester Meryem, nebst Gatten Martin und den drei Kindern, aufgebrochen war, kam er dazu, in Ruhe mit Derya zu reden. Sie saßen nebeneinander auf der Zweiercouch, so dass gewisse Privatsphäre vorhanden war. Zu ihr hatte er das beste Verhältnis. Sie war auch die einzige, die sein Outing ohne Vorbehalte akzeptierte. Der Rest tolerierte seine Vorliebe für Männer lediglich.

„Ich war letzte Woche wieder im Ballett“, erzählte er leise. „Und ich hab mir endlich ein Autogramm von dem Ballerino geben lassen.“

„Bravo!“ Sie tätschelte seine Wange. „Ich bin stolz auf dich.“

Nach seinem ersten Opernbesuch hatte er ihr das Programmheft gezeigt und von den Tänzern geschwärmt. Es war ihre Idee gewesen, den Star um ein Autogramm zu bitten.

„Ich hab sogar zwei bekommen. Prinz Leopold, also, der Tänzer, der diese Rolle spielt, hat mir auch eines gegeben.“

„Darauf müssen wir einen trinken.“ Sie machte Anstalten, aufzustehen, doch er hielt sie am Arm fest.

„Für mich nicht mehr.“ Er hatte zwei Raki intus. Das reichte ihm.

„Spielverderber“, murrte sie.

„Leopold – er heißt in Wirklichkeit Merlin Bergmann – hat mich gefragt, ob er Fotos von mir machen darf“, fuhr Fazel fort.

Derya guckte ihn mit großen Augen an. „Wow! Aktfotos?“

„Nein, natürlich nicht. Er hat behauptet, dass er mein Gesicht interessant findet. Ich denke, er hat mich verarscht.“

„Wieso? Dein Gesicht ist interessant.“

„Ja, ja, klar. So interessant wie ...“ Ihm fiel kein passender Vergleich ein.

„Du siehst gut aus. Rede dir bloß nichts anderes ein.“

„Das sagst du nur, weil du meine Schwester bist.“

„Ich finde dich hübsch. Wenn du nicht mein Bruder wärest, würde ich dich glatt heiraten.“

Derya hatte eindeutig zu viel getrunken. „Jedenfalls hat mir Leopold, also Merlin, seine Handynummer gegeben.“

„Dann ruf ihn an.“

Fazel schüttelte den Kopf. „Ich sagte doch schon, dass er mich nur verarscht hat.“

„Und wenn nicht? Vielleicht steht er auf dich.“

„Pft! So ein Quatsch!“

Sie verdrehte die Augen und seufzte. „Wenn du ihn nicht anrufst, wirst du es nie herausfinden.“



Später, als er im Bett lag, hallten ihre Worte noch in seinen Ohren. Merlin sah unglaublich gut aus. Es war schlicht unmöglich, dass sich so ein toller Typ für ihn interessierte.

Eine neue Woche brach an.

Da sich die Opernsaison dem Ende näherte, buchte Fazel nach der Mittagspause für den letzten Abend von Illusionen – wie Schwanensee eine Karte. Diesmal nahm er die teuerste, ganz vorne im Parkett. Scheiß drauf! Es war eine lohnende Investition, da er dafür noch einmal in den Genuss kam, vor der Sommerpause die Inszenierung zu sehen. Und Merlin, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Er ignorierte sie.

„Hast du schon die neuen Cashew-Kerne probiert?“, fragte Mirja, die sich in ihrem Schreibtischsessel zurückgelehnt hatte und eine Tüte in der Hand hielt.

Er klickte die Homepage der Staatsoper weg. Unsinn, da sie seinen Monitor nicht sehen konnte und eh nichts dagegen hätte, wenn er privat surfte. Sie tat es auch ständig. „Nö. Sind die gut?“

Sie seufzte. „Viel zu gut, aber leider Gift für meinen Hüftspeck. Nimm sie mir bitte weg.“

Er sprang auf, eilte zu ihr rüber und riss ihr die Tüte aus der Hand. Eine Probe ergab, dass die Nüsse in der Tat köstlich waren. Auf dem Weg zurück zu seinem Schreibtisch, warf er sich weitere Cashews in den Mund.

„Wo lässt du das alles nur?“, jammerte Mirja. „An dir bleibt nie was hängen.“

„Weil ich ein Pflanzenfresser bin.“ Er ließ sich wieder vor seinem Computer nieder. „Davon wird man nicht dick.“

„Ich kann Fleisch nicht vom Speiseplan streichen. Meine Familie würde mich umbringen.“

Mirja hatte einen Gatten und zwei Kinder.

„Vielleicht merken die es gar nicht, wenn du es geschickt anstellst.“

Sie winkte ab. „Heiko riecht Tofu auf zehn Meter Entfernung.“

Heiko war Mirjas Mann, Beamter und nach seiner Meinung ein Korinthenkacker. Letzteres behielt Fazel lieber für sich. „Möchtest du den Rest haben?“ Er äugte in die fast leere Tüte. „Da sind jetzt nur noch die kalorienarmen Nüsse drin. Die anderen hab ich aussortiert.“

Mirja zeigte ihm einen Vogel. „Ich hol mir einen Kaffee. Soll ich dir was mitbringen?“

„Eine Banane, bitte.“ In der Teeküche stand stets ein Korb mit Bioobst, ein Service der Geschäftsführung für die Angestellten.

Als sie das Büro verlassen hatte, öffnete er erneut die Seite der Staatsoper und klickte auf die Liste der Illusionen – wie Schwanensee-Besetzung. Anfangs hatte seine ganze Aufmerksamkeit dem Ballerino gegolten. Ein attraktiver, talentierter Tänzer, mit braunen Augen und Haaren. Nun betrachtete er Merlin Bergmann. Ebenfalls braune, kurze Haare, dazu blaue Augen in einem markanten Gesicht. Der Mann war schätzungsweise Mitte dreißig bis vierzig und lächelte in die Kamera.

Die Tür sprang auf. Erschrocken zuckte er zusammen und schloss flink die Seite.

Mirja spazierte herein, einen Becher in der einen, eine Birne in der anderen Hand. „Bananen sind alle.“

Sie legte die Birne auf seinen Schreibtisch und verzog sich hinter ihren Monitor. „Übrigens: Die Meier aus dem Einkauf ist schwanger.“

Stirnrunzelnd betrachtete Fazel die Birne, die eindeutig überreif war. Er fischte eine Serviette aus seiner Schublade, wickelte das Obst darin ein und wischte mit einer zweiten die Tischplatte ab. „Die ist doch schon über fünfzig.“

„Neunundvierzig“, erwiderte Mirja trocken.

„Na ja, also fast fünfzig. Wenn das man gutgeht.“

„Hab ich auch gedacht. Stell dir mal vor: Wenn ihr Kind volljährig wird, ist sie fast siebzig oder vielleicht schon tot.“

„Heutzutage werden doch die meisten älter.“

„Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Kind früh Waise wird.“

„Sie ist doch verheiratet, oder?“

Mirja nickte. „Aber ihr Mann ist zehn Jahre älter als sie.“

Das arme Kind. Fazel erinnerte das an seine jüngste Schwester, die sich ja in einer ähnlichen Situation befand. Seine Mutter war schon über vierzig, sein Vater Anfang fünfzig, als Derya auf die Welt kam. Wenn in der Schule eine Veranstaltung stattfand, zu der die Eltern eingeladen waren, hatte man Derya das eine oder andere Mal gefragt, ob sie von ihren Großeltern begleitet wurde. Sie fand das damals überhaupt nicht witzig.

„Gehst du bald wieder in die Oper?“, erkundigte sich Mirja.

Seine Kollegin schien ihre Augen überall zu haben. Er nickte. „Samstagabend.“

Sie seufzte. „Ich möchte auch mal hingehen, aber Heiko weigert sich.“

„Dann geh doch mit jemand anderen.“

„Das mag er auch nicht.“

Ausnahmsweise war Fazel froh, solo zu sein. „Schenk ihm Opernkarten zum Geburtstag. Dann muss er mit dir hingehen.“

Mirja guckte ihn nachdenklich an. „Das könnte klappen.“

„Bitte, gern geschehen.“ Er lächelte ihr zu und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Monitor.



Freitagabend rief Derya an und hakte nach, ob er Kontakt mit Bergmann aufgenommen hatte.

„Noch nicht“, erwiderte er.

„Gib mir seine Nummer. Ich erledige das für dich.“

„Nur über meine Leiche!“

Derya kicherte. „Sei nicht so dramatisch. Mach es endlich!“

„Ich gehe morgen in die Oper, dann spreche ich ihn an.“ Was er keinesfalls vorhatte, aber das brauchte sie ja nicht zu wissen.

„Wow, Brüderchen! Das nenne ich mal Initiative!“

„Sofern ich mich traue“, fügte er hinzu.

„Go, Fazel, go! Du schaffst das!“

„Wag es nicht, mit Cheerleader-Pompons aufzutauchen und mich anzufeuern.“

„Du bringst mich da auf eine Idee.“

„Vergiss es!“

„Reg dich ab. Ich mach doch nur Spaß.“ Derya seufzte. „Ich drück dir morgen die Daumen.“

„Wofür?“

„Dafür, dass er dich heiß findet und mit nach Hause nimmt.“

„Ich würde niemals mitgehen.“ Unerfahren war er zwar nicht, dank ein paar Techtelmechteln zu Schulzeiten, aber auch nicht leichtsinnig.

„Wenn du es doch tust, schick mir seine Adresse. Nur sicherheitshalber.“

Nie im Leben! Derya würde irgendwelchen Mist anstellen. „Okay.“

„Vergiss nicht, Gummis und Flutschi einzustecken.“

Woher wusste sie, was Männer für Sex mit Männern benötigten? Nein, nicht drüber nachdenken. „Ja-ja.“

„Ich erwarte Sonntag einen Lagebericht.“

„Mal gucken, ob ich dazu in Stimmung bin.“

„Und denk daran: Du bist höllisch sexy und der schönste Mann der Welt.“ Sie schickte ihm einen Luftkuss und legte auf.

Seufzend warf er das Handy auf den Couchtisch und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. Derya interpretierte in die Sache etwas rein, das es gar nicht gab.

Er ging zurück in die Küche. Seine Schwester hatte ihn beim Kochen unterbrochen. Seit er vegan lebte, investierte er noch mehr Zeit in seine Mahlzeiten als vorher. Fazel achtete nämlich darauf, eiweißhaltige Lebensmittel in den Speisen zu verarbeiten, um nicht unter Mangelerscheinungen zu leiden. Tofu, Sojamilch, Hülsenfrüchte und Nüsse waren dazu geeignet.

Es dauerte eine Stunde, bis sein Auflauf fertig war. Fazel verspeiste ihn am Küchentisch, langsam und mit Genuss. Anschließend guckte er eine seiner Lieblingsserien und ging danach mit einem Buch ins Bett. Ja, er führte wahrlich das Leben eines Abenteurers, überlegte er zynisch, als er gegen Mitternacht das Licht löschte.

3.

Die Stimmung im Umkleideraum war ausgelassen. Viele seiner Kollegen planten, während der Sommerpause in ihre jeweilige Heimat zu reisen. Merlin würde die Zeit vorwiegend auf der Couch, im Schwimmbad oder auf dem Balkon verbringen. Maximale Entspannung stand auf seiner Agenda.

Je näher der Vorstellungsbeginn rückte, desto stiller wurde es. Anspannung breitete sich aus. Als der Zeitpunkt gekommen war, eilten sie nacheinander aus dem Raum und nahmen auf der Bühne Aufstellung.

Nach dem dritten Akt hatte Merlin einige Minuten Zeit, bis er wieder dran war. Er nutzte die Gelegenheit, um durch einen Spalt im Vorhang das Publikum zu mustern. Es waren noch mehr wichtige Persönlichkeiten als sonst anwesend, wie meist bei der Abschiedsvorstellung. Als sein Blick übers Parkett wanderte, blieb er an einem Gesicht hängen. Er blinzelte und schaute genauer hin. Dort saß der Mann, dem er seine Handynummer gegeben hatte.

Fieberhaft überlegte er, wie er Kontakt aufnehmen konnte. Während der Vorstellung ging das nicht und danach wäre der Mann weg. Erneut spähte er durch den Spalt. Der Wunsch, den Mann kennenzulernen, war riesengroß. Irgendwie musste ihm das gelingen.

Erst zwei Einsätze später hatte er etwas mehr Zeit, um in den Umkleideraum zu huschen und ein paar Worte sowie seine Handynummer – vielleicht besaß Fazel die nicht mehr - auf einen Zettel zu kritzeln. Mit dem Papierstück in der Hand trat er auf den Flur und guckte sich nach Sascha um. Sascha war die linke Hand des Regisseurs, wie ihn die Belegschaft nannte. Wenn dessen rechte Hand, Cornelia, nicht anwesend oder überlastet war, sprang Sascha ein.

Er entdeckte den Gesuchten neben Pjotr. Die beiden standen unweit der Stelle, an der er durch den Vorhang gelinst hatte. Perfekt!

Merlin eilte hin. „Sascha! Du musst mir helfen.“

„Wo brennt’s denn?“

„Im Publikum sitzt jemand, dem ich eine Nachricht schicken möchte. Kannst du das für mich erledigen?“

„Ich bin doch kein Postbote“, brummelte Sascha.

„Stell dich nicht so an“, mischte sich Pjotr ein.

Weiterhin brummelnd folgte Sascha ihm zu Vorhang. Der Adressat war leicht auszumachen, weil er zwischen einer aufgetakelten Dame mit Turban und einem fetten Typen in gelbem Anzug saß.

„Na schön“, gab Sascha nach. „Aber dann hab ich was gut bei dir.“

So lange es keine sexuelle Dienstleistung war, konnte Merlin damit leben. Bei Sascha hatte er deswegen keine Sorgen. Der Mann war strikt hetero.

Er gab Sascha den Zettel und begab sich zu Pjotr, mit dem er gleich auf die Bühne musste.

Den Rest der Aufführung konzentrierte er sich ausschließlich auf das Stück. Am letzten Abend wollte er sein Bestes geben, wie eigentlich immer, doch diesem Event wohnte etwas Besonders inne. Für die Zuschauer sollte es ein unvergesslicher Abend werden. So unvergesslich, dass sie nach der Sommerpause in Scharen wiederkamen.

Als der letzte Vorhang fiel, schwitzte er aus allen Poren. Auch seine Kollegen stanken nach Schweiß. Trotz der allgemeinen Erschöpfung verbeugten sich alle mit einem Lächeln, als sie noch dreimal auf die Bühne gingen, um dem nicht abreißenden, frenetischen Applaus entgegenzunehmen.

Das war der Lohn der harten Arbeit: Begeisterte Mienen, anhaltendes Klatschen, vereinzelt Bravo-Rufe. Dafür lebte er.

Im Umkleideraum ging es anschließend hektisch zu. Alle schienen der Oper so schnell wie möglich den Rücken kehren zu wollen. Merlin hatte es ebenfalls eilig. Er war gespannt, ob der Mann am Hinterausgang auf ihn wartete.

Als einer der ersten verließ er das Gebäude. Er atmete erleichtert auf, als er eine bekannte Gestalt entdeckte. Der Mann war immer noch so anziehend wie in seiner Erinnerung. Gelockte, schwarze Haare umrahmten das schmale Gesicht. Dunkle Augen mit langen Wimpern, sinnliche Lippen.

Gemächlich schlenderte er auf den Mann zu. Der hatte beide Hände in den Hosentaschen vergraben. Schwarze Jeans, dazu ein schwarzes Jackett und Hemd.

„Hi. Du hast also meine Nachricht bekommen?“, eröffnete Merlin wenig eloquent das Gespräch, doch ihm fiel nichts Besseres ein.

Der Typ nickte. „Aber das mit den Fotos ... das ist nichts für mich.“

„Gehen wir was trinken? Dann können wir in Ruhe darüber reden.“

Zögernd guckte der Mann ihn an.

„Da vorne gibt’s eine Bar, in der sie guten Kaffee servieren“, lockte Merlin.

„Also gut, aber ich bezahle selbst“, gab der Mann nach.

Scherzhaft wollte er erwidern, dass er auf eine Einladung gehofft hatte, doch das erschien ihm in dieser Situation falsch. Der Typ machte auf ihn den Eindruck eines scheuen Rehs, das man mit einem unbedachten Spruch in die Flucht schlug.

Mit dem Kinn wies er in die Richtung, in der die Bar lag. Ein gemütliches Lokal, in das er manchmal mit Kollegen einkehrte. Als er sich in Bewegung setzte, schloss sich der Mann ihm an.

„Du bist mir gegenüber im Vorteil. Ich kenne deinen Namen nicht, aber du weißt, wie ich heiße“, ergriff Merlin das Wort.

„Fazel.“

„Hübsch. Ist das türkisch?“

Fazel nickte.

Sie erreichten die Hauptstraße. Um diese Zeit war kaum Verkehr. Sie brauchten daher nicht bis zur Ampel laufen, sondern konnten die Straße direkt überqueren.

Die Bar lag genau gegenüber. Er hielt die Tür auf und ließ Fazel den Vortritt. Stimmengewirr schlug ihnen entgegen. Die Tische waren alle besetzt, weshalb er den Tresen, an dem es noch freie Plätze gab, ansteuerte.

Sie bestellten Kaffee.

„Ich finde es schade, dass du keine Lust auf Fotos hast“, sagte Merlin. „Dein Gesicht ist wirklich bemerkenswert.“ Auch der Rest von Fazel war bemerkenswert. Er stand auf sehr schlanke, südländische Männer. Gegen Aktfotos hätte er nichts einzuwenden, aber damit würde er den unsicheren Mann garantiert schockieren.

Fazel senkte die Wimpern, holte ein Papiertaschentuch hervor, wischte damit über den Tresen und zupfte anschließend daran herum. „Ich bin nicht fotogen.“

Merlin beschloss, mit offenen Karten zu spielen; zumindest im Hinblick auf seine künstlerischen Ambitionen. Er zückte sein Smartphone und scrollte durch die Fotos. Das Bild, mit dem er damals einen Preis errungen hatte, befand sich ganz am Ende der Galerie.

„Eigentlich fotografiere ich sowas.“ Er hielt das Gerät Fazel vor die Nase.

Sein Sitznachbar schaute so vorsichtig hoch, als ob er ein Schwanzfoto erwartete. Es handelte sich aber nur um eine Glasscherbe, die zwischen Grashalmen lag. Das besondere daran: die Tautropfen an den Halmen und auf der Scherbe. Sie wirkten wie kleine Spiegel.

„Wow!“, stieß Fazel hervor, guckte ihn, dann wieder das Bild an. „Das ist wunderschön.“

„Danke“, erwiderte er geschmeichelt.

„Und nun willst du auf Porträts umsatteln?“, fragte Fazel.

Der Barkeeper stellte zwei Tassen vor ihnen ab und begab sich zurück ans andere Ende des Tresens.

„Tja ...“ Merlin steckte das Handy wieder ein und kratzte sich verlegen im Nacken. „Das war eher ein dämlicher Versuch, dich anzumachen.“

Mit offenem Mund starrte Fazel ihn an.

„Ich meine, dich kennenzulernen“, korrigierte er sich.

Fazel wandte den Blick ab, stopfte das Taschentuch in eine der Jacketttaschen, griff nach einer der Tassen und trank einen Schluck.

Da war er wohl zu forsch gewesen. Er schnappte sich die zweite Kaffeetasse, um daran zu nippen. „Ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit, um etwas miteinander zu unternehmen. Spazierengehen oder so.“

Weiterhin guckte Fazel ihn nicht an.

„Wenn ich das Ensemble verlasse, brauche ich eine neue Aufgabe, daher kam ich darauf, wieder mit dem Fotografieren anzufangen. Es ist ewig her, dass ich zuletzt auf Motivsuche war. Vielleicht sattle ich tatsächlich auf lebende Objekte um.“

Endlich wandte sich Fazel wieder ihm zu. „Du willst mit dem Tanzen aufhören?“

Wollen?“ Merlin lachte freudlos. „Mein Körper hat ein Verfallsdatum. Solche Höchstleistungsmaschine kann man nicht ewig am Laufen halten.“

„Aber du bist doch erst ... ähm ... dreißig?“

Das ging runter wie Öl. „Ein bisschen drüber. Manche hören schon mit dreißig auf. Vor allem dann, wenn sie einige Verletzungen hinter sich haben.“

„Ist dir sowas auch schon passiert?“

Er winkte ab. „Mehr als einmal. Wie gesagt: Es ist Höchstleistungssport.“

„Und wann hast du damit angefangen?“

„Mit sechs.“

Mit großen Augen starrte Fazel ihn an. Das sah dermaßen süß aus, dass er den Mann am liebsten aufgefressen hätte.

„Ich bin also seit dreißig Jahren dabei“, redete er weiter. „Kein Wunder, dass meine Gelenke allmählich verschleißen.“

„Meinst du, dass du von deinen Fotos leben könntest?“

Er zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Ist erstmal nur eine Idee. Ich hab ein Nebeneinkommen, das meine Kosten abdeckt.“

„Neben-einkommen?“, echote Fazel mit gerunzelter Stirn.

„Falls du denkst, dass ich nebenher als Callboy arbeite – nein, tue ich nicht.“ Es gab Kollegen, die sich nicht scheuten, von reichen Opernbesuchern, die einen muskulösen Tänzer nageln wollten, Geld zu verlangen.

Das Stirnrunzeln verschwand zugunsten eines beschämten Lächelns.

„Und was machst du so?“, erkundigte sich Merlin.

Fazel wandte sich wieder dem Kaffee zu. „Nichts Besonderes.“

„Und was ist das genau?“

„Sachbearbeiter in einem Naturkost-Versandhandel.“

„Das hört sich interessant an.“

„Und ich lebe vegan“, murmelte Fazel und klang dabei, als würde es sich um etwas Schwerwiegendes, wie das Geständnis eines Raubüberfalls oder Mordes, handeln.

„Das würde mir auch gefallen, aber meine Muskeln würden mir das übelnehmen. Na ja, vermutlich nicht, wenn ich es richtig mache, aber dazu bin ich zu faul.“

Offenbar hatte er das Richtige gesagt, denn plötzlich wirkte Fazel wie ausgewechselt und erklärte ihm im Detail, wie vegane Ernährung funktionierte. Das war schon interessant, doch momentan lag sein Fokus auf etwas anderem. Er hörte daher nur mit halbem Ohr zu und erfreute sich mehr daran, wie Fazel gestikulierte und in einem fort lächelte. Das Thema schien ihn zu faszinieren. Merlin war hingegen mehr und mehr von Fazel fasziniert. Der Mann war nicht nur attraktiv, sondern auch sexy, wenn er aus sich rauskam. In seinem Kopf tauchten unanständige Bilder eines nackten Fazel in seinem Bett auf.

„Hab ich was zwischen den Zähnen?“, erkundigte sich Fazel mit irritierter Miene.

Ertappt löste er seinen Blick von den hübschen Lippen, die er angeglotzt hatte. Zu antworten, dass er sinniert hatte, ob sie so lecker schmeckten, wie sie aussahen, war bestimmt keine gute Idee. Er schüttelte den Kopf.

Fazel zückte ein Handy und guckte mit erschrockener Miene aufs Display. „Ich muss los. Die letzte Bahn fährt in wenigen Minuten.“

„Wo wohnst du denn?“

„In Altona.“

„Ich auch. Wir können uns ein Taxi teilen.“ Bei dem Vorschlag hatte er fast keine Hintergedanken.

Sichtlich unschlüssig guckte Fazel ihn, dann das Smartphone, dann wieder ihn an. Schließlich schob er das Gerät zurück in die Jacketttasche. „Wenn das so ist, möchte ich noch was zu trinken bestellen.“

Merlin winkte den Barkeeper heran. „Ich hätte gern einen doppelten Whisky auf Eis.“

„Für mich bitte das Gleiche“, schloss sich Fazel seiner Bestellung an.

„Erzähl mir mehr von der veganen Lebensweise“, bat er.

„Ich hab dich schon genug damit gelangweilt.“

„Gar nicht. Bitte!“ Wenn’s nach ihm ginge, könnte Fazel den Bahnfahrplan vorlesen, Hauptsache, er durfte weiter der schönen, dunklen Stimme lauschen. „Oder erzähl was von deiner Familie.“

„Im Ernst?“

Er nickte vehement.

„Na gut.“ Fazel schnappte sich eines der beiden Gläser, die der Barkeeper vor ihnen abstellte und nippte daran. „Ich hab zwei Brüder und drei Schwestern.“

„Wow! Sechs Kinder! Musstest du dir ein Zimmer teilen?“

„Natürlich. Die Wohnung meiner Eltern ist klein. Ich hab mit Ünal und Salih in einem halben Zimmer gehaust, meine drei Schwestern in dem anderen. Meine Eltern haben im Wohnzimmer geschlafen.“

Die Vorstellung, wie das ausgesehen hatte, lenkte ihn von Fazels Lippen ab. „Hattet ihr dreistöckige Betten?“

Fazel schmunzelte. „Nein, nur zweistöckig. Ünal hat auf einer Matratze, die tagsüber unters Bett geschoben wurde, geschlafen.“

„Das war bestimmt ziemlich nervig, oder? Ich meine, ständig jemanden um sich zu haben.“

„Das kannst du wohl sagen. Vor allem, als wir größer wurden. Manchmal hat es bei uns gestunken wie im Pumakäfig.“ Fazel rümpfte die Nase. „Und immer war Lärm. Ich war heilfroh, als ich mir endlich eine eigene Bude leisten konnte.“

„Was machen deine Geschwister denn so?“ Er gönnte sich einen großen Schluck Whisky. Wohltuend brannte der Alkohol in seiner Kehle. Allmählich schwand der Adrenalinrausch, der ihn stets während einer Vorstellung erfasste.

Fazel berichtete von den beiden Schwestern. Die jüngere studierte Deutsch und Sport auf Lehramt, die ältere war seit der Geburt des ersten Kindes zu Hause. Die mittlere hatte einen Beruf ergriffen, den er als typisch für Frauen mit Migrationshintergrund empfand: Friseuse. Ein Vorurteil, das oft in der Realität bestätigt wurde. Fazels jüngerer Bruder hatte Informatik studiert und arbeitete als IT-ler in einem großen Unternehmen. Der andere, genau wie er sechsunddreißig, war in dem Gemüsehandel eines Onkels tätig – was für ihn ebenfalls in die Kategorie Berufsfelder für Menschen mit Migrationshintergrund fiel.

Genau wie beim Thema vegan, wirkte Fazel enthusiastisch. Es war offensichtlich, wie sehr er seine Familie liebte. Merlin bedauerte es oft, keine Geschwister und schon früh seine Eltern, beide passionierte Raucher, verloren zu haben. Seine Mutter war bei seiner Geburt vierzig, sein Vater bereits fünfzig. Die zwei hatten vor fünf beziehungsweise zehn Jahren ihren letzten Atemzug getan.

Mitten im Erzählen orderte Fazel Whisky-Nachschub. Merlin reichte der eine. Nach dem anstrengenden Abend würde ihn mehr davon umhauen.

Nachdem Fazel den zweiten Drink konsumiert hatte, orderte Merlin ein Taxi. Sie zahlten getrennt, bevor sie das Lokal verließen. Am Straßenrand wartete bereits ihre Mietkutsche. Nebeneinander nahmen sie auf der Rückbank Platz.

„Soll ich dich zuerst absetzen oder umgekehrt?“, erkundigte er sich.

„Von dir aus gehe ich zu Fuß. Ein bisschen frische Luft kann nicht schaden“, erwiderte Fazel.

Er gab dem Chauffeur also seine Adresse und lehnte sich zurück. Fazel gefiel ihm sehr. Der Mann war bodenständig, ohne jegliche Allüren. Wahrscheinlich lag das daran, mit so vielen Geschwistern aufzuwachsen. Sollte eigentlich nicht gerade dann der Wunsch, sich aus der Masse abzuheben, vorhanden sein? Es hörte sich aber so an, als ob auch Fazels Brüder und Schwestern mit beiden Füßen auf dem Boden standen.

„Hast du schon eine Karte für die erste Vorstellung nach der Sommerpause?“, wandte er sich an Fazel, der aus dem Seitenfenster guckte und nun den Kopf in seine Richtung drehte.

„Noch nicht.“

„Möchtest du eine haben?“

„Bekommst du die günstiger?“

„Ich hab ein kleines Kontingent für meine Eltern. Die sind ja leider schon gegangen. Ich nutze es daher nie aus.“

„Das tut mir leid.“ Fazel streckte eine Hand aus, als wollte er Merlins Schenkel tätscheln, zog sie aber wieder zurück. „Sind die Karten nicht personalisiert?“

Merlin schüttelte den Kopf.

„Dann denke ich mal über dein Angebot nach.“

Odyssee wird dir bestimmt gefallen. Allessandro tanzt wieder die Hauptrolle.“

„Warum nicht du?“

„Weil er besser ist. Ich hab meinen Zenit bereits überschritten.“

„Finde ich nicht!“

Das klang so vehement, dass er schmunzeln musste. „Er ist jünger als ich.“

„Na und?“

„Und somit leistungsfähiger.“

„Du stellst dein Können unter den Scheffel.“

„Ich bin Realist.“

Fazel wandte sich wieder dem Seitenfenster zu.

Wenig später hielt das Taxi vor dem Haus, in dem Merlin wohnte. Sie zahlten je den halben Fahrpreis plus Trinkgeld und stiegen aus.

„Magst du noch auf einen Drink mit hochkommen?“, fragte Merlin.

Fazel zögerte, guckte ihn an, die Straße runter und wieder ihn. „Okay. Ist ja noch früh.“

Ansichtssache. Es war schon nach Mitternacht. Normalerweise lag Merlin um diese Zeit bereits im Bett.

Er schloss die Haustür auf und ging voran die Treppe in den 1. Stock hoch. Oben entriegelte er die Wohnungstür und bat Fazel mit einer Handbewegung, als erster einzutreten.

„Mach es dir doch schon mal im Wohnzimmer gemütlich. Ich muss kurz aufs Klo.“ Das hätte er eigentlich noch vor ihrem Aufbruch erledigen sollen. Er war aber zu abgelenkt gewesen und nun drohte seine Blase, zu platzen.

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Tag der Veröffentlichung: 19.04.2024

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