Cover

Amrum ist gut fürs Herz Vol. 7



Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

 

Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

 

Fotos: shutterstock_179129984, Leuchtturm, Insel: Sissis Malkünste

Cover-Design: Lars Rogmann

 

Korrektur: Aschure, dankeschön!

 

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

https://www.sissikaipurgay.de/


Ausgerechnet Amrum

Daniel, seit einigen Monaten verwitwet, bekommt von seinem Bruder Mark einen Kurztrip nach Amrum geschenkt. Damit du auf andere Gedanken kommst, lauten Marks Worte. Er würde überall hinfahren, nur nicht nach Amrum. Dort lauern Erinnerungen, die er nicht wecken möchte. Leider kann er nicht grundlos ablehnen, denn das würde seinen Bruder verletzen und verraten, weshalb er die Insel meidet, möchte er auch nicht. Das Schicksal nimmt seinen Lauf ...

1.

Eisiger Wind empfing Daniel, als er in Dagebüll aus dem Zug stieg. Februar war definitiv nicht die beste Zeit, um an die Nordsee zu reisen.

Er schloss sich der Gruppe, die auf die Fähre zusteuerte, an. Die meisten zogen Trolleys hinter sich her. Da er lediglich zwei Nächte auf Amrum blieb, bestand sein Gepäck nur aus einem Rucksack und seiner Notebooktasche.

Eigentlich wollten ihn sein Bruder und dessen Gattin begleiten, doch beide waren von der Grippe heimgesucht worden. Die zwei hatten ihm den Kurztrip, damit er auf andere Gedanken kam, geschenkt. Es wäre unhöflich gewesen, die Reise ohne triftigen Grund abzusagen, zumal sie bereits bezahlt und eine Rückerstattung der Kosten nicht möglich war.

Daniel begab sich in den Fahrgastraum. Vieles hatte sich verändert. Das ehemals schäbig-gemütliche Ambiente war klinischem Kantinen-Chic gewichen. Natürlich musste man irgendwann etwas verändern, aber die alte Ausstattung hatte ihm besser gefallen.

Er stellte seinen Rucksack auf eine der Bänke, ließ sich daneben nieder und schaute aus dem Fenster. Sein letzter Besuch auf Amrum lag über zwanzig Jahre zurück. Damals befand er sich im dritten Semester, Lehramt, Deutsch und Biologie. Ein Kommilitone, dessen Großmutter ein Appartement auf der Insel besaß, hatte ihn und einen weiteren Studenten dazu eingeladen, in der Ferienwohnung ein Wochenende zu verbringen.

Daniel musste schmunzeln, als er daran zurückdachte. Als ob es auf Amrum keine Lebensmittel gäbe, hatten sie vor der Abreise einen Discounter geplündert. Ausgestattet mit diversen Sixpacks Bier, Dosenfutter, Brot, Margarine, Instantkaffee, Milch und so weiter, waren sie in die Bahn gestiegen. Das Pils hatten sie gänzlich vernichtet, doch von dem Rest über die Hälfte wieder mit nach Hause geschleppt.

Sowohl den Freitag- als auch den Samstagabend verbrachten sie in der Blauen Maus, oder eher gesagt vor dem Lokal. Ihre Getränke mit in die Kneipe zu nehmen, trauten sie sich nicht. Draußen war eh genauso viel los wie drinnen und das Wetter warm und trocken.

Am zweiten Abend lernte er Peer, einen Insulaner, kennen. Blond, blaue Augen, Traumkörper. Bis zu dem Zeitpunkt beschränkte sich seine Erfahrung mit Männern auf verstohlene Küsse und ein bisschen Gefummel. In seiner Familie war Homosexualität ein Tabu-Thema, weshalb er seine Neigung geheim hielt. Da er beidseitig orientiert war, hatte das bislang keinen Leidensdruck erzeugt.

Mit Peer stimmte die Chemie. Es handelte sich um das Phänomen Liebe auf den ersten Blick. Letzteres wurde ihm erst später bewusst.

Lukas und Tim, seine Reisegefährten, verzogen sich – bald nachdem Peer aufgetaucht war - mit zwei Mädels auf den Zeltplatz. Daniel blieb noch eine ganze Weile mit Peer auf der Mauer vor der Blauen Maus sitzen. Sie quatschten über dies und das. Schließlich schlug Peer vor, ihre Unterhaltung unter vier Augen weiterzuführen.

Er schwang sich hinter Peer auf dessen Motorroller. Hätten die Bullen sie angehalten, wäre Strafe für zwei Tatbestände fällig gewesen: Daniel trug keinen Helm und Peer hatte bestimmt zu viel Alkohol intus.

Unbehelligt kamen sie in Nebel an. Peer stellte den Roller auf einem Grundstück mit Reetdachhaus ab. Am hinteren Teil des Gebäudes befand sich ein schmuckloser Anbau. Außen führte eine Treppe in den Keller. Sie stiegen die Stufen hinab. Die Tür war nicht verschlossen.

Peers Zimmer war eigentlich der Heizungsraum. Decken, die an einer von Wand zu Wand gespannten Schnur hingen, trennten das Bett von der Heizanlage ab. Kein Ort für ein romantisches Stelldichein, doch Daniel bemerkte das nur am Rande. Er war völlig auf Peer fixiert.

In diesem Kellerloch schlief er das erste Mal mit einem Mann. Also, im doppelten Sinne: Zum einen hatten sie Analsex, zum anderen schlummerte er neben Peer ein.

Nach diesem Wochenende fuhr er so oft wie möglich nach Amrum. Seinen Eltern erzählte er, dass er jemanden kennengelernt hatte, der ihm surfen beibrachte. Bei genauer Betrachtung war das nicht mal eine Lüge, denn mit Peer war es jedes Mal, als würden ihn hohe Wogen davontragen, direkt in den Himmel.

In der Zwischenzeit texteten sie hin und her. Der Inhalt ihrer Nachrichten war teils versaut, teils kitschig. Glücklicherweise existierten sie nicht mehr. Er wäre bestimmt von Scham erfüllt, wenn er sie heute lesen würde.

Gen Herbst wurde sein Vorwand für die häufigen Ausflüge immer unglaubwürdiger. Zudem passierten zwei Dinge gleichzeitig: Sein Vater starb bei einem Verkehrsunfall und die Mutter der Nachbarstochter Kara, mit der er von Kindesbeinen an befreundet war, erhielt eine Krebsdiagnose.

Seine Mutter war am Boden zerstört. Sein Bruder und er versuchten, ihr so gut wie möglich beizustehen, brauchten aber auch selbst Trost. Diese schwierige Zeit schweißte Kara und ihn zusammen. Sie klammerten sich aneinander in einer Welt, die aus den Fugen geraten war. Zu Peer konnte er nicht mehr fahren, weil er seine Mutter nicht allein lassen wollte. Schlussendlich ignorierte er Peers Nachrichten, weil er die ständigen Nachfragen, wann sie sich endlich wiedersehen würden, nicht ertrug.

Als sich die Lage stabilisierte, bei Karas Mutter die Chemo-Therapie erfolgreich war und bei seiner die Trauerphase zu Ende ging, glaubte er nicht recht daran. Es dauerte einige Zeit, bis er wagte, aufzuatmen. Die Sache mit Peer erschien ihm nach den vielen Monaten wie ein Traum, der eh nie in Erfüllung gehen würde. Hinzukam, dass er unbedingt Familie wollte. Einen Teil seiner zu verlieren, hatte diesen Wunsch noch verstärkt.

Für Kara empfand er nicht die gleiche brennende Leidenschaft wie für Peer, doch er war ihr von Herzen zugetan. Sie schenkte ihm Zwillinge, Caro und Christian. Nach dem Abschluss seines Studiums trat er eine Stelle in der Stadtteilschule Wandsbek an. Sie fanden eine Wohnung, von der es nur wenige Minuten zu Fuß zu seiner Arbeitsstelle waren.

Die Jahre verflogen im Nu. Inzwischen studierte Caro in Heidelberg, Christian in Konstanz. Einige Monate nach dem Auszug der Kinder erfolgte die Schreckensnachricht: Kara hatte Leukämie. Für eine Chemo war es zu spät. Vor drei Monaten erlag sie der tückischen Krankheit.

„Möchten Sie etwas bestellen?“, holte ihn die Stimme eines Kellners zurück in die Realität.

„Ich ... ähm, bitte einen Kaffee.“

Als der Mann wieder weg war, versank er erneut in Gedanken. Karas Tod war ein Schock gewesen. Er trauerte um seine treue Gefährtin. Im Laufe der vergangenen Wochen war ein weiteres Gefühl, für das er sich schämte, hinzugekommen: Erleichterung. Die Vorstellung, für den Rest seines Lebens in ihrer Ehe festzuhängen, hatte ihn, ohne dass es ihm bewusst war, bedrückt.

Sie waren zwar wunderbar miteinander ausgekommen, aber nur, weil er stets seine Bedürfnisse hintenanstellte. Kara wollte in die Oper, als ging er mit. Kara wollte ins Theater, also begleitete er sie. Ihre Freunde waren eher Karas als seine. Das hatte sich nach ihrem Ableben bestätigt. Auf die Kondolenzanrufe folgte Funkstille.

Er hatte Kara nie betrogen, jedenfalls nicht in der Realität. In seinen Träumen hingegen schon. Je größer und unabhängiger die Kinder wurden, desto häufiger schlich sich Peer in seine Fantasien. Was wäre passiert, wenn er damals seiner Sehnsucht nachgegeben hätte? Es gäbe weder Caro noch Christian, beantwortete er selbst seine Frage. Die beiden waren der Grund, weshalb er seine Entscheidung nicht bereute. Man musste im Leben eben Prioritäten setzen.

Der Kellner brachte den Kaffee und kassierte. Während er das scheußliche Gebräu in kleinen Schlucken vernichtete, guckte er aus dem Fenster. Graue Wolken zogen über den Himmel. In der Ferne war schemenhaft Hallig Langeness zu erkennen. Der Anblick weckte Erinnerungen. Ihr erster Kuss. Peer, obwohl zwei Jahre jünger, hatte damals eindeutig mehr Erfahrung als er. Das erste Mal nackt zusammen auf dem Bett. Daniel war sich vorgekommen wie eine Jungfrau, trotzdem er seit seinem siebzehnten Lebensjahr mit Frauen schlief.

Seufzend verdrängte er die Bilder. Er hatte nicht vor, die alten Zeiten wiederaufleben zu lassen. Inzwischen war Peer bestimmt verheiratet oder fest liiert, vielleicht aus dem Leim gegangen. Eventuell lebte Peer nicht mal mehr auf Amrum.

Sein Bruder Mark und seine Schwägerin Isabelle fuhren jedes Jahr zweimal auf die Insel. Es war also logisch, dass sie dieses Reiseziel gewählt hatten. Außerdem hatte sich sein Bruder an seine einstige Begeisterung für die Insel erinnert. Wenn Mark wüsste ... ach, das wäre wohl kein Problem mehr. Sein Bruder war ein aufgeschlossener Typ, genau wie Isabelle und seine Kinder sowieso. Nur seine Mutter hielt Homosexualität nach wie vor für eine Krankheit.

Wyk auf Föhr geriet in Sichtweite. Ungefähr die Hälfte der Fahrgäste rüstete sich zum Aufbruch. Daniel holte sein Notebook hervor und vertiefte sich in ein Schreiben der Schulbehörde, in dem eine Änderung des bisherigen Unterrichtsplans angeordnet wurde.

2.

Bei seiner Ankunft in Wittdün war es bereits dunkel. Auch dort hatte sich einiges verändert. Der charmante Laden, in dem er damals in den Büchern gestöbert hatte, war einem Gebäude gewichen, das überall stehen könnte. Gegenüber das gleiche Bild: An der Stelle des einstigen Zentralmarkts, keine architektonische Schönheit, aber auf gewisse Weise originell, befand sich nun ein Neubau ohne nennenswerte Merkmale.

Daniel bog in die Straße, in der sein Ziel lag; ein: Das Hotel Seemannsbraut. Normalerweise logierten Mark und Isabelle in der Keksdose, einem Bau mit silberner Verkleidung, immer im gleichen Appartement. Da sie diesmal zu dritt waren, – eher gesagt gewesen wären – und es sich nur um einen Kurztrip handelte, hatten die beiden ein All-inclusive-Angebot gebucht.

An der Hotelrezeption empfing ihn eine junge Dame mit einem höflichen Lächeln, händigte ihm eine Keycard aus und erklärte: „Abendessen um halb sieben im Schmankerlstüberl. Das ist gleich nebenan.“

Sein Zimmer lag im ersten Stock. Er packte seinen Rucksack aus, legte das Notebook auf den Schreibtisch, der vorm Fenster stand und machte sich im Bad ein bisschen frisch. Aus dem Spiegel überm Waschbecken schaute ihm ein guterhaltener Mittvierziger entgegen. Abgesehen von den Fältchen in den Augenwinkeln wiesen lediglich ein paar graue Strähnen an den Schläfen auf sein fortgeschrittenes Alter hin.

Im Schmankerstüberl platzierte man ihn an einem Tisch, an dem drei Ehepaare saßen. Zwei der Paare waren ihm auf Anhieb sympathisch. Das dritte machte einen naiven Eindruck, der sich während des Essens bestätigte.

Anschließend begaben sie sich in die Kurverwaltung, wo ein Bildervortrag unter dem verheißungsvollem Titel Nordsee-Mordsee stattfand. In der Tat war die Veranstaltung spannend.

Nachdem Daniel ins Hotel zurückgekehrt war, beschäftigte ihn das Gehörte noch eine ganze Weile. Er hatte große Hochachtung vor den Gewalten der Meere. Eine Sturmflut wollte er echt nicht erleben. Selbst in Hamburg, in seiner Wohnung weitab der Elbe, überkamen ihn Beklemmungen, wenn solche Warnung ausgegeben wurde.



Am nächsten Morgen brach er gleich nach dem Frühstück auf. In dieser trüben Jahreszeit musste man jede Sonnenstunde nutzen.

Ein Bummel durch Wittdün ergab: die meisten Geschäfte hatten geschlossen. Am Anleger stieg er in den Bus und ließ sich nach Nebel kutschieren. Es war eine Wohltat, nach den Bausünden die reetgedeckten Häuser zu sehen.

Sein erster Weg führte in die Straße, in der Peer wohnte – oder gewohnt hatte. Das Haus stand im Waaswai und wirkte unverändert. Am Briefkasten prangte der Namenszug P. Jessen. Das musste nicht unbedingt bedeuten, dass es sich um Peer handelte. Es gab auf der Insel unzählige Personen mit diesem Nachnamen.

Daniel kehrte um und wanderte durch die Ortschaft. Schließlich betrat er den Friedhof und studierte den einen oder anderen Grabstein. Manche erzählten ganze Lebensgeschichten.

Weil ihn alles an Peer erinnerte, fuhr er weiter nach Norddorf. Durch die Fußgängerzone mit den überwiegend geschlossenen Geschäften ging er in Richtung Strand. Im Dorf war es gut auszuhalten, doch am Meer stach der eisige Wind wie Nadeln in Daniels Wangen. Er drehte um und atmete auf, als Dünen und Büsche wieder Deckung vor dem kühlen Element boten.

Im Restaurant des Hotels Seeblick, das sich in der Fußgängerzone befand, verspeiste er einen Imbiss. Danach begab er sich auf den Rückweg, und zwar durch den Wald, der sich von Norddorf bis Nebel zog. Auf Höhe des Leuchtturms entschied er, genug für seine Fitness getan zu haben und benutzte den Bus, um nach Wittdün zu kommen.

Im Anschluss ans Abendessen, das erneut im Schmankerstüberl stattfand, wurde er mit den anderen Hotelgästen nach Nebel kutschiert. Schon bei seinem Ausflug hatte er den riesigen Stapel Holz, der nun lichterloh brannte, auf einer der Wiesen gesehen.

Es handelte sich um das traditionelle Biikebrennen. Daniel hatte im Internet die Bedeutung recherchiert. Das Feuer diente einst der Verabschiedung der Walfänger, die nach der Winterpause wieder in See stachen. Es gab unbestätigte Gerüchte, dass die Leuchtsignale auch den dänischen Männern auf dem Festland vermitteln sollten, dass die Inselfrauen nun wieder allein auf ihren Höfen waren und Hilfe bei der Arbeit sowie ‚anderen Dingen‘ benötigten.

Rund um die Feuerstelle waren Stände aufgebaut. Es wurde Punsch, Bier vom Fass, Softdrinks und Wein angeboten. Außerdem gab es Würstchen vom Grill, Erbsensuppe und Süßwaren.

Daniel besorgte sich einen Punsch. Während er seine Finger an dem Becher wärmte und dessen Inhalt in kleinen Schlucken vernichtete, beobachtete er die Szenerie. Kinder wuselten zwischen den Erwachsenen, die zumeist in Grüppchen standen, umher. Für die Kleinen war es bestimmt aufregend, so ein großes Feuer zu sehen. Er erinnerte sich, dass Caro und Christian bei ihrem ersten Osterfeuer auch fasziniert gewesen waren.

Plötzlich zupfte jemand an seinem Ärmel. Ein kleines Mädchen schaute zu ihm hoch.

Daniel schenkte ihr ein Lächeln. „Hallo, junge Dame.“

Die Kleine winkte ihn näher, woraufhin er sich runterbeugte. Patsch!, landeten ihre Hände auf seinen Wangen. Kichernd flitzte sie davon.

Wieso war er darauf reingefallen? Er hatte doch gesehen, dass viele der Anwesenden schwarze Handabdrücke im Gesicht trugen. Als er sich wieder aufrichtete, geriet ein Mann in sein Sichtfeld, bei dessen Anblick sein Herz einen freudigen Sprung vollführte. Peer hatte sich kaum verändert. Na ja, zumindest so weit, wie er bei der schlechten Beleuchtung erkennen konnte.

Der schwarzen Montur mit neongelben Streifen zufolge, gehörte Peer zur freiwilligen Feuerwehr. Er erinnerte sich, dass sie damals darüber gesprochen hatten. Peer meinte, als Pyromane wäre man dazu verpflichtet. Der Hintergrund: Peer war mal bei brennenden Kerzen eingedöst und aufgewacht, als die Gardinen bereits Feuer gefangen hatten. Brandnarben zeugten davon, dass er mit bloßen Händen, um die Flammen zu ersticken, die Vorhänge runtergerissen hatte.

Peer verschwand aus seinem Blickfeld. Inzwischen war Daniels Becher leer. Auf dem Weg zum Punschstand hielt er nach Peer Ausschau. Als ihm das bewusst wurde, richtete er den Blick auf sein Ziel, was ihn immense Anstrengung kostete. Seine Augäpfel wollten ihm nämlich kaum gehorchen.

Mit dem Punschnachschub kehrte er zu seinem Ausgangspunkt zurück. Sein Herz klopfte viel zu schnell. Anscheinend waren seine Gefühle in all den Jahren nicht abgekühlt. Oder war es nur der Schock, Peer so unerwartet wiederzusehen? Unerwartet? Nun tu nicht so, als ob du dich nicht ständig nach ihm umgesehen hast, spottete eine Stimme in seinem Kopf.

„Wie schmeckt Ihnen der Glühwein?“, sprach ihn jemand von der Seite an.

Es handelte sich um die weibliche Hälfte des naiven Ehepaares. „Hervorragend.“

„Mir ist er zu süß.“ Sie rümpfte die Nase. „Finden Sie nicht auch, dass man die Kinder vom Feuer fernhalten sollte? Das ist doch viel zu gefährlich, so nah, wie die Kleinen da rangehen.“

Noch schlimmer als seine Schüler waren oft die Eltern. Wenn er einen Abend in deren Gesellschaft verbracht hatte, neigte er meist zu Kopfschmerzen. Die Dame – wie hieß sie noch gleich? Brunhilde? – besaß die gleiche Wirkung auf ihn. „Ich denke, die Erziehungsberechtigten haben das im Blick.“

Sie begutachtete sein Gesicht. „Der Ruß wird schwer wieder abzukriegen sein.“

Daniel zuckte bloß mit den Schultern.

„An welcher Schule unterrichten Sie?“

„An der Stadtteilschule Wandsbek.“ Hoffentlich ging keiner ihrer Enkel dorthin. Brunhilde und ihr Gatte wohnten auch in Hamburg.

„Gibt es dort viele Ausländer?“

„Das ist mir nicht bekannt.“ Könnte ihn bitte jemand erlösen?

„Meine Enkeltochter geht in Horn zur Schule. Da ist die Hälfte der Klasse aus der Türkei.“

Brunhilde über political Correctness aufzuklären, ergab bestimmt keinen Sinn. Ehe er antworten konnte, gesellten sich ihr Ehemann und die beiden anderen Paare zu ihnen.

„Mir schaudert, wenn ich daran denke, dass die armen Frauen ihre Männer für acht Monate verabschieden mussten“, bekannte Monika.

„So manche wird sich bestimmt gefreut haben“, wandte ihr Gatte Stefan ein. „Die meisten Ehen waren damals doch arrangiert.“

„Arrangiert oder nicht: Die Frauen sind trotzdem lange allein für alles verantwortlich gewesen. Für die Kinder, das Vieh und die Feldarbeit, während sich ihre Männer beim Walfang vergnügt haben“, widersprach Monika.

„Walfang war damals kein Vergnügen. Seefahrt sowieso nicht“, mischte sich Konrad, der zum zweiten sympathischen Ehepaar gehörte, ein.

Daniel blendete die Unterhaltung aus. Er wollte noch einen letzten Blick, so lange es die Gelegenheit gab, auf Peer werfen. Jenen entdeckte er neben dem Löschfahrzeug, in Gesellschaft weiterer Uniformierter. Einer der Typen sagte etwas, woraufhin die andere lachten. Peers Gesicht dabei zu beobachten, löste in seinem Brustkorb ein schmerzhaftes Sehnen aus.

Sie hatten damals nicht nur gevögelt, sondern auch ganz viel geredet. Nicht immer waren sie einer Meinung gewesen, doch jedes Mal zu einem Konsens gekommen. Er hatte jede Minute mit Peer genossen. Das zwischen ihnen war etwas Besonderes gewesen; etwas, das er mit Kara nie erreicht hatte.

Plötzlich schaute Peer in seine Richtung. Im ersten Moment wollte er Deckung hinter Brunhilde suchen, aber dann fiel ihm ein, dass er durch die Dunkelheit und seine schwarzen Wangen getarnt war. Tatsächlich glitt Peers Blick über ihn hinweg und blieb an einem Kleinkind, das sich mit einem Stock dem Feuer näherte, hängen. Im nächsten Augenblick tauchte eine Frau auf, die den Kleinen auf den Arm nahm und Anstalten machte, ihn wegzutragen. Prompt fing der Zwerg an zu plärren.

„Gleich kommt unser Taxi“, verkündete Monika, die ihr Handy gezückt hatte und aufs Display guckte.

„Ein Glück. Meine Füße sind eingefroren“, jammerte Brunhilde.

Dank des Punsches war Daniel warm. Am liebsten würde er noch bleiben, um Peer aus der Ferne anzuhimmeln. Seine Vernunft riet ihm jedoch, sich nicht länger zu quälen. Es gab keinen Weg zurück. Selbst wenn er sich nicht wie ein Arschloch benommen hätte, war zu viel Zeit verstrichen, um an Vergangenes anzuknüpfen.

Wenig später kreuzte, wie Monika vorhergesagt hatte, ihr Chauffeur auf. Schweren Herzens stieg er in den bereitstehenden Kleinbus.

3.

„Ich finde, du solltest Onkel Mark anrufen, dass du es dir überlegt hast.“ Caro bedachte ihn mit einem strengen Blick. „Du brauchst unbedingt einen Tapetenwechsel.“

Als Ausgleich für den ins Wasser gefallenen Trip zu dritt hatte sein Bruder ihn erneut eingeladen, ein Wochenende auf Amrum zu verbringen. Mark hatte ein günstiges Pauschalangebot ergattert, ausgerechnet in Nebel, im Hotel Friedrichs.

„Ich habe meine Gründe.“

„Ach ja?“ Fragend zog sie die Augenbrauen hoch.

Obwohl sie seine braunen Haare und Augen geerbt hatte, sah sie in diesem Moment aus wie Kara. „Darüber will ich nicht reden.“

„So, so“, murmelte sie und runzelte die Stirn. „Lass mich raten: Du hast bei deinem letzten Amrum-Trip eine Frau geschwängert und willst ihr aus dem Weg gehen, damit du nicht für das Balg bezahlen musst.“

Der Gedanke war so absurd, dass er schmunzeln musste. „Dein alter Vater würde sowas nie tun.“

„Willst du jetzt von mir hören, dass du nicht alt bist?“ Sie trank einen Schluck Kaffee und beäugte ihn über den Becherrand hinweg.

„Ich hätte nichts dagegen.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Nicht ablenken. Also: Warum willst du nicht mit den beiden fahren?“

„Ich wäre das fünfte Rad am Wagen.“

„Wenn das so ist, komme ich eben mit.“

„Du kannst dich nicht einfach selbst einladen.“

Sie zuckte mit den Achseln. „Onkel Mark hat es sogar vorgeschlagen. Im Hotel sind noch einige Zimmer frei.“

Das sah seinem Bruder ähnlich. Mark und Isabelle, unfreiwillig kinderlos, liebten die Zwillinge abgöttisch. Was sollte er nun als Einwand vorbringen? Ihm ging allmählich die Munition aus.

„Ich rufe ihn an und sage ihm, dass wir beide mitkommen“, entschied seine Tochter und zückte ihr Smartphone.

Seufzend ließ er sich gegen die Couchlehne sinken. Das Schicksal war ihm offenbar nicht wohlgesonnen. Er hatte sich noch nicht von dem Trip, der drei Wochen zurücklag, erholt und musste nun schon wieder ins Fegefeuer. Nun übertreib mal nicht, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Sollte er Caro reinen Wein einschenken? Spinnst du? Erstens ist es ein Schock, wenn der eigene Vater plötzlich Männer liebt, Toleranz hin oder her. Zweitens wird sie traurig sein, dass du dich so schnell nach Karas Tod für jemanden interessierst.

„Hi, Onkel Mark“, flötete seine Tochter. „Papa und ich kommen mit.“

„Du wirst dich zu Tode langweilen“, prophezeite Daniel.

Caro, das Handy am Ohr, bedeutete ihm, einen Finger über die Lippen gelegt, dass er bitte leise sein sollte.

„Das klingt super. Dann sehen wir uns in zwei Wochen“, sagte sie nach einigen Augenblicken. „Ciao, mein Lieblingsonkel.“ Sie ließ das Gerät sinken und grinste ihn an. „Für den Fall, dass ich mich langweile, packst du am besten Monopoly ein. Das kann ich immer noch tagelang ohne Pause spielen.“

Nur zu gut erinnerte er sich an so manchen Spielmarathon, den Caro und Chris nur unter heftigem Protest für Mahlzeiten oder Nachtruhe unterbrochen hatten. Diese Phase war aber lange her, also machte er sich keine Sorgen, dass seine Tochter ihre Drohung in die Tat umsetzte.



Viel zu schnell gingen die folgenden beiden Wochen vorbei. Donnerstagabend traf Caro ein. Aus Jux hatte Daniel eine Monopoly-App auf sein Notebook geladen.

Als er sie seiner Tochter zeigte, schüttelte die den Kopf. „Mensch, Papa! Virtuell macht das doch keinen Spaß. Ich hole das richtige Spiel.“

Anscheinend spiegelte seine Miene Entsetzen, denn sie kicherte hämisch.

„Tja ... selbst schuld. Wenn du nicht rumgezickt hättest, hättest du mich nicht auf dem Hals.“ Sie stolzierte aus dem Wohnzimmer und kehrte mit dem Monopoly in der Hand zurück. Dem Karton sah man an, dass es häufig in Gebrauch gewesen war. „Das muss in deinen Koffer. Meiner ist voll.“

Am nächsten Tag starteten sie direkt nach Schulschluss, zusammen mit Mark und Isabelle, in Richtung Nordstrand. Sein Bruder saß am Steuer und raste wie ein Henker, damit sie das Schiff, das um halb drei ablegte, rechtzeitig erreichten.

Die Anreise mit dem Adler-Express – bislang kannte Daniel nur den Weg über Dagebüll – erwies sich als schnell und entspannt. Außer ihnen befand sich lediglich eine Handvoll weiterer Passagiere an Bord und die Fahrt dauerte nur neunzig Minuten.

In Wittdün stiegen sie in den auf dem Anleger stehenden Bus. Caro, die noch nie auf Amrum war, schaute gespannt aus dem Fenster, als das Fahrzeug sie in Richtung Nebel schaukelte.

„Nach Shopping-Vergnügen sieht das schon mal nicht aus“, stellte seine Tochter fest.

„Im Winter ist hier überall Klosett“, erwiderte Isabelle mit einem resignierten Seufzer. „Ich verstehe ja, dass die Insulaner auch mal Urlaub machen wollen, aber kundenfreundlich sieht anders aus.“

„Klosett?“, echote Caro mit einem Fragezeichen über der Stirn.

„Das ist Isabelles Version von closed“, erläuterte Mark.

An der Station Nebel Mitte stiegen sie aus. Isabelle und Caro gingen voraus, Daniel und sein Bruder bildeten die Nachhut.

„Sag mal ...“ Mark warf ihm einen Seitenblick zu. „Mir ist eingefallen, dass du damals, bevor Papa gestorben ist, fast jedes Wochenende hier oben warst. War das wirklich, um Surfen zu lernen?“

Warum sollte er seinen Bruder belügen? „Ich hatte hier was am Laufen.“

„Mhm, hab ich mir gedacht.“

Einige Schritte schwiegen sie, dann fragte Mark: „Hast du sie beim Biikebrennen wiedergetroffen?“

Daniel schüttelte den Kopf. Da es sich bei Peer um keinen ‚sie‘ handelte, war das nicht gelogen.

„Ich mochte Kara wirklich gern, aber manchmal hab ich gedacht, dass sie eigentlich gar nicht zu dir passt“, fuhr Mark fort. „Theater und Oper statt Hard Rock Konzerten und so.“

„Ach, das war eigentlich gar nicht so schlimm.“ Wenigstens, so lange die Kinder klein waren und im Zentrum seines Interesses standen.

„Jedenfalls wäre es schön, wenn du wieder jemanden findest.“ Abermals streifte Mark ihn mit einem Seitenblick. „Willst du gar nicht wissen, wie’s deiner Flamme von damals geht?“

„Manches sollte man ruhen lassen.“

Darauf erwiderte Mark nichts.

Die rustikale Fassade des Hotels Friedrichs trog: Innen war es komplett modernisiert. Daniel und Caro bekamen nebeneinander liegende Einzelzimmer, Mark und Isabelle gegenüber ein Doppelzimmer. Sie verabredeten sich für sechs Uhr im Restaurant.

Nachdem er seinen Rucksack ausgepackt hatte, klinkte er sich mit seinem Notebook ins Hotel-W-LAN ein. Wie an jedem Abend in den vergangenen zwei Wochen, ging er als erstes auf die Homepage der Familie Jessen. In der Fotogalerie gab es ein Bild, auf dem Peer lächelnd vor dem Haus posierte. Es anzugucken, weckte tiefe Sehnsucht. Ihm war bewusst, dass er sich damit selbst kasteite, dennoch musste er es immer wieder tun.

Als es klopfte, minimierte er die Seite, bevor er: „Ja?“, rief.

Caro schlenderte ins Zimmer und ließ sich aufs Bett plumpsen. „Wo geht man denn hier abends hin?“

„Da gibt’s nur die Blaue Maus, außer, es hat noch ein anderes Lokal aufgemacht, von dem ich nichts weiß.“

„Ist auch nicht wichtig. Wir sind ja zum Entspannen hier.“ Sie streckte beide Beine aus. „Bisher gefällt’s mir schon mal ganz gut.“

Das klang ja so, als ob er sich wegen einer Monopoly-Partie keine Sorgen machen brauchte. „Drehen wir vorm Essen eine Runde durch den Ort?“

„Au ja!“ Caro sprang auf. „Bin gleich wieder da.“

Kaum war die Tür hinter ihr zugefallen, klickte er die Homepage wieder auf. Ein frustrierter Seufzer stieg in seiner Kehle hoch. Warum hatte er damals nicht mit Peer gesprochen? Vielleicht hätte er dann eine Chance.

Es dämmerte, als er mit Caro das Haus verließ. Sie wandten sich nach links und wanderten die Straße runter. Historische Gebäude duckten sich neben Neubauten. Friesenwälle, wohin man auch sah. Ein sehr malerisches Dörfchen.

Damals hatte sich Daniel oft vorgestellt, wie schön es wäre, an solchem Ort zu leben. Inzwischen sah er die Sache nüchterner. Eine Insel, die in der Saison von tausenden Touristen überrollt wurde, war kein Paradies.

„Oh, guck mal!“, rief Caro und lehnte sich gegen seine Schulter. „Ist das nicht hübsch?“

Das reetgedeckte Friesenhäuschen, an dem die Jahreszahl 1860 in schmiedeeisernen Lettern prangte, war wirklich eine Augenweide. Rosenspaliere beidseitig der Haustür, blau gestrichene Fensterläden und Häkelgardinen hinter den Scheiben.

Sie gingen weiter, bis die Mühle in Sichtweite geriet, dann kehrten sie um. Zur verabredeten Zeit trafen sie wieder am Hotel ein.

Beim Essen erzählte Caro von ihrem Studium. Seine Tochter, eine Einser-Schülerin, hatte sich für Psychologie eingeschrieben. Daniel war stolz auf sie, genau wie auf Chris, ebenfalls ein Überflieger. Sein Sohn studierte Betriebswirtschaft und wollte sich später in Richtung Personalwesen spezialisieren.

Marks Vorschlag, noch in die Blaue Maus zu fahren, wurde von Caro und Isabelle begeistert aufgenommen. Am liebsten würde sich Daniel in sein Zimmer verkriechen, aber seine Tochter hätte bestimmt etwas dagegen. Mit Caro legte man sich besser nicht an. Man zog immer den Kürzeren. Vielleicht war seine Sorge, in der Kneipe Peer zu begegnen, eh unbegründet.

In der Blauen Maus war wenig los. Lediglich eine Handvoll Leute befand sich im Schankraum. Peer war nicht darunter, stellte Daniel erleichtert fest.

Sie ließen sich an einem der Tische nieder. Gerade hatten sie Getränke bestellt, da tauchte ein Pärchen auf, die Mark und Isabelle kannten. Die beiden gesellten sich zu ihnen. Es stellte sich heraus, dass sie aus Heidelberg stammten, wodurch sich eine Unterhaltung zwischen Caro und den zweien entspann.

Daniel hatte etwa die Hälfte seines Bieres getrunken, da entdeckte er einen strohblonden Schopf in einer Gruppe Neuankömmlinge. Sein Herz vollführte einen schmerzhaften Sprung. Rasch senkte er die Wimpern, um Peers Blick nicht zu begegnen.

4.

Außerhalb der Saison verirrten sich nur an den Wochenenden Touristen in die Blaue Maus. Auch an diesem Freitag saßen einige im Schankraum. Peer streifte sie lediglich mit einem Blick, doch eines der Gesichter veranlasste ihn, erneut und genauer hinzuschauen. War das etwa Daniel? Er blinzelte, doch der Eindruck blieb der Gleiche. Es war wirklich Daniel.

„... und ich sage zu der Kundin: Gute Frau, ich verkaufe nur frischen Fisch“, laberte neben ihm Jens, den er vor der Tür getroffen hatte. „Den habe ich heute Morgen persönlich vom Kutter abgeholt. Sie muss ja nicht wissen, dass mit Kutter die Fähre gemeint ist und frisch ist ein relativer Begriff.“

„Mhm-mhm“, machte Peer. Über zwanzig Jahre war es her, dass Arschloch-Daniel ihn eiskalt abserviert hatte. Trotz der langen Zeit loderte sein Zorn, als wäre es erst gestern passiert. Das Bedürfnis, hinzugehen und dem Mistkerl ein Veilchen zu verpassen, war so übermächtig, dass er die Hände zu Fäusten ballte.

„Gibst du einen aus, Chef?“, rief Mirko, einer von Jens‘ beiden Angestellten, die hinter ihnen das Lokal betreten hatten.

„Klar, so lange ihr die Finger von den harten Sachen lasst.“ Jens schubste ihn. „Hey, bist du festgewachsen?“

Peer realisierte, dass er zur Salzsäule erstarrt war und setzte sich wieder in Bewegung. Sein Ziel war einer der Barhocker.

Jens schwang sich auf den freien Platz neben ihm und stupste ihn mit dem Ellbogen an. „Du bist auch eingeladen.“

„Ich nehme ein Pils“, brummelte er, gedanklich weiter mit dem Riesenarschloch befasst. Was zog Daniel nach all den Jahren her? Du auf jeden Fall nicht, sonst würde er nicht krampfhaft weggucken, flüsterte es in seinem Schädel. Er macht Urlaub, du Blödmann. Mehr wird nicht dahinterstecken. War das Mädel Daniels Freundin? Oder die Frau daneben seine Gattin?

„Du guckst aus der Wäsche, als hättest du einen Geist gesehen.“ Jens musterte ihn von der Seite. „Alles okay bei dir?“

„Hab eben mit meiner Schwester telefoniert.“ Nach solchen Telefonaten, das wusste sein Nebenmann, war er stets mies drauf.

„Oh Mann! Sag das doch gleich. Ich lass dich ja schon in Ruhe.“ Jens wandte sich den anderen beiden, die sich ebenfalls am Tresen niedergelassen hatten, zu.

Über Jette und deren Bitte musste er später grübeln. Momentan beherrschte Daniel seine Gedanken. Die Frage nach dem Warum hatte ihn damals wahnsinnig gemacht. Stück für Stück war er im Geiste jeden gemeinsamen Augenblick durchgegangen, um den Grund für Daniels Verhalten zu finden. Vergeblich.

Dass etwas nicht stimmte, war ihm erst klargeworden, als trotz all seiner Nachrichten, Funkstille herrschte. Per Ghosting aufs Abstellgleis verfrachtet zu werden, toppte ja sogar noch Schlussmachen per SMS. Bei letzterem wusste man wenigstens, dass man abserviert worden war.

Als er irgendwann auf die Idee kam, Daniel von einer anderen Nummer aus anzurufen, rebellierte sein Stolz. Wie erbärmlich war es denn -bitteschön -, jemandem hinterherzulaufen, der nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte? Das hatte ihn nicht davon abgehalten, jeden Freitag um die Zeit, wenn die Fähre eintraf, mit der Daniel sonst angekommen war, zum Anleger zu fahren und nach ihm Ausschau zu halten.

Rund ein Jahr hatte es ihn gekostet, mit der Sache abzuschließen. So lange dauerte es zu akzeptieren, dass das, was er für besonders und kostbar hielt, für Daniel bloß eine Sommeraffäre gewesen war. Er hatte sich vorgenommen, sollten sie sich je wiedersehen, kein Wort mit dem Arschloch zu wechseln.

„Wie wäre es mit ’nem Tequila?“, schlug Jens vor. „Um den Ärger runterzuspülen.“

Peer schüttelte den Kopf. „Lass mal. Es geht schon wieder.“

„Was wollte Jette denn?“

„Ihre Tochter ist schwanger. Sie verlangt, dass ich Mareike bei mir aufnehme, bis das Kind da ist.“

„Wieso das denn?“

„Offizielle Begründung: Saubere Luft und Ruhe ist besser für das ungeborene Kind als der Lärm und Dreck in Flensburg. Ich nehme aber eher an, dass sie Mareike loswerden will. Meine Nichte ist bei ihrem Lover rausgeflogen und wieder bei Jette eingezogen.“

„Was für eine Rabenmutter.“

„Raben sind fürsorgliche Eltern“, widersprach Peer.

„Ich weiß. Und? Wirst du deine Nichte herholen?“

„Darüber denke ich noch nach. Ich könnte Hilfe gebrauchen. Problem ist nur: Wo bringe ich sie unter? Ins Kellerloch kann ich sie nicht stecken.“

Jens, sieben Jahre jünger als er, war ebenfalls auf Amrum aufgewachsen und kannte die räumlichen Verhältnisse, unter denen Kinder auf der Insel litten. Für zahlende Gäste mussten viele während der Hochsaison in unterirdische Quartiere ausweichen.

Jens, einziger Nachkomme des Ehepaars Jessen, die ihrem Sohn die Fischbörse in Wittdün vererbt hatten, war circa zehn Jahre auf dem Festland gewesen. Um das Erbe anzutreten, war er vor rund zwölf Monaten zurückgekehrt. Seitdem bildeten sie eine – wie Jens es ironisch bezeichnete – saisonale Fickgemeinschaft. Das bedeutete, dass sie in den Zeiten, in denen wenige Touristen auf der Insel waren, miteinander vögelten. Im Sommer, wenn es vor Urlaubern nur so wimmelte, bediente sich Jens an dem reichlich vorhandenen - auch seine Wortschöpfung - Fremdfleisch.

„Dann widme doch eines deiner Appartements um. Das ist neuerdings Trend. Ich hab von mindestens drei Vermietern gehört, dass sie von Feriengästen auf Ortsansässige umsteigen wollen.“

„Alles nur Lippenbekenntnisse. Ich glaube nicht, dass die auf ihre gewohnten Einkünfte verzichten werden.“

Jens zuckte mit den Achseln. „Kann sein. Jedenfalls solltest du darüber mal nachdenken. Mareike ist schließlich deine Familie.“

Hinzukam, dass er die Kleine echt mochte. Na ja, klein war sie inzwischen nicht mehr. „Für dieses Jahr bin ich fast ausgebucht. Ich könnte höchstens selbst in den Keller ziehen und ihr meine Wohnung überlassen.“

Jens tätschelte seine Schulter. „Das würde dir Karmapunkte einbringen.“

Peers Handy vibrierte in seiner Gesäßtasche. Er zog es hervor und guckte aufs Display. Mareike hatte ihm eine Nachricht geschickt: „Bitte, hol mich hier raus!“ Seufzend verstaute er es wieder in seiner Hosentasche. Es sah ganz danach aus, als ob er eine ganze Weile unter der Erde hausen musste.

Jens hatte sich Mirko und Lukas zugewandt. Den unbeobachteten Moment nutzte er, um rüber zu Daniel zu spähen. Just im selben Augenblick guckte der in seine Richtung. Peer bemühte sich um eine verächtliche Miene, was anscheinend klappte, denn Daniel sackte förmlich in sich zusammen und senkte die Wimpern. Das verschaffte ihm perfide Genugtuung.

Er winkte dem Barkeeper und hielt sein leeres Glas hoch. „Und einen Tequila.“

„Für mich auch“, schloss sich Jens an.

„Ich glaube, ich tu’s.“

„Was?“

„Meine Nichte aufnehmen.“

„Bravo! Hast du nicht auch noch einen Neffen?“

„Hör bloß auf mit dem! Jon ist ein Nichtsnutz und findet hoffentlich irgendwann eine Frau, die ihn finanziert. Ich bin froh, wenn ich von dem nichts höre.“

„Vielleicht braucht er einfach länger zum Erwachsenwerden.“

„Der muss einfach mal richtig auf die Fresse fliegen. So lange seine Oma ihn unterstützt, wird das aber nichts.“

„Oma?“, echote Jens mit verständnisloser Miene.

„Jettes Schwiegermutter. Die ist zu gut für diese Welt.“

„Omas sind toll. Ich wünschte, ich hätte noch eine.“

„Meine ist auch zu früh gestorben.“ Und seine Mutter ebenfalls. Sie war mit neunundsechzig tot umgefallen. Herzinfarkt. Er hatte das gesamt Anwesen geerbt, seine Schwester nur ihren Pflichtteil. Jette und seine Mutter waren nicht gut miteinander ausgekommen. Weil die Grundstückspreise auf Amrum exorbitant hoch waren, würde er noch eine Weile daran knabbern, Jette auszubezahlen.

Als die bestellten Getränke vor ihnen standen, prosteten sie einander zu und kippten den Tequila in einem Zug runter. Das Brennen in seiner Kehle war wohltuend. Es half aber nicht gegen das dumpfe Gefühl in seinem Bauch, das beim Blickkontakt mit Daniel aufgekeimt war.

Nach dem dritten Bier brach Peer auf. Jens Vorschlag, die Nacht gemeinsam zu verbringen, lehnte er ab. Ihm war nicht nach Sex zumute.

Auf dem Weg nach draußen vermied er es, in Richtung Daniel zu schauen.

Die Nacht war sternenklar. Bevor er in seinen Wagen stieg, schaute er einige Momente nach oben. Als Kind hatte er sich immer, wenn er eine Sternschnuppe sah, etwas gewünscht. Manchmal war es in Erfüllung gegangen, wie beispielsweise die Lego-Figur, die er so dringend haben wollte und zu Weihnachten tatsächlich bekommen hatte. Leider entdeckte er keine am Himmelszelt. Egal. Sein größter Wunsch würde sowieso niemals erfüllt werden.

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Tag der Veröffentlichung: 11.01.2024

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