Cover

Fucking Christmas 2

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.


Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Fotos: shutterstock_85299070

Cover-Design: Lars Rogmann

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

https://www.sissikaipurgay.de/


Junggesellenversteigerung

Marlon hasst seinen Ex, der ihn nach Strich und Faden betrogen hat. Auf der Weihnachtsfeier seiner Firma kommt es zu einer überraschenden Begegnung

1.

Eigentlich ging Marlon nie zu Weihnachtsfeiern. Es wurde zu viel getrunken. Man traf vorwiegend nervige Kollegen. Das Programm war meist langweilig. Im schlimmsten Fall gab es einen Dresscode.

Da die diesjährige Feier aber im Hotel Atlantic stattfand und er die Location unbedingt mal von innen sehen wollte, nahm er – trotz Anzugpflicht – teil. Zudem versprach das Menü einen Gaumengenuss und das Programm nicht allzu langweilig zu werden.

Im Smoking, der nach einem Event vor etlichen Jahren unbenutzt in seinem Schrank gehangen hatte, betrat er also um sieben das Hotel. Im Foyer stieß er auf Herbert. Der Kollege arbeitete im Controlling und bombardierte ihn stets mit Forderungen um nähere Erklärungen zu Buchungen. Bedauerlicherweise waren dadurch ein paar Flüchtigkeitsfehler ans Tageslicht gekommen. Wo gehobelt wurde, fiel eben Späne. Herbert neigte dazu, auf solchen winzigen Abweichungen rumzuhacken.

„Gut, dass ich dich treffe“, sprach Herbert ihn an. „Ich wollte dich vorhin sprechen, aber du warst schon weg.“

Der Kollege gehörte zu denen, die Freitagsnachmittags noch im Büro hingen. Die meisten machten an diesem Tag eher Feierabend.

„Auf dem Bewirtungskonto ist eine Buchung über 7,98 Euro. Auf dem dazugehörigen Beleg – ich hab mir den Scan angesehen – steht aber 7,99. Hast du der Buchung vielleicht die falsche Rechnung zugeordnet?“, redete Herbert weiter.

Möge der Blitz den Blödmann beim Scheißen treffen! „Reicht es, wenn ich das Montag prüfe? Oder soll ich das gleich machen?“

Gönnerhaft winkte Herbert ab. „Montag reicht.“

Marlon schlenderte weiter.

Bei EOS Technologie waren deutschlandweit 1.500 Leute beschäftigt, davon rund 500 in Hamburg. Entsprechend entdeckte er nur hier und da ein bekanntes Gesicht. Als er Paula, die auch in der Buchhaltung arbeitete, erblickte, gesellte er sich zu ihr.

„Sehr hübsches Kleid“, lobte er ihr Outfit.

„Danke.“ Sie verdrehte die Augen. „An einer anderen Frau würde es bestimmt toll aussehen.“

„Es steht dir wirklich gut.“ Einer so lieben Kollegin gegenüber benutzte er gern eine Lüge, wenn er sie damit erfreute.

„Was wollte denn der Erbsenzähler von dir?“, erkundigte sie sich.

Er war nicht der einzige, den Herbert nervte. „Ach, das übliche. Er hat einen Cent gefunden.“

„Sexuelle Frustration muss schlimm sein.“ Paula seufzte übertrieben. „Samenstau verstopft das Gehirn, was zu solchen Auswüchsen führt.“

Wenn es danach ginge, müsste bei ihm ebenfalls Pfennigfuchserei ausgebrochen sein. Sein Liebesleben lag schon eine ganze Weile brach. „Ich dachte, er ist verheiratet.“

„Ist er auch, was aber nicht heißt, dass er regelmäßig ran darf.“ Sie hakte sich bei ihm unter. „Lass uns mal gucken, ob wir das Buffet finden.“

In dem riesigen Speisesaal herrschte eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse. An drei Seiten standen lange Tafeln, die sich unter der Last der angebotenen Gerichte bogen. Die Tische in der Nähe der Buffets waren alle belegt. Menschen hielten sich eben gern in unmittelbarer Nachbarschaft zu Essbarem auf.

Er führte Paula zu einem der freien Plätze im mittleren Bereich. Kaum saßen sie, tauchte ein Kellner auf und fragte nach ihren Getränkewünschen. Zur Auswahl standen zwei Sorten Wein, Bier und Softdrinks. Karaffen mit Wasser, still und mit Sprudel, befanden sich bereits auf dem Tisch.

Als sie versorgt waren, prostete er Paula mit seinem Weinglas zu und ließ den Blick umherschweifen. Ramona, die im Empfang arbeitete, saß mit zwei Herren aus der Führungsriege an einem Tisch. Man munkelte, dass sie sich quer durch die Chefetage schlief. Ihrer Karriere nützte das offenbar nichts. Sie hockte weiterhin im dunklen Erdgeschoss hinterm Tresen.

Rasch füllte sich der Saal. Die Türen zum Gang wurden geschlossen, das Licht gedimmt. Drei Herren – die beiden, die bei Ramona gesessen hatten sowie der oberste Chef – bezogen vor dem Buffet an der Stirnseite des Raumes Aufstellung. Marlon wusste nur, um wen es sich handelte, weil deren Fotos auf der Internetseite des Unternehmens prangten.

Jemand reichte dem obersten Chef ein Mikro. Schlagartig verstummten alle Gespräche, als ein Scheinwerfer aufflammte und den Mann in gleißendes Licht tauchte.

Die folgende Rede nahm er nur mit halbem Ohr auf. Es war eh immer das Gleiche. Lobende Worte über die Motivation der Mitarbeiter, ein paar Fakten zur Geschäftsentwicklung, ein bisschen Blabla.

„... und erkläre hiermit das Buffet für eröffnet“, vernahm er das erlösende Ende der Litanei.

Im Nu bildeten sich Schlangen vor den drei Tafeln. Man könnte meinen, es handele sich um die Speisung von Verhungernden. Auch Paula eilte davon. Plötzlich saß er allein am Tisch. Weil er keine Lust hatte, an der Massenveranstaltung teilzunehmen, wartete er geduldig, bis die meisten zu ihren Plätzen zurückgekehrt waren, bevor er sich mit Essen versorgte.

„Ich bin gespannt ...“, sagte Paula zwischen zwei Bissen. „... wer sich für die Junggesellenversteigerung meldet.“

Ein Programmpunkt war, Spenden für ein gemeinnütziges Projekt mittels einer Versteigerung zu sammeln.

„Ich hab überlegt, ob ich mich dafür bereitstelle.“ Marlon besaß eine gemeinnützige Ader. Es tat ja nicht weh, einen Abend in Gesellschaft einer Dame zu verbringen, zumal die Firmenleitung die Spesen übernahm.

„Das würdest du tun?“, staunte Paula.

Er zuckte mit den Achseln. „Klar. Wahrscheinlich will mich sowieso keine haben.“

Zumindest in seinem Umfeld wussten alle darüber Bescheid, dass er auf Männer stand.

„Och, ich würde dich schon ersteigern, aber mein Budget reicht für sowas nicht aus.“

Marlon zwinkerte ihr zu. „Vielleicht bekommst du mich für zwanzig Euro.“

„Dann wäre ich sofort dabei.“ Sie grinste ihn an und stopfte sich den nächsten Happen in den Mund.

„Ich mache auch mit“, mischte sich einer der Typen, die ihnen gegenüber saßen, ein. „Wer weiß? Vielleicht wird aus dem Date mehr.“

Marlon musterte den Mann, der nicht so aussah, als ob er Schwierigkeiten bei der Partnersuche hätte. Andererseits galt das ebenfalls für ihn. Seit der Sache mit Tristan war er vom Pech verfolgt.

„Oder du erwischst eine fette Matrone, die dir an die Wäsche will.“ Der Typ, der den Platz neben dem Mann innehatte, grinste dreckig.

„Ich kann mich wehren“, lautete die Erwiderung.

„Gibt es eine fette Matrone in der Firma?“, wandte sich Marlon leise an Paula. Sie war seit über fünfzehn Jahren bei EOS, entsprechend kannte sie fast die ganze Belegschaft.

„Es gibt die eine oder andere adipöse Kollegin. Die sind aber alle zu jung, um als Matrone zu gelten.“

So lange eine Frau freundlich zu ihm war, war’s ihm eh egal, wie sie aussah.

Der Rest der Mahlzeit verstrich mit oberflächlichem Geplauder. Was sollte man auch mit Leuten reden, die man höchstens einmal pro Jahr traf?

Sie schlossen sich dem Strom, der den Saal verließ, an. Es ging in einen weiteren, in dem eine Bühne nebst Tanzfläche aufgebaut war. Stehtische säumten die Wände. Wieder schwärmten Kellner aus, um Getränke auszuschenken.

Nachdem der ständige Fluss durch die Saaltür verebbt war, wurde selbige geschlossen. Scheinwerfer leuchteten auf.

Erneut griff der oberste Chef zum Mikro. „Ich freue mich, dass wir den großartigen Comedian Mirko Schneider für den heutigen Abend gewinnen konnten. Im Anschluss darf das Tanzbein geschwungen werden. Für Musik sorgt DJ Ferdinand Pudlich. Ich wünsche allen viel Vergnügen.“

Der großartige Comedian war wirklich klasse. Mehr als einmal lachte Marlon über die spitzfindigen Bemerkungen. Er fand es schade, dass der Auftritt nur eine halbe Stunde dauerte.

Danach betrat der DJ die Bühne. Auf den ersten Blick wirkte der Typ, mit dem karierten Jackett und der Hornbrille, wie die Reinkarnation von Gottlieb Wendehals. Schaudernd sah sich Marlon im Geiste als Teil einer Polonäse durch den Raum hüpfen. Gottseidank täuschte das: Pudlichs Repertoire bestand aus Swing und Rock ‘n Roll. Ein paarmal führte er Paula übers Parkett, sogar ohne ihr auf die Füße zu treten.

Gegen halb zehn legte der DJ eine Pause ein.

Diesmal schnappte sich einer der unteren Chefs das Mikro. „Wir kommen nun zum gemeinnützigen Teil des Abends. Gibt es Freiwillige für die Junggesellenauktion?“

Paula verpasste ihm einen Schubs. „Das ist dein Zeichen.“

Er leerte sein Weinglas, bevor er sich zur Bühne begab. Dort standen bereits sein ehemaliger Tischgenosse, Herbert und ein Typ, der in der EDV-Abteilung arbeitete. Marlon erkannte den Mann anhand des Bartes, der zu einem Zopf geflochten war.

„Ich dachte, du bist verheiratet“, richtete er das Wort an Herbert.

„Noch ja, aber bald nicht mehr.“

„Mögen sich die Herren zu mir gesellen?“, bat der untere Chef.

Im Gänsemarsch betraten sie die Bühne und stellten sich in einer Reihe auf.

„Mein lieber Kollege Doktor Martens wird die Auktion leiten. Der Höchstbietende gewinnt ein Abendessen im Vier Jahreszeiten mit dem jeweiligen Kandidaten. Die erwirtschafteten Spendengelder werden von EOS verdoppelt und an den Verein Straßenkids, der sich um ebensolche kümmert, weitergereicht. Dank dieser Organisation konnten schon etliche Kinder vor einem traurigen Schicksal bewahrt werden“, sprach der Unterchef ins Mikrophon. „Seid also großzügig. Ihr sammelt damit Karmapunkte.“

Im Grunde wäre es einfacher, wenn EOS das Geld, das für die Abendessen draufging, direkt an den Verein geben würde. Dann könnte man sich die Auktion sparen. So war es aber natürlich weitaus werbewirksamer, weil es alle Anwesenden über die Wohltätigkeit der Firma unterrichtete. Diese Gedanken gingen Marlon durch den Kopf, als er den Worten lauschte.

Als erstes war der EDV-Typ dran. Eine Dame in Rot bot hundertfünfzig Euro und erhielt den Zuschlag. Herbert erwirtschaftete nur siebzig Euro. Dann musste Marlon nach vorne treten. Ramona bot fünfzig.

Paula schien verrückt geworden zu sein, denn sie rief: „Fünfundsiebzig!“

„Fünfhundert“, erklang eine Stimme, von der er gehofft hatte, sie nie wieder zu hören.

Geblendet von dem grellen Licht scannte er die Gästeschar. Es war einfach, den Bieter ausfindig zu machen, denn viele Kollegen starrten selbigen an. Tatsächlich war es Tristan. Die Hoffnung, dass jemand seinen Ex überbot, blieb vergebens.

„Fünfhundert zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten“, rief Doktor Martens und schlug mit einem Holzhammer auf das Pult, das man für diesen Zweck auf die Bühne gestellt hatte. „Bitte melden Sie sich nach Auktionsende bei mir, damit wir die Formalitäten erledigen können.“

Niemals würde er mit Tristan irgendwohin gehen! Eher fror die Hölle zu! Und was machte das Arschloch überhaupt hier?

Für seinen ehemaligen Tischgenossen bot eine Dame in schwarz hundertsiebzig Euro. Anschließend versammelten sie sich um Doktor Martens, der den weiteren Ablauf erklärte. Er hörte kaum hin, sondern erdolchte Tristan mit Blicken, was dieser mit einem Lächeln quittierte. Mistkerl! Anscheinend war das Arschloch später zu der Veranstaltung gestoßen, denn sonst hätte er seinen Ex schon eher entdeckt und sofort das Weite gesucht.

Tristan stellte sich neben ihn, damit sie, wie die anderen Kandidaten, ihre Kontaktdaten austauschen konnten.

„Was machst du hier?“, zischte Marlon.

„Ich arbeite seit einigen Monaten im Marketing.“ Tristan, ein Smartphone in der Hand, fuhr fort: „Ist deine Handynummer noch die alte?“

Er nickte.

Tristan steckte das Handy zurück in die Jackett Innentasche. Trotz allem kam Marlon nicht umhin anzuerkennen, wie fantastisch sein Ex im Smoking aussah.

„Falls du kneifen willst: Denk daran, dass Ehrenschulden immer zu begleichen sind“, redete Tristan weiter.

„Herr Gutscheidt?“, schaltete sich Doktor Martens ein. „Ich benötige noch Ihre Unterschrift unter dem Schuldschein.“

Marlon nutzte die Gelegenheit, um die Bühne zu verlassen. Zurück bei Paula ließ er sein Glas neu füllen und stürzte den Inhalt in einem Zug runter.

„Kennst du den Kollegen, der dich ersteigert hat?“, erkundigte sie sich. „Der Typ ist ja der Hammer!“

Das stimmte. Tristan war sehr attraktiv. Leider auch promiskuitiv. Aufgeflogen war das Ganze, als der Arsch Feigwarzen mit nach Hause brachte. Es hatte ewig gedauert, den Scheiß wieder loszuwerden. Tristan loszuwerden, war hingegen sehr schnell gegangen. Marlon hatte das fremdgängerische Arschloch noch am selben Tag vor die Tür gesetzt. Seitdem herrschte Funkstille.

„Wir haben mal in der gleichen Firma gearbeitet“, antwortete er. „Ich hau ab. Hab genug für heute.“

„Schon?“ Paula schmollte. „Ich dachte, wir tanzen nochmal zusammen.“

„Sorry, aber ich hab Kopfschmerzen.“

„Du Armer.“ Sie streichelte seinen Arm. „Dann bis Montag und gute Besserung.“

2.

Als er Doktor Wagners Dokument unterschrieben hatte, schaute sich Tristan nach Marlon um. Er entdeckte ihn an einem der Stehtische. Sollte er noch heute um ein Gespräch bitten? Nein, lieber nicht. Marlon musste sich erstmal an den Gedanken gewöhnen, dass sie sich bald treffen würden.

Er kehrte zu seinem Kollegen Dirk, ebenfalls Marketing, zurück.

„Du bist der Held des Abends“, meinte Dirk. „Dein ersteigerter Kandidat sah aber nicht begeistert aus.“

„Das ist noch milde ausgedrückt.“ Tristan seufzte.

„Verstehe ich nicht. Du bist doch gar nicht so hässlich.“ Dirk lachte.

„Blödmann.“ Er sah, wie Marlon in Richtung Ausgang strebte. „Ich verschwinde. Wir sehen uns Montag.“

„Mach’s gut.“ Dirk klopfte ihm auf die Schulter.

Entgegen seinem Vorsatz, Marlon in Ruhe zu lassen, beeilte er sich, seinem Ex hinterher zu laufen. Im Foyer holte er ihn ein.

„Hey! Warte doch mal!“, stieß er hervor, woraufhin Marlon noch schneller ging.

Draußen, vor der Tür, überholte er Marlon und stellte sich ihm in den Weg. „Weglaufen ist keine Lösung.“

„Fremdgehen auch nicht“, spie Marlon ihm entgegen.

„Mann, es sind sieben Jahre vergangen. Da solltest du allmählich drüber weg sein.“ Kaum waren die Worte raus, bereute er sie. „Tut mir leid. Der Spruch war dämlich.“

„Ich will nichts mit dir zu tun haben. Nie wieder!“ Marlon schubste ihn beiseite und marschierte weiter.

„Ich hol dich Montag um halb eins zum Mittagessen ab“, rief Tristan ihm nach.

Als Antwort zeigte Marlon ihm den Stinkefinger.

Schmunzelnd, weil er mit dieser Reaktion gerechnet hatte, wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung.

Damals, nach seinem Rauswurf aus der gemeinsamen Wohnung, war er unsanft in der Realität gelandet. Bis dahin hatte er seine gelegentlichen Seitensprünge als Lappalie angesehen. Sex mit einem anderen zu haben bedeutete doch nicht, den Partner weniger zu lieben.

Seine Versuche, mit Marlon darüber zu reden, waren vergeblich. Sein Ex hatte ihn auf allen Kanälen blockiert und ihre gemeinsamen Freunde instruiert, sie niemals zusammen einzuladen. In der Firma – sie arbeiteten in der gleichen – ging Marlon ihm aus dem Weg und wechselte kurz darauf in eine andere.

Es blieb Tristan also nichts anderes übrig, als die Trennung zu akzeptieren.

Im Laufe der Jahre stellte er fest, dass kein Mann Marlon das Wasser reichen konnte. Wie auch, wenn sein Herz weiterhin an seinem Ex hing? Im Grunde hatte keiner der Typen eine Chance.

Als er sich bei EOS bewarb hatte er gewusst, dass Marlon dort arbeitet. Trotz der Kontaktsperre war er stets auf dem Laufenden gewesen. Irgendwie hatte er es immer geschafft, aus gemeinsamen Freunden ein paar Infos raus zu kitzeln. Daher war ihm auch bekannt, dass Marlon derzeit solo durchs Leben ging.

Sein ursprünglicher Plan hatte darin bestanden ... na ja, eigentlich gab es gar keinen Plan. Er wollte sich unter die Kollegen mischen und schauen, ob er mit Marlon ins Gespräch kam. Dass jener an der Versteigerung teilnahm, war glückliche Fügung. So war Marlon gezwungen, mit ihm essen zu gehen. Sollte sich sein Ex weigern, würde er die Geschäftsleitung einschalten. In mancherlei Hinsicht kannte er noch immer keine Hemmungen. Was Seitensprünge betraf, hatte er allerdings seine Lektion gelernt. Anonymer Sex war es nicht wert, dafür eine Beziehung aufs Spiel zu setzen.

Sein Weg führte zum Lila Leguan, seiner Stammkneipe, da er noch keine Lust hatte, nach Hause zu gehen. Vor zwei Jahren hatte der Eigentümer das Lokal verkauft. Seitdem wehte ein frischer Wind. Der neue Besitzer hatte den gesamten Laden umgekrempelt. Viele Gäste vermissten den etwas schäbigen Charme der vorherigen Einrichtung. Tristan hingegen war der Meinung, dass eine Veränderung schon lange notgetan hatte. Insbesondere die Toiletten waren stark sanierungsbedürftig gewesen.

Am Tresen: die üblichen Verdächtigen. Hinnerk, Tom und Sebastian gehörten praktisch zum Inventar.

Er ließ sich neben Hinnerk nieder und winkte Malte, der heute hinter der Bar stand, zu. „Ein Pils, bitte.“

„Auch mal wieder im Land?“, brummelte Hinnerk. „Warst du auf einer Pinguin-Party?“

„Richtig geraten.“

Sebastian, der ihn von der Seite beäugte, meinte anerkennend: „Geiles Outfit.“

„Merci. Es hat mich Stunden gekostet, die Scheiß Fliege zu binden.“ Er löste den Knoten, so dass die Bänder lose herabhingen.

„Deshalb trage ich meinen Smoking nie.“ Hinnerk, der stets in kariertem Hemd und Cordhose rumlief, lachte wiehernd.

Malte stellte ein Glas vor ihm ab. „Zahlste gleich oder machste ’n Deckel?“

Wortlos legte er einige Münzen auf die Theke, trank einen großen Schluck und zückte sein Smartphone. Im Nu hatte er die Überweisung an EOS erledigt. Somit war ihm das Abendessen mit Marlon sicher.

„Da hinten sitzt dein Typ.“ Mit dem Kinn wies Hinnerk in Richtung eines Gastes, der Ähnlichkeit mit Marlon aufwies. Braunes Haar, schmales Gesicht. Da hörte es aber auch schon auf.

„Kein Interesse. Bin monogam geworden“, erwiderte Tristan.

„Ach ja?“ Hinnerk warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Bist du frisch verknallt?“

„Eher alt verknallt. Hab eben Marlon getroffen.“

Damals war sein Ex ein paarmal mit ihm in den Lila Leguan gegangen, daher war der Name den Stammgästen ein Begriff. Marlon mochte das Lokal aber nicht. Später hatte er es also allein aufgesucht und manchmal die Gelegenheit für einen Fick genutzt.

„So? Ich dachte, er hat dich aus seinem Leben gestrichen.“

„Hat er auch, aber ich schmuggele mich gerade wieder rein.“

Hinnerk prustete. „Du bist echt ein harter Brocken.“

Er zuckte mit den Achseln. „Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.“

„Apropos ...“ Hinnerk rutschte vom Hocker. „Ich bin mal kurz weg.“

Tristan guckte zu, wie Hinnerk einem kleinen Blonden in Richtung Toilette folgte. Es war zu einfach. Ein Blick reichte und schon war man sich einig. Er hatte gehört, dass Heteros hingegen mit erheblichen Problemen bezüglich Sex kämpften. Selbst wenn eine Frau durch Kleidung oder Benehmen signalisierte, bereit dazu zu sein, entsprach das noch lange nicht den Tatsachen. Er verstand das nicht und war froh, dass ihm derartiges erspart blieb. Es gab zwar auch unter den Typen Schwanzfopper, doch die waren eindeutig in der Minderzahl.

„Hab ich eben richtig gehört? Du willst das mit deinem Ex wieder aufwärmen?“, meldete sich Tom zu Wort.

Tristan nickte.

„Damit hab ich nur schlechte Erfahrungen gemacht. Ich würde das nicht tun.“

„Ich muss eigene Erfahrungen sammeln. Für mich ist es das erste Mal.“

„Das erste Mal?“, echote ein Typ, der neben ihm auftauchte und ihn verführerisch angrinste.

„Vergiss es. Kein Interesse“, verscheuchte er den Kandidaten, der daraufhin Leine zog.

„Boah! Bist du grob!“, schimpfte Tom. „Vielleicht wollte der sich bloß unterhalten.“

„Klar. Und im Himmel ist Jahrmarkt.“ Er leerte sein Glas, stand auf und nickte Sebastian und Tom zum Abschied zu. „Bis bald mal wieder.“

Auf dem Weg zur Bahnstation dachte er über Toms Aussage nach. Ein Körnchen Wahrheit steckte darin. Marlons Verhältnis zu ihm war belastet durch seinen Vertrauensbruch. Irgendwie musste er beweisen, dass er sich geändert hatte. Dazu benötigte er Marlons Kooperation.



Einen Termin für das Abendessen konnte er erst am Montag verabreden. Doktor Wagners Assistentin koordinierte nämlich die Buchungen. Das wusste Marlon wahrscheinlich nicht. Kurzerhand reservierte Tristan am nächsten Vormittag einen Tisch im Vier Jahreszeiten. Dann wählte er Marlons Nummer. Eine elektronische Stimme unterrichtete ihn, dass der Teilnehmer nicht erreichbar wäre und er eine Nachricht hinterlassen konnte. Also war er weiterhin gesperrt.

Mit seinem Festnetzanschluss hatte er mehr Glück. Marlon meldete sich nach dem dritten Klingeln. „Stein.“

„Hi, hier ist Tristan. Heute Abend gehen wir ins Vier Jahreszeiten.“

Stille, dann erwiderte Marlon: „Heute?

„Der Tisch ist für sieben Uhr reserviert. Soll ich dich abholen?“

„Nein. Wir treffen uns dort. Ciao.“

Das war ja einfacher gelaufen als gedacht. Er hatte damit gerechnet, Marlon drohen zu müssen.

Gemütlich auf der Couch zurückgelehnt, beide Beine ausgestreckt, gab er sich Tagträumen hin. Marlon war ein Kuschler, wie er im Buche stand. Jede Nacht hatten sie in Löffelchenstellung geschlafen. Anfangs, nach der Trennung, war es ihm schwergefallen, ohne diese Nähe zur Ruhe zu kommen. Auch der Sex mit Marlon hatte ihm gefehlt; die Intimität, die ihrem Akt stets innewohnte. Mit Marlon zu vögeln war ganz anders, als irgendeinen Typen zu ficken. Das zweite war nur geil, das erste mehr als das.

Und warum hast du dann fremdgevögelt?, fragte er sich. Weil du schwanzgesteuert warst, gab er sich selbst die Antwort. Damals war sein erster Gedanken morgens und der letzte abends Sex. Vielleicht eine spätpubertäre Phase. Nach normalen Maßstäben sollte man mit Mitte zwanzig nicht unter sowas leiden, aber wer entsprach schon der Norm?

Jedenfalls hatte er, als der Honeymoon mit Marlon vorbei war, sie nicht mehr dreimal täglich übereinander hergefallen waren, angefangen, sich nach anderen umzugucken. Zuerst blieb es dabei. Schließlich war er in einer festen Beziehung. Seine Standfestigkeit wankte jedoch, je öfter ihm eindeutige Angebote gemacht wurden. Schlussendlich hatte sein Schwanz gesiegt.

Nachdem er es einmal getan und Marlon nichts gemerkt hatte, empfand er das als Freifahrtschein. Spätpubertäre Geilheit ging wohl mit spätpubertärer Dummheit einher.

Wer ihm die Feigwarzen angehängt hatte und wie das geschehen konnte, entzog sich seiner Kenntnis. Natürlich vögelte er nur mit Gummi. Im Grunde war er froh, dass dadurch sein Treiben ans Tageslicht kam, denn sein schlechtes Gewissen wog schwerer und schwerer. Allerdings hatte er darauf gehofft, dass sie miteinander redeten und Marlon ihm verzieh. Tja – dumm gelaufen.

Er stellte das Telefon zurück in die Ladestation und begab sich ins Schlafzimmer, um ein Outfit fürs Abendessen auszusuchen. Es durfte nicht nach Aufreißer aussehen, aber auch nicht zu bieder. Ein schwieriges Unterfangen.



Um halb sieben brach er auf. Zum Jungfernstieg, wo das Hotel lag, waren es nur wenige Stationen mit dem Zug, daher hatte er darauf verzichtet, ein Taxi zu rufen.

Es war bereits dunkel. Nieselregen fiel. Tristan schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch, zückte sein Smartphone und checkte im Gehen, wann die nächste S-Bahn fuhr. Mist! Erst in zwanzig Minuten!

Er drehte um, ohne von dem Gerät aufzuschauen. Ein Schatten huschte auf ihn zu. Etwas prallte gegen ihn, dermaßen heftig, dass es ihn hochschleuderte. Dann landete er auf dem Boden und alle Lichter erloschen.

Als sie wieder aufleuchteten, schwebte ein unbekanntes Gesicht über ihm. In dem flackernden Blaulicht, das von irgendwoher kam, wirkte es gespenstisch.

„Nicht bewegen“, sagte der zu dem Gesicht gehörende Mund.

„Muss ... Taxi ...“, brachte er hervor, ehe ihn erneut Schwärze umfing.

Als er das nächste Mal zu sich kam, lag er auf einer Trage und befand sich, wie er an der Einrichtung erkannte, in einem Krankenwagen. Sein Schädel schmerzte höllisch. Vorsichtig bewegte er Finger und Zehen. Alle funktionierten. Dazu, Arme und Beine zu testen, fehlte ihm die Kraft.

Wenig später schob man ihn in die Notaufnahme eines Krankenhauses. Grelles Neonlicht stach ihm in die Augen, weshalb er sie schloss. Unversehens fielen ihm einige Dinge ein. Es war ein E-Scooter, der auf ihn zugeschossen war. Was hatte das Ding auf dem Bürgersteig zu suchen? Marlon! Scheiße! Marlon saß im Hotel Vier Jahreszeiten und wartete auf ihn! Wo war sein verdammtes Smartphone?

„Handy!“, krächzte er und blinzelte.

Eine Frau beugte sich über ihn. „Keine Sorge. Wir informieren Ihre Angehörigen. Sie brauchen jetzt erstmal Ruhe.“

Einer der Sanitäter trat neben die Frau. „Sorry, Kumpel, aber dein Handy ist hinüber. Ich hab’s von der Straße gekratzt.“

Somit war es eh nutzlos. Tristan ergab sich der überwältigenden Müdigkeit, die an seinen Lidern zerrte.

3.

Für wie blöd hielt Tristan ihn eigentlich? Marlon hatte sehr wohl mitbekommen, dass sich Doktor Wagners Assistentin erst in der folgenden Woche um die Terminierung der Abendessen kümmern würde. Die Vorstellung, dass Tristan nachher vergeblich im Vier Jahreszeiten auf ihn wartete, bereitete ihm diebische Freude.

Gegen sieben meldete sich sein schlechtes Gewissen. Er war ein freundlicher, harmoniesüchtiger Mensch. Weshalb du Idiot auch nicht wahrhaben wolltest, dass dein Freund dich betrügt, spottete es in seinem Kopf. Marlon verdrängte die Bitterkeit, die in ihm hochstieg und überlegte, ob er Tristan anrufen sollte. Es war schäbig, jemanden zu versetzen. Sowas hatte er noch nie getan. Schließlich überwog jedoch die Überzeugung, dass Tristan eine Abreibung verdient hatte.

Er wandte sich wieder dem Online-Scrabble auf dem Monitor zu. Gerade hatte er das Wort Arsch gelegt. Mit seinen neuen Buchstaben – h, o, c und l - konnte er es ergänzen: Arschloch. Wieder wanderten seine Gedanken zu Tristan. Das fatale an der Sache war: Er mochte den Mistkerl immer noch verdammt gern. Tristan brach ihm das Herz und hockte trotzdem weiter in dem Organ. Wie konnte das sein? Besaß er eine masochistische Ader?

Seufzend rieb er sich mit beiden Händen übers Gesicht. Wenn die Dinge anders lägen, wäre er freudig auf die Einladung eingegangen. Wenn sie sich wegen etwas anderem als Fremdgeherei getrennt hätten, nämlich wegen ... beispielsweise wegen verschiedener Interessen. Habt ihr doch. Er hatte Interesse an anderen Ärschen, höhnte es in seinem Schädel. Hätte er toleranter sein sollen? Wäre es anders gewesen, wenn es sich bloß um einen Fehltritt gehandelt hätte? Hätte, hätte ... sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Am folgenden Tag war er bei seiner Mutter zum Mittagessen eingeladen. Sein Vater, zehn Jahre älter als sie, war leider schon vor langer Zeit gestorben. Geschwister hatte er keine.

„Ich muss mit Marlon ausgehen“, platzte er heraus, als sie vor Sauerbraten mit Kartoffelklößen saßen.

Sie hob die Augenbrauen. „Du musst?“

„Ich hab auf der EOS-Weihnachtsfeier bei der Junggesellenversteigerung mitgemacht.“

„Und er hat für dich geboten“, konstatierte sie. „Du weißt, dass ich ihn sehr mag.“

„Das ändert nichts an den Tatsachen.“

Seine Mutter griff über den Tisch und tätschelte seine Hand. „Du weißt, dass dein Vater mir auch nicht treu war.“

Die Ehe seiner Eltern war von zwei längeren Affären überschattet gewesen. Sein Vater, ein attraktiver Charmeur, hatte beide nicht verheimlicht. Es war Marlon ein Rätsel, wie seine Mutter das ertragen konnte.

„Aber wenigstens hat er dich nicht belogen.“

„Ich wünschte, er hätte es.“ Sie seufzte. „Wie viel hat Tristan denn geboten?“

„Fünfhundert.“

Seine Mutter setzte eine entrüstete Miene auf. „So wenig?“

„Die anderen Kandidaten wurden für weniger ersteigert.“

„Das ist kein Grund, den Wert meines Sohnes so gering einzuschätzen.“

Mama!

Schmunzelnd winkte sie ab. „Das war ein Scherz, mein Schatz.“

Neuerdings hatte sie sich einen trockenen Humor zugelegt, an den er sich noch gewöhnen musste. „Ich werde Montag meinen Chef fragen, ob ich mich aus der Verpflichtung befreien kann.“

„Wie willst du das denn anstellen?“

„Ich könnte ihm sagen, dass ich nicht bereit bin, mit einer Schwuchtel auszugehen.“

Seiner Mutter fiel die Kinnlade runter.

„Das war ein Scherz.“

Sie drohte ihm mit der Gabel. „Ich will das böse S-Wort nie wieder hören.“

„Ja, ja“, brummelte Marlon. „‘tschuldige.“

„An deiner Stelle würde ich Tristan eine Chance geben. Vielleicht hat er sich geändert.“

„Und wenn nicht?“

„Liebe ist immer ein Risiko.“

Nach seiner Heimkehr war er drauf und dran, Tristan anzurufen, um sich für sein Fernbleiben zu entschuldigen. Anscheinend hatte seine Mutter ihn manipuliert. Energisch vertrieb er die Anwandlung.



Am nächsten Morgen betrat er das Firmengebäude mit dem Vorsatz, Doktor Wagner im Laufe des Vormittags einen Besuch abzustatten. Wenn er sowohl Tristan die Summe erstattete als auch in den Spendentopf warf, dürfte gegen eine Aufhebung der Verpflichtung doch nichts einzuwenden sein.

Bei Wagners Assistentin ergatterte er einen Termin um halb elf. Um zwanzig nach zehn machte er sich auf den Weg. So viel Zeit musste man einplanen, wenn man vom 1. Stock, in dem die Buchhaltung lag, in die 15. Etage wechseln wollte. Es gab zwar drei Fahrstühle, doch die waren meist stark frequentiert.

Sieben Minuten später erreichte er die Chefetage. Frau Goldschmidt, die Assistentin, telefonierte gerade und wies mit ihrem Kugelschreiber auf die offene Tür, die zum Büro ihres Vorgesetzten führte.

Doktor Wagner saß hinter einem riesigen Schreibtisch aus Chrom und Glas. „Guten Morgen, Herr Stein. Setzen Sie sich.“

Er nahm auf dem Besucherstuhl Platz. „Gibt es eine Möglichkeit, die Transaktion mit Herrn Gutscheidt rückgängig zu machen?“

Doktor Wagner legte die Fingerspitzen aneinander und fixierte ihn mit strengem Blick. „Wollen Sie damit andeuten, dass Sie ein Problem mit Herrn Gutscheidts Homosexualität haben?“

Offenbar hatte Tristan seine Neigung laut rausposaunt. „Nein, natürlich nicht.“

„Darf ich erfahren, ob es andere, wichtige Gründe gibt?“

Was nun? Sollte er behaupten, dass sein – nicht vorhandener - fester Partner eifersüchtig werden würde? Ach, nein ... Lügen hatten kurze Beine. Außerdem stand ein Outing nicht auf seiner Agenda. „Ich bin in der Vorweihnachtszeit immer stark eingespannt. Sie wissen schon, der anstehende Jahresabschluss und so. Deshalb vermeide ich es, mir für abends etwas vorzunehmen.“

Wagner lüpfte eine Augenbraue. „Ich bin überzeugt, dass Herr Gutscheidt nicht so hungrig ist, dass er nicht bis Januar warten könnte.“

Marlon wurde die Situation immer peinlicher. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? „Sie haben vollkommen recht. Ich werde mit ihm darüber reden.“

Wagners Mundwinkel bogen sich hoch. „Tun Sie das.“

„Danke, dass Sie Zeit für mich erübrigt haben.“

Der Doktor entließ ihn mit einem gnädigen Winken.

Zurück an seinem Arbeitsplatz musste er sich erstmal von dem Ausflug erholen. Bestimmt hielt Doktor Wagner ihn für einen schwulenfeindlichen Biedermann, der abends in Pantoffeln und Bademantel vor der Glotze hockte. Ein Bild, das er nicht mehr loswurde. Tja ... selbst schuld. Warum hatte er sich nicht vorher ein stichhaltiges Argument ausgedacht?

Abends, er hatte sich gerade mit seinem Notebook auf die Couch gesetzt, um Scrabble zu spielen, läutete sein Festnetzanschluss. Die Nummer auf dem Display war Tristans. Bestimmt musste er sich gleich wüste Beschimpfungen anhören. Nach kurzem Zögern nahm er das Gespräch an, denn früher oder später würde er Tristans Zorn eh zu spüren bekommen.

„Es tut mir ...“, setzte er an, wurde jedoch von Tristan unterbrochen: „Entschuldige, dass ich dich versetzt hab. Ich hatte einen Unfall.“

„Ähm ... wie bitte?“

„Ich bin mit einem E-Scooter zusammengestoßen. Wenn mein Handy nicht dabei kaputt gegangen wäre, hätte ich dich angerufen, aber du hast meine Nummer ja eh gesperrt.“

„Du hast mich nicht versetzt.“ Und er hatte sich umsonst Gedanken gemacht.

„Doch.“

„Ich war gar nicht da.“

Stille, dann schnaubte Tristan. „Also hast du mich versetzt.“

„Gewissermaßen.“

„Unglaublich“, murmelte Tristan. „Das hätte ich dir niemals zugetraut.“

„Ich wusste, dass du mich verarschst. Du scheinst mich für unterbelichtet zu halten.“

„Das tue ich nicht! Ich halte dich für sehr intelligent!“

„Darüber will ich nicht diskutieren.“

„Wir müssen trotzdem reden. Sobald mein Kopf weniger wehtut, verlange ich einen Ersatztermin.“

„Dein Kopf?“

„Gehirnerschütterung.“

Mitleid regte sich. „Hoffentlich hat der E-Scooter auch was abbekommen.“

„Keine Ahnung, wie das Vehikel den Zusammenprall überstanden hat. Der Fahrer ist wesentlich lädierter als ich.“

„Ich hab heute mit Doktor Wagner geredet, um die Auktion rückgängig zu machen. Das geht leider nicht. Es ist aber möglich, das Essen ins nächste Jahr zu verschieben.“

„Ich will dich aber bald sehen.“

„Und ich dich nicht. Gute Besserung. Ciao.“ Er drückte aufs rote Symbol und rammte den Hörer zurück in die Ladestation.

Mit Tristan zu reden, wühlte ihn auf. Das wollte er nicht. Er wollte seine Ruhe.



Der Rest der Woche verlief ohne weitere Zwischenfälle, abgesehen von Herberts nervigen Mails. In der, die am Freitag eintraf, stand als Schlusssatz: „Warst du eigentlich schon mit dem Schönling essen?“

Dass der Blödmann Tristan so bezeichnete, fand Marlon Scheiße. Genauso gut hätte Herbert Schwuchtel oder warmer Bruder schreiben können. Er reagierte nicht darauf. Das war immer die beste Methode, um sowas im Keim zu ersticken.

Am Montagmorgen lag auf seinem Schreibtisch eine kleine Schachtel Nougat-Pralinen. Seine Lieblingssorte. Auf dem Deckel klebte ein Post-it: „Schönen Wochenstart. T.“

Er warf die Pralinen in den Papierkorb und schoss davon ein Foto. Selbiges hängte er an eine Mail, die er an Tristan schickte, mit dem Betreff: Kein Kommentar. Auf weiteren Text verzichtete er.

Später fischte er die Schachtel aus dem Müll und nahm sie mit nach Hause. Verschwendung war ihm ein Gräuel.

Dienstagmorgen verfuhr er genauso mit einer Marzipanrose, Mittwoch mit einem Päckchen japanischer Reiscracker und Donnerstag mit seinem Lieblingsrasierwasser. Dass Tristan noch wusste, was er mochte, fuchste ihn einerseits, andererseits schmeichelte es ihm.

Als Freitagmorgen nichts auf seinem Schreibtisch lag, spürte er Enttäuschung. Es kostete ihn Mühe sich einzureden, erleichtert über das Ende der Charmeoffensive zu sein.

Am späten Vormittag tauchte eine E-Mail von Tristan in seinem Posteingang auf. Betreff: Hast du schon in deinen Papierkorb geguckt? Das hatte er nicht, also holte er es nach. Ein rechteckiger, neutraler Karton steckte darin. Als er die Schachtel öffnete, traute er seinen Augen kaum. Es handelte sich um ein Scrabble-Spielbrett, komplett aus Holz, mit den dazugehörigen Steinen. Eine wundervolle Handarbeit, wie er beim näheren betrachten feststellte.

Rasch suchte er die passenden Spielsteine aus dem Leinensäckchen, legte das Wort DANKE über ein Feld mit doppeltem Wortwert und knipste ein Foto. Dann klickte er klickte er auf Antworten, hängte das Bild an die Mail und schrieb: „Eigentlich ist es zu wertvoll, als dass ich es annehmen dürfte, aber es ist zu schön, um es wieder herzugeben. Danke!“

Tristans Erwiderung traf prompt ein: „Spielen wir heute Abend eine Runde?“

Marlons innerliche Festung geriet ins Wanken. Er fühlte sich ein bisschen schuldig, weil Tristan wegen ihm in einen Unfall verwickelt wurde. Wäre er ehrlich gewesen, hätte sein Ex gar nicht erst das Haus verlassen. Eine vielleicht etwas verquere Denkweise, aber so tickte er nun mal. Außerdem spielte er für sein Leben gern mit Tristan. Scrabble-Partner wuchsen nicht auf den Bäumen. Genauso wenig wie Männer, mit denen du gern schläfst, flüsterte eine Stimme in seinem Schädel. Er ignorierte diesen Einwurf. Sex spielte für seine Entscheidung keine Rolle, da er nie wieder mit Tristan ins Bett steigen würde.

„Sorry, aber ich hab schon was vor ...“, tippte er, hielt inne, löschte den Text und lehnte sich seufzend in seinem Schreibtischsessel zurück. Ach, Scheiß drauf! Er musste ja eh irgendwann mit Tristan Essen gehen. Dann war eine Partie Scrabble doch eine gute Vorbereitung. „Passt es dir um sieben?“, schrieb er und klickte auf senden.

„Ich freu mich. Soll ich was zu essen mitbringen? Chinesisch? Pizza?“, stand in Tristans Antwortmail.

Eigentlich wollte er die Reste vom Vortag aufwärmen, doch das klang besser. „Pizza. Für mich mit Salami, Schinken, Ananas und extra Käse.“

„Aye, aye. Bis nachher.“

Im Laufe der nächsten Stunden verfluchte er sich mal dafür, weich geworden zu sein, mal freute er sich auf ihr Treffen. Nach Feierabend besorgte er eine Flasche Wein – Tristan liebte einen guten Tropfen – und Knabberkram. Sowas gehörte zu einem Spieleabend.

Zu Hause baute er das neue Scrabble auf dem Couchtisch auf. Es war so schön, dass er es eine Weile verzückt anstarrte. Das Spielbrett bestand aus einer Art Wabe. Für jeden Stein gab es ein Kästchen. Farbig unterlegt waren die, bei denen sich der Wort- beziehungsweise Buchstabenwert verdoppelte oder verdreifachte. Die Spielsteine sowie Bänkchen, auf die man diese legte, bestanden auch aus Holz. Selbst der Beutel, in dem sich die Buchstaben befanden, war kunstvoll gearbeitet. Helles Leinen mit aufgestickten Lettern.

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Tag der Veröffentlichung: 10.12.2023

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