Cover

Nightclubbing Band 3

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.


Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Fotos: shutterstock_ 1344688415, Discolichter mit Silhouette: Sissis Werk

Cover-Design: Lars Rogmann

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

https://www.sissikaipurgay.de/


Nightclubbing Band 3

Seit einigen Jahren betreibt Jonas Couch-Hopping. Sowas kann natürlich nicht ewig funktionieren. Als er plötzlich auf der Straße steht, meint es Fortuna gut mit ihm und schickt ihm einen Wohltäter: Dennis

Benedikt genießt das ausschweifende Leben als Clubchef. Dann wird ihm seine Naivität zum Verhängnis. Auch ihm ist das Glück hold: In seiner schwärzesten Stunde erbarmt sich seiner ein Engel, obwohl er Gabriel zuvor abgewiesen hat.

Prolog

Jonas verließ das Zugabteil und trottete in Richtung Treppe. Er war hundemüde und niedergeschlagen. Eine Woche hatte er auf einer Baustelle geschuftet, um heute leer auszugehen. Der Vorarbeiter hatte bloß mit den Achseln gezuckt und gesagt: „Sorry, Junge, aber der Chef rückt für Schwarzarbeiter momentan kein Geld raus.“

Ihm war nichts anderes übriggeblieben, als das zu schlucken. Ohne Arbeitsvertrag gab es keine Chance, seinen ausstehenden Lohn einzuklagen.

Es war nicht das erste Mal, dass man ihn um sein Geld prellte, nur handelte es sich diesmal um eine größere Summe. Zehn Euro pro Stunde hatte ihm der Vorarbeiter versprochen. Ihm Ganzen fehlten ihm also vierhundert, die er dringend brauchte.

Er stieg die Stufen rauf, wobei er bei jeder ächzte. Ihm taten alle Knochen weh. Harte Arbeit war er zwar gewohnt, aber es machte einen Unterschied, ob man Teller abwusch oder Wände verspachtelte. Seine Arme waren schwer wie Blei, genau wie seine Beine. Er freute sich auf eine Dusche und danach ... danach musste er warten, bis Arnold die Couch freigab, damit er sich darauf sein Bett bauen konnte.

Seit drei Monaten logierte er bei Arnold, dem Kumpel eines Kumpels. Im Gegenzug für die Schlafgelegenheit putzte er die Wohnung, wusch Arnolds Wäsche, kaufte Lebensmittel und kochte.

Mit siebzehn war er von Zuhause ausgerissen, nachdem sein Vater ihn grün und blau geschlagen hatte. Schläge hatte er auch schon vorher kassiert, aber noch nie in solchem Ausmaß. Wut darauf, einen schwulen Sohn zu haben, sowie zu viel Alkohol, waren der Auslöser gewesen. Er hatte ein paar Sachen gepackt und war bei seinem besten Freund untergekrochen.

Florian, zwei Jahre älter als er, besaß bereits eine eigene Wohnung. Leider bestand diese nur aus einem Zimmer, so dass sie sich bald auf den Sack gegangen waren, zumal Florian früh aufstehen und den ganzen Tag arbeiten musste.

So war er in den vergangenen drei Jahren von Couch zu Couch gezogen. Manchmal hatte er auch auf dem Fußboden geschlafen und ein paarmal auf einer Parkbank. Dass es nicht ewig so weiterging, war ihm wohl bewusst. Er hatte aber keine Ahnung, wie er daran etwas ändern konnte.

Während er den Weg vom Bahnhof zu Arnolds Wohnung zurücklegte, betete er, dass er nicht wieder vor verschlossener Tür stand. Das war schon ein paarmal passiert. Arnold gab ihm keinen Schlüssel. „Du bist kein Mieter, also brauchst du keinen“, lautete die Begründung.

Auf sein Läuten hin passierte nichts. Also war Arnold unterwegs oder hörte die Türglocke nicht. Auch das wäre kein Einzelfall. Oft saß Arnold mit Kopfhörern vorm Computer und spielte.

Jonas klingelte bei Frau Bergmann. Die alte Dame, die im Hochparterre wohnte, hatte ihn schon ein paarmal ins Haus gelassen. Auch diesmal betätigte sie den Türöffner.

Als er die Treppe hochstieg, stand sie in ihrer Wohnungstür und sah ihm entgegen. „Ich fürchte, heute hast du Pech, mein Junge. Vorhin hab ich gesehen, wie Arnold mit einem Koffer weggegangen ist. Der ist bestimmt übers Wochenende weggefahren.“

Sein Herz sank. Das sah Arnold ähnlich, ihn einfach auszusperren.

„Schau doch einfach morgen wieder vorbei“, fuhr sie fort.

Frau Bergmann hatte er erzählt, dass er Arnold oft besuchte, weil sie zusammen zockten. Sie durfte nicht wissen, wie die Dinge wirklich standen.

Es kostete ihn immense Kraft, sie anzulächeln und ihr ein schönes Wochenende zu wünschen. Hoffentlich irrte sie sich und Arnold blieb nur eine Nacht weg, denn sonst musste er versuchen, woanders unterzukommen. Das wurde allmählich schwierig. Seine Freunde hatte er bereits überstrapaziert und auch den Bekanntenkreis mehrfach abgeklappert.

In der Kneipe drei Türen weiter kannte man ihn, weil er dort stets auf Arnolds Rückkehr wartete. Die Wirtin gab ihm einen Kaffee aus und erlaubte, dass er die Toilette benutzte. Sie war eigentlich zahlenden Gästen vorbehalten.

Mit reichlich Wasser und Papiertüchern säuberte er seine eingestaubten Sneakers. Einen Overall hatte man ihm zur Verfügung gestellt, jedoch keine Arbeitsschuhe. Zurück im Schankraum setzte er sich in eine Nische und überlegte, wie er die Zeit bis zum nächsten Morgen überstehen sollte. Um draußen zu schlafen war es nachts inzwischen zu kalt, zumal er bloß eine dünne Jeansjacke trug. Die ganze Nacht rumrennen konnte er nicht. Das würden seine lahmen Beine nicht mitmachen.

Möglichst lange hielt er sich an seinem Kaffee fest. Schließlich ging er nochmals aufs Klo und bedankte sich bei der Wirtin, bevor er das Lokal verließ.

Um sieben, als er bei Arnold geklingelt hatte, war es auf der Reeperbahn noch recht ruhig gewesen. Mittlerweile tummelten sich Leute auf den Bürgersteigen. Er ließ sich einige Meter mit der Menge treiben, dann bog er in eine Seitenstraße ab.

Beide Hände in den Hosentaschen vergraben stapfte er durch die Gegend, bis er vor dem Sugar Shack landete. Einmal war er vor einiger Zeit in dem Club gewesen. Er erinnerte sich an die Galerie mit gemütlichen Sitzgelegenheiten. Das gab den Ausschlag, seine letzten Kröten in eine Eintrittskarte zu investieren. Diese beinhaltete einen Getränkegutschein, den er sogleich an einer der Bars einlöste. Mit der Flasche Bier verzog er sich in den 1. Stock, wo er sich auf einem Sessel niederließ und dem Treiben zuschaute.

1.

Punkt fünf Uhr morgens flammten die Neonlichter auf. Gähnend rieb sich Dennis die Augen. Benedikt, sein neuer Teilhaber, war bereits um drei nach Hause gegangen. Sie teilten sich die Spätschicht, so, wie er es meist mit Guido gehalten hatte.

Guido war sein ehemaliger Mitinhaber. Ein bisschen neidisch war Dennis manchmal auf ihn, denn ständig Frischfleisch abzuschleppen, nur um einen wegzustecken, verlor an Reiz. Vor allem hatte er die Entsorgungsproblematik am Morgen danach satt. Guido war’s genauso gegangen. Benedikt hingegen genoss es, als Clubchef haufenweise Angebote zu bekommen. Vorhin hatte sein Teilhaber einen kleinen Blonden mitgenommen. Davor war Benedikt zweimal mit einem der Gäste im Darkroom gewesen.

Jedenfalls hatte Guido wegen der Beziehung mit einem Lehrer die Branche gewechselt. Die unterschiedlichen Arbeitszeiten waren der Grund, nicht das anrüchige Image eines Nachtclubbesitzers.

„Ich drehe mal eine Runde“, wandte er sich an Marek, der den Tresen schon fast aufgeräumt hatte. Der Mann war ein Musterbeispiel an Effektivität.

Die Antwort bestand lediglich aus einem Nicken. Bestimmt war Marek gedanklich mit Hendrik beschäftigt. Dass der coole Typ dermaßen in jemanden vernarrt war, fand Dennis weiterhin unglaublich.

Sein erstes Ziel waren die Toiletten. Das Putzpersonal würde seine wahre Freude daran haben, die Schweinerei wegzumachen. Nüchterne Männer hatten ja schon Probleme, in ein Pissoir zu zielen. Besoffenen schien jegliche Fähigkeit, den Strahl zu kontrollieren, abhanden zu gehen.

Im Darkroom lagen benutzte Kondome und schmutzige Taschentücher auf dem Boden. Mit spitzen Fingern sammelte Dennis sie ein, um sie in dem bereitstehenden Mülleimer zu entsorgen. Schließlich konnte man dem Reinigungstrupp nicht alles zumuten.

Sein nächster Gang führt auf die Galerie. Unter einem der Sessel fand er eine leere Bierflasche. Auf einem anderen hatte sich ein Typ zusammengerollt und pennte. Er musterte den Typen, bemerkte die abgetragenen Sneakers und Jeans, die eine Wäsche nötig hatten. Der Mann, den er auf ungefähr zwanzig schätzte, hielt ein Stoffknäuel, das sich bei näherem Hinsehen als Jeansjacke entpuppte, im Arm, als wäre es ein Kuscheltier.

Die Gäste, die normalerweise auf der Galerie ein Nickerchen einlegten, waren meist besoffen. Oft befanden sie sich in Rückenlage und schnarchten laut. Dieser Gast machte eher den Eindruck, vor Erschöpfung eingeschlafen zu sein. Als sich Dennis über ihn beugte und schnupperte, konnte er tatsächlich keine Alkoholfahne feststellen.

Er rüttelte den Mann an der Schulter. „Hey! Aufwachen! Feierabend!

Der Bursche blinzelte.

„Sorry, aber du musst jetzt gehen“, redete Dennis weiter.

Der Gast guckte zu ihm hoch. Der resignierte Gesichtsausdruck rührte sein Herz. Solche Miene hatte er bei den Obdachlosen, wenn er mal das von ihm gestiftete Zentrum besuchte, gesehen.

„Tut ... tut mir leid“, stammelte der Mann. „Bin ... bin gleich weg.“

Zuzugucken, wie schwerfällig sich der Typ erhob, aktivierte sein Mitleid. Normalerweise würde er nie einen Obdachlosen mit in seine Wohnung nehmen, doch bei diesem hatte er das Gefühl, es wäre das Richtige. Er durfte nicht zulassen, dass der erschöpfte Bursche mitten in den frühen Morgenstunden ziellos durch St. Pauli irrte.

„Du wartest hier“, befahl er. „Ich hol meine Jacke, dann können wir los.“

Flink begab er sich ins Erdgeschoss, stellte die leere Flasche auf den Tresen und eilte in sein Büro, wo er sich seine Lederjacke schnappte. Als er die Stufen zur Galerie wieder rauflaufen wollte, kam ihm der Mann entgegen. Er wartete am Fuß der Treppe, bis der Typ bei ihm angekommen war.

„Du kommst mit zu mir“, verkündete er.

Ungläubig starrte der Mann ihn an. Dann wechselte der Ausdruck zu Ablehnung. „Danke, aber das möchte ich lieber nicht.“

Was war denn nun los? Dachte der Kleine, – Dennis überragte ihn um etliche Zentimeter – er wollte Sex? „Keine Sorge, Milchgesicht. Ich bumse keine Kinder.“

„Bin kein Kind!“

„Dann benimm dich nicht wie eines.“ Er packte Bürschi am Handgelenk und steuerte auf den Ausgang zu.

Sein Plan bestand darin, den Mann am nächsten Tag zu Pavel, der seine Obdachlosen-Initiative leitete, zu bringen. Pavel war die Kompetenz in Person. Schade, dass Pavel kein bisschen schwul war. Kompetenz fand Dennis ungemein sexy.

Viel Spaß, Chef!“, rief ihm Kurt hinterher.

Der mangelnde Respekt seiner Angestellten ging ihm manchmal mächtig auf den Sack. Er nahm sich vor, demnächst ein ernstes Wort mit dem Personal zu reden.

„Wie heißt du überhaupt?“, wandte er sich an den Burschen, der mit grimmiger Miene neben ihm her trabte.

„Jonas.“

„Ich bin Dennis.“

Darauf erwiderte Jonas nichts.

Das Schweigen hielt an, bis sie in der Liftkabine standen. Schon vorhin war Dennis aufgefallen, dass Jonas intensiven Schweißgeruch verströmte.

Er schnupperte vernehmlich und rümpfte die Nase. „Bevor du in mein sauberes Gästebett gehst, stellst du dich unter die Dusche.“

„Hab gearbeitet“, brummelte Jonas.

„Man kann sich trotzdem waschen.“

Jonas bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick und kehrte ihm den Rücken zu. Guido bezeichnete ihn oft als Fettnäpfchen-Spezialisten. Er sah ein, dass er manchmal etwas grob war, aber wie sollte er jemanden, der stank, es anders beibringen, als mit der Wahrheit rauszurücken? Dein Aroma ist etwas streng klang doch auch nicht besser als: Du stinkst.

In seiner Wohnung brachte er Jonas in eines der Gästezimmer. Davon gab es zwei, beide mit eigenem Duschbad.

„Ich guck mal, ob ich was zum Anziehen für dich finde. Oder schläfst du lieber nackt?“

„Geht dich nichts an!“, blaffte Jonas und stolzierte ins Bad.

Herrgott, was war der Junge empfindlich! Dennis seufzte, ging in sein Schlafzimmer und kramte in seinem Fundus. Es war unglaublich, was One-Night-Stands so alles liegenließen. Socken und Unterhosen – das verstand er ja noch, aber wie man ohne Jeans oder T-Shirt loslaufen konnte, war ihm unbegreiflich. Schmunzelnd hielt er einen Jockstrap hoch. Den sollte er Jonas besser nicht anbieten. Das würde die Mimose garantiert als sexuelle Anmache auffassen.

Nachdem er eines seiner T-Shirts und eine weiße Pants im Gästezimmer aufs Bett gelegt hatte, begab er sich mit einem Glas Whisky auf die Dachterrasse. Von der Elbe her wehte eine kühle Brise. Es war so unangenehm kalt, dass er sich ins Wohnzimmer zurückzog und auf die Couch plumpsen ließ.

Hoffentlich duschte Jonas nicht allzu lange. Er war hundemüde. Bevor er sich ins Bett legte, musste er noch etwas erledigen. Sicherheit hatte immer Priorität. Ach ja? Aber wenn dein Schwanz steht, vergisst du das jedes Mal, spottete eine Stimme in seinem Kopf. Das hatte ihn manchmal etwas gekostet. Ein One-Night-Stand war mit einer teuren Flasche Whisky verschwunden, ein anderer mit seiner gesamten Barschaft. Klamotten kamen regelmäßig weg. Ob aus Absicht oder aus Versehen, entzog sich seiner Kenntnis.

Endlich hörte er Jonas im Gästezimmer rumoren. Er leerte sein Glas, stellte es in die Spülmaschine und gesellte sich zu seinem Übernachtungsgast, der die geliehenen Klamotten angezogen hatte und auf der Bettkante hockte.

„Ich brauche deinen Perso“, verkündete Dennis.

„Wieso?“

„Als Pfand, damit du nicht mit meiner gesamten Wohnungseinrichtung stiften gehst.“

Jonas fischte eine abgegriffene Börse aus der Jeans, die ordentlich zusammengefaltet auf dem Bett lag. Laut Ausweis war der Bursche zwanzig und hatte in einem Monat Geburtstag.

„Den kriegst du morgen wieder, sofern du dann noch da bist.“

„Darf ich mir eine Scheibe Brot schmieren?“, fragte Jonas mit verlegener Miene.

„Klar. Du darfst den ganzen Kühlschrankinhalt vernichten.“

Er ging voraus und zeigte Jonas, wo sich Besteck und Geschirr befanden. Danach ließ er seinen Gast allein, um sich im Bad seinem abendlichen Ritual zu widmen.

Bei seiner Rückkehr in die Küche, die ins Wohnzimmer integriert war, saß Jonas noch am Tresen und löffelte einen Joghurt.

„Ich hau mich aufs Ohr. Hinterlass hier bitte alles ordentlich. Gute Nacht.“ Er schenkte Jonas ein Lächeln und verzog sich in sein Schlafzimmer.



Früher als sonst, wenn er lange im Club war, wachte er auf und lauschte. In der Küche werkelte jemand. Also war Jonas bereits aufgestanden.

Gähnend schwang er seine Beine aus dem Bett. In der Hoffnung, dass die Kaffeemaschine schon in Gang gesetzt worden war, verließ er den Raum. Das erste, was er sah, als er um die Ecke ins Wohnzimmer bog, war Jonas‘ kleiner Hintern. Der Junge kniete mit dem Rücken zu ihm auf dem Boden und wischte die Fliesen.

„Was machst du denn da?“, wunderte er sich, denn nach seiner Ansicht war alles sauber. Tanja, seine Perle, putzte einmal pro Woche.

„Wonach sieht es denn aus?“, gab Jonas patzig zurück.

„Ähm ... so, als ob du die sauberen Fliesen schrubbst.“

„Die sind nicht sauber. In den Fugen klebt ganz viel Dreck.“

Dennis‘ Blick irrte zum Kaffeeautomaten. Die Glaskanne war halbvoll. Er umrundete den Tresen, damit er nicht über Jonas hinweg steigen musste und füllte seinen Becher mit dem lebenswichtigen Elixier.

Während er das Koffein in kleinen Schlucken inhalierte, beobachtete er Jonas. „Soll ich dir eine Zahnbürste geben? Dann kannst du noch gründlicher putzen.“

„Ja-ja, mach dich nur über mich lustig.“ Jonas wrang den Feudel aus und nahm sich das nächste Stück Boden vor.

2.

Was für ein Arschloch! Da schrubbte man den Dreck weg und wurde dafür auch noch verhöhnt. Vehementer als nötig bearbeitete Jonas die schmutzige Fuge. Offenbar benutzte Dennis lediglich den Staubsauger. Solche Schlamperei konnte er auf den Tod nicht leiden.

Arnolds Wohnung war auch ein Dreckloch gewesen. Es hatte ihn etliche Stunden gekostet, die Lotterbude nach seinen Vorstellungen zu reinigen. Wenigstens war Arnold dafür dankbar gewesen. So dankbar, dass er dich ausgesperrt hat. Ja, das war echt Scheiße von Arnold.

„Ich geh duschen, dann gibt’s Frühstück“, kündigte Dennis an und schlenderte, den Kaffeebecher in der Hand, davon.

War das eine Warnung, dass er bis dahin besser fertig sein sollte? Reiß dich zusammen. Schließlich hast du seit Jahren nicht in so einem weichen, sauberen Bett geschlafen, flüsterte es in seinem Kopf. Das stimmte. Unter einer nach Waschmittel riechenden Decke auf einer weichen Matratze zu liegen, hatte ihm so sehr behagt, dass er am liebsten wach geblieben wäre, um es zu genießen. Leider war er dazu zu müde gewesen.

Er erhöhte sein Tempo, weil er sich vorm Frühstück noch waschen wollte. Danach warf Dennis ihn bestimmt raus. Hoffentlich war Arnold inzwischen zurückgekehrt. Der ist mit einem Koffer losgezogen. Für eine Nacht braucht man nur eine Tasche, erinnerte ihn sein Verstand. Trotzdem ... die Hoffnung starb zuletzt. Wo sollte er denn sonst hin?

Als er mit dem Hygienezustand des Bodens einigermaßen zufrieden war, spülte er den Feudel ein paarmal aus und hängte ihn zum Trockenen über eine Stuhllehne auf der Dachterrasse.

Im Gästebad unterzog er sich einer Katzenwäsche. Anschließend schlüpfte er in seine Klamotten und legte die geliehenen zusammengefaltet aufs Bett.

Der Küchentresen war inzwischen gedeckt. Dennis stand am Herd und briet Eier. Obwohl Jonas vorm Schlafengehen fünf Scheiben Brot verdrückt hatte, fühlte sich sein Magen an, als hätte er seit Tagen nichts gegessen.

„Kann ich was helfen?“, erkundigte er sich, weil es ihm nicht richtig erschien, seinem Wohltäter bei der Arbeit zuzugucken.

„Setz dich. Die Eier sind gleich fertig“, erwiderte Dennis.

Er schenkte sich einen Kaffee ein und ließ sich am Tresen nieder. Da Dennis ihm den Rücken zukehrte, erlaubte er sich eine gründliche Musterung. Der Typ war schätzungsweise dreißig bis vierzig. Dafür hatte er sich gut gehalten. Vermutlich trainierte Dennis regelmäßig. Von der Arbeit im Club, nämlich hinterm Tresen rumhängen, blieb man nicht so fit. Der Hintern, der in engen Jeans steckte, war jedenfalls ziemlich ansehnlich. Dennis‘ Gesicht war auch recht attraktiv, sofern man auf ältere Semester stand.

Mit der Pfanne in der Hand drehte sich Dennis zu ihm um und begann, die Spiegeleier zu verteilen. „Wir gehen nachher zu Pavel.“

„Pavel?“

„Pavel leitet meine Stiftung für Obdachlose.“

„Ich bin nicht obdachlos.“ Außer momentan, aber sobald Arnold wieder auftauchte ... na ja, oder auch nicht. Vielleicht war Arnolds Spontantrip eine Art Rausschmiss.

„Dann hättest du gestern in deinem Bett statt im Club geschlafen.“ Dennis nahm ihm gegenüber Platz.

„Mein derzeitiger Couchvermieter ist übers Wochenende verreist.“

Dennis lüpfte eine Augenbraue. „Couchvermieter?“

„Ich schlafe bei einem Bekannten.“

„Besuch ist wie Fisch: Nach drei Tagen fängt er an zu stinken. Und nun: Iss!“ Mit der Gabel wies Dennis auf seinen gefüllten Teller.

Die Erfahrung hatte Jonas bereits gemacht. Spätestens nach einer Woche wurden Gastgeber unfreundlich.

Vier Scheiben Toast und drei Spiegeleier später war er satt. Er half Dennis, die Frühstücksreste abzuräumen. Anscheinend flog er nicht sofort raus, was ihn mit Erleichterung erfüllte. Draußen regnete es nämlich. Es sah auch nicht so aus, als ob sich das schnell ändern würde.

„Ich geh runter, ein bisschen trainieren. Kommst du mit? Ich kann dir Sportsachen leihen.“ Dennis maß ihn mit Blicken. „Dir dürfte eine meiner Shorts passen.“

„Runter?“

„Unten im Haus ist ein Fitnessstudio.“

„Kann ich hierbleiben? Sport ist nicht so mein Ding.“

Dennis zuckte mit den Achseln. „Klar. Aber putz bitte nicht allen Dreck weg. Morgen kommt Tanja. Die soll auch noch was zu tun haben.“

„Ich gebe mir Mühe.“ Eigentlich wollte er sich das Wohnzimmer gründlich vornehmen, aber im Gäste-Bad gab es ebenfalls Handlungsbedarf.

Kurz darauf war er allein in der Wohnung. Als erstes machte er eine Bestandsaufnahme. Dennis‘ Schlafzimmer ließ er bei seiner Besichtigungstour außen vor, denn er achtete Privatsphäre.

Das zweite Gästezimmer war eine Katastrophe. Überall lag Staub und das Bad schien ewig niemand geputzt zu haben. In der Besenkammer fand er alles, was er benötigte. Bevor er loslegte, zog er die geliehenen Sachen an. Schließlich wusste er nicht, wann er an seine Ersatzklamotten kommen würde.

Kochen und Putzen lenkten ihn von seinen Ängsten ab. Momentan bereitete ihm die Vorstellung, bei Arnold vielleicht schon rausgeflogen zu sein, die größten Sorgen. Irgendwann würde es sowieso passieren, aber das lag in der Zukunft. Bis dahin würde er einen Plan haben, wie es weitergehen sollte.

Gerade schrubbte er die Kloschüssel, da fiel ihm ein, dass Dennis bestimmt ein Handy-Ladekabel besaß. Der Akku seines Smartphones war leer, so dass er noch nicht mal an sein Adressbuch kam. Wenn er es auflud, konnte er Arnold anrufen.

Da ihm die Sache keine Ruhe ließ, beendete er sein Tun und wechselte seine Kleidung. An der Wohnungstür kamen ihm Bedenken. Was, wenn er Dennis nicht in dem Fitnessstudio fand? Im wahrsten Sinne des Wortes würde er im Regen stehen.

Er überlegte immer noch, als sich ein Schlüssel im Schloss der Tür drehte. Rasch ließ er die Klinke los und trat zurück, damit er sie nicht ins Gesicht bekam. Sie schwang auf.

Dennis, der einen Schritt in die Wohnung machte, stutzte bei seinem Anblick. „Wolltest du gerade flüchten?“

„Hast du ein Handy-Ladegerät?“

„Natürlich. Ich hab sogar zwei.“

„Darf ich mir eines leihen?“

„Klar.“ Dennis marschierte an ihm vorbei, streifte sich an der Garderobe die Sneakers von den Füßen und tapste auf Socken ins Wohnzimmer.

Sobald sein Handy wieder funktionierte, wählte er Arnolds Nummer.

„Sorry, Alter, aber ich musste mal raus“, meldete sich Arnold. „Sonntagabend bin ich wieder da. Dann kannst du deine Sachen abholen.“

Jonas sackte das Herz in die Hose. „Also darf ich nicht mehr auf deiner Couch schlafen?“

„Ne. Ich brauche meine Bude wieder für mich.“

„Alles klar. Bis morgen“, würgte er mühsam an dem Kloß in seiner Kehle vorbei, beendete die Verbindung und legte das Gerät auf den Nachtschrank.

Das Gesicht in den Händen vergraben hockte er auf der Bettkante im Gästezimmer und überlegte, wo er jetzt hin sollte. Florian würde ihn für eine Nacht aufnehmen, aber nicht länger. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als künftig seine Schlafplätze mit Sex zu erkaufen. Davor graute ihm. Wie wohl bei fast jedem Mann in seinem Alter war er häufig geil, lebte das aber lieber mit Partnern seiner Wahl aus. Allein daran zu denken, mit irgendeinem hässlichen, fetten Sack in die Kiste zu müssen, bereitete ihm Bauchschmerzen.

Es klopfte an der Tür, die er geschlossen hatte, um ungestört zu telefonieren. „Wir gehen jetzt zu Pavel“, drang Dennis‘ Stimme durchs Holz.

Tja ... da er nun tatsächlich zu den Obdachlosen gehörte, war er dort ja an der richtigen Adresse.

Ihr Ziel befand sich nur wenige Minuten entfernt in der Hafenstraße. Über der Eingangstür im Souterrain war ein schlichtes Schild mit der Aufschrift Café Heimat, Obdachloseninitiative e. V. angebracht.

Drinnen wehte ihnen der Duft von Frischgebackenem entgegen. Die Einrichtung schien vom Sperrmüll zu stammen. Kaum einer der Sessel oder Sofas passte zusammen. An den Wänden hing genauso ein Sammelsurium an Bildern. Jonas fand es gemütlich.

Ungefähr zehn Leute bevölkerten den Raum und verfolgten sie mit Blicken, als sie auf den Tresen, der im hinteren Bereich lag, zusteuerten. Dahinter stand ein Mann, schätzungsweise in Dennis‘ Alter, den er auf Anhieb sympathisch fand.

„Du kommst gerade richtig“, begrüßte der Typ Dennis. „Der Pflaumenkuchen ist noch warm.“

„Dann muss ich unbedingt ein Stück davon haben“, erwiderte Dennis. „Das hier ist Jonas. Ein neuer Kunde für dich.“

„Hi. Ich bin Pavel“, stellte sich der Mann vor. „Möchtest du auch ein Stück Kuchen?“

„Ich ... ähm ... nein danke.“ Seine letzten Euro konnte er unmöglich für sowas ausgeben.

„Es kostet nichts, falls dir das Kopfzerbrechen macht“, redete Pavel weiter.

„Oh! Ja, dann möchte ich eines.“

Pavel zwinkerte ihm zu und verschwand durch eine Schwingtür, die wahrscheinlich in die Küche führte.

„Ist hier alles umsonst?“, wandte er sich an Dennis.

„Kuchen, Kaffee, Tee und Wasser: ja. Der Rest kostet was. Auch duschen. Allerdings nimmt Pavel bloß einen symbolischen Wert.“

„Duschen kann man hier auch?“

Dennis nickte. „Und Ausstiegwilligen steht gegen Mithilfe im Café auch ein Bett zur Verfügung.“

„Ausstiegwilligen?“ Was war denn darunter zu verstehen? Als Obdachloser war man doch nicht zwangsläufig drogenabhängig.

„Viele wollen oder können keiner geregelten Arbeit nachgehen. Sie ziehen das Leben auf der Straße vor.“

Für ihn unvorstellbar. Heimlich musterte er die anderen Gäste. Zwei starrten Dennis und ihn an. Der Rest war mit sich selbst beschäftigt.

Pavel kehrte zurück, eine junge Frau im Schlepptau. Ihr rechtes Auge war von einem Veilchen verunstaltet, die Haare auf einer Seite kurzgeschoren. Auf der anderen hingen sie ihr bis auf die Schulter.

Sie stellte zwei Teller mit Kuchen auf die Theke. „Möchtet ihr dazu was trinken?“

„Kaffee, bitte“, antwortete Dennis.

„Für mich bitte auch.“ War die Frau eine der Ausstiegwilligen?

Mit dem Kinn wies Pavel auf eine leere Sitzecke. „Setzt euch schon mal da hin. Ich komme gleich dazu.“

Als sie nach ihren Kuchentellern greifen wollten, schüttelte Pavel den Kopf. „Die bringt Anja euch gleich.“

Sie ließen sich nebeneinander auf der freien Couch nieder. Der Tisch, der sich davor befand, mit hässlichen Kacheln in orange-grünen Mustern, könnte aus den Siebzigern des letzten Jahrhunderts stammen. Damals schienen die Leute farbenblind gewesen zu sein.

Anja tauchte mit den beiden Tellern auf, stellte sie ab und ging zurück zum Tresen. An ihrer Motivation sollte sie noch arbeiten. Kein Lächeln, kein: Guten Appetit oder ähnliches. Wieder kam sie zum Tisch, diesmal mit zwei Bechern und gefolgt von Pavel, der ihr etwas zuflüsterte.

Daraufhin bog sie die Mundwinkel hoch und murmelte: „Lasst es euch schmecken.“

Pavel nahm ihnen gegenüber in einem der Sessel Platz. „Wie kann ich helfen?“

„Wie ich sehe, ist dein Gästebett besetzt“, erwiderte Dennis mit einem Blick in Richtung Anja.

„Und sie macht sich wirklich sehr gut. Sollte dein Plan darin bestehen, Jonas bei mir unterzubringen, tut es mir echt leid, aber das muss ein bisschen warten.“

„Tja ...“ Dennis seufzte. „Genau das war mein Plan.“

„Wo schläfst du derzeit?“, wandte sich Pavel an Jonas.

Er zuckte mit den Achseln. „Weiß ich noch nicht.“

„Ich würde gern unter vier Augen mit dir reden“, entgegnete Pavel.

„Soll ich mich in eine andere Ecke verdrücken?“, bot Dennis an.

„Ich würde mit Jonas in mein Büro gehen.“

„Dann behalte ich Anja im Auge, bis ihr wieder da seid.“ Dennis schnappte sich Teller und Gabel und begann, gemütlich zurückgelehnt den Kuchen zu essen.

Pavels Büro war ebenfalls mit Sperrmüll möbliert. Neben einem Schreibtisch mit Stuhl gab es eine kleine Sitzecke, bestehend aus zwei Sesseln und einem Nierentisch. Regale bedeckten eine Wand. An den anderen hingen Fotos, die anscheinend alle im Café aufgenommen worden waren.

Jonas setzte sich in einen der Cocktailsessel. Seinen Kaffee hatte er mitgenommen, den Pflaumenkuchen unter Dennis‘ Bewachung zurückgelassen. Ihm war etwas mulmig zumute. Musste er jetzt etwa seine ganze Lebensgeschichte beichten?

„Wie geht’s dir?“, eröffnete Pavel das Gespräch.

Nach einigen Sätzen verschwand sein Unbehagen. Pavel war ihm freundlich gesinnt. Das spürte er mit jeder Faser. Entsprechend sprudelte schließlich alles, was ihn bewegte, aus ihm raus.

Zum Schluss erzählte er, wie Dennis ihn schlafend im Sugar Shack gefunden und in einem der Gästezimmer untergebracht hatte.

Pavels Mundwinkel zuckten nach oben. „Es freut mich zu hören, dass Dennis aktive Nächstenliebe praktiziert. Seid ihr gut miteinander ausgekommen?“

„Abgesehen davon, dass er meinen Perso konfisziert hat, weil er mir misstraut, ja.“ Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: „Und er war darüber, dass ich seine Küche geputzt habe, nicht begeistert.“

„Vielleicht hatte er sie gerade erst selbst gereinigt und fühlte sich deshalb auf den Schlips getreten.“

„Er hat eine Putzfrau.“

„Ich wäre sehr froh, wenn hier jemand die Toiletten, Dusche und Küche putzen würde. Letzteres ist meine und derzeit auch Anjas Aufgabe. Das andere sollen unsere Gäste sauber halten, aber das funktioniert nur mittelmäßig.“

„Ich könnte das machen, aber vordringlich muss ich einen Schlafplatz finden.“

„Wie wäre es, wenn wir Dennis fragen, ob er dich weiter beherbergt? Ihr kommt doch gut klar.“

„Ich kenne ihn doch gar nicht.“

„Dann lernst du ihn eben kennen.“ Pavel stand auf. „Komm. Wir haben den armen Kerl lange genug allein gelassen.“

3.

Als Pavel mit Jonas im Schlepptau zurückkehrte, ließ Dennis sein Handy, mit dem er gespielt hatte, sinken.

„Ich kann nur Gutes berichten“, verkündete er. „Anja hat mir eine zweite Tasse Kaffee serviert und auch die anderen Gäste hervorragend bedient.“

Schmunzelnd ließ sich Pavel erneut in dem Sessel nieder, während Jonas seinen Platz auf der Couch wieder einnahm.

„Du bist also multitaskingfähig“, stellte Pavel fest. „Spielen und gleichzeitig aufpassen.“

„War ja kein anspruchsvolles Spiel“, brummelte Dennis.

„Also: Jonas wäre bereit, mir beim Putzen zu helfen. Bleibt das Problem mit dem Schlafplatz. Weißt du eine Lösung?“

Pavel schaute ihn so eindringlich an, dass er ahnte, worauf die Frage abzielte. Ach, Scheiß drauf. Jonas war stubenrein, ruhig und im gewaschenen Zustand eine Augenweide. Für eine Weile würden sie es schon miteinander aushalten. „Dann werde ich ihn erstmal weiter beherbergen.“

„Wunderbar.“ Pavel rieb sich die Hände. „Gib ihm bitte seinen Ausweis zurück. Ich brauche schließlich seine Daten, um ihn bei der Unfallversicherung anzumelden.“

„Und bei der Krankenkasse. Ich übernehme die Kosten.“ Die Prophylaxe-Untersuchung von Jonas‘ Zähnen war garantiert überfällig.

„Schön zu hören. Um die Formalitäten kümmere ich mich morgen.“ Pavel wandte sich an Jonas. „Kannst du um zwei herkommen? Dann ist der Mittagsansturm vorüber.“

„Ich kann auch kochen. Soll ich eher kommen und dir helfen?“, schlug Jonas vor.

„Morgen spendet das Hotel Hafen Hamburg eine Suppe, aber übermorgen müssen wir selber am Herd stehen.“

Ein neuer Gast traf ein und näherte sich, den Blick gesenkt, ihrer Gruppe. Pavel, obwohl mit dem Rücken zum Eingang positioniert, schien das zu spüren, stand auf und verabschiedete sich: „Dann bis morgen.“

Während Dennis an seinem Kaffee nippte, beobachtete er, wie Pavel mit dem Typen sprach. Anschließend steuerte der Gast auf die Tür, hinter der das Duschbad lag, zu. Er sollte unbedingt mindestens eine weitere einbauen lassen, doch es mangelte an Platz. Die Option, dafür eine Wohnung im Erdgeschoss zu räumen, hatte er bereits ein paarmal erwogen. Nachteile wären der Mietausfall – die Stiftung trug sich ja durch die Einnahmen des Mietshauses – sowie die unbeaufsichtigten Räumlichkeiten. Garantiert würden einige Gäste die Chance nutzen, Alkohol zu konsumieren. Etwas, das in der Einrichtung generell verboten war. Eine Gelegenheit ergab sich zwar auch im Bad und den Toiletten, doch die Hemmschwelle war in Pavels Nähe höher.

Nachdem Jonas den Pflaumenkuchen – übrigens ein Gaumenschmaus, denn Pavel war ein begnadeter Bäcker – vernichtet hatte, brachen sie auf. Der Heimweg verlief schweigend. Jonas wirkte nachdenklich. Vielleicht war der Besuch des Cafés Heimat ein Schock, den er erstmal verarbeiten musste. Dennis war es damals, als er die Initiative von seiner Mutter übernahm, so gegangen.

Vor der Haustür entdeckte er eine vertraute Gestalt. Frieda, ihres Zeichens Nachbarin von Guidos Partner Johannes, stellte gerade ihr Fahrrad ab. Das Vehikel hätte er überall wiedererkannt. Der Rahmen war in Regenbogenfarben lackiert. Um den Lenker wand sich eine Plastik-Blumengirlande. Das Ding war genauso scheußlich wie Johannes‘ Fahrrad mit der Gemüsedeko.

Hi!“, rief Frieda und begann, eine Topfpflanze, die auf dem Gepäckträger verschnürt war, von dem dafür benutzten Seil zu befreien.

Er beeilte sich, ihr zu Hilfe zu kommen. Es schien sein Schicksal zu sein, ihr immer zu begegnen, wenn sie etwas Sperriges transportierte.

„Was ist das?“, erkundigte er sich, als sie die Pflanze auf dem Boden absetzte.

„Ein Gummibaum. Sowas gehört in jeden ordentlichen Haushalt.“ Sie beäugte Jonas. „Ich bin Frieda. Wer bist du?“

„Jonas.“

„Ist er nicht etwas zu jung für dich?“, wandte sie sich an Dennis.

„Wir sind kein Paar.“

„So?“ Sie nahm Jonas erneut in Augenschein. „Darf ich dich mal auf einen Kaffee einladen?“

Dieses Weib flirtete doch nicht ernsthaft mit seinem Begleiter? „Meinst du nicht, dass du zu alt für ihn bist?“

„Nicht zu alt, aber zu weiblich“, mischte sich Jonas ein.

„Schade“, brummelte Frieda und richtete den Blick wieder auf ihn. „Bist du so lieb, den Gummibaum für mich bis zu Guidos Wohnung zu tragen? Ich krieg sonst einen Bandscheibenvorfall.“

„Das übernehme ich.“ Jonas schnappte sich die Pflanze.

Sie nahmen den Aufzug bis zum 3. Stock. Dort übergab Jonas den Gummibaum an Frieda und folgte ihm die Treppe hinauf ins nächste Stockwerk.

„Woher kennst du die schrullige Dame?“, wollte Jonas, als die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, wissen.

„Das ist eine lange Geschichte.“ Er schlüpfte aus Schuhen und Jacke und ging ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch plumpsen ließ.

Jonas, der sich ebenfalls an der Garderobe von Sneakers und Jeansjacke getrennt hatte, setzte sich zu ihm.

Dennis berichtete, wie er für seinen Freund Guido Spionagedienste erledigt hatte. Den unrühmlichen Teil, nämlich den, dass er mit seinem dämlichen Geplapper Verursacher der anschließenden Katastrophe war, ließ er aus. Auch die Wette verschwieg er. Beides würde ihn wie einen oberflächlichen Idioten aussehen lassen.

Jonas hörte zwar zu, machte aber einen zunehmend angespannten Eindruck; so, als ob ihm etwas auf der Seele lag.

Als er geendet hatte, zückte er seine Börse und holte Jonas‘ Ausweis daraus hervor. „Ich gehe mal davon aus, dass ich dir vertrauen kann.“

Jonas nahm ihm die Karte ab und drehte sie in den Händen, die Wimpern gesenkt. „Du glaubst gar nicht, wie erleichtert ich bin, dass ich nicht unter einer Brücke schlafen muss. Ich überlege schon die ganze Zeit, was ich dir als Gegenleistung bieten kann. Also ...“ Jonas atmete vernehmlich durch. „Wenn du mich vögeln willst, wäre das für mich in Ordnung.“

Das hatte den Burschen also beschäftigt. Er wusste nicht, ob er beleidigt, weil es ein großes Opfer zu sein schien, oder gerührt, weil Jonas so verzagt klang, sein sollte.

„Oder ich könnte dir einen blasen“, fuhr Jonas fort. „Das wäre für mich auch okay.“

„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich keine Kinder ficke?“

„Aber ich weiß nicht, was ich sonst für dich tun kann.“

„Wie wäre es mit kochen?“ Er beherrschte nur die Basics und stand auch nicht sonderlich gern am Herd.

Jonas betrübte Miene hellte sich auf. „Und ich könnte deine Wäsche waschen.“

„Nein, das mache ich lieber selbst.“ Das war ihm echt zu intim.

„Du darfst dir jeden Tag wünschen, was es zu Essen geben soll.“ Jonas seufzte. „Wenn das Arschloch bei meinem letzten Job gezahlt hätte, könnte ich auch einkaufen.“

„Was war denn dein letzter Job?“

„Eine Woche schuften auf einer Baustelle.“

„Und wieso hat man dich nicht bezahlt?“

„Angeblich, weil der Chef die Gelder für Schwarzarbeiter nicht rausrücken wollte.“

Dennis horchte auf. Ausbeutung war für ihn ein No-Go. „Welche Firma ist das?“

Jonas nannte einen Namen, der ihm nichts sagte. Sein Smartphone wusste mehr. Es handelte sich um einen Baukonzern, der in Hamburg ansässig war. „Montag statten wir der Baustelle einen Besuch ab“, entschied er. „Das Arschloch setzen wir unter Druck.“

„Wie willst du das denn machen?“

„Da fällt mir schon noch das Richtige ein.“

Einige Momente herrschte Stille, dann fragte Jonas: „Musst du heute in den Club?“

Er nickte.

„Darf ich mitkommen? Ich hab aber kein Geld für Eintritt oder ein Getränk.“

„Als mein Gast ist beides frei.“ Er beäugte Jonas‘ Klamotten. „Hast du noch irgendwo was anderes zum Anziehen?“

„Bei Arnold, aber der kommt erst morgen zurück.“

„Dann gehen wir einkaufen“, beschloss er, erhob sich und scheuchte Jonas in den Flur.

„Ich will nichts geschenkt haben“, protestierte Jonas, während sie in ihre Sneakers und Jacken schlüpften.

„Du gibst mir das Geld zurück, sobald du welches hast.“

„Wo gehen wir überhaupt hin?“

„In meinen Lieblings-Jeansshop.“

„Gibt’s da nur Designerklamotten?“ Jonas folgte ihm zur Wohnungstür.

„Überwiegend. Wenn wir nichts im Angebot finden, gucken wir woanders.“

Sie hatten Glück. Eine Jeans, die Jonas ausgezeichnet stand, war tatsächlich reduziert. Das T-Shirt, das der Verkäufer dazu empfahl, weil es zu Jonas‘ blauen Augen passte, kostete hingegen den vollen Preis.

Wehmütig guckte Jonas das Shirt an und schüttelte den Kopf.

„Ich nehme es. Zu meiner Augenfarbe passte es auch“, behauptete Dennis und zwinkerte dem Verkäufer zu. Er würde Jonas irgendwie später unterjubeln.

„Quatsch! Deine sind braun“, widersprach Jonas.

„Zu braun passt das Oberteil genauso hervorragend.“ Der Verkäufer legte das T-Shirt neben die Kasse. „Möchtet ihr noch in den Jacken stöbern?“

Jonas schüttelte den Kopf, Dennis nickte. Mit der fadenscheinigen Jeansjacke konnte Jonas unmöglich den Herbst und Winter überstehen.

In der Jackenabteilung gab es keine Schnäppchen. Jonas probierte trotzdem einige an. Besonders schien eine Jeansjacke mit weißem Teddyfutter zu gefallen. Sie kostete aber fast vierhundert Euro. Verständlich, dass Jonas sie mit bedauernder Miene zurück an den Ständer hängte. Als sie wieder in den vorderen Ladenbereich gingen, nahm Dennis heimlich die Jacke mit und gab sie dem Verkäufer.

„Bitte getrennt einpacken“, flüsterte er dem Mann zu, bevor er sich zu Jonas gesellte, der das Hemdenangebot begutachtete.

Letztendlich verließen sie mit zwei Tüten, in denen sich fünfzig Prozent Geheimware befand, das Geschäft. Im Schuhladen war es einfacher. Jonas verliebte sich in ein Paar Sneaker und war bereit, die dafür fälligen hundert Euro als Schulden in Kauf zu nehmen.

In einem kleinen Supermarkt, der auf dem Heimweg lag, erstanden sie alles Nötige für ihr Abendessen, nämlich Steaks mit Spinatgratin und gebackenen Kartoffeln. Jonas hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als Dennis diesen Wunsch äußerte. Eigentlich war es als Scherz gemeint gewesen, denn er kannte keinen Mann, der ein Gratin zustande brachte.

Zurück in seiner Wohnung verschwand Jonas ins Gästezimmer. Er versteckte die Geheimeinkäufe in seinem Kleiderschrank und machte es sich mit der Tageszeitung auf der Couch gemütlich. Nach einem Weilchen tauchte Jonas auf und begann, in der Küchenzeile zu werkeln.

Jemanden in der Nähe zu haben, ohne kommunizieren zu müssen, fand Dennis angenehm. Bisher hatte er erst einmal mit einem Mann zusammengewohnt. Ein Jahr waren Chris und er ein Paar gewesen, ehe jener bei ihm einzog. Fünf Monate später hatten sie sich wieder auseinanderdividiert. Es passte einfach nicht. Chris war eine Schlampe, was so lange nicht störte, wie man in getrennten Haushalten lebte. Kochen mochten sie beide nicht gern, was sich als einzige Gemeinsamkeit herausstellte. Im Nachhinein begriff Dennis nicht, wieso ihnen das nicht vorher aufgefallen war. Vermutlich, weil sie ihre gemeinsame Zeit überwiegend mit Bumsen verbracht hatten. Fazit: Sex machte noch lange keine Beziehung.

„Darf ich mir eine Cola nehmen?“, riss Jonas ihn aus seinen Gedanken.

„Du darfst jedes Getränk und jedes Lebensmittel haben.“

„Möchtest du auch was zu trinken?“

„Wirf mir doch bitte auch eine rüber.“

Jonas warf das Fläschchen nicht, sondern brachte es ihm, sogar mit einem Glas. Fehlten nur Eiswürfel und eine Zitronenscheibe.

Er hatte sich gerade wieder in seine Lektüre vertieft, als sein Smartphone vibrierte. Bobo war dran und klang, als hätte er Schmirgelpapier in der Kehle. „Sorry Boss, aber ich kann heute nicht arbeiten.“

„Alles klar. Gute Besserung.“

Dennis rief nacheinander Klaas und Jesse an, die Aushilfen, doch beide hatten keine Zeit. Nun blieb ihm nur noch, Lasse oder Ole, die normalerweise als Gogos ihre Hintern schwangen, zum Tresenjob zu verdonnern, wobei das eine schlechte Idee war. Beide waren schusselig und hatten bei solchen Gelegenheiten den Gästen entweder zu viel oder zu wenig für Drinks abgeknöpft. Sein Blick wanderte zu Jonas.

„Hast du schon mal als Kellner gearbeitet?“, erkundigte er sich.

Jonas, der Kartoffeln schälte, nickte.

„Hättest du Lust, heute Abend einzuspringen? Ein Mitarbeiter hat sich krank gemeldet.“

„Klar, gern.“

„Super. Dann betrachte die Schuhe schon mal als bezahlt.“

4.

Jonas kam sich vor wie im Märchenland. Neue Schuhe, neue Jeans, gutes Essen, ein weiches Bett und nun auch noch ein Job. Okay, nur als Aushilfe, aber super bezahlt.

„Schneide die Scheiben dünner“, befahl Marek, der ihn dabei beobachtete, wie er eine Zitrone schnitt.

Der Mann guckte grimmig. Dennis behauptete, dass Marek ein Herz aus Gold besaß. Noch hatte er davon nichts bemerkt.

Jonas trug die neue Hose, dazu - genau wie die anderen Angestellten - ein schwarzes Shirt, auf dem in rosa Schrift das Logo des Clubs prangte. Lediglich Dennis und Benedikt, den er bei seinem Eintreffen kennengelernt hatte, bildeten eine Ausnahme.

„Und wenn du fertig bist, hol noch zwei Kisten Warsteiner“, sprach Marek weiter, entfernte sich einige Schritte und zückte ein Smartphone, um auf dessen Display zu gucken.

Das Neonlicht ging aus, dafür sprangen Scheinwerfer über der Tanzfläche an. Die Bar wurde von indirekter Beleuchtung erhellt. Der DJ, der sich als Moshila vorgestellt hatte, drehte die Anlage auf.

Jonas warf die Zitronenscheiben in die dafür bereitgestellte Schüssel, wischte seine Hände an einem Geschirrtuch ab und eilte ins Lager. Nachdem er die zweite Kiste geholt hatte, half er Marek, die Flaschen in den Kühlschränken zu verstauen.

Erste Gäste erschienen am Tresen. Kaum waren sie versorgt, kreuzten die nächsten auf. Marek herrschte über den mittleren Tresenbereich. Links bediente Dennis, rechts Jonas. Die meisten Getränkewünsche waren einfach zu erfüllen. Bierflaschen öffnen konnte er hervorragend. Nur bei den Spirituosen musste er sich eingewöhnen, weil er nicht auf Anhieb wusste, wo die Flaschen im Regal zu finden waren.

Um halb elf verordnete Marek ihm eine zehnminütige Pause. Er nutzte sie, um auf der Galerie einen Becher Kaffee zu trinken und das Treiben auf der Tanzfläche zu beobachten. Unglaublich, wie anders als gestern er sich fühlte. Ach, wie viel besser als seit seinem Auszug von zu Hause. Danach hatte er kurz in der Erleichterung, den Schlägen seines Vaters für immer entkommen zu sein, geschwelgt. Dieses Hochgefühl war schnell durch die ständige Sorge um einen Schlafplatz und Geldnot abgelöst worden.

Ein Tänzer, der wild mit den Armen wedelte, erregte seine Aufmerksamkeit. Es sah aus, als ob der Typ ganz andere Musik als die übrigen Gäste hörte. Es konnte aber auch sein, dass der Mann null Taktgefühl besaß und deshalb so rumzappelte.

Jonas‘ Gedanken wanderten zu Pavel. Er freute sich darauf, in dem Café zu arbeiten. Die Idee, Menschen, denen es schlechter ging als ihm, zu helfen, gefiel ihm sehr. Florian pflegte zu sagen, dass er ein viel zu weiches Herz hätte. Da war wohl was dran. Ach ja, er sollte demnächst seinen Freund anrufen. Endlich gab es einen schönen Anlass dafür. Normalerweise sprachen sie ja nur, wenn bei ihm mal wieder Kacke am Dampfen war.

Sein Handy hatte er in Dennis‘ Wohnung gelassen, weil der Akku sowieso bald den Geist aufgab. Zwei Telefonate reichten, um das Scheißding zu leeren. Sobald er ein bisschen Geld in die Finger bekam, wollte er einen neuen besorgen. Ja, klasse! Das sagt der Typ, der gerade zweihundert Mäuse für Schuhe und Klamotten ausgegeben hat, höhnte eine Stimme in seinem Kopf. Normalerweise hätte er bei einem Discounter oder auf einem Flohmarkt Kleidung für einen Bruchteil der Summe gekauft. Er bewegte seinen Zehen in den neuen Sneakers. Nein, die waren das Geld auf jeden Fall wert.

„Hi Süßer“, sprach ihn unversehens jemand an und ließ sich auf der Lehne des Sessels, in dem er saß, nieder. „Ganz allein hier?“

Die Person trug einen Bart, den er als falsch einstufte, dazu dicke, aufgemalte Brauen. Wenn ihn nicht alles täuschte, war das .... „Frieda?“

„Psssst!“ Sie schaute sich nach allen Seiten um, beugte sich runter und flüsterte: „Ich bin inkognito hier. Nenn mich Friedhelm.“

„Wie bist du an dem Türsteher vorbeigekommen?“

„Dennis hat ihn instruiert, mich reinzulassen.“

„Du bist echt krass.“

„Nicht wahr?“ Sie grinste stolz und wackelte mit den hässlichen Brauen.

„Hat dich schon jemand angebaggert?“

Ihre Miene wechselte zu betrübt. „Nein, und ich versteh echt nicht warum. Ich sehe doch ziemlich attraktiv aus.“

Sollte er sie aufklären, dass sie ihn an Räuber Hotzenplotz erinnerte? Lieber nicht. „Vielleicht bist du den meisten zu alt. Du weißt doch: Schwule und der Jugendkult.“

„Ich bin nicht alt!“

Er schätzte sie auf fünfzig. „Das wollte ich damit nicht sagen.“

„Warum sitzt du allein hier oben?“

„Ich mache Pause.“ Die allerdings vorbei sein dürfte. „Ich arbeite heute hinterm Tresen.“

„Wow! Hinter dem mit dem finsteren Marek?“

Er nickte.

„Marek ist total heiß. Genau mein Typ.“ Frieda warf einen schmachtenden Blick in die entsprechende Richtung.

„Du stehst auf Fels-Fressen?“

„Er hat keine Fels-Fresse, sondern ein Charaktergesicht. Bestimmt ist er eine Granate im Bett.“

Darüber dachte er besser nicht nach. „Ich muss wieder an die Arbeit.“

Frieda stand auf und begleitete ihn die Treppe runter. „Ich würde dich gern zum Tanzen auffordern, aber du bist ja leider beschäftigt.“

Die Vorstellung, sich mit Hotzenplotz unter die Tanzenden zu wagen ... nein, auch darüber wollte er nicht nachdenken. „Pass auf dich auf, Friedhelm.“

Sie salutierte. „Ich werde alle, die mich in den schwarzen Raum schleppen wollen, in die Flucht schlagen.“

Das dumme Gesicht, wenn es echt einer der Gäste tat und feststellte, was sich unter Friedas Klamotten verbarg, würde er gerne sehen. Allerdings müsste der Kandidat blind sein.

Er begab sich hinter die Theke.

Später, in einer ruhigen Minute, ging er rüber zu Dennis. „Du hast Frieda erlaubt, hier reinzukommen?“

Dennis zuckte mit den Achseln. „Was sollte ich denn tun? Eine Gruppe Frauenrechtlerinnen vor der Tür, würde uns das Geschäft vermasseln.“

„Sie sieht aus wie eine Vogelscheuche.“

„Stimmt. An ihrer Verkleidung sollte sie arbeiten. Andererseits wäre es fatal, wenn sie authentischer aussehen würde. So wissen alle gleich, dass man besser die Finger von Friedhelm lässt.“

„Aber wieso ist sie hier, wenn sie doch einen Hetero sucht?“

Dennis runzelte die Stirn. „Vielleicht hofft sie, dass einer der Gäste zu diesen – wie heißen die noch, die alles lieben? – gehört.“

„Pansexuell?“

„Genau. Diese Leute, die auch Klorollen ficken würden, wenn’s charakterlich passt.“

„Klorollen haben keinen Charakter.“

„Der Begriff ist bloß ein Platzhalter. Mir fällt nichts besseres ein.“

„Ich glaube, dass hier wirklich nur Typen abhängen, die auf Typen stehen. Für die Panis gibt’s doch gar nicht genug Auswahl.“

„Abgesehen von Friedhelm.“ Dennis feixte.

Amüsiert grinsend kehrte Jonas an seinen Platz zurück.

Um drei Uhr, als Dennis ihn nach Hause schicken wollte, wehrte er sich lediglich halbherzig. Die anstrengende Woche steckte ihm noch in den Knochen, sonst hätte er problemlos bis zum Schluss durchgehalten.

Auf dem Weg zu seinem Domizil stolperte er ein paarmal, weil seine Beine so lahm waren. Außerdem war ihm in der Jeansjacke schweinekalt. Eisiger Wind pfiff durch St. Paulis Straßen.

Vor Dennis‘ Wohnungstür erwartete ihn eine Überraschung in Form des Gummibaums, den er für Frieda transportiert hatte. Zumindest nahm er an, dass es sich um selbigen handelte. Es gab da gewisse Ähnlichkeit. Da er die arme Pflanze nicht im Treppenhaus stehenlassen wollte, nahm er sie – Dennis hatte ihm vor ihrem Aufbruch einen Schlüssel ausgehändigt - mit hinein und stellte sie auf den Küchentresen.

Während er sein abendliches Ritual im Bad vollzog, musste er mehrfach gähnen. Vor Vorfreude auf das weiche Bett kribbelte sein ganzer Körper. Als er unter der Decke lag und seine Wange ins Kissen gekuschelt hatte, sackte er augenblicklich in tiefen Schlaf.


Am nächsten Morgen bewegte er sich auf Zehenspitzen in die Küche. Möglichst leise füllte er den Kaffeeautomaten und ließ sich am Tresen nieder. In der Stille klang das plötzliche Läuten des Festnetzanschlusses so laut, dass er zusammenzuckte. Sollte er rangehen, damit Dennis nicht aus dem Bett fiel? Abermals erklang die Melodie.

Er eilte zur Ladestation, riss das Mobilteil heraus und hielt es an sein Ohr: „Guten Morgen. Dennis schläft noch.“

„Hier ist Sarah. Bist du das, Guido?“

„Nein. Ich bin Jonas.“

„Magst du meinem Sohn ausrichten, dass unser Kaffeetrinken heute leider ausfällt? Wir haben überraschend eine Einladung bekommen.“

„Das sage ich ihm.“

„Danke. Lernen wir dich bald kennen?“

Dachte Sarah, Dennis und er wären ein Paar? „Ich ... ich bin hier nur zu Gast.“

„Dennis darf dich trotzdem gern nächstes Wochenende mitbringen. Liebe Grüße an meinen Sohn. Ciao.“ Sie legte auf.

Langsam ließ er den Hörer sinken. Dennis‘ Mutter schien sehr lieb zu sein. Tränen brannten hinter seinen Augen. Er vermisste nicht seinen Vater, aber seine Mutter. Vielleicht war es an der Zeit, zu versuchen, Kontakt mit ihr aufzunehmen.

Er stellte den Hörer zurück in die Ladestation und betrachtete den Gummibaum, der immer noch auf dem Küchentresen stand. Spontan entschied er, die Pflanze Friedhelm zu taufen.

„War das meine Mutter?“, ertönte Dennis‘ schlafheisere Stimme von der Zimmertür her.

Jonas nickte.

„Und wo kommt der verflixte Baum her?“

„Der stand gestern Nacht vor der Tür.“

„Hm ... Guido wird ihn ausquartiert haben. Er mag kein Grünzeug in seiner Wohnung.“ Dennis tapste in den Raum und steuerte auf den Kaffeeautomaten zu. „Vielleicht können wir das Ding Pavel andrehen.“

„Darf Friedhelm nicht hierbleiben?“

Einen Becher in der Hand, in der anderen die Glaskanne, drehte sich Dennis zu ihm um. „Friedhelm?

„Ist doch ein schöner Name für einen Gummibaum.“

Dennis, dem die Haare wild vom Kopf abstanden, verdrehte die Augen. „Na gut, wir behalten ihn, aber nimm ihn mit in dein Zimmer.“

„Hier, vor dem Fenster, hätte er es doch viel schöner.“

„Dann stell ihn eben da hin.“ Dennis goss Kaffee in den Becher.

Nachdem Jonas den Gummibaum an seinen neuen Platz gebracht hatte, bediente er sich ebenfalls an dem Lebenselixier. Dennis saß am Tresen auf einem der Hocker und ließ die Beine baumeln. Genau wie Jonas trug er ein zerknittertes T-Shirt und Shorts. Zusammen mit der Bettfrisur wirkte er in dem verlotterten Aufzug jünger als sonst.

„Bevor du Friedhelm endgültig adoptierst, solltest du klären, ob er nur interimsweise ausquartiert wurde“, meinte Dennis. „Vielleicht hat Guido ihn, um ungestört mit Johannes Unzucht zu treiben, bloß für eine Nacht aus der Wohnung geworfen.“

„Warum sollte Friedhelm beim Sex stören?“

„Es könnte doch sein, dass Frieda Abhörgeräte in der Pflanze installiert hat. Das traue ich ihr durchaus zu.“

Ehrlich gesagt tat er das auch. Misstrauisch beäugte er den Gummibaum.

„Eigentlich war das nur ein Scherz“, fuhr Dennis fort. „Aber jetzt, wo ich so darüber nachdenke ...“

Einige Momente starrten sie beide Friedhelm an, dann zuckte Jonas mit den Achseln. „Da du wohl kaum mit jemanden im Wohnzimmer rummachen wirst, steht das Bäumchen hier doch ganz gut.“

„Denkst du, nur weil es Bettsport heißt, kann man den ausschließlich im Schlafzimmer ausüben?“

„Willst du damit andeuten, du hast hier auch schon...?“ Er betrachtete die Couch, Sessel und den Küchentresen.

„Das meinte ich rein hypothetisch.“

Jonas vertrieb die verstörenden Bilder aus seinem Kopf und erinnerte sich an das Telefonat. „Übrigens: Deine Mutter lässt ausrichten, dass euer Kaffeetrinken heute ausfällt.“

„Puh! Mir ist eh mehr nach Couchliegen zumute.“

„Und sie hat gefragt, wann sie mich kennenlernt. Ich hab ihr erklärt, dass ich nur dein Gast bin.“

„Damit wird sie sich nicht zufriedengeben. Meine Mutter ist chronisch neugierig.“

„Sie klingt sehr nett.“

„Das ist sie auch.“ Eindringlich guckte Dennis ihn an. „Was ist überhaupt mit deinen Eltern?“

Er winkte ab. „Lass uns lieber nicht darüber reden.“

„Könntest du heute Abend wieder einspringen? Ich glaube nicht, dass Bobo antreten kann.“

„Klar. Gerne.“ Jonas schwang sich auf den Hocker neben Dennis. „Hast du eigentlich eine Spielkonsole?“

„Guck mal in den Schrank da.“ Mit dem Kinn wies Dennis auf das Sideboard, das rechts vom Flatscreen stand.

Er trank einen Schluck Kaffee, bevor er nachschaute. Vier Konsolen stapelten sich in den Regalen. Er griff nach der PS5 und verzog sich damit auf die Couch, um sie zu inspizieren. Äußerlich unterschied sie sich kaum von dem Vorgängermodell, das er bei seinen Eltern gelassen hatte.

„Du darfst sie gern benutzen“, meldete sich Dennis vom Tresen her.

„Erst gibt’s Frühstück.“ Schweren Herzens, weil es ihm in den Fingern juckte, sie auszuprobieren, ließ er die Playstation auf der Couch zurück, um mit den Vorbereitungen zu beginnen.

Als sie um halb neun die Wohnung verließen, fühlten sich seine Finger taub an, weil er stundenlang den Controller malträtiert hatte. Unterbrochen hatte er die Spielerei nur für Abendessen sowie einen Ausflug zu Arnold, um seine Sachen abzuholen. Letzteres war innerhalb kürzester Zeit erledigt. Sein Rucksack stand fertig gepackt in Arnolds Flur. Er brauchte ihn nur entgegennehmen, sich für die Übernachtungsmöglichkeit bedanken und wieder abziehen.

„Du hast viereckige Augen vom vielen in die Glotze gucken“, spottete Dennis in der Fahrstuhlkabine.

Er betrachtete sein Gesicht in der verspiegelten Seitenwand. „Ich finde, die sehen normal aus.“

„Übrigens hab ich vorhin mit Guido telefoniert. Friedhelm muss bei uns bleiben. Angeblich hat Guido eine Gummibaum-Allergie.“

„Sowas gibt’s?“, wunderte sich Jonas.

„Ich halte das für eine Ausrede, um den hässlichen Baum loszuwerden.“

„Friedhelm ist nicht hässlich!“

„Ja, ja. Liebe macht blind.“ Dennis feixte.

An diesem Abend tauchte Frieda nicht auf. Es war allgemein wenig los. Um eins schickte Marek Dennis und ihn nach Hause. Heroisch widerstand er der Versuchung, sich noch ein bisschen an die Playstation zu setzen. Garantiert würde er bis zum Morgengrauen daran festhängen. Das riskierte er lieber nicht, denn er hatte ja einen Termin mit Pavel.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos / Kaipurgay
Bildmaterialien: Shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2023

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