Cover

1.

Nach einem Blick auf den schlafenden Kleinen, den er letzte Nacht abgeschleppt hatte, schwang Guido die Beine aus dem Bett und begab sich ins Bad.

Schon oft hatte er sich vorgenommen, nur noch auswärts Sex zu haben, weil sich dann erübrigte, den jeweiligen Gespielen am Morgen danach rauszuwerfen. Was ihn davon abhielt war die Erfahrung, dass so manche Bude nicht mal den geringsten hygienischen Anforderungen entsprach. Wenn’s nach Pisse stank, alles voller Katzen- oder Hundehaare war oder man über dreckige Klamotten stolperte, dann verging ihm die Lust. Gegen Tierhaare war er allergisch, gegen den Rest auch.

Besonders in seiner Erinnerung haften geblieben war ein One-Night-Stand mit einem Typen, der in einer WG hauste. Das Zimmer des Mannes ging ja noch, aber der Rest ... Im Bad wuchsen Pilze an den Wänden. Das Klo war schwarz, genau wie die Duschtasse. Aus Neugier hatte er einen Blick in die Küche geworfen. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr, dem Geruch zufolge bereits seit einer Weile.

Nachdem er seine Blase erleichtert hatte, stellte er sich unter die Dusche. Gerade shampoonierte er seine Haare, da gesellte sich sein Bettgefährte der letzten Nacht – wie hieß er noch gleich? Sven? Sascha? Irgendwas mit S – zu ihm. Ein süßes Bürschchen, zweifelsohne, aber es reichte, ihn einmal zu vögeln, um genug von ihm zu haben. Ach, eigentlich war selbst das überflüssig gewesen. Bei Stefan, gerade war ihm der Name wieder eingefallen, handelte es sich um Fickfleisch, das willig die Beine breitmachte, wie man es zu Dutzenden im Club fand.

Stefan machte Anstalten, auf die Knie zu gehen, was er verhinderte. „Du, sorry, aber ich hab gleich einen Termin. Dafür ist keine Zeit.“ Einen Termin mit seiner Kaffeemaschine.

Die Unterlippe schmollend vorgeschoben verließ Stefan die Duschkabine. Durch die gläserne Abtrennung sah Guido, wie sich das Kerlchen nachlässig mit einem der Handtücher abtrocknete, es auf den Boden fallen ließ und aus dem Bad stolzierte.

Als er seine Morgentoilette beendet hatte, war Stefan bereits gegangen. Er stellte fest, dass mit dem Burschen auch eine Flasche Champagner aus seinem Kühlschrank verschwunden war. Wichtige Dinge, wie Geld, Kreditkarten und Papiere, verwahrte er an einem sicheren Ort. Der Rest war ihm ziemlich egal. Wenn sich Stefan dadurch, ihm das Edelgesöff entwendet zu haben, besser fühlte, war’s ihm recht.

Mit einem Becher Kaffee setzte er sich auf den Balkon. Ein Gärtner hatte den Freisitz in eine grüne Oase verwandelt. Buchsbäume säumten das Geländer. Bunte Rankpflanzen wuchsen an Gittern die beiden Seitenwände hoch. Hier konnte man vergessen, mitten in der Stadt zu wohnen.

Guido war stolz darauf, was er mit Mitte dreißig erreicht hatte: Anteilseigner eines Nachtclubs und Eigentümer einer Wohnung. Letztere lag idealerweise nur zehn Minuten Fußweg vom Sugar Shack entfernt.

Zugegeben: bei beidem hatte ihm Dennis, sein Freund seit Schultagen, unter die Arme gegriffen. Sein Kumpel war mit dem goldenen Löffel im Mund geboren. Das Haus, in dem Guido wohnte, gehörte Dennis. Die Wohnung hatte er zu einem Vorzugspreis erworben und den Club hätte er allein nicht übernehmen können. Nur weil Dennis die Hälfte dazugezahlt hatte, war das möglich gewesen.

Vor seiner Karriere als Nachtclubbesitzer hatte Guido viele Jahre in einer Bank gearbeitet. Seine Tätigkeit in der Kreditabteilung war einerseits langweilig, andererseits lukrativ gewesen. So mancher Darlehensnehmer hatte ihm eine Provision gezahlt, um eine Unterschrift unter den Kreditvertrag zu bekommen. Das war natürlich illegal, aber so lange man sich nicht erwischen ließ, ein einträgliches Geschäft. Auf diese Weise hatte er genug Geld angesammelt, um sich selbständig zu machen.

Im Großen und Ganzen war er mit seinem luxuriösen Leben sehr zufrieden, doch ab und zu fühlte er sich ein bisschen einsam. Daran änderten seine zahlreichen Bekanntschaften, die er dank des Clubs hatte, auch nichts. Das war alles nur oberflächlich. Den wahren Guido kannte nur Dennis.

Als hätte er seinen Freund gedanklich angestupst, schlenderte jener, ebenfalls einen Becher in der Hand, auf den Balkon. Dennis besaß einen Schlüssel zu seiner Wohnung, genau wie umgekehrt.

„Ist die Luft rein?“ Dennis ließ sich ihm gegenüber nieder.

Guido nickte.

„Was hältst du von einer Motto-Party?“

„Nichts.“ Bei der letzten Veranstaltung dieser Art, Motto Fluch der Karibik, waren siebzig Prozent der Gäste als Pirat verkleidet aufgetaucht. Ein Duell mit Plastiksäbeln, das als Spaß begonnen hatte, war ausgeartet. Der entstandene Schaden – etliche zerstörte Gläser, Inventar und Flaschen mit Hochprozentigem – überstieg die Einnahmen des Abends.

„Ich dachte an eine Beachparty.“

Das klang allerdings harmlos. „Okay. Wie genau stellst du dir das vor?“

„Eine LKW-Ladung Sand, zwei-drei Planschbecken, Plastikpalmen.“

Sand? Nein, vergiss es!“ Der würde noch Wochen oder sogar Monate in irgendwelchen Ritzen zu finden sein.

„Und wie soll das ohne Strand gehen?“

„Gar nicht.“ Guido nippte an seinem Kaffee. „Oder wir machen eine Winter-Beachparty. Dann können wir Styropor-Schneeflocken verwenden.“

„Ich denk mal drüber nach“, brummelte Dennis, sichtlich wenig angetan von der Idee. „Morgen erwarten uns meine Eltern zum Kaffee.“

Seit zwischen Guido und seinen Eltern Funkstille herrschte – sie kamen weder mit seiner sexuellen Orientierung noch seiner beruflichen Veränderung zurecht - kümmerten sich Sarah und Michael Lichterfeld um ihn. Das fand er nach wie vor rührend; auch, dass sie aufgegeben hatten, sie zum Mittagessen einzuladen. Nach einer Nacht im Club brauchten Dennis und er eine längere Erholungsphase.

„Sehen wir uns in einer Stunde im Gym?“, fragte Dennis und erhob sich.

Er nickte.

Das Trainingscenter befand sich im Erdgeschoss und Keller des Gebäudes. Ersteres beherbergte die Ausdauer- und Kraftstationen, letzteres einen Swimmingpool. Die Kundschaft bestand vorwiegend aus Männern, die auch das Sugar Shack besuchten.

Kabinen oder andere abgeschlossene Bereiche, um sexuellen Freuden zu frönen, suchte man vergeblich. Dennis wollte das Gym sauber halten, wie er es auszudrücken pflegte. Außerdem gab es unter den Kunden auch Frauen. Die hätte man mit sowas vergrault.

 

Das Sugar Shack öffnete offiziell um neun. Guido war stets zwei Stunden eher da. Er überzeugte sich gern mit eigenen Augen vom einwandfreien Zustand der Toiletten und des Darkrooms. Die Putzkolonne war zwar zuverlässig, aber nicht für die Instandhaltung zuständig. Defektes Inventar meldete die Chefin des Trupps, sofern ihr welches auffiel, den Rest musste er erledigen.

Wer glaubte, dass ein Nachtclubbesitzer lediglich mit Geldzählen beschäftigt war, irrte sich. Der Laden lief nur rund, wenn man selbst Einsatz zeigte. Dennis und er standen daher regelmäßig hinter einem der drei Tresen und sprangen ein, wenn vom Türpersonal jemand ausfiel. Zusätzlich gab es haufenweise Bürokram zu erledigen.

Nachdem die Inspektion zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war, ließ er sich im Büro hinterm Schreibtisch nieder. Am Vortag hatte Marek, Barkeeper und Dienstältester, einen Stapel Rechnungen für Getränkelieferungen darauf abgelegt. Jede Position war säuberlich abgehakt. An Marek war echt ein Buchhalter verlorengegangen.

Da keine Reparaturen anstanden, – vieles erledigte Guido, mit zwei rechten Händen gesegnet, selbst – begann er, die Belege per Online-Banking zu bezahlen. Einige der Lieferanten boten Skonto, was er stets ausnutzte. Dennis neckte ihn daher oft als Pfennigfuchser, aber hey – so war auch Dagobert Duck zu Reichtum gekommen.

Um halb neun trafen Marek und Pedro ein, dicht gefolgt von Yannik, Bobo und Bent. Kurz darauf erschien Dennis, der an diesem Abend mit Bent hinter dem Tresen rechts vom Eingang stehen würde. Guido unterstützte Marek und Bobo an der hinteren, umsatzstärksten Bar. Pedro und Yannik übernahmen die links vom Eingang.

Marek, fast vierzig, hatte bereits unter ihrem Vorgänger gedient. Der Mann redete nicht viel, was eine nette Umschreibung für Maulfaul war. Bobo, ein Student, plapperte hingegen wie ein Wasserfall. Gutmütig ließ Guido den Wortschwall, während sie alles vorbereiteten, über sich ergehen.

„... wollte einen vierfachen Whisky. Marek hat ihm stattdessen ein großes Glas Wasser hingestellt und den Rat gegeben, lieber nicht in den Laden zu kotzen. Der Typ würde sonst Hausverbot kriegen“, erzählte Bobo. „Der Gast hat gemault, aber letztendlich auf den Tipp gehört.“

Natürlich gab es kein Hausverbot für Leute, die ihren Mageninhalt im Club entleerten, so lange sie es auf den Toiletten - vorzugsweise ins Klobecken – taten. Die Gästezahl wäre sonst schon erheblich dezimiert.

„Und dann hat ein Typ von Kirk verlangt, Britney Spears zu spielen. Er würde sonst den Schwan mitnehmen“, laberte Bobo weiter. Bei dem Schwan handelte es sich um ein Porzellantier, das die Theke neben dem DJ-Pult, hinter dem gestern Kirk tätig war, schmückte. Es stammte, genau wie Marek, vom Vorgänger und war grottenhässlich – letzteres galt nicht für Marek. Der war ziemlich ansehnlich.

„Kirk hat sich geweigert. Da hat der Typ sich doch echt den Schwan gegriffen und ist damit losgestiefelt. Kurt hat ihn am Ausgang abgefangen und den Schwan gerettet“, fuhr Bobo fort.

Schade. Guido nahm sich vor, Kurt sowie Sergej, den zweiten Türsteher, zu instruieren, den nächsten Gast, der den ollen Schwan mitnehmen wollte, durchzulassen. Dennis stand auf das Teil, sonst hätte er es schon längst entfernt.

Als letzte tauchten Sergej, Kurt, Lasse und Ole, die Gogo-Tänzer und Moshila, der heutige DJ, auf. Fünf Minuten später öffneten sie die Pforten.

Gegen halb zwölf verordnete Marek ihm eine Pause. Zugleich nahm Dennis, an dessen Tresen am wenigsten los war, so dass Bent es locker allein schaffte, eine Auszeit. Gemeinsam begaben sie sich in den 1. Stock, der aus einem rund um den Raum laufenden Balkon bestand. Polstermöbel luden zum Chillen ein. Auf zwei einander gegenüberstehenden Sesseln ließen sie sich nieder, jeder eine Flasche Bier in der Hand.

„Was hältst du von einer kleinen Wette?“, fragte Dennis.

„Kommt drauf an.“

„Siehst du das Mauerblümchen da?“ Dennis wies mit der Bierflasche in die Richtung von Bents Tresen, an dem zwei Leute hockten. Der eine war Marco, ein Stammgast, der andere ein Unbekannter. Sehr wahrscheinlich meinte Dennis letzteren, denn Marco war häufig im Darkroom anzutreffen. „Ich wette um fünfhundert Mäuse, dass du den nicht ins Bett kriegst.“

Guido beäugte den Typen. Der Mann trug ein gestreiftes Hemd zu Jeans. Soweit er erkennen konnte, war der Typ sehr schlank. Sonderlich hässlich sah der Mann nicht aus. Es wäre also kein großes Opfer, ihn zu vögeln.

„Leicht verdientes Geld.“ Er trank einen Schluck, wobei er den Typen weiter betrachtete. „Der ist so reif wie Fallobst.“

„Der hat in den letzten anderthalb Stunden etliche Angebote abgelehnt.“

Guido zuckte mit den Achseln. „Vielleicht ist er bloß wählerisch.“

„Sogar Schwanzus Longus hat einen Korb bekommen.“

Das war ihr Spitzname für Mustapha, wegen seiner extremen Schwanzgröße. Der Typ war heiß begehrt.

„Vielleicht steht er weniger auf Quantität als auf Qualität“, mutmaßte Guido.

„Dann solltest du ja leichtes Spiel haben.“ Grinsend prostete Dennis ihm zu.

2.

 

Seufzend guckte Johannes zu, wie die Schüler aus dem Klassenzimmer stürmten. Schon vor zehn Minuten hatten die meisten angefangen, ihre Sachen zu packen. Er verstand durchaus, dass die Kinder ins Wochenende wollten. Ihm ging’s ja genauso. Trotzdem wäre es ihm gegenüber höflich, zumindest bis zum Ende der Stunde Aufmerksamkeit zu heucheln.

Nicht zum ersten Mal in seinem Leben bedauerte er den Entschluss, Pädagoge zu werden. Man kam sich vor wie ein Sklaventreiber, wenn man versuchte, den Schülern Wissen nahezubringen. Schuld an der Lernunlust gab er der allgemeinen Medienverseuchung. Etliche Teenager glaubten, auch ohne Bildung Millionäre werden zu können, weil es einige, die sich im Internet mit Werbung prostituierten, geschafft hatten. Dass es sich dabei um einen geringen Prozentsatz der Leute, die sowas versuchten, handelte, wurde stoisch ignoriert.

Er begab sich ins Lehrerzimmer, wo ebenfalls Aufbruchstimmung herrschte. Während er die Klassenarbeiten, die er am Wochenende korrigieren wollte, in seine Tasche packte, lauschte er den Gesprächen.

„... endlich mal wieder Angeln“, erzählte Andreas, Sport und Biologie. „Nichts als Ruhe und ab und zu das Summen einer Mücke. Herrlich!“

„Wäre mir zu langweilig“, erwiderte Martina, Deutsch und Philosophie. „Ich fahre mit den Kindern in den Heidepark.“

Und ich plane, in einen Schwulenclub zu gehen, würde sein Beitrag lauten. Wohlweislich behielt er das für sich. Die Schulleitung predigte zwar Toleranz, doch wenn man genauer hinschaute, handelte es sich bloß um ein Lippenbekenntnis. Erst neulich hatte der Kollege Harald, Religion und Englisch, einen schwulenfeindlichen Witz gerissen und damit allgemeine Heiterkeit geerntet. Dieses Arschloch! Nach Johannes‘ Meinung gehörte der Typ überallhin, bloß nicht in eine Schule. Okay, auch nicht in ein Krankenhaus oder Altenheim. Am besten versauerten solche Arschgeigen in irgendeinem Büro ohne Kundenkontakt.

Am Fahrradständer erwartete ihn eine böse Überraschung: Sein Hinterreifen war platt. Nicht zu übersehen: Die Heftzwecke, die im Mantel steckte. Es war nicht der erste Anschlag auf seinen Drahtesel. Pro Halbjahr wurde sein armes Fahrrad mindestens einmal das Opfer irgendeines Schülers. Vielleicht sollte er es gegen ein weniger auffälliges Modell eintauschen. Er hing jedoch an seinem Hollandrad mit dem Korb, den er mit einer Girlande aus Plastikgemüse geschmückt hatte. Ein Statement, das allen seinen Status als Vegetarier demonstrieren sollte. Wenigstens diesbezüglich brauchte er sich nicht zu verstecken.

Seufzend – an seinem Arbeitsplatz neigte er dazu, ständig zu seufzen – zückte er sein Handy. Seine Mutter nahm das Gespräch sofort an: „Hallo Schatz.“

„Kann Papa mich abholen? Mein Fahrrad hat eine Panne.“

„Natürlich. Ich sag ihm gleich Bescheid. Bist du noch in der Schule?“

Seine Eltern, Erzieherin und ebenfalls Pädagoge, beide vorzeitig im Ruhestand, waren die verständnisvollsten Menschen der Welt. Der Vorschlag, sein Glück in einem zwielichtigen Etablissement, (nicht seine Worte, sondern ihre), zu versuchen, stammte von seiner Mutter. Sie hatte sogar angeboten, ihn zu begleiten. So tief war er allerdings noch nicht gesunken. Die Vorstellung, in einen schwulen Club zu gehen, bereitete ihm zwar Bauchschmerzen, doch die, an der Hand seiner Mutter dort aufzutauchen, war völlig absurd.

In den zehn Minuten, die er auf seinen Vater wartete, streiften ihn viele mitleidige Blicke. Keiner der Kollegen bot an, ihm zu helfen. Alle hatten es eilig, nach Hause zu kommen.

Als sein Vater eintraf, war er der letzte auf weiter Flur. Gemeinsam wuchteten sie sein Rad in den Kombi. Dann nahm er auf dem Beifahrersitz Platz.

„Wie ist das passiert?“, wollte sein Vater wissen.

„Entweder bin ich heute Morgen über die Heftzwecke gefahren oder jemand hat sie in den Reifen gestochen.“

„Ja, ja. Die Dinger liegen echt überall rum.“

„Ich gehe auch von der zweiten Möglichkeit aus. Als Lehrer hat man eben, wie du weißt, viele Feinde.“

„Ich hab dir tausendmal davon abgeraten, einer zu werden.“

„Wer hört schon auf seine Eltern?“

Sein Vater, der sich mittlerweile in den Verkehr eingefädelt hatte, schmunzelte.

„Eigentlich mag ich meinen Job, wenn nur die Kollegen und Kinder nicht wären.“

„Das hab ich auch oft gesagt. Wie wäre es, wenn du in die Erwachsenenbildung wechselst?“

„Daran hab ich auch schon gedacht. Die Idee muss aber noch reifen.“

Sein Vater, ein passionierter Bastler, blieb in der Tiefgarage, um den Schaden am Fahrrad näher in Augenschein zu nehmen. Seine Mutter empfing ihn mit aufgewärmtem Mittagessen, Bohnensuppe mit Tofuwürstchen. Als er dem Fleisch entsagt hatte, waren sie ebenfalls Vegetarier geworden.

Sie gesellte sich zu ihm, als er am Küchentisch sein spätes Mittagsmahl, es war bereits zwei – verspeiste. „Stell dir vor: Die neue Nachbarin hat einen schwulen Sohn. Soll ich die beiden mal zum Kaffee einladen? Dann kannst du ihn kennenlernen.“

Kuppelversuche unternahm seine Mutter, seit sie vor zwei Jahren von Vollzeit auf Teilzeit gewechselt hatte, ständig. Sie sollte sich ein anderes Hobby suchen. „Ne, lass mal lieber.“

„Aber der Gunnar sieht wirklich nett aus. Er ist zwar erst siebzehn, aber Age Gap ist ja heutzutage modern.“

Johannes hielt mitten in der Bewegung inne. „Age Gap?“

„Ich hab mich ein bisschen umgesehen. Es gibt derzeit ganz viele schwule Liebesromane, die dieses Thema behandeln.“

Schwule Liebesromane?“

„Natürlich lese ich sowas nicht. Ich hab nur oberflächlich geschaut.“

Er ließ seinen Löffel sinken. „Ich bin nicht pädophil.“

„Das weiß ich doch.“ Sie griff über den Tisch, um seine Hand zu tätscheln. „Ein Siebzehnjähriger ist auch kein Kind mehr. Seine Mutter sagt, er ist reif für sein Alter.“

„Ich verzichte trotzdem.“

„Nun iss, sonst wird die Suppe kalt.“

Als er den Schokopudding, den es zum Dessert gab, halb vernichtet hatte, erschien seine Vater. „Hatte noch einen neuen Schlauch da. Dein Fahrrad ist wieder heil.“

„Danke.“ Er schenkte seinem Vater ein Lächeln.

Eine Viertelstunde später brach er auf. Um nicht über die Reeperbahn radeln zu müssen, wählte er den Weg am Hafen entlang. Dort wimmelte es allerdings vor Touristen. Im Gegensatz zu Hoteliers, Restaurant- und Ladenbesitzern, konnte er dieser Klientel nichts abgewinnen. Sie verstopften die Straßen und guckten nie geradeaus. Etliche Male musste er ausweichen, um nicht einen dieser Leute über den Haufen zu fahren.

Seine Wohnung lag neben dem Michel. Es handelte sich um einen Genossenschaftsbau. Entsprechend erschwinglich waren die Mieten und der Instandhaltungszustand ziemlich gut.

Im Fahrradkeller traf er Frieda aus dem Erdgeschoss. Sie bestritt ihren Lebensunterhalt mit Klavierunterricht, Verkauf von selbstgebasteltem Schmuck und Trödel auf Flohmärkten. Ersteres war nervig, wegen der Lärmbelästigung, fand aber meist tagsüber statt, so dass er wenig davon mitbekam. Letzteres führte dazu, dass Frieda jeden Winkel des Hauses als Lager benutzte.

Er half ihr, eine grottenhässliche Stehlampe zwischen den Fahrrädern zu verstauen. Garantiert würde sich einer der Bewohner darüber beschweren. Frieda war jedoch zuversichtlich, sie auf dem nächsten Flohmarkt loszuwerden.

„Darf ich dich zum Dank auf eine Tasse Kaffee einladen?“, fragte sie, als sie die Treppe vom Keller ins Erdgeschoss hochstiegen.

„Gern.“

Frieda war schätzungsweise fünfzig und hatte schon viel von der Welt gesehen. Das spiegelte sich in ihrer Wohnung. Überall standen oder hingen Gegenstände, die sie von irgendwoher mitgebracht hatte. Ein Stück Treibholz, angeblich am Strand von Bali aufgesammelt. Ein Rosenkranz aus St. Petersburg, ein kitschiges Bild des Papstes aus Rom, ein Sombrero, von dem sie zugab, ihn auf Ibiza erstanden zu haben.

Im Wohnzimmer stand das Klavier. Der Rest der Einrichtung beschränkte sich auf ein Zweiersofa, einen Tisch, zwei Stühle und drei vollgestopfte Regale. Einen Fernseher besaß Frieda nicht. Sie meinte, dass sie sich selbst genug wäre und nicht das Leben anderer angucken müsste.

Johannes setzte sich auf die Couch und betrachtete die Yucca-Palme, die auf der Fensterbank stand. Frieda behauptete, die Wurzel der Pflanze in Brasilien ausgegraben zu haben. Ob Yuccas dort wuchsen, entzog sich seiner Kenntnis. Ihm war’s eh egal. Er hatte andere Probleme, wie den anstehenden Clubbesuch.

Ihm lag das so sehr auf der Seele, dass er, als Frieda mit einem Tablett hereinkam, herausplatzte: „Ich muss morgen in einen schwulen Club gehen.“

Sie war die einzige im Haus, die von seiner sexuellen Orientierung wusste. Gleich nach seinem Einzug, als sie mit Salz und Brot auftauchte, hatte sie ihn von oben bis unten gemustert und direkt gefragt: „Bist du schwul?“

Sie nahm neben ihm Platz, stellte ihre Fracht ab und reichte ihm eine Tasse. „Du musst?“

„Meine Mutter drängt mich. Wenn ich es nicht tue, wird sich mich an den Haaren dorthin schleifen.“

„Keine schöne Alternative.“

Er nickte und nippte an seinem Kaffee. Hervorragendes Aroma. Frieda kaufte ihre Kaffeebohnen in einer privaten Rösterei.

„Ich war zwar noch nie in einem Etablissement, in dem sich nur Männer aufhalten, aber die Regeln dürften die gleichen sein: Lass dich nicht anbaggern. Gib dich unnahbar. Das weckt Interesse.“

„Meinst du?“

„Ich hab damit Erfahrung. Je mehr Leute du abweist, desto wahrscheinlicher taucht irgendwann dein Traumprinz auf.“

„Ich will keinen Prinzen.“

Frieda grinste. „Klar. Ich auch nicht. Aber wenn einer auf einem weißen Ross angeritten käme, würde ich schon überlegen, ob ich meine Meinung ändere.“

Zugegeben: Johannes‘ feuchte Träume rankten um einen Mann, der ihn so sehr begehrte, dass kein Weg zu weit und jedes Mittel recht wäre, um ihn zu erobern. Ein Pferd spielte dabei bisher keine Rolle. Eher eine weiße Limousine. Vermutlich hatte er zu oft Pretty Woman angesehen.

„Außerdem darfst du dich nicht zu sehr aufbrezeln. Schließlich soll dein Traumprinz dein Inneres lieben, nicht deine Fassade“, fuhr Frieda fort.

Das hatte er ohnehin nicht vor, schon mangels geeigneter Outfits.

„Ich könnte mitkommen und auf dich aufpassen“, schlug sie vor.

Entschieden schüttelte er den Kopf.

Sie seufzte. „Schade. Ich hätte zu gern mal einen Darkroom von innen gesehen.“

„Ich bezweifle, dass man dich da reinlassen würde.“

„Ich könnte mich als Mann verkleiden.“

Er verdrehte die Augen. „Klar. Mit falschem Bart und so.“

„Die Idee gefällt mir immer besser.“

„Schlag sie dir aus dem Kopf.“ Ehrlich gesagt würde er Frieda nur zu gern mitnehmen. Dann hätte er wenigstens jemanden, mit dem er sich unterhalten könnte.

„Schon gut.“ Sie streichelte seinen Arm. „Keine Sorge. Ich werde dir auch nicht heimlich folgen.“

 

Am nächsten Abend um sieben war er ein Nervenbündel. Etliche Male durchwühlte er seinen Kleiderschrank und probierte diverse Hemden an. Letztendlich blieb er bei einem weiß-braun gestreiften hängen, von dem seine Mutter sagte, es würde gut zu seinen Augen passen. Dazu zog er seine beste Jeans an. Vor der Klamottenauswahl hatte er geduscht, sein Schamhaar getrimmt und sich rasiert.

Im Bad prüfte er sein Aussehen im Spiegel. Gewöhnlich traf es am besten. Was sollte er mit seinen Haaren machen? Der übliche Seitenscheitel erschien ihm zu brav. Andererseits hatte Frieda doch gesagt, er solle sich nicht zu sehr aufbrezeln, also ließ er die Frisur so.

Johannes begann, durch die Wohnung zu tigern. Der Club öffnete erst um neun. Es wäre wohl ratsam, nicht vor halb zehn dort aufzuschlagen, damit er nicht der erste war.

Um vierzehn Minuten nach neun – laut Routenplaner brauchte er rund sechzehn bis zum Sugar Shack, das in einer Seitenstraße der Reeperbahn lag – brach er auf. Glücklicherweise was das Wetter schön, so dass er auf Regenkleidung verzichten konnte.

Wieder wählte er die Strecke, die am Hafen entlang führte. Zahlreiche Nachtschwärmer waren unterwegs. Mehrfach musste er ausweichen, wenn jemand – ohne sich umzugucken – über den Radweg lief. Als er in die Davidstraße eingebogen war, stieg er ab. Es hatte keinen Sinn, in der bevölkerten, schmalen Gasse zu radeln.

Um sechs Minuten nach halb zehn erreichte er das Sugar Shack. Vor dem Eingang lungerten ein paar Raucher herum. Er betrachtete die grelle Neonreklame und dachte wehmütig an seine gemütliche Couch. Vielleicht sollte er sein Vorhaben um eine Woche verschieben. Nun mach schon!, flüsterte es in seinem Schädel. Du Weichei!

Johannes kettete sein Fahrrad an einen der Metallbügel, die den Straßenrand säumten und marschierte auf den Club zu. Ihm klopfte das Herz bis zum Hals. Was, wenn man ihn gar nicht rein ließ? Er hätte sich vorher über eine eventuelle Kleiderordnung informieren sollen. Andererseits trugen die Raucher ganz normale Klamotten.

Der Typ, der die Tür bewachte, winkte ihn durch. Er atmete auf. Hürde eins war genommen. Als er den Club betrat, wurde er von Laserblitzen geblendet. Blinzelnd versuchte er, sich zu orientieren. Geradeaus war die Tanzfläche. Links und rechts befanden sich Tresen. Er steuerte ersteren an, weil das Licht dort gedämpfter wirkte. Schließlich wollte er nicht auf dem Präsentierteller sitzen.

„Hi Süßer“, begrüßte ihn der Barkeeper. „Was willst du trinken?“

„Ein Pils, bitte.“

„Warsteiner? Jever? Holsten?“

„Ähm ... Warsteiner.“

Flink beförderte der Mann eine Flasche auf den Tresen, entfernte den Kronkorken und nahm ihm drei Euro ab. Johannes trank einen großen Schluck, bevor er sich genauer umschaute.

Inzwischen war das Blitzlichtgewitter vorüber. Auf der Tanzfläche zappelten ein paar Leute in Outfits, die er bisher nur im Internet oder Zeitschriften gesehen hatte. Ledergeschirre mit Nieten. Hüfthosen, die den Schritt betonten. Ein Typ trug so knappe Shorts, dass die halben Arschbacken hervorguckten.

Ansonsten standen die Leute in Grüppchen herum. Anscheinend kannten die meisten sich. Dadurch fühlte sich Johannes noch mehr fehl am Platz.

Er hatte sein zweites Pils – das erste war rasch durch seine Kehle geronnen – zur Hälfte geleert, als ein Typ den Hocker neben seinem in Beschlag nahm und ihn anlächelte. „Hi. Neu hier?“

„Öhm ... ja.“

„Im Darkroom ist noch nicht viel los. Da wäre reichlich Platz, um unsere Unterhaltung fortzusetzen.“ Auf obszöne Weise schob der Mann die Zungenspitze in die Wange.

„Danke, aber ich sitze hier sehr gut.“

Der Typ zuckte mit den Achseln und verzog sich. Ab dem Moment erhielt Johannes circa jede Viertelstunde ein unseriöses Angebot. Entweder waren die Typen alle notgeil, so dass sie sogar jemanden wie ihn abschleppen würden oder er befand sich in einem Paralleluniversum.

Um kurz nach zwölf, - er hatte gerade beschlossen, nach Hause zu fahren – setzte sich ein extrem attraktiver Mann auf den Hocker neben seinem. Aus dem Augenwinkel betrachtete er das markante Profil. Der Typ wirkte wie einem Modemagazin entsprungen. Gleichmäßige Gesichtszüge mit einem Hauch Bartschatten. Die Klamotten schrien förmlich: Wir waren teuer.

„Darf ich dir was zu trinken ausgeben?“, wandte sich der Mann an ihn.

„Danke, nein. Ich wollte gerade gehen.“

„Jetzt schon?“

„Die Woche war lang und hart.“

Der Typ lüpfte eine Augenbraue. „So? Was arbeitest du denn?“

„Ich bin Lehrer.“ Die bisher längste Unterhaltung, ohne dass das Wort Darkroom gefallen war.

„Wow! Dann wäre ich auch erledigt. Welche Fächer?“

„Latein und Mathe.“

Der Mann zog eine Grimasse. „Beides nicht meine Lieblingsfächer.“

„Das sagen alle meine Schüler.“

„Ich mochte Sport und Bio am liebsten.“

Nach Sport sah der Typ auch aus. Bestimmt besaß er einen Waschbrettbauch. „Ich sollte jetzt wirklich los. Mein Bett ruft.“

„Ruft es nur nach dir oder wäre da noch Platz?“

Innerlich seufzend, weil das ein dämlicher Anmachspruch war, schüttelte Johannes den Kopf. „Es ist zu klein für zwei.“

„Schade“, brummelte der Mann. „Ich bin übrigens Guido.“

„Johannes.“

„Schöner Name.“

Was sagte man darauf? Ihm fiel nichts ein. „Ich wünsch dir noch einen schönen Abend.“

„Kommst du wieder her?“, erkundigte sich Guido, als er aufstand.

„Weiß ich noch nicht. Ist – glaube ich – nicht so mein Ding.“

„Was ist denn dein Ding?“

Auf der Couch abhängen, mein Schachclub, langweilige Dinge eben. „Weiß ich nicht genau. Ich probiere noch rum.“ Er schenkte Guido ein Lächeln. „Mach’s gut.“

Draußen guckte er einen Moment versonnen in die Ferne, ehe er zu seinem Fahrrad ging. Eigentlich war es gar nicht so schlimm gewesen.

3.

 

„Da gehen fünfhundert Mäuse flöten“, spottete Dennis, der seine Aktion von der anderen Seite des Tresens verfolgt hatte.

Guido winkte ab. „Noch ist nicht aller Tage Abend. Der kommt bestimmt wieder.“

Dennis setzte eine skeptische Miene auf.

„Das hab ich im Urin“, fügte er hinzu.

„Dein Typ wird verlangt“, meldete sich Bent und wies mit dem Kinn in Richtung des hinteren Tresens.

Das erste Mal seit langem nahm Guido keine Chance wahr, im Darkroom einen wegzustecken. Er ging auch allein nach Haus, im Gegensatz zu Dennis, der einen kleinen Blonden abschleppte. Jagdfieber hatte ihn erfasst. Sowas war ihm ewig nicht passiert. Dabei brauchte er die fünfhundert Mäuse gar nicht. Ihm ging’s ums Prinzip. Er verlor eben sehr ungern.

Mit Spannung sah er dem nächsten Samstag entgegen. Entgegen seiner ersten Einschätzung war er allmählich unsicher, ob Johannes erneut auftauchte. Irgendwie musste er, wenn sie sich wiedersahen, in den Besitz von Kontaktdaten kommen.

Samstagabend, er arbeitete diesmal mit Bent, ließ er den Eingang nicht aus den Augen. Um halb zehn war es soweit: Johannes kam herein. Er atmete auf.

Johannes wählte den gleichen Platz wie beim letzten Mal.

Mit einem breiten Lächeln ging Guido hin und lehnte sich über die Theke, beide Unterarme darauf abgestützt. „Hi. Darf ich dir heute was zu trinken ausgeben?“

„Du arbeitest hier?“

„Nicht nur das. Mir gehört der halbe Club.“

„Die linke oder die rechte Hälfte?“

„Darüber hab ich noch nie nachgedacht. Ich glaube, das muss ich mal mit meinem Geschäftspartner besprechen.“ Absichtlich betonte er das Wort, damit nicht der Eindruck entstand, er wäre gebunden.

„Ich möchte mein Getränk lieber selbst bezahlen.“ Johannes bedachte ihn mit einem um Verständnis heischenden Blick. „Nichts für ungut, aber ich lasse mich nicht gern einladen.“

Eine kluge Einstellung, denn so mancher wertete ein spendiertes Getränk als Bezahlung für einen Fick. Guido bildete da keine Ausnahme. „Na schön. Was darf ich dir geben?“

„Ein Warsteiner, bitte.“

Leider beschloss eine Gruppe Neuankömmlinge, sich am linken Tresen niederzulassen. Er musste daher Bent unterstützen. Dennis hatte mal gemeint, die Vorliebe der Gäste für die mittlere oder rechte Bar hätte politische Gründe. Guido weigerte sich, das zu glauben. Ein schwuler Mann, der die Rechten wählte, war ein Paradoxon. Andererseits hatte der Oberrassist Trump viele Wählerstimmen aus der farbigen Bevölkerung erhalten. Nichts war also unmöglich.

Als wäre ein Startschuss gefallen, die linke Bar zu stürmen, fanden sich weitere Leute an der Theke ein. Auch dazu hatte Dennis eine Theorie. Deutsche glaubten, dass dort, wo am meisten los war, die besten Waren angeboten wurden. Das stimmte ja meist, allerdings nicht im Sugar Shack.

Jedenfalls dauerte es eine ganze Weile, bis er sich wieder Johannes widmen konnte. Neben dem saß inzwischen Max, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, jeden Arsch im Club zu vögeln.

„Zieh Leine“, forderte er Max freundlich auf, woraufhin der erstaunt die Augenbrauen hob und zwischen Johannes und ihm hin und her guckte.

„Kein Kommentar“, schob Guido hinterher, diesmal in scharfer Tonlage.

Max trollte sich.

„Der will nur das eine“, informierte er Johannes, dessen Miene Verständnislosigkeit spiegelte.

„Ich fand ihn nett.“

Nett!“ Er schnaubte verächtlich. „Die kleine Schwester von Scheiße.“

„Der Spruch ist doof.“

„War deine Woche wieder so anstrengend?“

Johannes winkte ab. „Nach den Sommerferien sollten die Kinder doch eigentlich voller Tatendrang sein, doch das Gegenteil ist der Fall.“

„ich hatte nach solcher langen Auszeit auch nie Lust, wieder in die Schule zu gehen.“

„Ich schon“, murmelte Johannes, die Wimpern gesenkt, mit einem verlegenen Lächeln.

Das hatte Guido bereits vermutet. Er checkte die Lage. Dennis, heute hinterm mittleren Tresen, schien sich zu langweilen. Meist ging es ihm auch so, wenn er mit Marek arbeitete. Der Typ besaß die Effizienz von drei Barkeepern.

Er ging rüber und verabredete mit Dennis, dass der ab Mitternacht den Rest seiner Schicht übernahm.

„Ich will dir ja nicht die Gelegenheit zu gewinnen versauen“, meinte Dennis gönnerhaft.

Innerhalb der folgenden Stunde wurde Johannes noch zweimal angebaggert. Einmal von Schwanzus Longus, der dafür bekannt war, einen Korb nicht zu akzeptieren und einmal von Cersten, einem süßen Twink. Beiden erteilte Johannes eine Abfuhr, was Guido mit Genugtuung zur Kenntnis nahm. Er wertete es als Zeichen, dass er eine reelle Chance hatte.

Punkt zwölf löste Dennis ihn ab. Zu dem Zeitpunkt nuckelte Johannes am zweiten Pils. Ebenfalls ein Warsteiner in der Hand, begab sich Guido auf die andere Seite der Theke und setzte sich neben Johannes.

„Nanu? Hast du schon Feierabend?“, wunderte sich der.

„Mein Kompagnon ...“ Er wies mit der Flasche auf Dennis. „... übernimmt für mich.“

„Wieso musst du überhaupt noch arbeiten, wenn dir der halbe Laden gehört?“

„Weil gutes Personal rar und teuer ist.“ Er prostete Johannes zu und trank einen Schluck. „Erzähl doch mal einen Schwank aus deinem Arbeitsalltag.“

„Ach, lieber nicht. Das meiste ist nicht lustig.“

„Dann erzähl was Unlustiges.“

Johannes seufzte. „Neulich hat ein Schüler im Unterricht sein Handy rumgereicht. Darauf befanden sich Bilder von einer Mitschülerin.“

„Lass mich raten: Sie war nackt.“

„Allerdings. Das arme Mädel hat die Klasse gewechselt. Vermutlich wird sie auch noch die Schule wechseln.“

„Was bin ich froh, dass Smartphones erst nach meiner Schulzeit erschwinglich geworden sind.“

„Ich auch.“ Wieder stieß Johannes einen Seufzer aus. „Die Scheißdinger sind ja auch noch Spielkonsole und Spickzettel in einem.“

„Das hätte mir in der Abschlussprüfung sehr geholfen.“

„Manchmal komme ich mir vor wie ein Dompteur. Ständig muss man die wilden Tiere ermahnen, mal ihre menschliche Seite rauszulassen.“

„Gibt es denn gar nichts Erfreuliches zu berichten?“

„Doch, natürlich. Gestern lag in meinem Fahrradkorb eine Möhre.“

Fragend zog Guido die Augenbrauen hoch.

„Eine aus Plastik. Die hatte ich verloren. Jemand hat sie gefunden und da reingepackt.“

„Und woher wusste dieser jemand, dass sie dir gehört?“

„Ich bin der einzige, der seinen Fahrradkorb mit einer Gemüsegirlande geschmückt hat.“

„Warum das denn? Damit du deinen Drahtesel zwischen all den anderen erkennst?“

„Das ist auch so einfach. Es fährt kein zweiter ein hellblaues Hollandrad.“

Offenbar handelte es sich bei Johannes um einen Exzentriker. Welcher Mann fuhr denn bitteschön so ein Rad, dazu noch mit Korb und Plastikgemüse daran? Da wurde man ja automatisch zum Gespött.

„Ich bin Vegetarier“, erklärte Johannes. „Die Girlande ist ein Statement.“

Dann müsste er im Gegenzug sein Fahrrad mit Plastikwürsten und -steaks schmücken. An seinem coolen Mountainbike würde das Scheiße aussehen.

„Was hältst du davon, unsere Unterhaltung in meiner Wohnung fortzusetzen? Dort ist es ruhiger“, schlug er vor. Und es gibt ein Bett, in dem ich fünfhundert Mäuse erarbeiten kann. „Es ist gleich um die Ecke.“

Einige Momente betrachtete Johannes eindringlich sein Gesicht. Widerstreitende Gefühle waren zu erkennen. Dann nickte Johannes. „Okay.“

Innerlich stieß Guido einen Triumphschrei aus. Er hatte den Sieg so gut wie in der Tasche. „Dann lass uns los.“

Zügig leerte er seine Flasche. Johannes folgte seinem Beispiel. Als sie aufstanden, warf er einen kurzen Blick in Dennis‘ Richtung. Sein Kumpel zeigte ihm ein Daumenhoch. Er verkniff sich ein stolzes Lächeln. Bloß keinen Argwohn wecken.

Kurt, der heute an der Tür Dienst schob, wünschte, als er mit Johannes vorbeikam: „Schönen Feierabend, Chef.“

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Johannes amüsiert schmunzelte.

„Was ist?“

„Wie fühlt es sich an, Chef genannt zu werden?“, wollte Johannes wissen.

„Gut. Sehr gut.“

„Kann ich mir denken.“ Johannes steuerte auf ein blaues Hollandrad, das an einem der Metallbügel lehnte, zu.

Tatsächlich war der Korb, der am Lenker hing, mit einer Gemüsegirlande versehen. Mit dem Vehikel würde sich Guido niemals auf die Straße trauen.

Johannes öffnete das Schloss, mit dem das Rad festgekettet war und schob es neben sich her, als sie sich in Bewegung setzten. Da der schmale Bürgersteig stark frequentiert war, wichen sie auf die Straße aus.

Wie sollte er weiter vorgehen? In seiner Wohnung gleich über Johannes herzufallen, hielt er für eine schlechte Idee. Damit würde er den Mann in die Flucht schlagen. Ein Kaffee, dazu Likör oder Weinbrand, dann ein Kuss. So sollte es funktionieren.

Ein Betrunkener – der Mann schwankte wie ein Laternenmast im Sturm - stellte sich ihm in den Weg. „Hassu mal ’n Euro?“

Guido holte ein Geldbündel aus der Hosentasche und klatschte dem Typen einen Zehner auf die Hand.

„Hey, geil! Dangge!“ Freudestrahlend torkelte der Mann weiter.

„Das war aber großzügig von dir“, fand Johannes.

Er zuckte mit den Achseln. „Für einen Euro bekommt der nichts zu trinken.“

„Der hatte eh schon genug.“

„Seiner Meinung nach offenbar nicht.“

„Vielleicht hast du ihm gerade den Sargnagel verpasst.“

„Willst du mir ein schlechtes Gewissen einimpfen?“

„Nein, natürlich nicht. Vielleicht hat der Typ einfach eine gute Zeit mit dem Geld.“

Verstimmt, weil er Kritik nicht ertrug, schwieg Guido, bis sie vor seiner Haustür angekommen waren. Johannes schloss das Fahrrad an dem dafür vorgesehenen Ständer fest und folgte ihm ins Gebäude. Mit dem Lift fuhren sie in den 3. Stock.

Wow!“, stieß Johannes hervor, als sie seine Wohnung betraten. „Das ist ja ein Palast.“

„Angemessen für einen halben Clubbesitzer, oder? Als ganzer Clubbesitzer würde ich das gesamte Obergeschoss bewohnen.“

Johannes setzte eine zerknirschte Miene auf. „Ich wollte dir nicht auf den Schlips treten. Das mit dem Sargnagel ist mir so rausgerutscht. Entschuldige.“

Sofort war er besänftigt. „Das ist wohl der Lehrer in dir.“

„Tja ... es liegt mir im Blut.“ Johannes grinste schief.

„Kaffee? Wasser, Cola, Orangensaft? Oder lieber was Alkoholisches?“

„Kaffee wäre gut.“

Guido begab sich in die Küche. Entgegen der in Dennis‘ Bude, wo sie ins Wohnzimmer integriert war, war seine separat und groß genug für einen Tisch mit sechs Stühlen.

Die fünfhundert Euro würde er Dennis‘ Obdachloseninitiative spenden. An seinem Geburtstag und zu Weihnachten erhielt der Verein jeweils eine größere Summe. Das war sein Beitrag, um die Welt zu einem schöneren Ort zu machen.

„Die Bilder hab übrigens nicht ich ausgesucht, sondern mein Geschäftspartner“, rief er, wobei er am Kaffeeautomaten hantierte. „Ich hab nämlich keine Ahnung von Kunst.“

Keine Antwort. Guido hielt mitten in der Bewegung inne und lauschte. Es war totenstill. Ein Blick ins Wohnzimmer bestätigte seine böse Vorahnung: Das Vögelchen war ausgeflogen.

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Tag der Veröffentlichung: 24.09.2023

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