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Die Jungfrau


Dies ist kein medizinischer Ratgeber. Alles Wissen basiert lediglich auf eigenen Erfahrungen. Der kurze Text soll denen helfen, deren Verwandte/Freunde/Bekannte mit dieser Diagnose konfrontiert wurden oder bei denen es Anzeichen gibt, dass es mehr als nur ein bisschen Schusseligkeit ist.


2.

 

Obwohl wie ein Mantra durch seinen Kopf lief, dass Sebastian lediglich seine fachmännische Hilfe brauchte, begann Robin am nächsten Nachmittag um fünf damit, sich auf den Besuch vorzubereiten. Beim Duschen nahm er sich seiner wuchernden Schamhaare an. Die hatten ihn eh schon immer gestört, also war der Zeitpunkt gekommen, unten Kahlschlag zu machen. Das tat er nicht für Sebastian, sondern nur, um sich besser zu fühlen. Schließlich wollte er entspannt wirken.

Als Rothaariger war er auf mehrfache Weise von der Natur benachteiligt. Käsebleiche Haut, farblose Augen, die mal grün, mal grau aussahen. Sommersprossen, wohin man auch blickte. Auf seinem Kopf: Ein rotes Vogelnest. Da er Friseure mied, ein Trauma aus seiner Kindheit, weil seine Mutter ihn regelmäßig hingeschleppt und mit den schlimmsten Ergebnissen wieder nach Hause gebracht hatte, wuchsen sie einfach vor sich hin. Ab und zu ließ er eine Freundin ran, die das Ganze stutzte.

Einziger Pluspunkt: Dunkle, lange Wimpern. Wieso die Dinger fast schwarz waren? Keine Ahnung. Vermutlich, weil sein Bartwuchs auch verschiedene Farben aufwies. Na ja, Bartwuchs ... Krautsalat traf es eher.

Schöne Wimpern wogen den Rest nicht auf. Schwule Männer standen nicht auf Wimpern, sondern auf attraktive, gutgebaute Typen. Davon war er Äonen entfernt. Würde sich das Schönheitsideal irgendwann in Richtung Streichholz mit Brille ändern, wäre er das Non-plus-ultra. Bis dahin rangierte er unter Mitleidsfick, wovon er bisher Abstand genommen hatte. Wenn, dann sollte es Mr. Right sein. Nicht mehr, nicht weniger.

Ja, zugegeben, er träumte von dem Ritter, der auf einem weißen Ross dahergeritten kam und um ihn freite. Und ja: Dreißig Jahre Ehe gehörte auch zu seinen geheimen Träumen. Das gestand er sich selten ein. Es machte ihn bloß depressiv, da er als Single sein Dasein beenden würde. Als Single mit Jungfrauenstatus.

Beim Zähneputzen erwog er, statt seiner Brille Kontaktlinsen zu tragen. Ach, nein, das wäre zu auffällig. Sebastian hatte ihn ja schon damit gesehen. Außerdem mochte er die Linsen nicht. Seine Augen fingen stets zu jucken an, wenn er sie ein paar Stunden drin hatte.

Mit seinen Haaren hielt er sich nicht auf. Sie widersetzten sich eh jeglichem Stylingversuch.

Im Schlafzimmer stand er vor dem Kleiderschrak und dem nächsten Problem: Was sollte er anziehen? Natürlich durfte er nicht zu aufgebrezelt aussehen. Nun, für solchen Zweck hatte er eh nichts passendes parat. Das grüne Hemd vom Vortag schied aus, weil sich darauf ein Fleck befand. Vermutlich stammte er von der Eisbombe, genau wie der auf seiner Hose.

Erst um zehn vor sieben war er einigermaßen mit seinem Outfit zufrieden: Jeans, dazu ein weißes T-Shirt und eine schwarze Strickjacke. Wie letztere zwischen seine Sweatshirts geraten war, entzog sich seiner Kenntnis. Vielleicht hatte seine Mutter sie hinein geschmuggelt.

Er warf die Klamotten, die er bei seiner Aktion auf dem Bett verteilt hatte, zurück in den Kleiderschrank. In der Küche setzte er die Kaffeemaschine in Betrieb. Vorhin, auf dem Rückweg von der Uni, hatte er Kekse besorgt, die er seinem Gast anbieten wollte. Nun kam ihm das lächerlich vor; so, als ob er eine alte Dame zum Kaffeekränzchen erwartete. Dennoch drapierte er sie auf einen Teller, wobei einer über den Rand rutschte und auf den Boden fiel. Wie sollte es anders sein? Natürlich zerbrach der Keks. Krümel spritzten in alle Richtungen.

Kehrblech und Besen waren stets parat, da solche Unfälle zu Robins Alltag gehörten. Flink fegte er alles zusammen und entsorgte es in den Mülleimer. Just in dem Moment bimmelte die Türglocke. Vor Schreck zuckte er zusammen. Einen Augenblick stand er wie vom Donner gerührt da, dann stellte er sein Werkzeug beiseite und eilte, um den Öffner zu betätigen, in den Flur.

Sein Puls raste vor Aufregung. Er amtete tief durch, bevor er die Wohnungstür öffnete.

Schritte auf der Treppe. Sebastian tauchte in seinem Blickfeld auf. Diesmal trug er keinen Manbun, sondern die Haare offen, Jeans statt Stoffhose, darüber eine braune Lederjacke und ein Notebook unterm Arm. Sebastian war einer der attraktivsten Männer, die er je gesehen hatte. Robins Herzschlag legte erneut zu.

Sebastian blieb vor ihm stehen, ein charmantes Lächeln auf den Lippen. „Hi.“

„Hallo“, krächzte er, plötzlichen einen Frosch im Hals, und gab den Weg frei.

An der Garderobe streifte sich Sebastian die Sneakers von den Füßen und warte, bis er die Tür geschlossen hatte, um ihm das Notebook zu überreichen. „Hier ist der Patient.“

Robin räusperte sich. „Möchtest du einen Kaffee?“

„Gern.“

Er brachte das Notebook in die Küche, legte es auf den Tisch und nahm Becher aus einem der Oberschränke. Es gelang ihm, obwohl seine Finger zitterten, beide ohne zu kleckern zu füllen.

„Ich find’s total super, dass du mir hilfst“, meldete sich Sebastian, der – inzwischen ohne Jacke – im Türrahmen lehnte, zu Wort.

Robin zuckte betont lässig mit den Achseln. „Ist doch selbstverständlich. Schließlich bist du ein ehemaliger Kollege meiner Mutter.“

Ins Wohnzimmer wollte er Sebastian nicht lassen. Dort befand sich sein vollgemüllter Schreibtisch und die gesamte Computerperipherie. Außerdem würde sein Gast ja eh nur so lange bleiben, bis das Notebook-Problem gelöst war.

„Komm rein und setz dich“, bar er und stellte die Kaffeebecher auf den Küchentisch, der groß genug war, um zu zweit daran zu sitzen.

Nachdem er eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank geholt hatte, nahm er gegenüber Sebastian Platz und klappte das Notebook auf. Als er auf den Startknopf drückte, passierte nichts.

„Es könnte sein, dass der Akku leer ist“, teilte Sebastian ihm mit.

Robin besorgte ein Netzkabel, verband es mit Steckdose und Computer und versuchte es erneut. Das Gerät sprang an. Mehr geschah allerdings nicht. Der Monitor blieb schwarz. Stirnrunzelnd kratzte er sich am Kinn. Das sah nach mehr Arbeit aus als gedacht. Er würde das Betriebssystem neu aufspielen müssen.

„Darf ich einen Keks haben?“, erkundigte sich Sebastian.

Einen Moment stand er auf dem Schlauch, dann fiel sein Blick auf den Teller neben der Kaffeemaschine. Er beeilte sich, das Gebäck auf den Tisch zu befördern. „Natürlich.“

Während er unterschiedliche Tastenkombinationen austestete, vernichtete Sebastian einige Kekse. Das nahm er lediglich am Rande wahr, denn seine Aufmerksamkeit war aufs Notebook gerichtet. Computer besaßen für ihn nicht nur hohe Anziehungskraft, sie lenkten ihn auch von sämtlichen Störfaktoren ab. Entsprechend hatte sich seine Pulsfrequenz ebenfalls normalisiert.

„Sorry, aber das bekomme ich auf die Schnelle nicht hin“, gestand er und schaute rüber zu Sebastian, der gerade einen Schluck Kaffee trank. „Kannst du das Notebook ein paar Tage entbehren?“

Sein Gegenüber grinste schief. „In dem Zustand nützt es mir wenig.“

„Wahrscheinlich schaffe ich es morgen oder übermorgen, mich näher damit zu befassen.“

„Ich lass dir meine Handynummer da. Ruf bitte an, wenn ich es wieder abholen kann.“

Robin zückte sein Smartphone. Kurz darauf befand er sich im Besitz von Sebastians Mobilnummer und steckte das Gerät wieder weg. Anschließend klappte er das Notebook zu, um an den Teller mit den Keksen zu kommen. Appetit hatte er zwar keinen, doch er wusste nicht, was er sonst tun sollte.

„Musst du neben dem Studium arbeiten?“, fragte Sebastian.

Robin nickte. „Aber nur ein paar Stunden. Meine Eltern sind sehr großzügig.“

„Was willst du denn machen, wenn du fertig bist?“

„Weiß ich noch nicht. Ich lasse das auf mich zukommen.“ Er stopfte sich einen Keks in den Mund.

Es entstand Stille. Sebastian guckte ihn in einer Weise an, - abschätzend? -, dass ihm unbehaglich zumute wurde. Er senkte die Wimpern und schnappte sich einen weiteren Keks. Fieberhaft suchte er nach einem Gesprächsthema, doch sein Kopf war wie leergefegt. Smalltalk war noch nie sein Ding gewesen.

„Darf ich dein Bad benutzen?“, beendete Sebastian endlich das Schweigen.

„Klar. Es ist die Tür neben der Garderobe.“

Sebastian verließ den Raum. Hoffentlich ging sein Gast gleich. Er hatte echt keinen Schimmer, was er mit Sebastian anfangen sollte. Na ja, er hätte da schon Ideen, die allesamt schweißtreibend waren und nach Sex rochen. Über sowas dachte er besser nicht nach. Es führte bloß in eine Sackgasse.

Nebenan rauschte die Klospülung. Der Wasserhahn lief. Sebastian kehrte zurück, einige Blätter Toilettenpapier in der Hand. „Die lagen unterm Waschbecken.“

Es handelte sich um Notizen, die er bei seiner morgendlichen Sitzung, in Ermangelung anderen Papiers, auf die Klorolle gekritzelt hatte. Verlegen, weil Sebastian vermutlich erraten hatte, in welcher Situation sie entstanden waren, nahm er sie entgegen und murmelte: „Danke.“

„Danke, dass du dich um mein armes Notebook kümmerst.“

Er winkte ab. „Kein Problem.“

Da Sebastian keine Anstalten machte, sich wieder zu setzen, stand er auf. Ihr Größenunterschied betrug ungefähr fünfzehn Zentimeter. Außerdem war Sebastian wesentlich kräftiger gebaut als er.

„Ähm ... ich rufe dich dann in den nächsten Ta ...“ Er schaffte es nicht, den Satz zu beenden, denn Sebastian riss ihn in eine Umarmung und erstickte die letzten Worte mit einem Kuss.

Robin war so perplex, dass er zur Salzsäule erstarrte. Seine Brillengläser beschlugen. Sebastian küsst dich!, meldete sich sein Hirn. Los, mach mit! Er gehorchte.

Kusstechnisch war er keine Jungfrau. Keiner hatte ihn aber je dermaßen entflammt. Praktisch von Null auf Hundert, war er von den Zehen- bis zu den Haarspitzen erigiert. Die mahnende Stimme, die ihm zuflüsterte, dass es hier nicht mit richtigen Dingen zugehen konnte, ignorierte er geflissentlich.

Sebastian küsste ihn, bis Luftknappheit eine Pause erforderte. Als ihre Lungen mit frischem Sauerstoff gefüllt waren, machten sie weiter. Hände verirrten sich zu seinem Hintern, umschlossen beide Backen und begannen, sie durchzukneten. Es wurde von Sekunde zu Sekunde unangenehmer, in der engen Jeans zu stecken.

Erneut gab Sebastian seine Lippen frei. Hastig sog Robin Luft ein. Sebastian atmete ebenfalls tief durch und flüsterte in sein Ohr: „Hast du ein Bett?“

In seinem lustvernebelten Zustand brauchte er einen Wimpernschlag, um den Inhalt der Frage zu begreifen. Er nickte.

„Zeigst du mir, wo es steht?“, sprach Sebastian weiter.

Er schnappte sich Sebastians Hand und zerrte ihn hinter sich her über den Flur, ins Schlafzimmer. Vorm Bett blieb er stehen. Bevor Zweifel an seinem Tun aufkeimen konnten, schubste Sebastian ihn rücklings auf die Matratze. Im Nu war er seine Socken los. Als nächstes riss Sebastian ihm Jeans mitsamt Pants vom Leib. Sein Schwanz sprang ins Freie. Rasch befreite sich Robin von Strickjacke und T-Shirt.

„Sehr sexy“, murmelte Sebastian, den Blick auf seinen rasierten Schambereich gerichtet.

Robin kam sich vor, wie in einem feuchten Traum gefangen. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als Sebastian anfing, sich zu entblättern. Der Körper, der zutage trat, war überwältigend heiß. Definierte Muskeln, über denen sich goldene Haut spannte. Sebastians Brust war unbehaart. Ab dem Nabel führte ein Glückspfad zum gestutzten Delta, aus dem eine ansehnliche Latte aufragte.

„Los, auf alle Viere“, befahl Sebastian.

Eifrig gehorchte er. Erst als er bereits kniete, meldeten sich Bedenken. Was war mit Kondomen? Und wollte er wirklich von einem Fremden entjungfert werden? Würde Sebastian grob mit ihm umspringen?

Das Gegenteil davon trat ein. Sebastian bereitete ihn so gründlich vor, dass er irgendwann vor Ungeduld wimmerte. Als die Invasion begann, war er dermaßen aufgeheizt und gut geweitet, dass es ein reiner Genuss war, die Dehnung zu spüren. Sein Verstand verabschiedete sich bei den ersten Stößen.

Als sein Gehirn wieder funktionierte, lag er bäuchlings in seinem Erguss. Erschöpft seufzend drehte er sich auf die Seite, um sich an Sebastian zu schmiegen, doch der war aufgestanden und schon halb bekleidet. Das beeinträchtigte seine postkoitale Zufriedenheit.

Stirnrunzelnd guckte er zu, wie Sebastian die restlichen Sachen überstreifte. Handelte es sich bei dem Sex um einen Dankeschön, dass du mein Notebook reparierst, Fick? Die Idee schmeckte ihm nicht. Andererseits war das besser als Mitleidssex.

„Sorry, aber ich bin noch verabredet“, sagte Sebastian, setzte sich auf die Bettkante und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. „Das war echt schön. Wenn ich das Notebook abhole, gibt’s hoffentlich mehr davon.“

„Mal sehen“, brummelte Robin betont desinteressiert, obwohl er von der Vorstellung begeistert war.

„Dann bis bald. Ciao.“ Sebastian erhob sich und verließ das Zimmer.

Im Flur raschelte Stoff. Schritte bewegten sich in Richtung Tür, die gleich darauf ins Schloss gezogen wurde.

Robins Hintern brannte ein bisschen von der ungewohnten Beanspruchung. Er blieb in Seitenlage, um das Teil zu schonen und dachte nach. Bei näherem Hinsehen, fielen ihm einige Merkwürdigkeiten ins Auge. Beispielsweise das benutzte Kondom auf dem Fußboden, neben dem ein geöffnetes Päckchen Gleitgel lag. Trug Sebastian sowas stets bei sich? Und wie war der plötzliche Überfall zu erklären? Bevor Sebastian ihn geküsst hatte, hatte er keinerlei sexuelle Schwingungen gespürt. Na gut, darin war er nicht geübt, meinte aber, trotzdem sowas merken zu müssen.

Sein Misstrauen wuchs, je länger er über das Ganze grübelte. Schließlich, weil es ihm keine Ruhe ließ, kletterte er vom Bett, hüllte sich in seinen Bademantel und holte das Festnetztelefon aus dem Wohnzimmer. In der Küche kippte er heißen Kaffee auf den lauwarmen in seinem Becher und ließ sich vorsichtig auf einem Stuhl nieder. Bevor er die Nummer seiner Eltern wählte, schob er sich seine Brille auf die Nase.

„Hallo, mein Schatz“, meldete sich seine Mutter.

„Sag mal ... ist Sebastian wirklich ein Ex-Kollege von dir?“

„Ähm, nein. Hat er dir nicht gesagt, dass er von einer Agentur kommt?“

„Agentur?“, echote er irritiert.

„Er arbeitet für die Agentur Begleiterscheinung. Ich habe ihn als Geburtstagsgeschenk für dich gebucht.“

Die Wahrheit traf ihn wie ein Hammerschlag. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Am liebsten würde er sein Jungfernhäutchen wieder zunähen. „Wie konntest du nur?“

„Hat’s dir nicht gefallen? Ich hab’s doch nur gut gemeint.“ Im Hintergrund rief sein Vater: „Ich hab nichts davon gewusst, sonst hätte ich es ihr ausgeredet.“

Von einer Mischung aus Zorn und Scham überrollt legte er auf und vergrub das Gesicht in seinen Händen.

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Tag der Veröffentlichung: 02.09.2023

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