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Ein Bisschen zur Abendstunde 2

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Fotos: shutterstock_33264934

Cover-Design: Lars Rogmann

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/, https://www.sissikaipurgay.de/


Ein Bisschen zur Abendstunde 2

Fahr doch in den Odenwald. Da gibt’s massig frische Luft und viel Landschaft. Genau richtig, um die Seele baumeln zu lassen, hatte Davids Kollegin Dörte geschwärmt. Schön ist es wirklich in dem beschaulichen Örtchen, in dem er ein Pensionszimmer angemietet hat. Auf einer Wandertour, die länger als gedacht ausfällt, stellt er außerdem fest, dass im Wald ein unhöflicher Mann wohnt. Dessen ungeachtet ist Rasputin, sofern man auf Holzfällertypen steht, wahnsinnig sexy.

1.

Davids Handy hatte keinen Empfang. Entsprechend konnte er keine Karte aufrufen, noch nicht mal die Uhrzeit checken. Dem Sonnenstand nach zu urteilen – sehen konnte er sie wegen der hohen Wipfel nicht, nur erahnen – dürfte es ungefähr acht sein. Er hatte das Gefühl, seit Stunden im Kreis zu wandern. Immer wieder kamen ihm Stellen bekannt vor, aber das konnte täuschen.

Seine Füße taten weh. Eigentlich wollte er schon lange zurück in seiner Pension sein. Warum hatte er sich auf sein Scheiß Smartphone verlassen und weder Karte noch Kompass eingesteckt? Weil du doof bist, gab er sich im Geist selbst die Antwort. Proviant trug er auch keinen nennenswerten bei sich. Den Müsliriegel hatte er schon vorhin verspeist und die halbe Flasche Mineralwasser getrunken.

Mit einem resignierten Seufzer ließ er sich auf einem umgefallenen Baumstamm nieder, genehmigte sich einen kleinen Schluck Wasser und überlegte, ob er umkehren sollte. Dann kommst du in ein paar Stunden genau hier wieder an, flüsterte eine spöttische Stimme in seinem Kopf.

Er hätte vorhin nicht vom ausgeschilderten Weg abweichen und dem Trampelpfad folgen sollen. Hätte-hätte ... Wieso konnte man sich mitten in Deutschland im Wald verlaufen? Wenn man die Fläche von oben anguckte, gab es alle paar Kilometer ein Dorf oder eine Stadt. Er war mehr als ein paar Kilometer gewandert.

Warum hatte er bloß auf seine Kollegin Dörte gehört? „Fahr doch in den Odenwald. Da kann man sich prima erholen. Viel frische Luft und Landschaft, soweit das Auge reicht“, lauteten ihre Worte. Tja, und da saß er nun, in der weiten Landschaft, beziehungsweise im Wald.

Soweit er das beurteilen konnte lag die Pension, in der er sich eingemietet hatte, von ihm aus gesehen im Westen. Eigentlich müsste er doch auf direktem Weg dorthin zurückkommen, wenn er sich nach der Sonne richtete. Das versuchte er allerdings schon die ganze Zeit. Irgendwas stimmte mit seiner Orientierung nicht.

Er stand auf und schulterte seinen Rucksack. Bestimmt lichtete sich der Wald nach der nächsten Baumreihe. Durchhalten hieß die Devise, dann würde er schon ans Ziel kommen. Schließlich befand er sich im dichtbesiedelten Deutschland. Hier ging niemand verloren.

Einige Zeit später – die langen Schatten der Bäume waren der Dämmerung gewichen – schwand seine Zuversicht so schnell wie das Tageslicht. Wenigstens hatte er, statt der neuen Wanderschuhe, seine alten Sneakers angezogen. Garantiert hätte er sich sonst Blasen gelaufen. Immer das Positive sehen, lautete Dörtes Parole. Verdammte Kollegin! Sie war schuld, dass er in diesem Scheißwald verhungern würde!

Er torkelte inzwischen mehr als dass er ging. Seine Füße brannten und seine Beine waren vor Überanstrengung weich. Das würde einen erstklassigen Muskelkater geben. Den du nicht mehr erleben wirst, weil du dann schon tot bist, machte er sich im Geiste Mut. Galgenhumor war seine Stärke.

Plötzlich raschelte etwas im Unterholz. David erstarrte. Nach Stunden der Stille, abgesehen von dem einen oder anderen Vogelzwitschern, hörte sich das Geräusch sehr laut an; so, als ob da ein großes Tier herumschlich. Gab es hier Bären? Wölfe? Wildschweine? Warum hatte er kein Pfefferspray mitgenommen? Weil du so ungeschickt bist, dass du es dir selbst ins Gesicht sprühen würdest, beantwortete er sich selbst die Frage. Dennoch würde er sich besser fühlen, wenn er irgendetwas dabeihätte.

Als kein weiteres Rascheln zu hören war, setzte er seinen Weg fort. Die Dämmerung ging rasend schnell in Dunkelheit über. Zumindest funktionierte die Taschenlampe seines Handys, aber wie lange?

Der Wald, im Hellen ein harmloser, freundlicher Ort, wurde mehr und mehr zum Gruselkabinett. Mal glaubte er, das Heulen eines Wolfes zu vernehmen, mal meinte er, gelbe Augen, die ihn beobachteten, im Dickicht zu sehen. Auch knackten ständig Zweige oder etwas sauste durch die Luft. Wahrscheinlich Fledermäuse. Generell fand er die Tiere putzig, so lange er sie auf dem Monitor seines Computers betrachtete. Begegnen wollte er ihnen lieber nicht. Vielleicht befand sich ein blutsaugendes Exemplar darunter.

Wieder sah er etwas Gelbes zwischen den Bäumen scheinen, doch wirkte es größer als die Augen eines Bären/Wolfs/Wildschweins. Entweder lauerte dort ein Drachen, oder er hatte ein bewohntes Haus gefunden.

Er hielt darauf zu und atmete auf, als sich die zweite Vermutung bestätigte. Es handelte sich tatsächlich um eine Hütte, aus deren Fenstern warmer Lichtschein fiel.

Die letzten Meter überwand er stolpernd und klopfte an die Tür. Schwere Schritte, dann wurde sie aufgerissen. Ein Hüne mit Bart stand ihm gegenüber.

„Guten ...“ Sein Hals war so trocken, dass er nur krächzen konnte. Er räusperte sich und begann von vorn: „Guten Abend. Ich hab mich verlaufen.“

Stumm starrte der Typ ihn an.

„Gibt es in der Nähe eine Bushaltestelle? Oder darf ich bei Ihnen telefonieren, um mir ein Taxi zu rufen?“

Der Mann schüttelte den Kopf.

„Könnten Sie mir dann bitte ein Taxi rufen?“

„Sehen Sie hier irgendwo eine Straße?“, erwiderte der Typ.

„Nein, aber vielleicht ist ja eine in der Nähe.“

„Ungefähr zwei Stunden Fußmarsch in diese Richtung ...“ Vage winkte der Mann nach links. „... finden Sie eine.“

Zwei Stunden im Dunkeln? Dazu noch marschieren, wo er doch kaum noch schleichen konnte? „Ich bin hungrig, durstig und müde.“

Schweigend glotzte der Typ ihn an.

Erschöpfung untergrub seine anerzogene Höflichkeit. „Hätten Sie die Güte, mich in Ihre Hütte einzuladen?“

Wortlos trat der Mann beiseite. David stolzierte, so gut es sein Zustand zuließ, an dem Arschloch vorbei und blieb mitten im Raum stehen. Anscheinend bestand das Haus nur aus diesem Zimmer, abgesehen von einer Tür, die vermutlich das Klo verbarg. In einer Ecke gab es eine Küchenzeile, daneben einen Tisch mit zwei Stühlen. Gegenüber standen ein Bett, Nachtschrank und eine Kommode. Vorm Fenster: Ein Schreibtisch, hell erleuchtet von zwei Strahlern.

„Oder könnten Sie mich ins nächste Dorf bringen?“, wandte er sich an den Hausbewohner, der gerade die Tür schloss.

„Nein.“

„Haben Sie keinen fahrbaren Untersatz oder ist das eine generelle Weigerung?“

„Kein Fahrzeug.“ Der Typ ging zum Schreibtisch, setzte sich in den davorstehenden Sessel und griff nach einer Pinzette.

„Darf ich Ihr Bad benutzen?“ Seit Einbruch der Dunkelheit hatte er sich gescheut, seinen Schwanz zu entblößen, um am Wegesrand seine Notdurft zu verrichten. Die Angst, ein wildes Tier könnte aus dem Dickicht springen und ihn entmannen, war übermächtig gewesen.

Der Mann zeigte auf die Tür, hinter der er bereits die Örtlichkeit vermutet hatte.

Herzlichen Dank.“ Er verschanzte sich in dem Raum, der sich als vollständiges Bad entpuppte. Es gab, neben dem Klo, ein hölzerner Kasten, ein Waschbecken und eine Duschkabine. Allerdings fehlte die Klospülung. Als David den Deckel hochklappte, schlug ihm beißender Gestank entgegen. Anscheinend streute man über große Geschäfte eine Schaufel der Erde, die in einem Eimer neben der viereckigen Kloschüssel stand. Versetzte der Typ die gesamte Hütte an eine andere Stelle, wenn die Schüssel vollgeschissen war?

Der schräge Gedanke hob seine Laune ein bisschen. Nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, kehrte er in den Hauptraum zurück.

„Haben Sie etwas zu essen und zu trinken für mich?“, wandte er sich an den Typen, der, wie er nun erkannte, etwas aus Streichhölzern konstruierte. Es sah nach einem Schiffsrumpf aus.

„Gucken Sie da nach.“ Ohne von der Arbeit aufzusehen, wies der Mann auf die Küchenzeile.

Sie bestand aus einer Arbeitsplatte, auf der ein zweiflammiger Gaskocher stand. Darunter und darüber befanden sich Schränke. In den unteren lagerten, neben Töpfen und einigen Tellern, hauptsächlich Konserven, in den oberen Becher, Marmelade, Honig, Gewürze und ein halber Laib Brot. Außerdem gab es einen Mini-Kühlschrank, der Milch, Butter, diverse Wurstsorten und einige Flaschen Mineralwasser beinhaltete.

Mit zwei Scheiben Brot, belegt mit Salami und einem Glas Wasser ließ sich David am Esstisch nieder. Die Vorstellung, zwei Stunden durch den dunklen Wald zu marschieren, wurde mit jeder still vergehenden Minute verlockender. Alles war besser, als mit diesem missmutigen Typen in einem Raum zu sein. Seine Füße waren anderer Meinung: Sie wollten keinen Schritt mehr gehen.

„Wird das ein Schiff?“, fragte er.

Der Mann brummelte: „Das ist jedenfalls der Plan.“

„Ich finde, es sieht schon ganz danach aus.“

„Hm-hm.“ Der Typ klebte ein weiteres Streichholz fest, lehnte sich zurück und beäugte das Werk.

Täuschte das, oder zeichnete sich Stolz auf der verschlossenen Miene ab? Das war schwer zu erkennen, weil die Hälfte des Gesichts vom Bart verdeckt wurde.

„Ich mache Urlaub in Beuchen. Bin da in einer kleinen Pension“, erzählte David.

„Mhm. Das Nest kenne ich.“

„Mein Name ist übrigens David.“

„Rasputin.“ Selbiger beugte sich wieder über das Modell.

Der Name passte wie die Faust aufs Auge. Jedenfalls hatte er sich einen Rasputin immer so vorgestellt, bärtig, im rotkarierten Holzfällerhemd, Jeans und derben Stiefeln.

Weil es unhöflich wäre, seinen Gastgeber weiter bei der Arbeit zu stören, versuchte David nicht, die Unterhaltung fortzuführen. Er schaute sich genauer um und entdeckte einen altmodischen Wecker auf dem Nachtschrank. Zehn vor elf. Nach dem Mittagessen war er aufgebrochen, also ungefähr neun Stunden unterwegs gewesen. Kein Wunder, dass ihm jeder Knochen wehtat.

Bei dem Bett handelte es sich um ein französisches Modell, also circa eins vierzig breit. Zu zweit würde das eng werden. Rasputin auf die Pelle zu rücken, wäre ihm eh unangenehm.

„Darf ich hier übernachten?“, erkundigte er sich.

Rasputin zuckte mit den Achseln. „Kann dich ja schlecht rausjagen.“

„Ist es okay, wenn ich mir eine der Decken nehme und mich auf den Fußboden lege?“

Sein Gastgeber erhob sich, holte einen Blasebalg sowie eine zusammengefaltete Luftmatratze unter dem Bett hervor und begann, sie aufzupumpen. Erleichtert, seinen geschundenen Körper nicht dem harten Boden aussetzen zu müssen, bot David an: „Lass mich das machen.“

Rasputin winkte ab und pumpte weiter.

Ehrlich gesagt war er froh darüber. Mit vollem Magen fühlte er sich noch angeschlagener als vorher. Wahrscheinlich, weil sein Körper die letzte Energie zur Verdauung aufbrauchte.

Als das Notbett fertig war, warf Rasputin ein Kissen und eine Decke auf die Luftmatratze und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Gähnend streifte David seine Schuhe von den Füßen, schob sie neben den Rucksack, den er neben den Tisch gestellt hatte und zog sich bis auf Pants und T-Shirt aus. Trotz seiner Müdigkeit bemerkte er, dass Rasputin ihn aus dem Augenwinkel beobachtete. Ein schwuler Holzfäller? Sein feuchter Traum. Was für eine Schande, dass er zu erledigt war, um die Chance zu nutzen.

Kaum lag er, fielen ihm die Augen zu.



David wachte auf und blinzelte ins Morgenlicht. Wo war er? Im nächsten Moment erinnerte er sich an alles. Leise ächzend – seine Beine taten höllisch weh – drehte er sich auf die andere Seite. Von seinem Standort beziehungsweise Liegeort aus sah er nur einen Riesenberg Decken auf dem Bett.

Vorsichtig richtete er sich auf. Seine Blase war voll, weshalb er seinen Körper zur Kooperation zwingen musste. Wie ein Greis humpelte er ins Bad.

Bei seiner Rückkehr bot sich das gleiche Bild wie vorher. Seine Hoffnung, dass Rasputin Kaffee kochte, war also vergebens gewesen.

Er zog seine Hose an, was ihm so manchen Schmerzenslaut entlockte. Der Deckenberg rührte sich nicht. Auf der Suche nach einem geeigneten Topf veranstaltete er ebenfalls Krach, diesmal mit Erfolg.

„Scheißlärm“, brummelte Rasputin, tauchte aus der Deckenburg auf und gähnte ausgiebig.

Der Mann besaß ein Gebiss, das eines Filmstars würdig wäre: schneeweiß und ebenmäßig.

Rasputin stand auf und trottete zum Bad. Das bot David den Anblick einer prächtigen Kehrseite. In der engen Pants wirkten Rasputins Arschbacken wie gemeißelt. Lange, muskulöse Beine, überzogen von dunklem Flaum. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

Es dauerte einige Augenblicke, bis er sich seines Vorhabens wieder bewusst wurde: Kaffee kochen. Er stellte einen Topf auf den Herd und beäugte den Kanister, der auf der Fensterbank stand. War das Trink- oder Brauchwasser? Er nahm an, dass Rasputin Regenwasser sammelte. Sowas wollte er keinesfalls verwenden. Es war ja allgemein bekannt, wie schadstoffbelastet es sein konnte.

Da er warten musste, bis Rasputin ihm half, ging er zum Schreibtisch und betrachtete die Bastelarbeit. Welch filigranes Werk. Hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde er niemals vermuten, dass es von Rasputin stammte. Dem traute man eher zu, aus Baumstämmen Blockhütten zu bauen, statt aus Streichhölzern Modelle zu konstruieren.

Die Badtür schwang auf. Rasputin trat in den Raum und zog sich in aller Gemütsruhe an. David guckte sich weiterhin das Modell an, weil er sonst gegafft hätte. Der Mann war echt eine Augenweide.

Endlich war Rasputin fertig und begab sich in die Küchenecke. David ließ sich am Esstisch nieder und schaute zu, wie sein Gastgeber den Topf mit Wasser aus einer der Flaschen, die im Kühlschrank lagerten, füllte. Anschließend kippte Rasputin Kaffeepulver hinein und zündete die Gasflamme an.

„Machst du auch Urlaub?“, erkundigte sich David.

Ihn traf ein strenger Blick. „Kein Gelaber vorm ersten Kaffee.“

Aha, ein Morgenmuffel.

Rasputin setzte sich an den Schreibtisch und starrte das Modell tatenlos an, bis die Wasser-Kaffee-Mischung kochte.

Nach dem Frühstück, bestehend aus einer Scheibe Wurstbrot, – mehr traute er sich nicht zu essen, damit Rasputin genug hatte – brach er auf.

2.

„Warum hast du ihn nicht weggeschickt?“, schimpfte Felix. „Ich hab mir die Pfoten wundgelaufen, um mit dir den Mond anzuheulen!“

„Ja, ja“, murmelte Rasputin, der sich das schon gestern Nacht, allerdings in gedämpfter Lautstärke, anhören musste.

„Vor Frust hab ich eine halbe Flasche Whisky geleert.“

„Das tust du auch dann, wenn du keinen Frust hast.“

„Ich fand’s trotzdem scheiße. Der Typ hätte den Weg schon noch gefunden, wenn du ihn nicht aufgenommen hättest.“

„Der war völlig fertig.“

Felix trank einen Schluck Kaffee und streckte die Beine aus. Sein Freund, zugleich Geschäftspartner, war kurz nach Davids Verschwinden aufgetaucht. Wahrscheinlich hatte Felix darauf gelauert, dass sein Übernachtungsgast ging.

Rasputin war Inhaber einer Kette von Hundesalons und Tierbedarf/Tiernahrungsshops, die sich in Darmstadt und Umkreis befanden. Als ihm das Ganze zu groß wurde, hatte er Felix als Partner aufgenommen. Sein Kumpel kümmerte sich um den städtischen Bezirk, er um den ländlichen. Eine prima Aufteilung, weil er Städte nicht mochte.

Er war in Boxbrunn, einem Dorf mit rund hundertdreißig Einwohnern, aufgewachsen. Sein Vater war Alpha des dort ansässigen Rudels. Eigentlich hätte Rasputin irgendwann die Nachfolge antreten sollen, aber das Rudelgebumse, wie er die Vereinsmeierei abfällig nannte, ging ihm auf den Sack. Es war schlimmer als jeder Schützenverein.

Nachdem er in Frankfurt Betriebswirtschaft studiert hatte, eröffnete er den ersten Hundesalon. Sobald sich dieser amortisiert hatte, kaufte er zwei dazu. Auf diese Weise war er in den Besitz von zehn Salons und fünf Tierbedarfsmärkten gekommen.

„Holen wir heute Nacht unseren Mondscheinspaziergang nach?“, wollte Felix wissen.

„Klar.“

„Wunderbar.“ Felix leerte den Becher und stellte ihn auf den Tisch. „Dann mach ich mich wieder vom Acker. Hab ein Date mit meinen Eltern.“

Im Gegensatz zu ihm liebte Felix die Rudelbumserei. Sein Freund hatte ihm mal anvertraut, – obwohl er das gar nicht wissen wollte – ganz heiß darauf zu sein, dominiert zu werden. Also, nicht mit Peitsche und so. Es reichte Felix, ein bisschen rumkommandiert zu werden. Als Omega waren, sofern man sich in die Rudelrangordnung fügen wollte, solche Gelüste nützlich. Bedauerlich war jedoch, dass es an schwulen Alphas mangelte. Abgesehen von Rasputin, gab es keinen in der Umgebung.

Manchmal sinnierte Felix, nach Amerika auszuwandern. Er hätte gehört, dass es da vor Kandidaten nur so wimmelte. Ganze Rudel wären dort schwul. Vermutlich hatte Felix den Unsinn in Groschenromanen gelesen. Sowas konsumierte sein Freund heimlich – auch etwas, das Rasputin nicht wissen wollte und trotzdem erfahren hatte.

Als Felix gegangen war, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Jeder Mensch, auch Wandler, brauchte ein Hobby. Okay, ausgenommen die Artgenossen, denen es reichte, in Tiergestalt durch die Wälder zu hüpfen und Beute zu jagen. Er hatte schon alles Mögliche ausprobiert, sogar Stricken. Letztendlich war Holz sein Lieblingsmaterial, weshalb er auf Modellbau mit Streichhölzern verfallen war. Eine knifflige Sache, die hohe Konzentration und Präzision verlangte. Genau richtig, um sie in der Abgeschiedenheit seiner Hütte auszuleben - wenn sich nicht gerade Leute hierher verirrten.

Er besaß sein Domizil, das er von einem Naturliebhaber erworben hatte, seit rund fünf Jahren. Innerhalb dieses Zeitraums hatte sich noch nie ein Wanderer bei ihm blicken lassen. Es lag fernab der üblichen Routen. Lediglich einige Trampelpfade, die meisten schon halb zugewachsen, führten zu der Hütte. Sein Vorbesitzer hatte regelmäßig Workshops abgehalten, wodurch diese Pfade entstanden waren. Wenn eine Horde Naturfreaks auf der Suche nach sich selbst durch die Botanik trampelte, blieb sowas eben nicht aus.

Rasputin hatte früh festgestellt, dass er ein Einzelgänger war. Seine Aversion gegen das Rudel war nur ein Indiz. Sich in einer Gruppe von Menschen, oder auch nur eines einzelnen, aufzuhalten, langweilte ihn schnell. Felix bildete eine Ausnahme. Bei seinem Freund schaffte er es sogar, einige Stunden Gesellschaft zu ertragen.

Generell wünschte er sich schon jemanden, mit dem er sein Leben teilen konnte. Es musste aber jemand sein, der nicht ständig plapperte und von ihm Aufmerksamkeit verlangte. Felix behauptete, dass jeder Wandler einen Seelengefährten hatte. Ein Märchen, das im Rudel von Generation zu Generation weitererzählt wurde. An sowas glaubte Rasputin nicht. Ihm würde es reichen, mit jemandem guten Sex zu haben, gut im Sinne von schweißtreibend und mit anschließenden Kuscheleinheiten. Wenn dieser jemand noch den zwei anderen Kriterien entsprach: Perfekt.

Er schnappte sich Pinzette sowie Sekundenkleber und tauchte in die Welt des Modellbaus ab. Zwischendurch verleibte er sich den Rest seiner Brot-Vorräte ein.

Als er erneut Hunger verspürte, unterbrach er seine Arbeit und verließ die Hütte. Anstatt nach rechts, die Richtung, in die er David geschickt hatte, wandte er sich nach links. Nach nur wenigen Minuten, die er einem nahezu zugewachsenen Trampelpfad gefolgt war, erreichte er die Straße. Es war gemein gewesen, David die längere Tour zuzumuten, aber Sicherheit ging vor Mitleid. Es war besser, wenn niemand, außer Felix und ihm, den Weg kannte. Außerdem hätte sein Gast garantiert eine Schneise der Verwüstung durch den geheimen Pfad gezogen. Kaum ein Mensch war in der Lage, sich durch die Natur zu bewegen, ohne irgendwelche Flurschäden anzurichten.

Er wanderte einige Meter an der Straße entlang, bis zu dem Parkplatz, auf dem sein Quad stand. Von dort führten ausgeschilderte Wanderwege in den Wald. Bei gutem Wetter war der Ort stark frequentiert, allerdings nur von morgens bis zum Abendessen. Niemand wollte bei Anbruch der Dämmerung zwischen den Bäumen herumlaufen.

Während er zum nächsten Supermarkt fuhr, dachte er an den vergangenen Abend. David war ein niedlicher Bursche. Vor einigen Jahren, als seine Hormone ihn noch dominierten, hätte er versucht, David flachzulegen. Inzwischen war seine Libido etwas abgekühlt. Er interessierte sich nicht mehr für einmalige Ficks. Es war doch eh immer das Gleiche: Rein-raus-abspritzen-fertig.

Er deckte sich mit Lebensmitteln ein und kehrte zur Hütte zurück. Zum Abendessen gab es Bratkartoffeln mit Nürnberger Würstchen. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch und fuhr fort, am Schiffsrumpf zu basteln.

Gegen halb elf klopfte es. Felix betrat, ohne seine Antwort abzuwarten, den Raum.

„Heute mal kein Besuch?“, spottete sein Freund.

„Mir war nicht danach“, erwiderte er ironisch, legte Pinzette und Klebetube beiseite und knipste die Schreibtischlampe aus.

Felix stellte eine Flasche Whisky auf den Tisch. „Schöne Grüße von deinen Eltern. Sie würden dich gern mal wieder sehen.“

„Wo hast du die denn getroffen?“

„Ich war in Boxbrunn, um zu gucken, ob es neue Rudelmitglieder gibt.“

„Und?“

Mit bedauernder Miene schüttelte Felix den Kopf. „Leider nicht. Ich werde einsam sterben.“

Rasputin verdrehte die Augen. Ab und zu fand er Felix‘ theatralische Ader nervig. Aktuell konnte er sie einigermaßen vertragen.

Sie setzten sich, jeder ein Glas Whisky in der Hand, vor die Hütte. Die Bank stammte noch von seinem Vorgänger und entbehrte jedweder Gemütlichkeit. Sie war aus einem halbierten Baumstamm gefertigt. Als Rückenlehne diente ein raues Brett, an das man sich lieber nicht lehnte, weil sonst die verwitterten Verstrebungen nachgaben.

„Wann stellst du hier endlich mal was Ordentliches auf?“, beschwerte sich Felix.

Das befand sich schon lange auf seiner Agenda. „Bald.“

„Aber bitte keine Streichholzbank.“

Sehr witzig! Empört darüber, dass sich Felix über sein Hobby lustig machte, bedachte er selbigen mit einem bösen Blick.

„Reg dich ab. Man wird ja wohl noch einen Scherz machen dürfen.“ Felix prostete ihm zu und leerte das Glas in einem Zug. „Mich juckt’s. Lass uns auf Jagd gehen.“

Sein Jagdinstinkt war auch erwacht. Er trank ebenfalls aus, stand auf, ließ alle Hüllen fallen und wandelte sich. Felix folgte seinem Beispiel. Hintereinander flitzten sie ins Dickicht.

Rasputin nahm die Fährte eines Kaninchens auf. Im selben Moment schnappte Felix nach seiner Rute. Blitzschnell wechselte er die Richtung und schlug Haken, um Felix abzuhängen. Der Mistkerl blieb ihm auf den Fersen. Abrupt bremst er ab, woraufhin Felix in ihn hinein raste.

Sie balgten eine Weile, bis ihnen die Lust daran verging. Erneut witterte Rasputin ein Wildtier, diesmal einen Igel und nahm die Verfolgung auf. Er liebte es, den erdigen Duft des Waldes in der Nase, durch Unterholz zu jagen. Die Luft war würzig durch das Aroma zahlreicher Wildpflanzen. Im Herbst kam noch der Geruch von Pilzen hinzu, weshalb er diese Jahreszeit sehr mochte.

Es reichte ihm, seine Beute zu erschrecken, statt sie zu fressen. In seiner Kindheit hatte einer seiner Cousins dritten Grades vor seinen Augen einen Bandwurm ausgekotzt. Seitdem war es ihm gründlich verleidet, ungeprüftes Fleisch zu konsumieren.

Als er des Umherstreifens müde war, kehrte er zur Hütte zurück. Nach einer Katzenwäsche schlüpfte er in seine Klamotten und setzte sich, ein frisch mit Whisky gefülltes Glas in der Hand, draußen auf die Bank.

Der euphorische Rausch, den die Jagd bei ihm auslöste, war herrlich. Es gab Artgenossen, die derart süchtig danach waren, dass sie eine Gefahr darstellten. Wenn tagsüber Werwölfe durch die Wälder schlichen, würde früher oder später ihre gesamte Spezies auffliegen. Rasputin wusste von einem Süchtigen in Boxbrunn, den man medikamentös ruhiggestellt hatte. Neben solchen Ausfallerscheinungen war Inzucht ein großes Thema. Viele Alphas ermutigten daher junge Wandler, auf Wanderjahre zu gehen, um in andere Rudel reinzuschnuppern. Sein Vater war gegen diese Praxis.

„Ein Rudelmitglied gehört in sein Stammrudel“, pflegte sein alter Herr zu sagen. „Das war schon immer so und soll auch so bleiben.“

Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass sein Vater unflexibel war. Umso erstaunlicher war die Toleranz, die seine Eltern ihm bezüglich seiner sexuellen Ausrichtung entgegenbrachten.

Felix brach aus dem Unterholz. Sein Freund trabte an ihm vorbei in die Hütte. Wenig später gesellte sich Felix, angezogen und ebenfalls mit einem Drink ausgestattet, zu ihm.

„Übrigens hat neulich eine Dame bei mir angerufen und gefragt, ob wir unser Geschäft um Katzensalons erweitern wollen.“ Felix trank einen Schluck. „Sie meinte, es gäbe einen Trend, dass Katzenbesitzer ihre Lieblinge auch verschönern lassen wollen.“

„Das ist mir neu. Was soll man an denen denn frisieren?“

„Sie sprach von Fell färben, Schnurrbarthaare verlängern und Krallen lackieren.“

„Die wollte dich verarschen.“

„Dachte ich auch, aber sie klang total ernst. Ich glaube, sie ist eine Katzenwandlerin. Ihre Stimme hat einem Schnurren geglichen.“

„Was kommt als Nächstes? Meerschweinchensalons? Fischsalons? Flossenverlängerungen und Kiemen färben?“

„Apropos Verlängerungen: Ich bekomme gar keine Spammails, in denen Penisverlängerungen angepriesen werden, mehr. Meinst du, die haben rausgefunden, dass mein Schwanz eh monstergroß ist?“

„Die haben rausgefunden, dass dein Ding so klein ist, dass selbst eine Verlängerung nichts bringt.“ Rasputin feixte.

„Hey! Mein Ding ist größer als deins!“

Darauf, einen Schwanzvergleich anzustellen, hatte er null Bock. „Lass es gut sein. Anderes Thema: Wie laufen die Geschäfte in Darmstadt?“

3.

Die Strecke von der Hütte zur Straße verlangte David die letzten Reserven ab. Er hockte sich auf die Böschung und wartete, bis er ein Fahrzeug nahen hörte. Dann stand er auf und streckte den Daumen raus.

Er hatte Glück: Der Kleintransporter hielt und nahm ihn mit. Der Fahrer machte sogar einen Umweg, um ihn vor seiner Pension abzusetzen. Wahrscheinlich sah er so kaputt aus wie er sich fühlte.

Peter Grandweiher, der Wirt, hatte wohl nach ihm Ausschau gehalten, denn der Mann stand in der offenen Haustür. „Wir haben uns Sorgen gemacht!“, rief Grandweiher ihm entgegen, als er den Gartenweg entlang humpelte.

„Hab mich verlaufen.“

Grandweiher scheuchte ihn ins Frühstückszimmer. Eigentlich war die Essenszeit vorbei, – Davids Handy hatte wieder Empfang, daher wusste er die Uhrzeit – dennoch nötigte der Wirt ihn, an einem der Tische Platz zu nehmen.

„Sie sehen ganz verhungert aus“, fand Grandweiher, der einen stattlichen Bauch vor sich her trug und wohl jeden, der keinen besaß, für unterernährt hielt.

Im Nu tischte der Wirt ihm Frühstück auf. Marlies Grandweiher gesellte sich dazu.

„Haben Sie im Wald übernachtet?“, fragte seine Wirtin, die ihm Rührei auf den Teller schaufelte.

„Ich hatte Glück und hab Unterschlupf in einer Hütte gefunden.“

„Wirklich eine gute Idee, diese Schutzhütten aufzustellen“, meinte Grandweiher.

„Nein, keine Schutzhütte, sondern eine bewohnte.“

„Bewohnt?“, wunderte sich Marlies Grandweiher.

„Niemand wohnt im Odenwald“, stellte der Wirt klar.

„Vielleicht ist es nur ein Wochenenddomizil“, mutmaßte David und schob sich einen Gabel Rührei in den Mund.

„Erinnerst du dich an den komischen Vogel, bei dem ich mal einen Workshop mitgemacht habe?“, wandte sich die Grandweiherin an ihnen Gatten. „Der hat die meiste Zeit des Jahres in einer Hütte im Wald gehaust.“

„Soweit ich weiß, hat er verkauft und zwar an jemanden aus dem Nachbardorf“, erwiderte der Grandweiher.

„Wissen Sie noch, wie man zu der Hütte kommt?“, erkundigte sich David, bevor er sich den nächsten Bissen zuführte.

Niemals würde er den Weg, den er gerade zurückgelegt hatte, wiederfinden. In seiner Erschöpfung hatte er keine Augen für die Umgebung gehabt.

„Natürlich. Ich hab ein Gedächtnis wie ein Elefant.“ Die Wirtin ließ sich neben ihm nieder und zückte ein Smartphone. Sie tippte, während er ein halbes Brötchen butterte, auf dem Display herum. Schließlich hielt sie ihm den kleinen Monitor vor die Nase. „Von dem Parkplatz aus sind es ungefähr fünf Minuten zu Fuß.“

David schüttelte den Kopf. „Dann ist das eine andere Hütte. Ich war über zwei Stunden bis zur nächsten Straße unterwegs.“

Stirnrunzelnd beäugte die Grandweiherin das Display. „Wenn man in die falsche Richtung geht, dauert es bestimmt so lange.“

Konnte es sein, dass Rasputin ihm absichtlich falsche Informationen gegeben hatte?

„Nun lass unseren Gast mal in Ruhe essen“, schimpfte der Grandweiher, woraufhin sich dessen Gattin bei ihm entschuldigte und mit ihrem Mann den Raum verließ.

Sinnend biss er in sein Marmeladenbrötchen. Warum hatte Rasputin ihn auf den längeren Weg geschickt? Böse Absicht? Das traute er dem Mann, obwohl es sich um einen grummeligen Typen handelte, nicht zu. Auf der anderen Seite sagte Dörte oft, dass seine Menschenkenntnis für den Arsch wäre.

Am liebsten würde er gleich losziehen, um rauszufinden, ob die Grandweiherin die richtige Hütte meinte. Leider fühlte er sich dafür zu groggy. Seine strapazierten Beinmuskeln und Füße verlangten mindestens einen Tag Pause.

Angenehm gesättigt stieg er nach der dritten Brötchenhälfte die Treppe ins Obergeschoss, wo sein Zimmer lag, hinauf. Bei jedem Schritt schwor er sich, nie wieder solche Mordswandertour zu unternehmen.

Eine heiße Dusche half, seinen Zustand etwas zu verbessern. Anschließend legte er sich aufs Bett und war binnen weniger Momente eingeschlafen.

Als er wieder aufwachte, war es bereits später Nachmittag. Sein Magen verlangte erneut nach Nahrung. Gab es hier einen Pizzaservice? Kost und Logis in der grandweiherschen Pension Garni beinhaltete nämlich nur Frühstück und dazu, ins nächste Gasthaus zu fahren, mangelte es ihm an Elan.

Tatsächlich bot ein Restaurant, das einige Orte entfernt lag, Lieferservice an. David bestellte eine mittlere Pizza Traditionale mit extra Käse. In Jogginghose, T-Shirt und Flipflops ging er auf die Suche nach den Wirtsleuten, um einen Kaffee zu schnorren.

Peter Grandweiher befand sich im Garten und goss die Kübelpflanzen. Die Außenanlage bestand aus einer großen, von niedrigen Hecken gesäumten Rasenfläche, auf der vier Strandkörbe verteilt waren. In einem davon saß das Ehepaar Piepenbrink, neben David die einzigen Gäste.

„Meine Frau gibt Ihnen welchen“, erwiderte der Wirt auf seine Frage hin. „Sie ist in der Küche.“

Selbige schloss an den Frühstücksraum an. Die Tür stand offen. Höflich klopfte er gegen den Türrahmen, bevor er hinein spähte und die Grandweiherin am Herd entdeckte.

„Darf ich um eine Kaffeespende bitten?“, erkundigte er sich.

Sie lächelte ihm zu und legte den Kochlöffel, mit dem sie in einem Topf gerührt hatte, beiseite. „Natürlich.“

Während sie Kaffee aus einer Thermoskanne in einen Becher goss, berichtete sie: „Das mit der Hütte hat mir keine Ruhe gelassen. Ich hab ein bisschen rumtelefoniert. Rasputin Berger aus Hornbach hat sie gekauft. Ein großer Mann mit Vollbart.“

„Danke für die Info.“

Sie reichte ihm den Kaffeebecher. „Hat Rasputin Sie freundlich behandelt?“

Freundlich wäre übertrieben. Nicht feindselig traf es besser. „Er war ausgesprochen höflich.“

„Da bin ich aber erleichtert. Meine Bekannte hat ihn als bärbeißig bezeichnet.“

Ausgezeichnete Beschreibung. „Würden Sie mir bitte nochmal zeigen, wo der kürzeste Weg zu der besagten Hütte ist?“

Sie erfüllte seine Bitte umgehend. Er merkte sich die Lage, kehrte auf sein Zimmer zurück und fertigte eine Skizze an. Via Google Maps ließ sich der Standpunkt des Gebäudes bedauerlicherweise nicht bestimmen. Dichte Baumkronen verstellten die Sicht.

 

Am nächsten Morgen rüstete er sich mit Landkarte, Proviant und Armbanduhr (gottseidank besaß er so etwas) aus. Vor seinem Aufbruch informierte er die Wirtin über sein Ziel, damit sie, sofern er sich wieder verirrte, einen Suchtrupp ausschicken konnte.

„Gutes Gelingen“, wünschte sie ihm.

Die Fahrt zu dem besagten Parkplatz dauerte nur zehn Minuten. Geheiligte Provinz, in der es kaum Ampeln und keine Staus gab. Er schulterte seinen Rucksack und wanderte an der Straße entlang, bis zu einer Stelle, an der ihm das Unterholz weniger dicht vorkam. Fehlanzeige. Es war kein Durchkommen. Erst der dritte Versuch zeigte Erfolg: Vor ihm tat sich eine kaum erkennbare Schneise zwischen den Gehölzen auf.

David bewegte sich vorsichtig. Zum einen, weil er immer noch Muskelkater hatte, zum anderen, weil er sich nicht wie eine Wildsau benehmen wollte. Apropos: Er hätte die Grandweihers fragen sollen, ob gefährliche Wildtiere im Odenwald lebten.

Er behielt die Uhrzeit im Auge. Nach zehn Minuten stoppte er und fragte sich, ob er den falschen Pfad gewählt oder zu langsam gegangen war. Zögernd schlich er weiter und wurde dafür belohnt: zwischen den Baumstämmen erblickte er die kleine Lichtung mit der Hütte.

Mittlerweile war er über Rasputins Irreführung zornig. Ihm wäre einiges an Schmerzen erspart geblieben, wenn ihm der Mistkerl den kürzeren Weg verraten hätte. Rasputin musste doch gesehen haben, wie mies es ihm ging.

Entsprechend auf Krawall gebürstet marschierte er auf die Hütte zu und hämmerte mehr, als dass er klopfte, gegen die Tür. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung am Fenster. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen und ein Unbekannter starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. Eine Schnapsfahne schlug ihm entgegen.

„Was gibt’s?“, bellte der Typ.

David versuchte, über die Schulter des Mannes ins Innere der Hütte zu gucken. „Ist Rasputin da?“

„Der erledigt gerade sein Geschäft.“

„Sagen Sie ihm bitte, dass ich ihn sprechen will.“ Er kehrte dem Mann den Rücken zu, steuerte eine baufällige Bank an und ließ sich darauf nieder.

Der Typ knallte die Tür zu. Was für ein unmöglicher Kerl! Gleich und gleich gesellte sich eben gern. Hatten die beiden in der letzten Nacht ein Saufgelage abgehalten? Hätte der Typ dermaßen nach Schnaps gestunken, wenn dem nicht so wäre?, beantwortete er sich selbst die Frage.

Um nicht die geschlossene Tür anzustarren, holte er die Landkarte hervor. Für jemanden, der nicht wusste, dass der Pfad existierte, war er so gut wie nicht auffindbar. Öffentliche Wege verliefen in großem Abstand zu der Hütte. Es grenzte an ein Wunder, dass er in der Dunkelheit auf sie gestoßen war. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte er weiter durch die Gegend irren müssen. Vielleicht hätte ihn ein wildes Tier angefallen oder, wäre er vor Erschöpfung umgefallen, hätte ein Haufen Insekten in all seine Körperöffnungen eindringen können. Ihm schauderte bei der Vorstellung.

Die Tür der Hütte flog auf. Rasputin erschien und baute sich vor ihm auf, die Arme vor der Brust verschränkt. Der Typ überragte ihn bereits im Stehen. Im Sitzen wirkte Rasputin noch gigantischer.

„Hast du dich wieder verlaufen?“, verlangte Rasputin zu wissen.

Er sprang auf und verschränkte ebenfalls die Arme vor seiner Brust. „Ich wollte mich für deine Gastfreundschaft bedanken. Und dafür, dass du mich quer durch die Pampa geschickt hast.“

Rasputin blinzelte. „Hab ich das?“

„Tu nicht so! Meine Pensionswirtin hat mir den kurzen Weg gezeigt.“

„Pensionswirtin?“

„Marlies Grandweiher.“

„Ach, die olle Grandweiherin“, meldete sich der Schnapsfahnen-Typ, der hinter Rasputin getreten war, zu Wort. „Was für ein Klatschmaul.“

„Der Weg ist ein Geheimnis. Jetzt muss ich dich leider töten“, verkündete Rasputin.

„Ha-ha! Ich hab meine Wirtsleute darüber informiert, dass ich hier bin. Man wird meine Leiche also schnell finden“, hielt er gegen.

„Nicht, wenn wir sie auffressen.“ Der Schnapsfahnen-Typ grinste wölfisch.

„Kannibalen gibt’s nicht.“ Trotzdem durchlief David ein unangenehmes Frösteln.

Rasputin ließ die Arme sinken. „Verrate bitte niemandem von dem Pfad. Ich will nicht, dass Touristen hier aufkreuzen.“

„Natürlich behalte ich das für mich.“

„Sagte Judas und ging zu den Römern, um Jesus zu verraten“, murmelte der Schnapsfahnen-Typ. „Ich mach mich dann mal vom Acker. Bis nachher, zur Geisterstunde.“

Sprach’s und verschwand in die Richtung, aus der David gekommen war.

Lag ein weiteres Besäufnis an? Rasputin wirkte allerdings nicht verkatert. „Tja ... dann werde ich auch wieder gehen. Wollte bloß danke sagen.“

Rasputin winkte ab. „Pass auf, dass du nicht allzu sehr rumtrampelst.“

„Natürlich. Ich hab kein einziges Zweiglein abgeknickt.“ Er funkelte Rasputin an, drehte sich um und stolzierte davon.

Obwohl er aus Trotz am liebsten eine Schneise ins Dickicht gehauen hätte, verhielt er sich abermals sehr vorsichtig. Als er die Straße erreichte, war von dem Schnapsladen-Typ nichts mehr zu sehen. Trafen sich die beiden wirklich nur zum Saufen oder passierte etwas Spannendes? Handelte es sich um Wilderer? Oder Anhänger irgendeines Naturordens, die im Dunkeln mystische Rituale praktizierten? Im Geiste sah er Rasputin und den anderen Typen nackt um ein Lagerfeuer tanzen. Seine Neugier war geweckt.

Auf der Rückfahrt deckte er sich in einem Supermarkt mit Snacks und Getränken ein. Außerdem erwarb er eine Stirnlampe, Pfefferspray und einen Kompass in dem Shop, der im gleichen Gebäude Outdoorausrüstung anbot.

Im Flur der Pension begegnete er Marlies Grandweiher. Vermutlich hatte sie nach ihm Ausschau gehalten, denn sie stand ohne sichtbaren Grund dort herum.

„Und? Haben Sie die Hütte gefunden?“, erkundigte sie sich.

Er nickte. „Es war aber niemand da. Anscheinend benutzt der Eigentümer sie nur selten.“ Die Lüge war er Rasputin schuldig. Keinesfalls durfte er Aufmerksamkeit auf die Hütte lenken.

„Kann ich mir auch nicht vorstellen. Ist ja sehr einsam dort. Sein Vorbesitzer war ein bisschen ...“ Sie tippte sich an die Stirn.

„Kann ich mir vorstellen. Es ist wirklich sehr-sehr abgelegen.“ Er schenkte ihr ein Lächeln und erklomm die Stufen ins Obergeschoss.

Nachdem er seine Einkäufe verstaut hatte, brach er wieder auf. „Du musst dir unbedingt Heidelberg angucken“, hatte Dörte gesagt. Eine gute Idee, denn das Schloss – oder eher dessen Überreste – war äußerst beeindruckend. Weniger beeindruckend war der Imbiss, den er sich im Anschluss gönnte: Currywurst mit Pommes. Hinterher war ihm ein bisschen übel von dem fettigen Zeug.

Um halb acht traf er wieder in seinem Feriendomizil ein. In seinem Zimmer wartete er ungeduldig auf die Dämmerung. Wenn der Schnapsladen-Typ gegen Mitternacht aufkreuzen würde, wollte er bereits vor Ort in einem Versteck warten. Oder sollte er besser auf dem Parkplatz ausharren, bis der Typ auftauchte? Das verringerte das Risiko, auf dem Weg zur Hütte ertappt zu werden.

Er vertrieb sich die Zeit, indem er virtuelle Moorhühner abschoss. Ein Spiel, das ihn an seine Kindheit erinnerte. Bis zu seinem Outing war die okay gewesen. Danach hatten seine Eltern ihn bei der erstbesten Gelegenheit rausgeworfen. Seitdem herrschte Funkstille. Wenn er daran dachte, tat es weh. Ansonsten kam er damit einigermaßen klar.

Während er spielte, überlegte er Mal um Mal, warum er unbedingt mitten in der Nacht zur Hütte wollte. Schließlich war das nicht ganz ungefährlich. Er könnte sich verlaufen oder tatsächlich von den beiden, wenn sie ihn entdeckten, abgemurkst werden. War das gerade der Reiz? Du willst bloß Rasputin wiedersehen, gib’s zu, flötete eine Stimme in seinem Schädel. Ich bin nur neugierig, gab er im Geiste zurück. Na ja, es stimmte schon: Rasputin hatte es ihm angetan. Hauptsächlich wollte er aber wissen, was die beiden nachts – abgesehen vom Saufen – trieben. Hoffentlich keinen Sex. Da wäre ihm Wildern sogar noch lieber.

Um halb zwölf verließ er die Pension. Die Straßen waren leer. Auf der ganzen Fahrt begegnete ihm nicht ein Auto. Abgesehen von einem Ford Pickup sowie einem Quad befand sich auch kein Wagen auf dem Parkplatz im Wald. Er ordnete das rote Monster dem Schnapsladen-Typen zu.

Nun, da er den Pfad einmal bei Tageslicht begangen hatte, konnte er diesen auch im Dunkeln mit der Stirnlampe finden. Sobald er ins Dickicht eintauchte, überfielen ihn Beklemmungen. Dabei war ein Wald doch weitaus harmloser als der Großstadtdschungel, in dem er sich sonst täglich bewegte. Dennoch ... er hörte hier ein Rascheln, dort knackte ein Ast. Waren das gelbe Augen, da drüben, links von ihm? Nein, nur Einbildung.

Behutsam, aber zügig, legte er den Weg zurück. Er atmete auf, als die Hütte in Sichtweite geriet. Bevor er auf die Lichtung trat, nahm er die Stirnlampe ab und dämpfte deren Schein mit seiner Handfläche.

In der Hütte brannte kein Licht. Die Tür stand sperrangelweit offen. Keine Spur von Rasputin oder dem Schnapsladen-Typen. Auf Zehenspitzen ging David hin und spähte ins Innere der Behausung. Es schien niemand da zu sein, aber wieso war dann nicht abgeschlossen? Mit der Stirnlampe leuchtete er in den Raum. Auf dem Tisch: Eine Flasche Whisky und zwei Gläser. Auf dem Boden: Ein Haufen Klamotten. Die Kleidung lag da, als hätte sich jemand in großer Hast entkleidet.

War Rasputin überfallen worden? Hatte man ihn entführt? Und vorher ausgezogen? Sehr wahrscheinlich! Entführer reißen ihren Opfern ja immer als erstes die Klamotten vom Leib, höhnte sein Verstand. Oder gab es in der Nähe einen Teich, in dem die beiden Nacktbaden gegangen waren? Prompt liefen Bilder des sexy Rasputin im Adamskostüm in seinem Kopfkino.

Ein Knurren in seinem Rücken erschreckte ihn zu Tode. Dennoch schaffte er es, das Pfefferspray zu zücken und die Stirnlampe nicht fallenzulassen, bevor er sich umdrehte. Ihm stand ein gigantischer Wolf, der die Zähne fletschte, gegenüber. Ohne Nachzudenken hob er die Spraydose und betätigte den Sprühknopf. Die volle Ladung nebelte den Kopf des Tieres, das aufjaulte, ein.

Fieberhaft überlegte David, ob er sich in der Hütte verschanzen sollte. Dann säße er aber in der Falle. Eine andere Möglichkeit gab es jedoch nicht.

Kaum war der Gedanke zu Ende gedacht, sprang ihn etwas von der Seite an. Vor Schreck blieb ihm das Herz stehen. Ehe alles dunkel wurde, spürte er spitze Zähne an seinem Hals.

4.

Das verdammte Spray brannte wie Feuer. Rasputin wandelte sich und blinzelte, um die Lage zu checken. David lag auf dem Boden. Felix hockte daneben und leckte sich das Maul.

„Hast du ihn etwa gebissen?“, schimpfte Rasputin.

Felix wechselte in menschliche Gestalt und setzte eine unschuldige Miene auf. „Ich hab ihn nur ein bisschen angeknabbert.“

„Das ist das Gleiche! Du Vollidiot!“

„Ey! Er hat dich angegriffen“, wehrte sich sein Freund.

Rasputin stieg über den reglosen Körper hinweg und eilte ins Bad, um sich Wasser ins Gesicht zu schaufeln. Was für ein Glück, dass er als Wandler ziemlich immun gegen solche Angriffe war. Die Dosis hätte sonst bestimmt gereicht, um ihn erblinden zu lassen.

Als er wieder einigermaßen normal gucken konnte, sammelte er Shorts und Jeans vom Boden und stieg hinein.

Felix kauerte weiterhin neben dem bewusstlosen David. Anscheinend hatte sein Freund inzwischen über die Bisswunde am Hals geleckt, denn sie verheilte bereits. Bald würde man nur noch einen Zahnabdruck erkennen, bis auch der verblasste.

„Wir müssen ihn wegschaffen. Bestimmt hat er wieder den Grandweihers Bescheid gegeben, wo er sich rumtreibt. Am besten verfrachten wir ihn in sein Bett in der Pension“, schlug Felix vor. „Dann denkt er morgen, er hätte alles nur geträumt.“

„Klar. Wir brechen in Häuser ein, um infizierte Leute dort abzulegen.“ Er zeigte Felix einen Vogel.

„Vielleicht ist er gar nicht infiziert.“

„Dann wäre er schon wieder bei Bewusstsein.“ Das wusste Rasputin nur vom Hörensagen, da er noch nie dabei war, wenn ein Mensch mit dem Wandler-Gen in Berührung kam. Dem Flurfunk zufolge setzte das Gen erstmal alle Funktionen außer Betrieb, um sich in Ruhe im ganzen Körper auszubreiten. Sowas konnte einige Stunden dauern.

„Oder sollten wir ihn um die Ecke bringen und vergraben?“, sinnierte Felix. „Mitwisser entsorgt man doch besser.“

Hast du sie nicht mehr alle?“, brauste er auf. „Wir bringen niemanden um!“

„War ja nur ’ne Idee.“ Schmollend verzog sich Felix in die Hütte.

Rasputin kniete sich neben David, kontrollierte dessen Puls und sämtliche Taschen. Ein Autoschlüssel, eine Börse, Taschentücher. Pfefferminzbonbons und ein Schlüssel, an dem eine Zimmernummer hing, fielen ihm in die Hände. Bingo! Also brauchten sie keinen Einbruch begehen.

„Leichen fleddern verboten“, witzelte Felix, der fertig angezogen im Türrahmen stand.

Er verdrehte lediglich die Augen. „Hilf mir mal, ihn transportbereit zu machen.“

Sie verstauten Davids persönliche Habe in dem Rucksack, den jener auf dem Rücken trug. Zimmer- und Autoschlüssel steckte Rasputin in seine Hosentasche. Anschließend legte er sich David über die Schulter. Der Bursche war federleicht.

Felix ging voraus. Wegen seiner etwas sperrigen Last hinterließ Rasputin einige Verwüstungen, wie er hier einen abgebrochenen Zweig, da eine plattgedrückte Pflanze zu bezeichnen pflegte. Auf dem Parkplatz stand neben Felix‘ Ford ein weißer Corsa. Das passte zu dem nerdigen David.

Sie luden ihre weiterhin bewusstlose Fracht auf die Rückbank des Pickups. Rasputin zwängte sich in den Corsa, wofür er den Fahrersitz ganz nach hinten schieben musste.

Innerhalb weniger Minuten erreichten sie die Pension. Er stellte den Corsa auf einen der dafür vorgesehenen Plätze neben dem Haus, während Felix am Straßenrand parkte. Nachdem er sich versichert hatte, dass es keine Augenzeugen gab, hievte er David aus dem Wagen und übergab Felix den Zimmerschlüssel.

Hintereinander pirschten sie aufs Gebäude zu. Leise schloss Felix die Haustür auf. Eine Treppe führte nach oben. Geradeaus lagen vermutlich der Gastraum und die Privatgemächer der Wirtsleute. So war es zumindest in den Pensionen, die Rasputin von innen gesehen hatte.

Gerade wollte er die erste Stufe in Angriff nehmen, da flammte die Deckenleuchte auf. Grandweiher – es musste der Wirt sein, denn ein Gast würde sie wohl kaum ansprechen - trat in den Flur und beäugte sie stirnrunzelnd. „Was wird das?“

„David hat einen über den Durst getrunken“, flunkerte Felix. „Wir dachten, er möchte lieber im eigenen Bett mit seinem Kater aufwachen.“

Grandweiher lachte. „Der arme Bursche. Die heutige Jugend hält nichts mehr aus.“

„Ja, ja, schlimme Sache“, stimmte Felix zu.

„Vergesst nicht, ihm einen Eimer nebens Bett zu stellen“, bat der Wirt.

„Alles klar.“ Felix zwinkerte Grandweiher zu und wandte sich an Rasputin: „Nun schaff die Schnapsleiche schon nach oben.“

Er beeilte sich, die Treppe zu erklimmen. Oben wartete er, bis Felix ihn eingeholt hatte und eine der Türen aufschloss. Trotz Fliegengewicht war er froh, David auf dem Bett abladen zu können.

„Sollten wir ihn ausziehen?“, fragte Felix.

„Ich mach das. Besorg du den Eimer.“ Er machte sich bereits an Davids Schuhen zu schaffen.

Als sein Freund mit dem Gewünschten zurückkehrte, hatte er David bis auf Shorts und T-Shirt entkleidet.

„Eigentlich ist er ganz süß“, fand Felix. „Schade, dass ich nicht auf süß stehe.“

Er deckte David zu. „Und jetzt raus hier.“

Leise traten sie den Rückzug an. Als sie in Felix‘ Ford saßen, atmete Rasputin auf. Das war ja ziemlich gut gelaufen. Nun blieb nur zu hoffen, dass David doch nicht infiziert war. Lächerlich, denn Felix‘ Speichel war spätestens beim über die Wunde lecken in Davids Blutbahn geraten, aber es geschahen ja manchmal Zeichen und Wunder.

Die Fahrt verlief schweigend. Endlich schien auch bei Felix der Ernst der Lage angekommen zu sein. Der Zentralrat der Rudel würde nicht amüsiert sein, wenn ihr Tun publik wurde. Es war strengstens verboten, Menschen zu beißen; genauso, wie ihre Wandler-Identität zu lüften. Davon hing das Überleben der ganzen Spezies ab.

Vor der Hütte lag noch die Pfefferspraydose. Felix hob sie auf und schnupperte daran. „Igitt! Das riecht echt übel.“

„Es in die Augen zu bekommen, ist noch übler.“ Rasputin entriegelte die Tür. Seine erste Amtshandlung: Zwei Fingerbreit Whisky auf Ex.

Felix, der sich die gleiche Menge hinter die Binde gegossen hatte, brummelte: „Ich möchte mal wissen, was der Bursche hier überhaupt zu suchen hatte.“

„Schätzungsweise war er neugierig.“

„Schlimme Charaktereigenschaft.“ Sein Kumpel schenkte sich nach.

„Wir müssen David im Auge behalten.“

Du wirst ihn im Auge behalten müssen, weil ich zu weit weg dafür bin.“

Ein schlagkräftiges Argument. Darmstadt lag nicht mal eben um die Ecke.

5.

David erwachte mit höllischen Kopfschmerzen. Stöhnend wälzte er sich auf die andere Seite, um den stechenden Sonnenstrahlen zu entgehen. Sein Körper fühlte sich an, als wäre eine Elefantenherde darauf herumgetrampelt.

Hatte er gesoffen? Das letzte, woran er sich erinnerte, war, dass er nachts aufgebrochen war, um Rasputin und den Schnapsladen-Typen zu observieren. Er überlegte angestrengt, wobei er die Stelle an seinem Hals, die mörderisch juckte, kratzte. Ein Mückenstich? Wohl eher mehrere.

Plötzliche Übelkeit ließ ihn hochfahren. Als er die Beine aus dem Bett schwang, traf er einen Gegenstand, der daraufhin umfiel und wegrollte: Ein Plastikeimer. Der kam wie gerufen. Er hechtete hinterher und übergab seinen Mageninhalt dem Gefäß. Danach war ihm schwindlig. Mühsam bugsierte er seinen Leib zurück in die Federn.

Nach einer Weile Augenpflege ging’s ihm besser; jedenfalls soweit, dass er aufstehen und den Eimerinhalt ins Klo schütten konnte. Bei der Gelegenheit spülte er sich den Mund aus und schaute in den Spiegel. Er sah scheußlich aus.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenzucken. Er spähte aus dem Bad ins Zimmer. Frau Grandweiher trat in den Raum, ein Tablett in den Händen.

„Ich dachte, ein Tee und Aspirin wird Ihnen guttun.“ Die Wirtin schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. „Bestimmt haben Sie schlimme Kopfschmerzen.“

„Ich ... ähm ... woher wissen Sie ...?“

„Mein Mann hat Sie nach Hause kommen sehen. Na ja, eher gesehen, wie Sie nach Hause getragen wurden.“

„Getragen?“ Wie peinlich.

„Der Beschreibung nach war es wohl Rasputin. Ein blonder Mann hat ihn begleitet.“ Die Grandweiherin stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab und ging zur Tür. „Wenn Sie noch was brauchen, sagen Sie Bescheid.“

Hatte er mit dem Schnapsladen-Typen und Rasputin gesoffen? Dann müsste er eine Fahne haben. Außerdem fühlte es sich weniger nach einem Kater an, sondern eher, als ob er etwas ausbrütete. Eine Erkältung oder so.

Er setzte sich auf die Bettkante und beäugte die Gaben der Grandweiherin. Ein Becher Pfefferminztee, ein Glas Wasser, daneben, auf einem Teller, eine Tablette. Außerdem drei Scheiben Zwieback, ein Schälchen Butter und Marmelade. Und, nicht zu vergessen, eine kleine, weiße Vase mit einem Blümchen darin. Was für ein Service.

Gerührt von der mütterlichen Fürsorge griff er nach dem Teebecher und trank einen Schluck. Wohltuend heiß rann die Flüssigkeit durch seine trockene Kehle. Das erinnerte ihn an seine Kindheit, in der seine Mutter ihn auch, wenn er krank im Bett lag, so lieb versorgt hatte. Eine Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel. Unwirsch wischte er sie weg. Seine Mutter hatte es nicht verdient. Ihren eigenen Sohn zu verstoßen, nur weil er auf Männer stand, war kaum an Kaltherzigkeit zu überbieten.

Ob’s am Tee, Aspirin, Zwieback oder einer heißen Dusche lag, entzog sich seiner Kenntnis: jedenfalls ging es ihm rund eine Stunde später wesentlich besser. Lediglich das lästige Jucken war geblieben.

Er begab sich ins Erdgeschoss, um das Tablett bei der Grandweiherin abzugeben.

Die Wirtin saß im Frühstücksraum vor einem Notebook und schaute hoch, als er den Raum betrat. „Na, ist Ihnen wohler zumute?“

„Viel besser. Darf ich, obwohl die Frühstückszeit vorbei ist, ein Marmeladenbrötchen haben?“

„Natürlich!“ Sie sprang auf, nahm ihm das Tablett ab und eilte in die Küche.

Anscheinend hatte sie an der Buchhaltung gesessen, wie David mit einem neugierigen Blick auf den Monitor feststellte. Er war davon ausgegangen, dass sie sowas noch handschriftlich erledigte. Die Leute im Odenwald leben nicht hinterm Mond, sondern bloß im Wald, ermahnte er sich im Geiste.

Weiterhin fehlte ihm jegliche Erinnerung an die Vorkommnisse der letzten Nacht. Immer, wenn er sein Gedächtnis deswegen malträtierte, verursachte das Kopfschmerzen. Er hatte es daher erstmal aufgegeben.

Die Grandweiherin kehrte zurück. Auf dem Tablett, das sie auf einem der Tische abstellte, befand sich nun ein Gedeck einschließlich Kaffee, Brötchen, Butter und Marmelade. „Übrigens hat Rasputin angerufen, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen. Was für ein lieber Junge.“

Junge im Zusammenhang mit Rasputin hörte sich falsch an. Rasputin war der männlichste Mann, den David je gesehen hatte. „Mhm, sehr lieb von ihm.“

„Meine Bekannte meint, dass der Rasputin vom anderen Ufer ist. Ich hab nichts gegen solche Leute, Gott bewahre, aber Sie sollten’s wohl besser wissen. Vielleicht macht der Rasputin Ihnen schöne Augen oder so und das würde Sie sonst eiskalt erwischen.“ Sie zwinkerte ihm zu und setzte sich wieder vors Notebook.

Schöne Augen machen? Das würde Rasputin wohl kaum tun.

Er ließ sich vor dem Gedeck nieder und sein Frühstück schmecken. Anschließend packte er Badezeug ein und fuhr zum nächstgelegenen See. Vielleicht verschwand das Jucken, wenn er eine Weile im kühlen Wasser schwamm.

Es verschaffte tatsächlich Linderung. Abwechselnd lag David in der Sonne und las oder tauchte ins herrliche Nass. Als sein Magen erneut knurrte, gönnte er sich bei dem Imbiss, der im selben Gebäude wie die Duschen und Toiletten lag, eine Schlachteplatte. Sie bestand aus einem trockenen Stück Schwein, auf dem ein Streifen Speck und drei Nürnberger Würstchen lagen. Dazu gabs Sauerkraut und Kartoffelpüree. Kein kulinarisches Highlight, aber sättigend.

Merkwürdig war, dass er beim Anblick eines Cockerspaniels, der zu anderen Badegästen gehörte, ein Kribbeln verspürte; so, als würden sich seine Füße gern in Bewegung setzen, um das Tier zu jagen. Er wertete das als Drang nach Aktivität und schwamm eine größere Runde. Bei der Rückkehr zu seinem Liegeplatz waren die Gäste mit dem Hund verschwunden.

Als er am späten Nachmittag vor der Pension Grandweiher aus dem Wagen stieg, sah er eine Katze durch den Garten streifen. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Wieder merkte er den Drang, dem Tier hinterher zu laufen. War das eine Auswirkung des fettigen Mittagsimbisses?

In seinem Zimmer hielt er es keine fünf Minuten aus. Schon saß er wieder in seinem Wagen. Auf der Fahrt zur Hütte wurde ihm bewusst, dass es ihn eigentlich schon den ganzen Tag dorthin zog. Er wollte Rasputin nur nicht auf den Geist gehen, weshalb er es so lange wie möglich rausgezögert hatte.

Sobald er den Pfad betrat, überfiel ihn eigentümliche Ruhe; so, als ob er nach Hause käme. Dabei war er gar kein Naturbursche. Camping fand er ätzend. Lieber mochte er ein richtiges Bett mit vier Wänden drumherum.

Die Lichtung war verwaist, die Hütte verrammelt. Enttäuscht – damit hatte er nicht gerechnet - ließ er sich auf der baufälligen Bank nieder. Natürlich war Rasputin nicht ständig in der Hütte. Der Mann musste sich ja auch seinen Lebensunterhalt verdienen und das bestimmt nicht mit dem Bau von Modellen aus Streichhölzern.

Trübe guckte David in die Gegend. Plötzlich fesselte etwas seine Aufmerksamkeit. Ein unbekannter Duft, der vom Dickicht her rüber wehte. Eh er sich’s versah, begab sich auf alle Viere und pirschte in Richtung Unterholz. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Was zur Hölle tat er hier?

Unversehens begann Schmerz, in seinen Muskeln zu wüten. Ächzend vor Pein sank er auf den Boden und betete mit zusammengekniffenen Augen, dass der Scheiß wieder aufhörte. Etwas passierte mit ihm. Es schien, als ob ihm Pelz wuchs und sein Gesicht ... hätte er die Kraft, würde er es betasten, um rauszufinden, was geschah.

Dann, so überraschend, wie es angefangen hatte, schwand der Schmerz. Er horchte in sich rein. Alles war wieder okay –sogar besser als okay. Er fühlte sich wie neugeboren, allerdings gab es Probleme mit dem Aufstehen. Sich auf zwei Beine aufzurichten, wollte nicht klappen. Hinzukam, dass seine Kleidung in Fetzen von ihm runter hing. Darunter lugte Fell hervor. Ihn überkam eine schreckliche Ahnung. Als er sich mit beiden Händen ins Gesicht fassen wollte, tauchten zwei Pfoten vor seinen Augen auf. Entsetzt starrte er sie an.

Bilder der letzten Nacht fluteten seinen Kopf. Die leere Hütte – ein Wolf – Pfefferspray – ein zweiter Wolf, der ihn ansprang. Anscheinend war er von wilden Tieren mit Tollwut oder irgendwas anderem, das ihn zu was-auch-immer machte, infiziert worden. Dann hatte Rasputin ihn gefunden und in die Pension gebracht.

Er betastete sein Gesicht. Es war haarig und mit einer langen Schnauze versehen. Ging das wieder weg? Die Vorstellung, von nun an so rumlaufen zu müssen, versetzte ihn in Panik. Er rollte sich zusammen, schloss die Augen und hoffte, dass der Spuk vorbei war, wenn er sie wieder öffnete.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos / Kaipurgay
Bildmaterialien: Shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2023

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