Cover

Arztromane Vol. 18

Viagra ist keine Lösung

 

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Korrekturen: Aschure, Dankeschön!

Foto Cover: shutterstock 1191907264, Depositphotos_4160048_l-2015

Cover: Lars Rogmann

Kontakt: https://www.sissikaipurgay.de/


Arztromane Vol. 18 – Viagra ist keine Lösung

Stefan, Allgemeinmediziner, betreibt eine Praxis in Bad Segeberg. Eines Tages kommt eine Patientin mit einer ungewöhnlichen Bitte zu ihm, nämlich der, ihrem Mann Jonas – ebenfalls einer von Stefans Kunden – Viagra zu verschreiben. Die Ursache für Jonas‘ Unlust, den ehelichen Pflichten nachzukommen, ist jedoch eine andere als vermutet. Er gerät in einen Gewissenskonflikt, als der Patient ihn um Hilfe bittet.

Prolog

Frühnebel schwebte über den Feldern. In der Nacht hatte es geregnet, nun verdunstete das Nass im Licht der Morgensonne. Für einen Frühsommermorgen besaßen ihre Strahlen erstaunlich viel Kraft.

Stefan zwang sich, seinen Blick wieder geradeaus zu richten, denn es konnte stets passieren, dass plötzlich irgendein Tier über die Straße lief, kroch oder hüpfte.

Neulich hatte er nicht aufgepasst und eine Kröte überfahren. Sie war von ihm am Straßenrand begraben worden. Zu diesem Zweck lag ein Spaten im Kofferraum. Natürlich plante er nicht, regelmäßig Leben zu vernichte, aber es kam eben vor. Außerdem kratzte er manchmal Kadaver, die andere Autofahrer einfach liegenlassen hatten, vom Asphalt, um auch ihnen eine würdige Ruhestätte zu geben.

Seine Praxis lag in Bad Segeberg, sein Zuhause in Klein Rönnau. Das Eigenheim mit großem Grundstück war ein Glücksgriff: Relativ günstig, kaum Renovierungsstau und nur wenige Minuten Fußweg vom Seeufer entfernt. Ein Auto brauchte er sowieso, weil man in der Provinz ohne nicht auskam. Insofern passte es perfekt. Manchmal stieg er aufs Fahrrad um, aber meist siegte seine Faulheit.

Ein Wermutstropfen war, dass sein langjähriger Partner Tom den Umzug als Anlass genommen hatte, sich von ihm zu trennen. „Was willst du denn in der Einöde?“, lauteten Toms Worte. „Für mich ist das nichts. Wenn du die Praxis übernimmst, sind wir geschiedene Leute.“

Neun Jahre waren sie ein Paar gewesen. Stefan hätte niemals vermutet, dass ein Ortswechsel sie auseinanderbringen könnte. Tom hatte nicht mal darüber nachgedacht, ob es vielleicht doch funktionierte. Schließlich befand sich Bad Segeberg nicht am Nordpol, sondern nur dreißig Minuten von Hamburgs Stadtgrenze entfernt.

Mittlerweile war Tom neu liiert. Das wusste er nur von gemeinsamen Freunden. Er war damals so verletzt gewesen, dass er jeglichen Kontakt zu Tom abgebrochen hatte und weiterhin ablehnte.

Seine Praxis lag inmitten Segebergs, im Erdgeschoss eines Altbaus. Zwei Sprechzimmer, ein Labor, zwei Toiletten, (eine fürs Personal), Teeküche, Wartezimmer und Aufenthaltsraum, der auch zum Umkleiden diente. Genug Platz, um irgendwann – falls der Patientenstamm wuchs – einen Kollegen aufzunehmen.

Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz hinterm Haus ab und betrat das Gebäude durch die Hintertür. Da Marianne und Agnes, seine Assistentinnen, erst um halb neun kamen, schloss er die Praxis auf und schaltete die Flurbeleuchtung an. Im Aufenthaltsraum tauschte er seine Jacke gegen einen weißen Kittel und seine Sneakers gegen Gesundheitslatschen. Anschließend setzte er die Kaffeemaschine in Betrieb.

Im Sprechzimmer checkte er die Vormittagstermine. Zehn Patienten, darunter zwei Neuzugänge. Sehr wahrscheinlich tauchten auch einige Notfälle auf, wie jeden Montag. Vor ihm lag also ein strammes Programm.

Als er sich einen Becher Kaffee holte, begegnete er Marianne. Sie war der Ruhepol der Praxis. Wenn es hektisch zuging, behielt sie stets den Überblick, was man von Agnes nicht behaupten konnte. Marianne war Mitte fünfzig, Agnes erst vierundzwanzig. Stefan fand, das war eine gute Kombination.

„Schönes Wochenende gehabt?“, erkundigte er sich, wobei er reichlich Milch in seinen Kaffeebecher goss.

„Hektisch. Drei Enkel und ein Hund können einen ganz schön auf Trab halten.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Michael tut das gut.“

Mariannes Gatte Michael war von der behäbigen Sorte. Regelmäßig saß er, wenn er mal wieder im Gasthaus über die Stränge geschlagen hatte, in Stefans Wartezimmer. Mit Gicht sollte man kein Bier trinken sowie Diät halten. Das sagte er Michael jedes Mal, doch es nützte nichts. Hinzukam, dass es sich um einen Bewegungsmuffel handelte.

„Dann öffne ich mal unsere Pforten.“ Marianne folgte ihm auf den Flur, wo sich ihre Wege trennten. Während er sich wieder ins Sprechzimmer begab, steuerte sie die Vordertür an.

Kurz darauf spähte sie in den Raum. „Kann ich dir schon einen Notfall schicken?“

„Klar. Rein damit.“ Bis zum ersten Termin waren ja noch einige Minuten Luft.

Sie verschwand. Es dauerte einige Augenblicke, bis die Daten des Patienten auf seinem Bildschirm erschienen. Jonas Sieger, neunundzwanzig, gesetzlich versichert, wohnhaft in der Sperlingstraße, also nur wenige Minuten entfernt.

Stefan erhob sich, ging zum Wartezimmer und bat den Patienten, der darin saß, mit ihm zu kommen. Wenn viel los war, benutzte er die Sprechanlage. Sonst holte er seine Kundschaft gern persönlich ab.

Sieger, ein schlanker Mann mit kurzen, braunen Haaren, folgte ihm ins Sprechzimmer und nahm auf dem Besucherstuhl Platz.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er, nachdem er sich wieder hinter dem Schreibtisch niedergelassen hatte.

„Halsweh“, krächzte Sieger.

Eine kurze Untersuchung ergab, dass Siegers Mandeln geschwollen waren. Er verschrieb dem Mann ein Antibiotikum und fragte, ob der Patient einen gelben Schein benötigte. Sieger schüttelte den Kopf.

„Bitte vereinbaren Sie einen Termin für Anfang nächster Woche“, gab er Sieger mit auf den Weg.

1.

Der Juni zeigte sich von seiner schönsten Seite. Während der Fahrt zur Praxis ließ Stefan die Seitenscheibe halb runtergleiten, um warme Luft ins Innere zu lassen. Sein Wagen stand in der Garage, weshalb es sich darin stets wie im Kühlschrank anfühlte.

Zu seinen Stammkunden hatten sich Urlauber gesellt. Pro Woche behandelte er im Schnitt fünf Patienten, die von außerhalb stammten. Eigentlich sollte er, wie die meisten Arztpraxen im Sommer, drei Wochen schließen, um sich zu erholen. Da auf ihm noch hohe Kredite lasteten, musste er ein weiteres Jahr ohne Pause durchhalten. Das störte ihn nicht. Er liebte seine Arbeit.

Seinen Assistentinnen musste er natürlich drei Wochen Sommerurlaub am Stück gewähren. Derzeit vertrat Hilde – diese war in Rente gegangen, als sein Vorgänger wegzog – Marianne. Hilde besaß einen Dackel, der auf den hochtrabenden Namen Kunibert von Hohenzollern hörte. Ausnahmsweise, Tiere waren in der Praxis verboten, durfte sie den Hund zur Arbeit mitbringen. Der arme Kunibert hätte sonst viele Stunden allein zu Hause verbracht. Man hörte und sah fast nichts von dem Hund, der während der Sprechstunden hinterm Empfangstresen döste.

In den Pausen lieh sich Stefan das Tier gern aus, um ein bisschen an die frische Luft zu kommen. Kunibert, bereits ein alter Herr, war ein angenehmer Begleiter: Brav, schweigsam und immer gut gelaunt.

An diesem Vormittag befand sich Konstanze Sieger unter den Patienten. Sie trug Milena, ein Jahr alt, in einem Tuch vor der Brust. Sonst hatte sie beide Kinder dabei. Max war zwei und befand sich vermutlich in der Krippe.

Stefan war froh über sein gutes Namensgedächtnis. Es half, eine Beziehung zu seinen Kunden aufzubauen. „Guten Morgen, Frau Sieger. Wie geht es denn der kleinen Milena?“

„Prächtig.“ Sie setzte sich und strich dem Baby über den Kopf. „Mir geht’s auch gut. Ich bin wegen einer anderen Sache hier.“

Er faltete die Hände im Schoß und lehnte sich zurück.

„Es ist wegen Stefan ...“ Sie senkte die Wimpern. „Ich möchte bitte Viagra für ihn haben.“

Stefan hatte schon so einiges erlebt, aber noch nie, dass eine Ehefrau die Potenzpillen für ihren Mann haben wollte. „Mögen Sie mir den Grund für diesen Wunsch erzählen?“

Frau Sieger, weiterhin den Blick auf einen Punkt am Boden gerichtet, bekam rote Wangen. „Seit Milena da ist, schwächelt Stefan im Bett.“

„Das kann viele Gründe haben. Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Das wäre erstmal der bessere Weg. Vielleicht belastet Ihren Mann etwas, im Beruf oder anderen Bereichen.“

„Er ist beim TÜV und hat da nichts auszustehen und beim Sport läuft auch alles wie immer.“

„Oder es handelt sich um ein physisches Problem. Er sollte das beim Urologen abklären lassen.“

„Da geht er nie und nimmer hin.“

Stefan seufzte innerlich. „Weiß er, dass Sie ein Rezept für ihn holen wollen?“

Abermals schüttelte sie den Kopf.

Plante sie, ihrem Gatten das Zeug heimlich unterzujubeln? Gruselige Vorstellung. „Ich müsste mit Ihrem Mann reden, bevor ich das Rezept ausstelle. Sildenafil kann Nebenwirkungen hervorrufen, über die er informiert sein sollte.“

Frau Sieger schaute hoch, die Stirn gerunzelt. „Sildena...? Ich wollte doch Viagra.“

„Das ist der Wirkstoff des Medikaments.“

„Ich kann Stefan nicht herschicken. Er würde nicht kommen.“ Sie seufzte. „Könnten Sie ihn nicht herbestellen?“

„Entschuldigung, aber das geht nicht. Meine Patienten kommen generell freiwillig her.“ Einige taten es sogar zu oft, im Gegensatz zu denen, die mit einem Bein im Grab stehen mussten, um den Gang zum Arzt auf sich zu nehmen.

„Muss er nicht mal wieder geimpft werden oder so?“

„Das läuft aufs Gleiche hinaus.“

„Können Sie denn gar nichts tun?“

„Es tut mir wirklich leid, Frau Sieger, aber mir sind die Hände gebunden. Ich darf kein Rezept ausstellen, bevor ich Ihren Mann nicht zumindest oberflächlich untersucht habe.“

Sie seufzte abgrundtief und erhob sich. „Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.“

Sprach’s und verließ den Raum.

Rasch machte Stefan ein paar Notizen, damit Marianne den Besuch abrechnen konnte, bevor er den nächsten Patienten aufrief. Wegen des Ansturms der letzten Wochen verzichtete er darauf, sie aus dem Wartezimmer abzuholen.

Bis halb eins war er ausgebucht. Den letzten Patienten geleitete er persönlich zur Tür und schloss hinter ihm ab.

Im Aufenthaltsraum saßen Marianne und Hilde. Beide löffelten eine Fünf-Minuten-Terrine. Ihm drehte sich allein bei dem Anblick der Magen um. Wie man solches Zeug essen konnte, war ihm ein Rätsel.

„Darf ich mir Kunibert ausleihen?“, wandte er sich an Hilde.

„Nur zu.“ Sie guckte unter den Tisch. „Schatz, dein Typ wird gefragt.“

Kunibert begann, mit dem Schwanz zu wedeln.

Durch den Vorderausgang verließ Stefan das Gebäude, den Hund im Schlepptau. Auf dem Bürgersteig herrschte reges Treiben. Es gab im Umkreis einige Büros und Geschäfte. Nun waren die hungrigen Angestellten auf der Jagd nach etwas Essbarem.

Am Ende der Straße tauchte er in das schattige Grün von Bäumen. Sie säumten den Friedhof, an den sich die örtliche Baumschule anschloss. Dahinter begann öffentlicher Wald, hinter dem der Segeberger See lag.

Auf ungefähr halber Strecke zur Promenade ließ er sich auf einer Bank nieder und holte sein Butterbrot aus der Hosentasche. Das hatte er vor seinem Aufbruch eingesteckt. Kunibert hockte sich vor seine Füße und setzte den Du-willst-das-doch-wohl-nicht-alles-allein-essen-Blick auf.

„Ich darf dir nichts abgeben, sonst kriege ich Ärger mit Frauchen“, klärte er den Hund auf.

Das tangierte Kunibert nicht die Bohne.

„Na gut. Aber kein Sterbenswörtchen zu Hilde.“ Er fischte einen Scheibe Wurst aus seiner Stulle und hielt sie dem Hund hin. „Mehr gibt’s nicht.“

Kunibert schluckte die Wurstscheibe in einem Stück runter, legte sich hin und ließ die Zunge aus dem Maul hängen.

„Kommt eine Frau zum Arzt und verlangt ein Rezept über Potenzpillen für ihren Mann.“ Stefan biss von seinem Brot ab und redete kauend weiter: „Was glaubst du? Wird der Arzt es ihr geben?“

Kunibert gähnte.

„Genau! Er wird es nicht tun, weil er ein Gewissen hat. Es könnte nämlich sein, dass der Mann unter Hitzewallungen, Übelkeit, Kopfschmerzen oder Schwindel leidet und den Arzt verklagt, ihn nicht darüber aufgeklärt zu haben.“

Keine Reaktion.

„Stimmt. Der Apotheker wäre in der Pflicht, den Patienten darüber aufzuklären, könnte aber an mich verweisen, da ich das Rezept ja ausgestellt habe. Jedenfalls war sie der Meinung, ich sollte doch einfach ihren Mann zu mir beordern, aber das geht ja nicht. Oder was denkst du?“

Kunibert schaute hoch, den Blick hoffnungsvoll auf den Rest Stulle gerichtet.

„Du meinst, ich könnte meinen Wagen mal beim TÜV vorstellen? Der Termin ist zwar erst in ein paar Monaten, aber warum eigentlich nicht? Vielleicht treffe ich bei der Gelegenheit Herrn Sieger und frage ihn, wie er die Angina überstanden hat. Der Schlingel hat nämlich nicht, wie ich ihn gebeten habe, einen Folgetermin vereinbart.“ Er gab dem Hund das letzte halbe Stückchen Wurst.

„Ich weiß: Das Ganze geht mich gar nichts an, aber die Frau tut mir leid. Stell dir nur vor, wegen solcher Kleinigkeit geht ihre Ehe in die Brüche und zwei Kinder sitzen ohne Vater da“, fuhr er fort. „Oder ohne Mutter. Soll ja auch vorkommen, dass sie dem Vater die Kleinen überlässt.“

Kunibert schnaufte.

„Es kann auch sein, dass Herr Sieger unter erektiler Dysfunktion leidet. Dann wäre es ohnehin meine Pflicht, ihm zu helfen. Sowas kann einen Mann nämlich ganz schön fertig machen. Einen Hund bestimmt auch, nicht wahr?“ Er beugte sich runter und tätschelte Kuniberts Kopf. „Stell dir nur vor, du siehst eine hübsche Dackeldame und willst sie beglücken, aber unten regt sich nichts. Das ist doch frustrierend.“

Ob Kunibert seine Meinung teilte, konnte er nicht erkennen.

„Komm, lass uns weitergehen“, schlug er vor, stand auf und nötigte Kunibert, indem er an der Leine zog, ihm zu folgen.

Als sie nach einer halben Stunde Spaziergang in die Praxis zurückkehrten, verkroch sich der Dackel sogleich hinter den Tresen. Ein bisschen neidisch guckte Stefan zu, wie sich Kunibert zusammenrollte und einschlummerte. Auf ihn wartete, anstelle eines Mittagsschläfchens, ein Berg Verwaltungskram.



Zwei Wochen später, an einem Mittwochnachmittag, als die Praxis geschlossen war, fuhr er zum TÜV-Gelände, stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab und ging ins Gebäude. Hinter der Theke saß eine junge Frau. Sieger entdeckte er an einem der Schreibtische, die dahinter standen.

„Ja, bitte?“, sprach ihn die Frau, die ein Namensschild als A. Bolz auswies, an.

„Bei meinem Wagen ist demnächst TÜV fällig. Ich wollte fragen, ob ich einfach so vorbeikommen kann oder einen Termin brauche.“

„Das kommt drauf an, wie viel los ist. Wenn Sie schon heute eine Plakette haben möchten, können sie sofort drankommen.“

Sieger wurde auf ihn aufmerksam, erhob sich und trat zu A. Bolz. „Hi, Herr Doktor.“

„Hallo, Herr Patient“, erwiderte er.

„Sorry, dass ich mir neulich keinen neuen Termin geholt habe.“

„Das war ja nur eine Empfehlung.“

„Übernimmst du den Kunden? Ich muss mal kurz weg“, mischte sich A. Bolz ein.

Das passte ja wunderbar. Innerlich rieb sich Stefan die Hände.

„Natürlich.“ Sieger nahm ihren Platz ein.

„Ich würde mir gern ansehen, ob Ihre Mandeln vollständig ausgeheilt sind. Können Sie morgen in meine Praxis kommen?“

„Wenn ich das vor der Arbeit erledigen kann, ist es kein Problem.“

„Passt Ihnen halb acht?“

Sieger nickte.

„Dann sehen wir uns morgen früh.“ Stefan wandte sich zum Gehen.

„Warten Sie! Was ist mit Ihrem TÜV-Termin?“

Auf der Rückfahrt zur Praxis, seine Arbeit hatte er für den Ausflug nur unterbrochen, fragte er sich, ob bei ihm eine Schraube locker war. Sieger unter einem fadenscheinigen Vorwand einzubestellen, hatte er sich doch geweigert. Und wie wollte er das Gespräch von den Mandeln zur mangelnden Libido lenken? Ihr Rachen ist gerötet. Das deutet auf sexuelle Unlust hin, flüsterte eine höhnische Stimme in seinem Schädel.

Zurück an seinem Schreibtisch verdrängte er die Gedanken an Sieger, um sich auf den Papierkram zu konzentrieren.

Erst nach Feierabend ließ er zu, dass ihn die Sache wieder beschäftigte. Er könnte Sieger nach der letzten Krebsvorsorgeuntersuchung fragen. So, wie er den Mann einschätzte, lag die entweder Ewigkeiten zurück oder es war noch nie eine vorgenommen worden. Es war seine Pflicht darauf hinzuweisen, welchen hohen Stellenwert Vorsorge hatte und welche Folgen - beispielsweise - eine Erkrankung der Hoden haben könnte. Oft litten die Patienten während und nach der Therapie unter erektiler Dysfunktion. Eine super Überleitung zum Thema.

Ziemlich zufrieden mit seinem Plan legte er die Angelegenheit geistig beiseite.

2.

„Was meinst du? Ist der Doktor noch zu haben?“, erkundigte sich Angela, als sie von der Toilette zurückgekehrt war. „Ich finde ihn ziemlich heiß.“

„Der ist zu alt für dich“, erwiderte Jonas.

„Ich mag ältere Männer lieber als Jungspunde. Die wissen wenigstens, wo der Hase langläuft.“

„Einen Ehering trägt er jedenfalls nicht.“ Er gab ihren Platz frei und verzog sich an seinen Schreibtisch.

Gegenüber Doktor Gutbrodt hatte er ein schlechtes Gewissen, sonst hätte er sich niemals dazu hinreißen lassen, morgen früh hinzugehen. Vielleicht hatte es sogar etwas Gutes, denn er musste unbedingt mit jemandem reden. In seiner Umgebung gab es nämlich niemanden, dem er bedingungslos vertraute. Der Nachteil einer Kleinstadt war eben, dass fast jeder fast jeden kannte, was zu Klatsch und Tratsch führte.

Den Heimweg legte er zu Fuß zurück. Sein Fahrrad, mit dem er sonst immer fuhr – tagsüber benötigte Konstanze den Wagen, für Einkäufe und so – hatte einen Platten. Er musste es nachher, wenn die Kinder im Bett waren, unbedingt reparieren.

In der Wohnung empfing ihn Essensduft. Er identifizierte Tomaten und Zwiebeln. Es dürfte also Nudeln mit Sauce geben.

„Dada!“, tönte Max‘ Stimme aus dem Wohnzimmer.

„Ja, Papa ist wieder da. Ich bin gleich bei dir“, rief er, schlüpfte aus seinen Sneakers und ging in die Küche, um Konstanze mit einem Kuss auf die Wange zu begrüßen. „Hi. Alles in Ordnung?“

Sie nickte.

Max saß im Laufgitter. Milena lag daneben auf einer Decke und beschäftigte sich mit ihrem Spieltrapez. Er hob seinen Sohn aus dem Kinderknast, wie er es heimlich nannte und schmunzelte, als Max ihm die Ärmchen um den Hals schlang und einen feuchten Knutscher aufdrückte.

„Wie geht es meinem Sonnenschein?“, säuselte er.

„Gaaaaaaaa!“, meldete sich Milena zu Wort.

Max begann zu zappeln, woraufhin er seinen Sohn absetzte. Amüsiert schaute er zu, wie sich der Kleine zu Milena legte und ihr half, das Trapez zu malträtieren.

Er ließ sich auf der Couch nieder und streckte die Beine aus. Die beiden Süßen waren seine Augensterne. Gerne hätte er noch mehr gehabt, aber Konstanze war dagegen. Ihre Entscheidung, denn schließlich musste sie mit dickem Bauch rumlaufen und die Schmerzen bei der Geburt ertragen. Die Erinnerung – er war beide Male dabei gewesen – verursachte ihm eine unangenehme Gänsehaut. Er würde sowas niemals aushalten.

Finanziell war’s eh schon knapp. Sein Einkommen reichte gerade für Miete, Nebenkosten, Lebensmittel und Windeln. Mit Konstanzes Eltern- und dem Kindergeld mussten sie alle anderen Kosten bestreiten. Falls sein alter Golf demnächst den Geist aufgab, wäre kein anderes Auto drin.

„Jonas?“, ertönte Konstanzes Stimme. „Essen ist fertig. Bringst du bitte die Kinder mit?“

Er nahm Milena auf den Arm und Max an die Hand. In der Küche verfrachtete er beide in Hochstühle.

Nach dem Essen brachte er die zwei ins Bad. Während Milena in der Wanne – sie hatten ein kleines Modell aus Plastik in die große gestellt, um Wasser zu sparen – saß, putzte er Max die Zähne. Anschließend tauschten die Kinder ihre Plätze.

Um halb sieben waren die beiden bettfertig. Sie teilten sich den kleinsten Raum der Drei-Zimmer-Wohnung. Das war auch eines von Konstanzes Argumenten gegen ein weiteres Kind gewesen. Mit zweien konnten sie noch einige Jahre hier wohnen, bis sie etwas Größeres suchen mussten. Jonas war zwar der Ansicht, dass Geschwister nicht zwingend eigene Zimmer brauchten, doch Konstanze war strikt dagegen.

Er setzte sich auf Max‘ Bettkante und klappte das Märchenbuch auf, aus dem er jeden Abend vorlas. „Was wollt ihr heute hören? Der Froschkönig? Oder: Das tapfere Schneiderlein?“

Bestimmt gab es Leute, die sich über seine Auswahl von Vorlesegeschichten – grausame Märchen - aufregen würden. Das kümmerte ihn nicht die Bohne. Er liebte die Geschichten der Gebrüder Grimm – politisch korrekt hin oder her.

„Fosch!“, rief Max.

Mit dem Sprechen haperte es noch ein wenig. Der Kinderarzt sagte, dass es keine Entwicklungsstörung, sondern normal wäre. Auch dass Milena keine Anstrengungen unternahm, auf zwei Beinen zu stehen, wäre kein Grund zur Sorge.

Konstanze kam herein, umweht von blumigem Parfumduft und sagte den Kindern Gute Nacht. Sie wollte mit einer Freundin ins Kino.

„Bis später“, verabschiedete sie sich von Jonas.

Er wartete, bis die Wohnungstür ins Schloss fiel, bevor er zu lesen anfing. Etwa in der Mitte der Geschichte waren beide Kinder eingeschlafen. Wahrscheinlich hätte Jonas auch Zahlenreihen mit dem gleichen Ergebnis aufsagen können.

Er löschte das Licht, lehnte die Zimmertür an und begab sich ins Wohnzimmer, wo er sich auf der Couch niederließ. Nachdem er mittels Fernbedienung die Glotze angeschaltet hatte, lehnte er sich zurück und ließ seine Gedanken schweifen.

Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr war er mit seinen Eltern - die beiden betrieben einen Autoscooter - durch Deutschland getingelt. Vor seiner Einschulung hatte er dieses Leben aufregend gefunden, danach schrecklich. Abgesehen von der Winterpause, in der er seine Stammschule in der Nähe ihres festen Wohnsitzes besuchte, musste er alle paar Wochen in eine andere Stützpunktschule gehen. Ohne die Hausaufgabenbetreuung, die einige Schausteller organisierten, hätte er den Lernstoff niemals bewältigen können.

Am meisten belastete ihn jedoch, dass er in der jeweiligen Schule Außenseiter blieb. Wer wollte schon mit jemand befreundet sein, der nur wenige Wochen blieb und erst nach Monaten das nächste Mal auftauchte? Er war bestenfalls eine Attraktion, die man neugierig beäugte, schlimmstenfalls ein Freak, den alle links liegenließen. Da half auch die Gesellschaft der anderen Schausteller-Kinder, die ja sein Schicksal teilten, nicht. Die Abgrenzung verletzte ihn trotzdem.

Die meisten seiner Leidensgenossen träumten davon, die Geschäfte ihrer Eltern zu übernehmen oder ein eigenes zu führen. Er hingegen sehnte sich nach Normalität, Beständigkeit, einem geregelten Familienleben; einem, in dem die Eltern abends für ihre Kinder anstatt für die Kundschaft da waren. Für ihn war die schönste Zeit des Jahres die Winterpause und jedes Mal, wenn es wieder losging, sein Widerwillen größer.

Zwei Monate nach seinem vierzehnten Geburtstag erlitt sein Vater den x-ten Bandscheibenvorfall. Bereits bei den vorhergehenden hatte man ihn ermahnt, körperliche Belastung zu meiden. Diesmal war es ernst: Ein weiterer Vorfall könnte zu Lähmungen führen.

Seine Eltern beschäftigten für den Auf- und Abbau der Anlage zwar Hilfskräfte, mussten aber stets mit anpacken, um die Kosten gering zu halten. Schweren Herzens entschlossen sie sich, das Geschäft an den Nagel zu hängen. Jonas taten seine Eltern leid, doch die Freude, dem Reisen Adieu zu sagen, war größer.

Schon im September, statt wie sonst im Dezember, ging er wieder in seine Stammschule. Er wurde aktives Mitglied im örtlichen Fußballverein und trat dem Schachclub bei. Entsprechend war sein Bekanntenkreis bald ziemlich groß.

Zu Hause lief es weniger rund. Das Geld war knapp, da sein Vater auf eine Umschulung wartete und seine Mutter ihren gesamten Lebensunterhalt mit einer Anstellung in einem Kiosk bestritt. Streit und schlechte Laune standen auf der Tagesordnung. Seine Eltern waren nie der Inbegriff übergroßer Fürsorge gewesen. In der angespannten Lage schwand auch der letzte Rest an elterlicher Zuwendung.

Nach dem Schulabschluss absolvierte Jonas eine Ausbildung zum KFZ-Mechaniker. Die Auswahl an Möglichkeiten war nicht groß, also hatte er das nächstbeste genommen. Zwei Jahre arbeitete er in dem erlernten Beruf, dann ergatterte er eine Stelle in der Verwaltung beim TÜV. Endlich reichte sein Gehalt, um sich eine eigene Wohnung zu leisten.

Konstanze lernte er mit Mitte zwanzig auf einem Sommerfest kennen. Sie gefiel ihm auf Anhieb, mit der knabenhaften Figur und dem hübschen Gesicht. Außerdem wollte sie – genau wie er – eine Familie gründen.

Innerhalb von drei Monaten waren sie verheiratet und Max in Produktion.

Plötzlich erinnerte er sich an sein kaputtes Fahrrad. Das brauchte er unbedingt, um den Termin mit Doktor Gutbrodt einzuhalten.

Er aktivierte das Babyphon und begab sich in den Keller. Einen neuen Schlauch hatte er noch auf Lager, so dass er lediglich den undichten auswechseln brauchte.

Um halb elf war Konstanze noch nicht zurück. Jonas schaute, bevor er ins Bett ging, nach den Kleinen und schlief bald, nachdem er sich unter seine Decke gekuschelt hatte, ein.



Am nächsten Morgen brach er eine halbe Stunde eher als sonst auf. Konstanze gegenüber behauptete er, so viel Arbeit auf dem Tisch liegen zu haben, dass er früher anfangen musste, um sie zu bewältigen. Sie brauchte von seinem Arzttermin nichts zu wissen, weil sie ihn sonst nach dem Grund aushorchen würde.

Mit dem Rad benötigte er nur wenige Minuten bis zur Praxis. Auf sein Läuten hin dauerte es einige Momente, bis Doktor Gutbrodt die Tür öffnete und ihn hereinbat.

Sie gingen ins Sprechzimmer. Der Doktor hockte sich auf die Schreibtischkante. Jonas setzte sich auf den Besucherstuhl.

„Hatten Sie früher schon mal Probleme mit den Mandeln?“, erkundigte sich Gutbrodt.

„Ein paarmal.“

„Dann schaue ich mir die mal an.“ Der Doktor schnappte sich einen Holzspatel aus einem Glasbehälter und baute sich vor ihm auf.

Gehorsam öffnete Jonas den Mund.

„Sie sind vernarbt, aber ich empfehle trotzdem, sie zu behalten“, riet Gutbrodt nach kurzer Untersuchung, warf den Spatel in den Mülleimer und nahm wieder auf der Schreibtischkante Platz. „Wie sieht es bei Ihnen mit Krebsvorsorge aus?“

„Ich ... ähm ... ich hielt das noch nicht für nötig.“

„Eigentlich ist es dafür auch noch zu früh“, räumte der Doktor ein. „Die gesetzliche Kassen zahlen erst ab einem gewissen Alter für verschiedene Vorsorgeleistungen.“

Jonas kratzte all seinen Mut zusammen. „Darf ich Sie was fragen?“

„Selbstverständlich.“

„Seit Milenas Geburt ... ich hab keine Ahnung wieso, aber ... aber seitdem hab ich Probleme mit ... mit dem ehelichen Beischlaf.“ Blöde Umschreibung, aber gegenüber dem Doktor wollte er das Wort Sex nicht benutzen.

„Körperlicher oder seelischer Natur?“

„Ähm ... beides.“

„Hat sich Ihre Frau durch die Schwangerschaft verändert? Liegt es vielleicht daran?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie sieht genauso aus wie vorher.“

„Waren Sie bei der Geburt dabei?“

„Bei beiden. Nach Max hatte ich keine Schwierigkeiten. Daran kann’s also nicht liegen.“

Der Doktor strich sich durch den Bart. „Es kann durchaus passieren, dass auch ein Mann nach der Niederkunft gewisse Zeit braucht, um sich an den neuen Zustand zu gewöhnen.“

„Ein ganzes Jahr?“

„Sowas lässt sich nicht in Zeiträumen bemessen.“

„Gibt es ein Medikament, das mir helfen könnte? Zum Beispiel diese blauen Pillen.“

„Viagra verursacht keinen Erregungszustand. Es unterstützt lediglich, wenn bereits Lust vorhanden ist.“

Enttäuscht ließ Jonas den Kopf hängen.

„Haben Sie mal über eine Eheberatung nachgedacht?“, hakte Doktor Gutbrodt nach.

„Eigentlich ist bei uns alles in Ordnung, abgesehen von ... von der Bettsache.“

„Dennoch rate ich Ihnen, einen Fachmann aufzusuchen. Ich sehe doch, wie unglücklich Sie über den Zustand sind.“

„Das kostet doch bestimmt was, nicht wahr?“

„Es gibt gemeinnützige Vereine, die sowas kostenlos anbieten.“

Zu einer Beratungsstelle zu gehen würde voraussetzen, vorher mit Konstanze über die Situation zu sprechen. Bislang hatten sie die Angelegenheit totgeschwiegen. Er ahnte nur, dass Konstanze unzufrieden war. Ach, Unsinn! Natürlich war sie unzufrieden. Er wäre es auch, wenn sie ihm im Bett die kalte Schulter zeigen würde.

„Wenn Sie mal wieder jemanden zum Reden brauchen, rufen Sie mich gern an.“ Doktor Gutbrodt wandte sich zum Schreibtisch, kritzelte etwas auf ein Kärtchen und reichte es ihm.

Es handelte sich um eine Visitenkarte, auf die der Doktor eine Handynummer geschrieben hatte. „Danke.“

„Übrigens haben Sie zwei ganz entzückende Kinder.“

Bei dem Gedanken an Max und Milena bogen sich seine Mundwinkel hoch. „Ja, sie sind wirklich kleine Goldschätze.“

3.

Im Laufe des Vormittags fragte sich Stefan mehrfach, ob er noch alle Tassen im Schrank hatte, Sieger seine Privatnummer zu geben. Er bezweifelte zwar, dass sein Patient sie jemals benutzen würde, doch darum ging es nicht. Es ging darum, dass er die Nummer rausgerückt hatte, weil er Sieger anziehend fand. Das war unprofessionell.

Was Siegers Problem betraf, hatte er verschiedene Theorien.

These eins: Bei einer Geburt dabei zu sein, konnte für einen Mann ein traumatisches Erlebnis darstellen; zuzugucken, wie ein Kind aus dem Loch flutschte, das man für sein Vergnügen benutzt hatte. In einer Umfrage sprachen Betroffene davon, den Respekt vor ihrer Partnerin verloren zu haben beziehungsweise sie mit anderen Augen zu sehen.

These zwei: Mit dem zweiten Kind war die Familienplanung der Siegers abgeschlossen. Das wusste er von seiner Patientin. Die Notwendigkeit zum Koitus fiel somit weg. Vielleicht übte das negativen Einfluss auf die Libido aus.

These drei: Durch die Anwesenheit der Kinder veränderte sich das Familienleben. Romantische Zweisamkeit wurde zur Seltenheit oder fiel ganz weg. Der Akt wurde zu etwas, das man schnell zwischen zu Bett gehen und Einschlafen erledigte und das möglichst still, damit die Kleinen nicht aufwachten. Auch das konnte tödlich für echtes Lustempfinden sein.

In der Mittagspause besprach er seine Theorien mit Kunibert, der geduldig zuhörte. Zumindest hatte es den Anschein. Wahrscheinlicher war, dass der Hund auf Durchzug geschaltet hatte.

Er bedauerte, dass Marianne bald aus dem Urlaub zurückkehrte. Nicht wegen Hilde, sondern wegen Kunibert, den er sehr vermissen würde. Vielleicht sollte er über die Anschaffung eines Hundes nachdenken. Dagegen sprach, dass er dann gebunden wäre. Auf der anderen Seite könnte er, wenn er nach Hamburg fuhr, um Freunde zu besuchen, das Tier mitnehmen. Seine Eltern hätten sicher nichts dagegen, sich um den Hund zu kümmern. Beide waren tierlieb, hatten viel Zeit und einen Garten zur Verfügung. Fürs Wochenende war eh eine Stippvisite bei den beiden geplant, bei der er die Sache besprechen wollte.



Wie er vermutet hatte, fanden seine Eltern die Idee gut. Seine Mutter drängte sogar, gleich ins Tierheim zu fahren, um nach einem geeigneten Kandidaten Ausschau zu halten.

Die Auswahl fiel schwer. Letztendlich entschied er sich für einen Mischling, der laut dem Tierpfleger äußerst friedlich war.

„Was steckt denn da alles drin?“, erkundigte sich Stefan, wobei er das Fellknäuel beäugte.

„Ich schätze, das ist das Ergebnis von Dackel und Riesenschnauzer.“

Der Hund war doppelt so groß wie Kunibert und trug ein struppiges, graues Fell. Der Stummelschwanz bewegte sich, als der Pfleger das Tier aus dem Käfig holte, so schnell wie ein Propeller. Mit steinerweichendem Blick schaute der Hund zu Stefan hoch.

„Ja, ja, schon gut. Ich nehm dich ja mit.“ Er strich dem Tier über den Kopf. „Hat er einen Namen?“

Der Pfleger zeigte auf ein Schild am Käfig. „Wir hatten, als er aufgegriffen wurde, die Woche mit Automarken.“

„Alfa Romeo“, las Stefan und verdrehte die Augen. „Na ja, es hätte schlimmer kommen können.“

„Allerdings. Zurzeit benennen wir die Tiere nach italienischen Gerichten.“ Der Pfleger reichte ihm die Leine. „Folgen Sie mir bitte unauffällig.“

Im Vorbeigehen studierte Stefan die Schilder an weiteren Käfigen. Gnocchi, Pasta, Polenta, Risotto ... da war Alfa Romeo echt das kleinere Übel.

„Ich finde den Namen schön“, meinte seine Mutter, die ihn begleitete. „Du hättest ihm doch bestimmt irgendwas Profanes verpasst, wie Waldi oder Kalle.“

Womit sie recht hatte.

Nachdem die Formalitäten erledigt waren, besorgten sie alles, was ein Hundehalter benötigte. Ein freundlicher Fachverkäufer stand ihnen dabei mit Rat und Tat zur Seite. Als Stefan den ganzen Kram im Kofferraum seines Kombis verstaute, teilte er Alfa Romeo, der brav auf der Rückbank wartete, mit: „Du bist eine ganz schön teure Anschaffung.“

„Italienische Wagen sind eben kostspielig“, erwiderte seine Mutter lächelnd. „Dafür ist ihr Design wundervoll.“

Sie hatte sich eindeutig in Alfa Romeo verknallt. Ihm ging’s genauso. Wer könnte auch den treu blickenden Hundeaugen widerstehen?

Stefans Vater war auch sofort entzückt. „Wenn wir nicht so oft unterwegs wären, würde ich dir Alfa Romeo wegnehmen“, erklärte sein alter Herr.

Seine Eltern unternahmen häufig Kurztrips, wobei sie in Hotels logierten. In den wenigsten war es erlaubt, ein Tier mitzubringen.

Die Heimfahrt durfte Alfa Romeo auf dem Beifahrersitz verbringen. Das machte eine Unterhaltung einfacher, als über die Schulter zu reden. Er erzählte Alfa Romeo von der Sieger-Sache. Entgegen Kunibert wirkte Alfa Romeo aufmerksam und zeigte die eine oder andere Reaktion auf seine Worte.

„Und dann hab ich Idiot ihm meine private Handynummer gegeben“, schloss Stefan seinen Bericht. „Ich weiß echt nicht, was in mich gefahren ist.“

Alfa Romeo schlabberte sich übers Maul.

„Stimmt. Jonas Sieger ist ein leckerer Bursche.“

Der Hund hechelte.

„Also, so schlimm ist es nun doch noch nicht. Ich lass mich nicht von meinem Schwanz steuern.“

Bildete er sich das nur ein, oder warf ihm Alfa Romeo einen skeptischen Blick zu?

„So lange ich zwei gesunde Hände hab, hat der da unten nichts zu sagen.“

Der Hund winselte.

„Ich hab gut reden. Mit Pfoten geht das ja leider nicht.“ Er streichelte Alfa Romeos Schlappohren. „Armer Liebling.“

Mit dem Tier fühlte sich sein Zuhause gleich heimeliger an. Den Hundekorb stellte er im Wohnzimmer neben die Couch, Fressnäpfe und Futter in die Küche. Bürsten, Ersatzleine und -halsband kam in die Abstellkammer.

„So, und nun gehen wir raus. Du willst doch bestimmt mal das Bein heben“, wandte er sich an Alfa Romeo, der ihm an den Fersen klebte.

Auch ein Spaziergang bekam andere Qualität, wenn man einen Hund ausführte. Alfa Romeo schnupperte hier und dort, scheuchte ein paar Vögel auf und fand so offensichtlich Gefallen an der wiedergewonnenen Freiheit, dass es eine ausgedehnte Runde wurde. Anschließend gab es Essen für Hund und Herrchen, bevor sie sich ins Wohnzimmer begaben. Alfa Romeo sprang zu ihm auf die Couch, parkte die Schnauze auf seinem Schenkel und spähte zu ihm hoch.

„Das war Liebe auf den ersten Blick, nicht wahr?“ Stefan vergrub die Finger im weichen Hundefell. „Wenn es im Leben doch immer so einfach wäre.“



Sonntagvormittag, er war gerade mit Alfa Romeo am See, vibrierte sein Handy. Er zog es aus der Tasche, sah eine unbekannte Nummer und hielt es sich ans Ohr. „Ja?“

„Hallo, hier ist Jonas Sieger. Entschuldigen Sie die Störung. Ich weiß, es ist Wochenende, aber hätten Sie trotzdem ein bisschen Zeit für mich?“

Vor Überraschung fehlten ihm die Worte.

„Vergessen Sie bitte, dass ich gefragt habe. Einen schönen Sonntag ...“ Er fiel Sieger ins Wort: „Ich war nur kurz abgelenkt. Wo wollen wir uns treffen?“

„Irgendwo am See?“

„Möchten Sie herkommen? Ich wohne in Klein Rönnau.“

„Gern. Wo genau?“

Er nannte seine Adresse.

„Ist es okay, wenn ich in zwanzig Minuten da bin?“

„Das passt. Bis gleich.“ Er legte auf und wandte sich an Alfa Romeo: „Wir müssen umkehren.“

Daheim schenkte er sich den Rest Kaffee vom Frühstück, den er in eine Thermoskanne gegossen hatte, ein und setzte sich auf die Bank neben der Haustür. Alfa Romeo hockte sich zu seinen Füßen auf den Rasen und beobachtete die Gartenpforte. Es war echt unheimlich, wie gut der Hund seine Worte verstand.

Nach einem Weilchen geriet ein Fahrradfahrer in Sichtweite. Er entpuppte sich als Sieger, was wegen des Helms und der Sonnenbrille nicht auf den ersten Blick erkennbar war. Sieger stoppte vor der Pforte, stieg ab und schob das Bike aufs Grundstück.

Alfa Romeo stellte die Nackenhaare auf und begann, zu knurren.

„Ruhig! Das ist ein Freund“, informierte er den Hund, der trotzdem die Drohgebärde beibehielt. „Nehmen Sie lieber die Sonnenbrille ab. Ich vermute, Alfa Romeo reagiert darauf allergisch“, rief er Sieger, der näherkam, entgegen.

Sein Gast gehorchte. Prompt verstummte das Knurren.

Alfa Romeo?“ Sieger stellte das Bike neben der Bank ab, legte den Helm auf den Gepäckträger und beäugte das Tier.

„Den Namen hat man ihm im Tierheim gegeben.“

Sieger ging vor Alfa Romeo in die Hocke. „Hallo. Ich bin Jonas.“

Der Hund legte den Kopf schief, betrachtete den Gast und ließ sich hinter den Ohren kraulen.

„Hübscher Hund“, befand Sieger und richtete sich wieder auf.

„Hübsch? Na ja ... Ansichtssache. Niedlich auf jeden Fall.“ Stefan leerte seinen Becher. „Drehen wir eine Runde? Wir wurden eben beim Gassigehen unterbrochen.“

„Sehr gern.“

Nachdem er seinen Kaffeebecher nach drinnen gebracht und die Haustür abgeschlossen hatte, brachen sie auf. Sieger schlenderte neben ihm her, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Alfa Romeo galoppierte voraus, blieb aber alle paar Meter stehen, um zu gucken, ob sie noch hinter ihm waren.

„Meine Frau ist mit den Kindern zu meinen Schwiegereltern gefahren. Weil ich nachher ein Punktspiel habe, bin ich zu Hause geblieben“, unterrichtete ihn Sieger.

„Handball? Fußball?“

„Fußball. SV Eintracht Segeberg. Wir stehen auf dem 14. Tabellenplatz.“

Von sowas hatte Stefan keine Ahnung, daher fiel ihm dazu nichts ein.

„Ich hab viel über das, was Sie gesagt haben, nachgedacht“, fuhr Sieger fort. „Natürlich müsste ich mit Konstanze reden, aber das kommt mir vor, als würde ich schlafende Hunde wecken.“ Nach kurzer Pause korrigierte sich Sieger: „Nein, es ist eher ein Waffenstillstand.“

„Wie lange dauert der Zustand denn schon?“

„Ungefähr zwei Monate nach Milenas Geburt wollte Konstanze unser Liebesleben wiederaufnehmen. Ich hab Kopfschmerzen vorgetäuscht. Dreimal hat sie’s noch probiert, dann hat sie aufgegeben.“

„Also fast ein Jahr.“

Sieger nickte, den Blick auf den Boden gerichtet.

Alfa Romeo kam ihnen entgegen, einen riesigen Ast im Maul und legte ihn vor Stefans Füßen ab. „Der ist zu groß zum Werfen. Besorgst du bitte was Kleineres?“

Mit wedelndem Schwanz und erwartungsvollem Blick guckte Alfa Romeo zwischen ihm und Sieger hin und her. Seufzend gab er nach, hob den Ast auf, holte aus und schleuderte ihn so weit weg, wie er vermochte. Der Hund raste hinterher.

„Es gibt durchaus Ehepaare, die platonisch zusammenleben“, nahm Stefan den Faden wieder auf.

„Ich denke nicht, dass das für uns eine Lösung ist. Konstanze wird bestimmt nicht dauerhaft auf körperliche Befriedigung verzichten wollen und ich ... ich auch nicht.“

„Also existiert Ihre Libido noch?“

Sieger, weiterhin die Wimpern gesenkt, nickte.

„Sind Sie in eine andere Frau verliebt?“

Sein Begleiter schaute hoch. „Nein! Keine ist besser als Konstanze!“

Erneut schleppte Alfa Romeo den Riesenast an. Schnaufend ließ der Hund ihn fallen und wedelte mit dem Schwanz. Diesmal erbarmte sich Sieger und warf den Ast. Alfa Romeo wetzte dem Geschoss hinterher.

„Ich war ungefähr siebzehn und auf Klassenreise. Bei der Abschiedsparty, die wir zusammen mit all den anderen Jugendlichen, die in der Herberge wohnten, gefeiert haben, hab ich zu viel getrunken. In einer Abstellkammer hab ich einen Jungen geküsst und ... na ja, Petting gemacht.“ Sieger räusperte sich und warf ihm einen Seitenblick zu. „Ich hab das verdrängt. Es ist ja auch nichts Großartiges passiert. Es ist nur so, dass ich seit einiger Zeit immer wieder daran denken muss.“

„Also hat sich Ihr Interessengebiet verlagert, wenn ich das richtig verstehe.“

Sieger nickte.

„Bisexuell zu sein ist keine Schande.“

„Aber wie kann das sein? Ich hab doch vorher gern mit Konstanze geschlafen. Wieso mag ich plötzlich Männer?“

Die Theorie, dass eine Geburt traumatische Wirkung haben kann, kam Stefan in den Sinn. Vielleicht hatte das bei Sieger die Abkehr vom Weiblichen bewirkt. „Man kann seine Lust nicht steuern. Sie gehört zu den stärksten Trieben eines Menschen.“

„Und was soll ich jetzt tun? Ich kann das Konstanze nicht sagen. Sie würde ausflippen.“

Alfa Romeo, anstelle des Astes einen Gummistiefel im Maul, trabte herbei und legte den Fund vor ihren Füßen ab.

„Wo hast du den denn her?“ Mit spitzen Fingern hob Stefan den Stiefel auf. Im Innenfutter hatten sich Insekten angesiedelt. Angeekelt ließ er das Ding fallen. „Hol bitte ein anderes Stöckchen.“

Alfa Romeo wedelte mit dem Schwanz und machte keine Anstalten, sich nach etwas anderem umzuschauen.

„Was halten Sie davon, umzukehren und bei mir einen Kaffee zu trinken?“, fragte Stefan seinen Begleiter.

Wortlos machte Sieger kehrt. Nach einigen Schritten holte Alfa Romeo, zum Glück ohne den Stiefel, sie ein und rannte voraus.

„Es gibt mehrere Szenarien“, sprach er weiter. „Sie können die Sache weiter aussitzen und hoffen, dass sich Ihre Libido irgendwann wieder Frauen zuwendet. Oder Sie daten nochmal einen Mann, um – sozusagen – den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Vielleicht reicht ein Erlebnis, um Ihre Lust wieder umzupolen. Oder Sie versuchen, Ihre Frau zu einer offenen Ehe zu überreden.“

„Konstanze würde niemals zustimmen.“

4.

Obwohl das Gespräch mit Doktor Gutbrodt bisher keinen Lösungsansatz erbracht hatte, tat es gut, mal offen reden zu können. Von dem Erlebnis auf der Klassenreise wusste sonst niemand. Von dem anderen natürlich auch nicht.

„Den Hund hab ich erst gestern aus dem Tierheim geholt“, berichtete Doktor Gutbrodt. „Meine Mutter hat mich dazu überredet.“

„Wo waren Sie? In Flensburg?“, fragte Jonas.

„Nein, in Hamburg. Meine Eltern leben dort.“

„Und Sie kommen doch bestimmt auch daher. Das hört man am Dialekt.“

Abrupt blieb der Doktor stehen und starrte ihn ungläubig an. „Dialekt?“

„Sorry. Das war ein Scherz.“

Gutbrodt schmunzelte und setzte sich wieder in Bewegung.

Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Alfa Romeo, der einen neuen Wurfgegenstand anschleppte, diesmal einen kleinen Ast, sorgte für ausreichend Unterhaltung.

Vor der Haustür ging der Doktor in die Hocke und inspizierte das Fell des Hundes. „Ich will mir kein Ungeziefer zuziehen“, erklärte Gutbrodt und richtete sich wieder auf.

Der Flur war breit und hell. Geradeaus führte ein offener Durchgang ins Wohnzimmer. Links und rechts gab es je zwei Türen.

An der Garderobe entledigte sich der Doktor des Schuhwerks. „Sie können Ihre gern anlassen. Ist ja alles gefliest.“

Er folgte Gutbrodt in die Küche. Sie war so groß, dass darin ein Tisch mit sechs Stühlen Platz hatte. Sowas wünschte er sich auch.

„Schönes Haus“, murmelte er.

„Ein echter Glücksfall. Ich brauchte nur streichen und in einigen Zimmern neuen Teppich verlegen.“

Er nahm am Tisch Platz. „Sind Sie verheiratet?“

Der Doktor schüttelte den Kopf, schaltete das Gerät an und gesellte sich zu ihm.

„Ich will einfach nur normal sein“, platzte er heraus.

„Was ist denn für Sie normal?“

„Hetero. Familienvater. Sesshaft. Geregelte Arbeit.“

„Sesshaft?“

„Meine Eltern waren Schausteller.“

„Also sind Sie als Kind durch die Republik getingelt?“

Jonas nickte.

„Ich hab die Leute vom Zirkus oder Dom nie beneidet. Wie man es romantisch finden kann, in einem Wohnwagen inmitten von Jahrmarktbuden zu leben, kann ich nicht verstehen. Haben Sie Geschwister?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich war auch nur ein Unfall. Meine Eltern haben sich damit arrangiert, dass ich da bin. Das umschreibt es wohl am besten.“

Gutbrodt runzelte die Stirn. „Leben die beiden noch?“

Abermals nickte er.

„Hat sich ihr Verhältnis verbessert?“

„Zumindest nehmen sie mich inzwischen wahr, wenn ich sie mit meinen Kindern besuche.“

Die Kaffeemaschine finalisierte. Der Doktor stand auf, füllte zwei Becher, nahm eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank und stellte alles auf den Tisch, bevor er sich wieder setzte.

„Wollen wir uns duzen?“, bot Gutbrodt unvermittelt an.

„Gern. Ich bin Jonas.“

„Stefan.“

„Freut mich, dich kennenzulernen.“ Er schenkte Stefan ein Lächeln.

„Ich freue mich auch.“ Stefan prostete ihm zu und nippte am Kaffee. „Wann ist denn dein Fußballspiel?“

„Um zwei. Möchtest du zugucken? Zuschauer sind immer willkommen.“

„Gegen wen spielt ihr denn?“

„Flensburg-Handewitt. Eine starke Mannschaft.“ Gegen die sie schon oft verloren hatten.

„Dann sollte ich hinkommen und euch anfeuern, nicht wahr?“ Stefan zwinkerte ihm lächelnd zu.

„Das wäre sehr hilfreich.“ Ihm fiel auf, wie attraktiv Stefan war. Ein bisschen erinnerte er Jonas, mit dem Fünftagebart, hübschen Lächeln und den braunen Augen, an einen Schauspieler – wie hieß der noch gleich? Ach ja, Jake Gyllenhaal.

„Und wo findet das Spiel statt?“

„Der Platz ist in der Nähe vom TÜV.“

Stefan spähte unter den Tisch, wo sich Alfa Romeo niedergelassen hatte. „Was sagst du? Lust, Jonas beim Kicken zuzugucken?“

Der Hund wedelte mit dem Schwanz, was wohl ja bedeutete.

„Wie sieht’s aus? Darfst du vorm Spiel was essen?“, richtete Stefan das Wort wieder an ihn.

„Klar, so lange es nicht zu viel und zu fettig ist.“

„Heute ist Salat Tag. Dann passt es doch.“



Zweieinhalb Stunden später pfiff der Schiedsrichter das Spiel an. Wie meist waren die Zuschauerbänke spärlich besetzt. Flensburg-Handewitt hatte einen kleinen Fanblock mitgebracht. Von Jonas‘ Mannschaft befanden sich hauptsächlich Spielerfrauen auf der Tribüne. Spielerfrauen - was für ein dämlicher Begriff! Inmitten der Damen saß Stefan, der wohl einige von ihnen kannte, bestimmt aus der Praxis.

Die Gäste machten gleich Druck. Bis zur Halbzeit stand es 1:0 für Flensburg. Blieb nur zu hoffen, dass den Gästen in der zweiten Hälfte die Luft ausging.

Der überwiegende Teil seiner Teamkameraden wurde von den anwesenden Ehefrauen/Freundinnen mit Erfrischungen versorgt. Zusammen mit den restlichen fünf Männern ging Jonas in die Umkleidekabine, um seinen mitgebrachten Isodrink zu holen.

Als er mit der Flasche auf den Platz zurückkehrte, hatten sich seine Kameraden um ihren Trainer Berthold geschart. Er gesellte sich dazu. Berthold gab die üblichen Parolen aus. Durchhalten, Ruhe bewahren und Chancen nutzen. Danach verstreute sich das Team.

Jonas begab sich auf die Tribüne. Der Platz neben Stefan war frei. Alfa Romeo, der auf den Boden zu Stefans Füßen lag, begrüßte ihn mit trägem Schwanzwedeln.

„Ich hoffe, es ist nicht zu langweilig für euch.“ Er setzte die Flasche an seine Lippen und trank einen großen Schluck.

„Ich fand’s spannend zu sehen, wie ihr gekämpft habt. Hut ab! Super Kondition.“

„Wir sehen gegen Flensburg trotzdem alt aus.“

„Ach was. Ihr habt euch doch erstmal nur warm gespielt.“

Stefans Optimismus fand er rührend. „Und was sagst du?“, wandte er sich an Alfa Romeo.

Treuherzig schaute das Tier zu ihm hoch.

Ob es am Zuspruch der beiden oder daran lag, dass die Kräfte der Flensburger nachließen: Sie schafften in der zweiten Hälfte den Ausgleich zum 1:1.



In der folgenden Woche dachte er viel über Stefans Aussage bezüglich möglicher Szenarien nach. Die Hoffnung, dass sich seine Libido wieder normalisierte, schwand mit jedem Tag. Je mehr er versuchte, Lust auf Frauen – speziell Konstanze – zu empfinden, desto schlimmer wurde seine Aversion. Hinzukam, dass er spürte, wie ihre Unzufriedenheit wuchs. Die Phase des Aussitzens würde also eh über kurz oder lang ein Ende finden.

Die Option offene Ehe wäre in seinen Augen die beste Lösung. Sie würde den immensen Druck, der auf ihm lastete, mindern. Mittlerweile traute er sich nicht mal mehr, Konstanze einen Gutenachtkuss zu geben, weil sie das als Auftakt für Sex werten könnte. Außerdem schlief er möglichst weitab von ihr, so dass er fast auf der Kante lag. Das war echt kein Dauerzustand.

Da ihm der Gedanke, sie auf eine offene Ehe anzusprechen, Bauchschmerzen bereitete, blieb nur die Sache mit dem Beelzebub. Vielleicht hatte er Sex mit einem Mann in verklärter Erinnerung und eine Auffrischung der Erfahrung würde ihn davon heilen. Aber wie sollte er das anstellen? So naiv wie damals, einen Unbekannten auf einer Raststätte zu treffen, war er nicht mehr. Sowas barg etliche Gefahren, zum Beispiel gesundheitliche Risiken, wie HIV oder anderes, oder er könnte dabei beobachtet werden.

Durfte er Stefan um Rat fragen? Schließlich hatte der es auch vorgeschlagen. Ihm fiel beim besten Willen sonst niemand, den er deswegen kontaktieren konnte, ein.

Am Wochenende ergab sich keine Gelegenheit, Stefan zu besuchen. Samstag hatte er ein Auswärtsspiel und Sonntag gehörte der Familie. Sie verbrachten ihn im Freibad am See. Milena war wasserscheu. Max hingegen wurde magisch von dem Nass angezogen. Man musste verdammt aufpassen, dass der Bursche nicht einfach hineinsprang.

Montagabend traf sich Konstanze mit Freundinnen. Sie hatte also keine Einwände, als Jonas log, sich mit ein paar Fußballkollegen auf ein Bierchen zu treffen.

„Wo geht ihr denn hin?“, erkundigte sie sich.

„Wir treffen uns erstmal bei Wilbur und schauen dann weiter.“

„Liebe Grüße an Wilbur. Trink nicht zu viel“, gab sie ihm mit auf den Weg.

Er radelte bis zum Seeufer, bevor er sein Handy zückte und Stefans Nummer wählte. „Kann ich kurz vorbeikommen?“, fiel er mit der Tür ins Haus, kaum wurde das Gespräch angenommen. Sollte Stefan ablehnen, stünde er dumm da. Dann müsste er sich ein paar Stunden draußen rumtreiben, bevor er zurück nach Hause fuhr. Im Geiste sah er sich schon mit einer Dose Pils, für den authentischen Bier-Atem, in der Walachei hocken.

„Alfa Romeo und ich wollten gerade ein bisschen raus. Dann warten wir auf dich.“

„Bin in zehn Minuten da.“ Er steckte das Gerät zurück in seine Hosentasche und trat in die Pedale.

Stefan saß, wie beim letzten Mal, auf der Bank, nur ohne Kaffeebecher. Jonas stellte sein Fahrrad ab, befreite sich vom Helm und klemmte ihn auf den Gepäckträger. Alfa Romeo baute sich erwartungsvoll vor ihm auf.

„Hallo Schönheit“, säuselte er, beugte sich runter und kraulte Alfa Romeos Ohren.

„Wie viel Zeit hast du mitgebracht? Kommst du mit auf eine Runde oder musst du gleich weiter?“, fragte Stefan.

„Offiziell bin ich auf dem Weg zu einem Teamkameraden, um irgendwo was trinken zu gehen. Ich hab also reichlich Zeit.“

„Nun komme ich mir vor wie ein schmutziges Geheimnis“, brummelte Stefan schmunzelnd und stand auf.

Sie setzten sich in Bewegung. Alfa Romeo lief voraus, um am Wegesrand zu schnuppern.

„Wie geht’s dir?“, wollte Stefan wissen.

„Einigermaßen. Ich hab das Gefühl, die Situation spitzt sich zu.“

Darauf erwiderte Stefan nichts.

„Ich hab beschlossen, dass ich die Teufel-Beelzebub-Sache machen werde. Nur ist die Frage, wo ich einen geeigneten Kandidaten finde.“ Jonas vergrub beide Händen in den Hosentaschen. „Es muss auch zeitlich in den Rahmen passen.“

5.

Da hatte sich Stefan ja was Schönes eingebrockt! Als er die Sache vorschlug, hatte er die Angelegenheit distanziert betrachtet. Nun war das anders. Widerwillen überkam ihn bei der Vorstellung, irgendein Typ könnte Jonas anfassen.

„Das dürfte schwierig sein, zumal auch Diskretion gewahrt werden muss.“ Wie redete er Jonas die Idee am besten aus, ohne allzu viel Insiderwissen preiszugeben? Ein Outing, womit er eigentlich kein Problem hätte, könnte nämlich fatale Folgen haben. Vielleicht würde Jonas ihn als geeignetes Testobjekt betrachten. Das kam nicht infrage. Jonas war sein Patient und somit tabu.

„Unbedingt! Ich wage es ja nicht mal, mich auf einer dieser Plattformen anzumelden. Vielleicht treibt sich da jemand rum, der mich erkennt.“

„Im Rückblick halte ich meine Einschätzung für fehlerhaft. Wenn dich Bilder von nackten Männern erregen, muss man nicht, um den Wahrheitsgehalt dieser Gefühlsregung zu prüfen, einem echten Exemplar gegenübertreten.“

„Aber es ist schon ein Unterschied, ob man etwas in der Theorie oder in der Praxis toll findet. Beispielsweise finde ich die Idee, mit einem Fallschirm aus einem Hubschrauber zu springen, super. Sobald ich mir aber vorstelle, in der Realität in etlichen hundert Metern Höhe den Boden unter den Füßen zu verlieren, gefällt mir das Ganze gar nicht mehr.“

Dem hatte er nichts entgegenzusetzen, denn in seinem Kopf herrschte Wirrwarr. Ein Gedanke jagte den anderen. Lediglich einer blieb ständig präsent: Niemand sollte Jonas unsittlich berühren! Außer dir, du Schlingel, flüsterte sein Verstand. Sag ihm die Wahrheit. Also, nicht dass du ihn betatschen willst, sondern dass du schwul bist. Er findet’s eh irgendwann raus und dann ist eure Freundschaft im Arsch.

„Ich bin schwul“, platzte Stefan heraus.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Jonas ihn anstarrte, wohingegen Alfa Romeo, der gerade ein Stöckchen im Maul herbeitrug, gänzlich unbeeindruckt wirkte.

„Du ... du bist ... Das hätte ich nicht gedacht“, stammelte Jonas.

„Weil ich so hetero aussehe?“ Er nahm dem Hund den Stock ab und schleuderte ihn weg.

„Ähm, nein. Na ja, eigentlich bist du zu gutaussehend, um hetero zu sein.“

„Es gibt viele sehr attraktive Heteros.“

„Hast du ... bist du mit jemandem liiert?“

Deine Chance, ihn auf Abstand zu halten, frohlockte sein Verstand. „Ja, es gibt da jemanden.“ Mit dem ich nicht mehr zusammen bin, fügte er im Geiste hinzu.

Jonas‘ Miene verriet Enttäuschung. Demnach hatte er richtig vermutet, dass er als möglicher Kandidat in Betracht gezogen worden war.

„Aber du kennst doch bestimmt jemanden, der mir helfen kann.“ Voller Hoffnung hing Jonas‘ Blick an ihm.

„Ich wüsste keinen, den ich empfehlen könnte.“ Und selbst wenn, würde er sich lieber die Zunge abbeißen.

Erneut kam Alfa Romeo mit dem Stöckchen an. Wieder warf Stefan ihn so weit, wie er es vermochte.

Eine ganze Weile herrschte Schweigen, bis schließlich Jonas das Wort ergriff: „Wieso lebst du nicht mit deinem Partner zusammen?“

„Er wollte in der Stadt bleiben.“

„Also wohnt er in Hamburg?“

Stefan nickte.

„Kann er nicht irgendwas vermitteln?“

Abermals trabte Alfa Romeo, den Stock im Maul, heran. Diesmal übernahm Jonas das Werfen.

„Das wäre das Gleiche, als ob ich es tun würde. Bitte, versteh doch. Ich trage als Arzt gewisse Verantwortung und kann dir keinen Sexpartner vermitteln. Wenn das herauskäme oder du dir dabei eine Krankheit zuziehst, kann ich meinen Beruf an den Nagel hängen.“

Das schien Jonas einzuleuchten, denn das Thema kam während der restlichen Gassirunde nicht mehr zu Sprache.


Freitagnachmittag traf Besuch aus Hamburg ein. Lukas und Bernhard gehörten ursprünglich zu Toms Freundeskreis. Nach ihrer Trennung tendierten die beiden mehr zu ihm als zu seinem Ex. Sie trafen Tom trotzdem noch, aber weitaus seltener als früher.

Lukas war kräftig, mittelgroß und trug einen Vollbart, Bernhard war eine riesige Bohnenstange mit Brille. Manchmal hatte Tom sie, seit sie vor fünf Jahren ein Paar geworden waren, gehässig Dick und Doof genannt. Stefan fand, das passte überhaupt nicht zu den beiden. Lukas war nicht dick, Bernhard nicht doof.

Alfa Romeo begrüßte die Gäste euphorisch. Der Hund hatte inzwischen Vertrauen gefasst und freute sich über jeden Menschen, der das Grundstück betrat. Zum Wachhund taugte er definitiv nicht. Als Lukas ein paar Hundeleckerli hervorkramte, geriet Alfa Romeo förmlich in Ekstase.

„Was für ein süßes Tier“, meinte Bernhard.

„Was für eine treulose Tomate“, brummelte Stefan, dem es gar nicht gefiel, dass Alfa Romeo Lukas schöne Augen machte.

Wie stets hatten die zwei einen Berg Lebensmittel mitgebracht. Bernhard, ein begnadeter Koch, zauberte zum Abendessen selbstgemachte Ravioli mit Rucolasalat und frisch geriebenem Parmesan. Zum Glück kamen die beiden nicht allzu häufig, sonst müsste sich Stefan um seine Figur sorgen.

Als alle satt waren und er auf den neuesten Stand bezüglich ihren gemeinsamen Hamburger Freunden gebracht worden war, erzählte er von Jonas‘ Problem; natürlich ohne dessen Namen zu nennen. Es beschäftigte ihn in jeder freien Minute, seit sie am vergangenen Dienstag zusammen spazieren gegangen waren.

„Viagra erzeugt keine Lust?“, wunderte sich Lukas. „Ich dachte, dazu ist das Zeug da.“

Lukas war Versicherungsmathematiker, Bernhard Sachbearbeiter bei einem Blumengroßhändler, also beide in medizinischer Hinsicht Laien.

„Es fördert nur die Durchblutung. Die warmen Gedanken musst du dir selbst machen.“ Stefan nippte an dem vorzüglichen Rotwein, der ebenfalls von seinen Gästen stammte.

„Und was ist mit spanischer Fliege?“, wollte Bernhard wissen.

„Lass bloß die Finger davon. Der Wirkstoff erzeugt Entzündungen bis hin zum Nierenversagen“, warnte er.

„Zurück zu deinem Patienten: Wieso sträubst du dich dagegen, für ihn das Versuchsobjekt zu sein? Du scheinst doch total auf ihn zu stehen“, sagte Bernhard

„Wie soll sich seiner Frau – sie ist auch meine Patientin – je wieder in die Augen sehen?“, wandte er ein.

„Dann guckst du eben woanders hin.“ Lukas lachte.

„Sehr witzig. Du weißt genau, wie ich das meine.“ Er wandte sich an Bernhard. „Ich stehe nicht nur auf ihn, ich mag ihn sehr. Auch deshalb sollte ich nicht mit ihm schlafen.“

„Das ist ein Argument. Ich halte es eh für unsinnig, ihn durch Sex mit einem Mann von seiner ehelichen Unlust zu heilen“, erwiderte Bernhard.

„Wenn es schlechter Sex ist, könnte das schon eine Umkehr bewirken“, widersprach Lukas.

„Sex mit mir ist nicht schlecht“, brummelte Stefan.

„Dann musst du es eben vortäuschen. Bestimmt hast du doch ein paar Erfahrungen, die du dafür verwenden kannst.“ Lukas beäugte die Weinflasche. „Wieso ist die schon leer? Haben wir noch Nachschub?“

Als er kurz nach Mitternacht weinselig ins Bett ging, war er fast überzeugt, sich als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen.


Am nächsten Morgen wachte er mit leichten Kopfschmerzen auf. Rumoren in der Küche deutete darauf hin, dass seine Gäste bereits aufgestanden waren.

Gähnend trottete er ins Bad, aus dem er runderneuert wieder rauskam, um sich an den gedeckten Frühstückstisch zu setzen. Lukas‘ und Bernhards Anwesenheit war kulinarisch gesehen ein echter Hauptgewinn. Auch sonst verursachten die beiden kaum Arbeit. Sie brachten immer ihr eigenes Bettzeug und ein Tagesprogramm mit. Es stand ihm stets frei, sich ihren Plänen anzuschließen.

„Ich musste erstmal Google befragen, wie viel Futter ich Alfalein geben darf“, berichtete Bernhard. „Du solltest für deine Besucher ein entsprechendes Schild über den Näpfen anbringen.“

Also ob die Leute bei ihm ein- und ausgingen. Abgesehen von den beiden kamen nur seine Eltern oder Tino, ein ehemaliger Kommilitone, zu Besuch.

Alfa Romeo lag unterm Tisch. Als Stefan runterspähte, entdeckte er, dass Lukas den Hund mit dem Fuß kraulte. Volles Verwöhnprogramm. Alfa Romeo hatte es verdient.

Nach dem Frühstück schwangen sich seine Gäste auf ihre mitgebrachten Fahrräder. Ihr Ziel: Bosau am Plöner See. Die beiden wollten richtiges Strandfeeling, das sie dort zu finden hofften, erleben. Waidwund guckte Alfa Romeo Lukas und Bernhard, als sie davonradelten, hinterher. Der Hund gab sich aber schnell damit zufrieden, mit ihm spazieren zu gehen.

Im hellen Tageslicht erschien ihm die Sache mit der Testperson wie ein Schnapsidee. War sie ja auch, entstanden unter Alkoholeinfluss. Dennoch erstellte er im Geiste eine Liste, was dafür und was dagegen sprach. Pluspunkte: Kein anderer Mann bekam Jonas in die Finger und er eine Erinnerung, auf die er sich etliche Male einen runterholen konnte. Minuspunkte: Ein schlechtes Gewissen und mit großer Wahrscheinlichkeit Herzschmerz. Er war ja jetzt schon ziemlich von Jonas angetan.

Nach seiner Rückkehr holte er den Rasenmäher aus dem Schuppen. Da er die Gartenarbeit schon einige Wochen vor sich herschob, hatte er mit der hohen Wiese ganz schön zu kämpfen. Anschließend brauchte er eine Pause, bevor er sich daran machte, die Hecken zu schneiden.

Alfa Romeo beobachtete sein Tun von der Terrasse aus. Der laute Mäher schien dem Hund genauso wenig geheuer zu sein, wie die lärmende Heckenschere.

Gegen halb vier war er fertig. Eine Dusche tat not, um den Schweiß abzuwaschen. Mit einem Glas Eistee gesellte er sich danach, in frischen Klamotten und wohlriechend, zu Alfa Romeo.

„Wie ist denn deine Meinung zu der Angelegenheit?“, fragte er den Hund.

Alfa Romeo schaute zu ihm hoch. Krauste der Hund die Stirn? Schwer zu erkennen bei dem dicken Fell.

„Du findest es auch schwierig, nicht wahr?“

Alfa Romeo parkte die Schnauze wieder auf den Pfoten.

„Ja, ich sollte mir das reiflich überlegen“, stimmte er zu.

Er war bei der x-ten Runde, die Vor- gegen die Nachteile aufzuwiegen, als Bernhard und Lukas zurückkehrten. Beide waren bester Laune und behaupteten, der Strand besäße das gleiche Flair wie der in St. Tropez. Nach Stefans Meinung ein ziemlich schräger Vergleich. Schließlich gab es in Bosau nur eine Imbissbude mit dem hochtrabenden Namen Beach Club sowie einen schmalen Streifen grobkörnigen Sandes.

Zum Abendessen servierte Bernhard Rote-Beete-Auflauf, dazu Gemüsebratlinge, Feldsalat und kühlen Weißwein. Das Thema Testobjekt erstickte er im Keim, in dem er den beiden verbat, darüber zu sprechen. Es gab genug andere Dinge, über die sie reden konnten.

Sonntagvormittag verabschiedeten sich die beiden, damit er noch etwas vom Wochenende hatte. Die beiden waren seine liebsten Gäste, gleich nach seinen Eltern.


Er konnte sich in den folgenden Tagen zu keiner Entscheidung durchringen. Mal wogen die einen Argumente schwerer, mal die anderen.

Den Ausschlag, sich endlich festzulegen, gab es am Donnerstag, als er mit Alfa Romeo die Fußgängerzone ansteuerte. Seit Sommerhitze herrschte, gönnte er sich in der Mittagspause häufig ein Eis.

Vor der Eisdiele befand sich eine Schlange, in der er Jonas entdeckte. Sein erster Impuls: Flucht. Er schalt sich einen Narren und ging weiter.

Jonas erblickte ihn und lächelte erfreut. Das stellte etwas mit seinem Inneren an: Sein Herz schlug einen Purzelbaum. Mit einem Mal war sonnenklar, was er zu tun hatte.

„Darf ich euch einladen?“, erkundigte sich Jonas und beugte sich runter, um seinen Hund zu kraulen.

„Mich darfst du gern einladen. Alfa Romeo muss leider aussetzen. Er hatte gestern seine Wochenration.“

„Armes Tier“, gurrte Jonas und richtete sich wieder auf. „Sei doch nicht so streng.“

„Ich will nicht, dass er mit Hängebauch durch die Gegend rennt.“

„Sehr vernünftig“, mischte sich die Dame, die vor Jonas stand, ein.

„Hast du demnächst wieder ein Punktspiel?“, wechselte Stefan das Thema.

Jonas nickte. „Sonntag. Gegner ist Klein Rönnau.“

„Und? Werdet ihr gewinnen?“

„Die sind genauso gut wie wir, also steht es in den Sternen.“

„Dann sollte ich euch wohl besser anfeuern.“

„Das wäre echt hilfreich.“

Sie schwiegen, bis Jonas dran war. Mit ihren Waffelhörnchen und einem schmollenden Alfa Romeo im Schlepptau – wider besseres Wissen hatte das Tier wohl auf eine Ausnahme gehofft – begaben sie sich zu einer der Bänke, die in der Mitte der Fußgängerzone standen.

„Also, wenn du vor oder nach dem Spiel ein wenig Zeit hast …“ Stefan musste sich räuspern, weil Aufregung ihm die Kehle zuschnürte. Er kam sich vor wie ein Schwerverbrecher, zugleich wie ein verknallter Teenager. „… würde ich dich gern auf einen Kaffee zu mir einladen.“

Jonas runzelte die Stirn. „Nanu? Gibt es dafür einen bestimmten Anlass?“

Betont gleichmütig zuckte er mit den Achseln. „Nö. Einfach nur so.“

Jonas wandte sich zwar wieder der Eiswaffel zu, doch die gefurchte Stirn blieb. Da auf der Bank hinter ihrer sowie links und rechts Leute saßen, wollte er nicht näher ins Detail gehen. Eigentlich wusste er ja noch nicht mal, ob er sich bis Sonntag wieder umentschieden hatte.

„Ich hab heute Abend frei“, meldete sich Jonas nach einem Weilchen zu Wort.

„Wenn du noch nichts vorhast, können wir die Einladung gern auf heute verlegen.“

Jonas streifte ihn mit einem Seitenblick. „Hab ich nicht.“

„Wann passt es dir?“

„Gegen halb acht.“

„Gut, dann sehen wir uns nachher.“ Stefan stand auf. „Ich muss zurück in die Praxis.“

Musste er nicht, aber neben Jonas zu sitzen, verwirrte seine Sinne. Es kribbelte fortwährend in seiner Lenden- und Bauchgegend.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos / Kaipurgay
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 06.07.2023

Alle Rechte vorbehalten

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