Cover

Franko und das Biest

 

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Korrekturen: Aschure, Dankeschön!

Foto Cover: shutterstock_444451879, Depositphotos_5797970_l-2015

Cover: Lars Rogmann, Sissi

Kontakt: https://www.sissikaipurgay.de/


Franko und das Biest

Franko verabscheut Männer, die einen Bogen um Rasierer machen. Sein Kollege Görkan, den er Zottel nennt, gehört in diese Kategorie. Er straft den Mann mit Verachtung. Als ihn ein Projekt für einen Kunden zwingt, mit Görkan zusammenzuarbeiten, ist er darüber nicht begeistert. Das ändert sich nach einer Übernachtung in Frankfurt.

Prolog

Seine Zunge zwischen die Lippen geklemmt balancierte Görkan seinen - mal wieder zu vollen - Kaffeebecher über den Flur. Es erforderte hohe Konzentration, ein Überschwappen zu verhindern. Darüber hätte er beinahe den ihm entgegenkommenden Kollegen übersehen. Im letzten Moment schaffte er es, auszuweichen.

Pass doch auf!“, rief er dem Blödmann hinterher.

Franko schaute nicht einmal von dem Smartphone, auf dem er herumtippte, hoch und verschwand durch eine Tür am Ende des Ganges.

Leise vor sich hin schimpfend setzte Görkan seinen Weg fort. Das Büro, das er sich mit zwei Kollegen teilte, war weiterhin leer. Emmeline kam oft erst spät zur Arbeit und Max hatte frei.

Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder, nippte am Kaffee und guckte ins Leere. Seine Gedanken wanderten zu der Weihnachtsfeier vor zwei Jahren.

Damals war er neu in der Firma gewesen. Bei seinem vorherigen Arbeitgeber hatte es, wegen seiner Homosexualität, Stress mit einem Kollegen gegeben. Umso glücklicher war er, mit Emmeline und Max zwei aufgeschlossene Zeitgenossen gefunden zu haben.

Auf der besagten Feier war ihm Franko aufgefallen.

„Wer ist das?“, hatte er Emmeline, die mit einem Glas Sekt in der Hand neben ihm stand, gefragt.

„Franko Meister, Abteilung Vertrieb.“

Im Laufe des Abends hatte er herausgefunden, dass Franko außerdem zur Abteilung Arschloch gehörte. Ob es an seinem Migrationshintergrund lag, – Görkans Eltern stammten aus der Türkei -, an seinem Outfit, seinem Bart oder allem zusammen, entzog sich seiner Kenntnis.

Als er sich Franko vorstellte, hatte der ihn von oben bis unten gemustert und eine verächtliche Miene aufgesetzt. „Willkommen bei Maxi-Software.“ Es klang eher nach: Zieh Leine, du Depp.

Dann hatte sich Franko umgedreht und ihn stehenlassen.

Drei Gläser Sekt später war er immer noch nicht darüber hinweg. Der Knackpunkt an der Sache: Er hatte sich in Franko schockverliebt. Seine Schwestern würden bloß die Augen verdrehen. Alle drei waren der Meinung, er besäße einen ausgeprägt schlechten Geschmack, sowohl bei Männern, als auch bei seiner Kleidung.

Was war denn bitte an Cordhosen, gemütlichen Sweatshirts und Wanderstiefeln auszusetzen? Letztere ersetzte er im Sommer durch Gesundheitslatschen. Schließlich war er nicht scharf auf ein Schweiß-Fußbad.

Obwohl seit der Weihnachtsfeier so viel Zeit vergangen war, hing sein Herz immer noch an Franko. Das nahm er dem Scheißorgan echt übel. Es gab schließlich noch andere schöne Männer. Sie brauchten eigentlich gar nicht schön sein. Ihm würde ein Normalo voll reichen.

Abermals setzte er den Kaffeebecher an seine Lippen und stupste die Maus an. Sein Monitor erwachte aus dem Tiefschlaf. Neue E-Mails waren eingetroffen. Als er gerade die erste las, tauchte Emmeline auf.

„Guten Morgen, mein Lieber“, begrüßte sie ihn, ging zu ihrem Schreibtisch und stellte ihre Handtasche – ein Riesending, das wer-weiß-was-alles beinhaltete – ab. „Wie sieht’s an der Kaffeefront aus?“

„Noch positiv.“ Er schwenkte seinen Becher. „Aber falls noch Kekse da sind: Bring mir bitte welche mit.“ Vorhin stand ein Teller in der Teeküche, von denen er sich einige stibitzt hatte.

Sie lachte, murmelte: „Du Keksmonster“, und verließ den Raum.

Görkan wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.

1.

Zufrieden betrachtete Franko die Bilanz des letzten Monats. Seine Projekte liefen super und der neue Kunde war vielversprechend. Ephraim Güldenstein besaß ein Einzelhandelsimperium und wollte bei ihnen Software maßschneidern lassen.

Er guckte auf die Anzeige am Bildschirmrand. Zeit, Feierabend zu machen.

Nachdem er seinen Schreibtisch leergeräumt hatte, schlüpfte er in sein Jackett und verließ das Büro. Sein erstes Ziel war die Herrentoilette. Es wunderte ihn nicht dort Zottel, wie er den Kollegen Görkan insgeheim nannte, anzutreffen. Irgendwie waren ihre Blasen aufeinander abgestimmt. Wenn er aufs Klo musste, befand sich Zottel sehr häufig ebenfalls in der Keramikabteilung oder traf kurz nach ihm ein.

Abschätzig musterte er Zottel, der mit dem Rücken zu ihm vor einem der Pissoirs stand. Die kackbraune Cordhose war mindestens eine Nummer zu groß, genau wie das T-Shirt. Dazu trug Zottel Gesundheitslatschen. Gruselig!

Er verschanzte sich in einer der Kabinen, erledigte sein Geschäft und wartete, bis er die Tür zuklappen hörte, bevor er sich die Hände wusch. Aus dem Spiegel sah ihm ein ausnehmend attraktiver Typ entgegen. Ein paar Zentimeter mehr wären super, aber mit seiner Größe hatte er sich abgefunden. Sie verschaffte ihm sogar einen Vorteil, weil viele Typen auf Twinks standen. Somit hatte er so gut wie immer eine große Auswahl an Sexpartnern.

Das Firmengebäude lag in unmittelbarer Nähe der U-Bahn-Station Überseequartier. Ein guter Grund, auf den Wagen zu verzichten, zumal man im Berufsverkehr eh mehr im Stau stand als fuhr.

Während ein Zug ihn gen Heimat trug, dachte er an den merkwürdigen Brief, den seine Mutter neulich erhalten hatte. Liebe Mama, ich bin mit einem alten Schulfreund spontan zu einer Segeltour aufgebrochen. Mach dir also keine Sorgen. Ich melde mich bald bei dir. Dein dich liebender Sohn, lautete der Inhalt. Das Schreiben war in einer fremden Handschrift verfasst.

Seine Mutter hatte es als Scherz gewertet. Franko war der gleichen Meinung und fragte sich, wer dahintersteckte. Einer seiner Kommilitonen? Er wollte sie, wenn sie sich das nächste Mal zum Darten trafen, aushorchen.

Gähnend – in der letzten Nacht war er bis eins im Goldenen Hirsch gewesen – checkte er sein Smartphone. Im Gruppenchat, den er mit seinen Ex-Studien-Kumpels unterhielt, hatte jemand ein Katzenfoto gepostet. Solchen Scheiß hasste er wie die Pest. Also, Katzen mochte er schon, aber niedliche Bilder zu verschicken, war echt mehr als überflüssig. Sowas brauchte kein Mensch.

Er steckte das Handy wieder ein und dachte an den vergangenen Abend. Zweimal war er im Darkroom gewesen. Sein Hintern brannte noch auf angenehme Weise. Trotzdem würde er mit keinem der beiden Typen nochmal vögeln. Der eine wirkte, als würde er anhänglich werden und der andere hatte an seinen Haaren gerissen. Das mochte er gar nicht.

Der Bursche, der seinen Kleidungsstil imitierte und ihm verflixt ähnlich sah, war nicht wieder aufgetaucht. Vielleicht hatte das scheue Gewächs begriffen, dass Klamotten einem kein Charisma verschafften.

Als er vor dem Haus ankam, das seinen Eltern gehörte und in dem er – sowie sein blöder Bruder nebst Freundin – wohnte, war im Erdgeschoss alles dunkel. Das bedeutete, dass seine Alten mal wieder unterwegs waren. Bei ihnen brannte nämlich, wegen der hohen Bäume, selbst tagsüber künstliches Licht. Ein Nachteil, wenn man im Altbau in Rotherbaum wohnte.

Auch in Frankos Wohnung im 1. Stock war es nicht sonderlich hell. Es genügte aber, nur im Flur die Lampen anzuknipsen. Im Schlafzimmer tauschte er seinen Anzug gegen Jogginghose und T-Shirt aus. Es stand lediglich ein bisschen Sport und Entspannung auf seiner Agenda. Die Zeiten, in denen er am Wochenende jeden Abend unterwegs war, gehörten schon eine ganze Weile der Vergangenheit an.

Samstagmorgen, halb zehn, er trank gerade seinen ersten Kaffee, klopfte es an der Tür. Es gab bloß zwei Personen, die im Haus wohnten und nicht seine Klingel benutzten: Seine Mutter und seine angehende Schwägerin Carina.

Letztere stand vor der Wohnungstür und lächelte ihn entschuldigend an. „Sorry, dass ich so früh störe. Könntest du uns ein bisschen Kaffeepulver leihen? Wir haben keines mehr.“

„Dir leihe ich gern welches, aber mein Arschlochbruder soll sich welches kaufen.“

„Nenn ihn nicht so.“ Carina seufzte. „Ich arbeite ja schon daran.“

„Ein missratener Charakter lässt sich nicht reparieren.“ Er ließ sie eintreten und ging voraus in die Küche.

„Er sagt das Gleiche von dir.“

„Mit dem Unterschied, dass er mein Schwulsein meint. Das lässt sich wirklich nicht kurieren, weil es keine Fehlbildung ist.“ Franko nahm die Kaffeedose aus einem der Oberschränke und reichte sie Carina. „Willst du wirklich diese Missgeburt heiraten?“

„Abgesehen von dem einen Makel, gefällt er mir ziemlich gut.“

Kein Wunder, denn Henning war fast genauso attraktiv wie Franko.

Er geleitete Carina zur Tür. „Tu mir einen Gefallen und spuck in seinen Becher.“

Sie zeigte ihm einen Vogel. „Ich bringe dir nachher den Rest zurück.“

Carina und Henning wohnten in dem Stockwerk über ihm. Glücklicherweise begegnete er seinem Bruder selten, da ihre Arbeitszeiten voneinander abwichen. Wie seine Eltern, tolerante, liebe Leute, solche Ausgeburt der Hölle großziehen konnten, war ihm ein Rätsel. Gäbe es Carina nicht, würde er denken, Henning wäre latent schwul und daher eifersüchtig auf seinen geouteten Status. Wobei ... vielleicht führten die beiden nur eine Schein-Beziehung.

Abends, als er in Richtung Goldener Hirsch aufbrach, meinte Fortuna es nicht gut mit ihm: Im Treppenhaus begegnete er Henning und Carina, beide schick herausgeputzt. Sein Bruder trug einen schwarzen Anzug, sie ein langes Kleid.

„Na? Gehst du zu einer Abriss-Party?“, erkundigte sich sein Bruder spöttisch.

„Gut erkannt.“

„Ich finde dein Outfit ziemlich heiß.“ Carina fächelte sich Luft zu.

„Danke. Du bist auch ein Augenschmaus.“

Sie strahlte. „Wir gehen in die Oper.“

„Was wird denn gespielt?“

„Als ob du eine Ahnung davon hättest“, brummelte Henning.

Carinas Lächeln erlosch. „Weißt du was? Ich glaube, ich gehe lieber mit Franko.“

„Gute Wahl.“ Franko feixte.

„Kinder? Hört auf zu streiten!“, ertönte die Stimme ihrer Mutter aus dem Erdgeschoss. „Das Taxi wartet.“

Carina raffte ihren Rock und schickte sich an, die Stufen runterzusteigen. Nach einem letzten verächtlichen Blick auf sein Outfit folgte Henning ihr.

Sein Bruder führte sich auf, als wären zerrissene Jeans mit Lederjacke ungewöhnlich. Jeder zweite rannte heutzutage doch so rum.



Montagmorgen hatte sich Franko von dem Kater, den er sich Samstagnacht zugelegt hatte, erholt. Obwohl er sich nicht über seinen Bruder ärgern wollte, war genau das geschehen. Ergo hatte er tiefer als sonst ins Glas geschaut.

Er nippte an seinem Kaffee und studierte seinen Terminkalender. Um elf war das erste Meeting mit Güldenstein, dem neuen Kunden angesetzt. Dafür hatte er rund fünf Stunden angesetzt und bereits einen Tisch in einem Restaurant reserviert. An dem Gespräch würden sein Chef und Max aus der EDV teilnehmen. Generell kannte sich Franko inzwischen mit den Softwarebausteinen gut aus, doch manchmal verlangten Kunden Lösungen, die eine spezielle Programmierung erforderten. Dann kamen die Fachleute ins Spiel.

Er arbeite am liebsten mit Max. Emmeline war ihm zu abgedreht – sie stand auf Esoterik und solchen Scheiß – und Zottel musste er echt nicht haben. Der vergraulte die Kundschaft ja allein mit dem bäuerlichen Outfit. Wobei ... Max und Emmeline liefen ähnlich schlampig rum. EDV-Leute besaßen wohl ein gewisses Privileg. So schlimm wie Zottels waren deren Klamotten aber nicht.

Es war das eine, auf Sexpartnerjagd zu gehen, das andere, einen gutzahlenden Kunden an Land zu ziehen. Beides erforderte ein gewisses Auftreten. Bei dem einen zählte Schlampenlook, bei dem anderen Businessoutfit hundert Punkte. Man sollte das eine nicht mit dem anderen verwechseln. Zottels Kleidungsgeschmack entsprach allerdings weder noch.

Den Rest der Woche würde er an dem Konzept für Güldenstein arbeiten und Anfang nächster Woche nach Frankfurt fahren, um es dem Kunden zu präsentieren. Für den Termin brauchte er keinen Support. Erst wenn das Projekt lief, benötigte er vielleicht weitere Hilfe von Max.

Derzeit nutzte Güldenstein eine x-fach angepasste Standardsoftware. Das System war inzwischen an seinen Grenzen gelangt. Es musste daher ein neues her, zumal weitere Funktionalitäten geplant waren. Beispielsweise sollte beim Scannen auch der Warenbestand externer Dienstleister sofort an diese gemeldet werden.

Generell fand Franko es gut, wenn langweilige Arbeiten an Computer delegiert wurden. Er fragte sich nur manchmal, ob sie im Begriff waren, sich selbst weg zu rationalisieren.

Um halb elf inspizierte er den Konferenzraum. Da jeder Angestellte selbst für die Bewirtung seiner Gäste zuständig war, kümmerte er sich um Kaffee und Getränke. Als er in der Teeküche nach Keksen suchte, kam Zottel hereingelatscht. Das ausgewaschene T-Shirt mit der Aufschrift: Ich bin ein Star, hol mich hier raus, veranlasste ihn, die Augen zu verdrehen.

„Hi“, brummelte Zottel. „Darf ich mal da ran?“

Franko gab den Weg zum Kaffeeautomaten frei, fand die Keksdose und entschwand damit in sein Büro. Erst als er sicher war, dass Zottel die Teeküche wieder verlassen hatte, ging er hin und drapierte einige Kekse auf einem Teller.

Güldenstein war ihm vom ersten Augenblick an unsympathisch. Dabei sah der Typ umwerfend attraktiv aus, mit den grauen Schläfen und scharfgeschnittenen Gesichtszügen. Der maßgeschneiderte Anzug passte perfekt zu der straffen, schlanken Figur. Das alles konnte die deutliche Menschenverachtung, die aus jeder von Güldensteins Äußerungen sprach, leider nicht wettmachen. Der Mann betrachtete seine Angestellten anscheinend als Leibeigene.

Gegenüber Zottel, der anstelle von Max in der Runde saß, sowie den anderen Anwesenden, verhielt sich Güldenstein jedoch korrekt. Vermutlich beeindruckte den Typen Kompetenz – und die besaß Zottel. Der Wechsel hatte stattgefunden, weil Max in der bisher von Güldenstein verwendeten Software weniger firm als Zottel war. Da eine Schnittstelle, zur Übertragung des alten Datenbestandes, geschaffen werden musste, war Zottels Erfahrung ein Hauptgewinn.

Frankos Chef schloss sich ihnen beim Mittagessen an. Darüber war er dankbar, denn er wurde das Gefühl nicht los, dass Güldenstein ihn angrub. Seine Vermutung wurde zur Gewissheit, als sie danach allein im Konferenzraum saßen.

„Ich würde Sie gern zum Abendessen einladen und anschließend auf einen Drink in mein Hotelzimmer“, sagte Güldenstein.

„Das ist ganz reizend von Ihnen, aber leider bin ich schon verabredet.“ War er nicht, aber eher fror die Hölle zu, als dass er mit dem Typen irgendwo hinging.

„Wie schade.“ Güldenstein lehnte sich zurück, die Fingerspitzen aneinandergelegt und zog ihn mit Blicken aus. „Vielleicht ein anderes Mal?“

„Wir werden sehen.“ Franko schlug das Pflichtenheft auf und zückte seinen Füller. „Mir sind hier einige Punkte aufgefallen, über die wir sprechen müssen.“

Um fünf konnte er Güldenstein endlich verabschieden. Nachdem er eine Kopie seiner Arbeitsunterlagen in Zottels Fach gelegt hatte, machte er Feierabend. Ihm war nach einer langen, heißen Dusche zumute. Nicht nur, weil er in seinem Anzug geschwitzt hatte, sondern auch, weil er sich dreckig fühlte; so, als ob Güldenstein ihn befingert hätte.

2.

Am folgenden Montag stieg er um fünf Uhr morgens in den ICE in Richtung Frankfurt. Innerhalb von viereinhalb Stunden brachte der Zug ihn ans Ziel. Auf seinem Programm standen Gespräche mit den Leitern von Buchhaltung, Einkauf und Warenwirtschaft.

Alle drei entpuppten sich als Fans der vorhandenen Software. Offenbar hatten sie sich für fehlende Funktionen Brückenlösungen ausgedacht, an denen sie festhalten wollten. Solche sturen Leute waren nicht selten. Dass an den drei Knotenpunkten welche saßen, erschwerte aber die Angelegenheit.

Mittags, im Konferenzraum war ein Buffet aufgebaut worden, stieß Güldenstein zu ihnen.

„Und? Wie kommen Sie klar?“, erkundigte sich Güldenstein, der sich mit einem vollen Teller neben ihm niedergelassen hatte.

„Ich leiste noch Überzeugungsarbeit.“

„Sie machen das schon.“ Güldenstein tätschelte sein Knie.

Vor Schreck erstarrte Franko. Es dauerte einige Momente, bis er sich genug erholt hatte, um weiteressen zu können.

Als er gegen halb fünf das Firmengebäude verließ, war er kaum einen Schritt weitergekommen. Daran hatte auch die Demoversion nichts geändert. Beim nächsten Termin würde er eine dabeihaben, mit der die drei Leute experimentieren konnten. Eigentlich war das ganze Zeitverschwendung, denn letztendlich wurde das System eingeführt, egal, was sie davon hielten. Es hatte jedoch Vorteile, wenn die Angestellten gegenüber einer Änderung positiv gestimmt waren. Sie arbeiten effizienter an der Umstellung mit.



In den nächsten Tagen beschäftigte er sich damit, eine geeignete Demo zusammen zu klöppeln. Nebenher besuchte er zwei potentielle Kunden, die im Hamburger Umland ansässig waren. Beide erwarben das Minimalpaket, was ihm nur wenig einbrachte. Trotzdem war es ein Erfolg, weil solche Firmen später häufig weitere Elemente bestellten.

Am Freitagmorgen klopfte es an seiner Bürotür. Zottel schaute herein. „Die Schnittstelle ist kein Problem.“

„Gibst du mir das bitte schriftlich?“

Zottel nickte und zog die Tür wieder ins Schloss.

Momentan sah es danach aus, als ob die Schnittstelle ihr einziger Berührungspunkt bleiben würde. Sämtliche Anforderungen des Pflichtenheftes konnte Franko allein bewältigen. Aus Erfahrung wusste er jedoch, dass im Laufe einer Softwareeinführung stets weitere Punkte dazukamen. Dafür konnte er aber Max einspannen.

Kurz darauf traf eine E-Mail von Zottel ein. „Ich bestätigte, dass die Schnittstelle kein Problem darstellen wird.“

Von Anredeformen und freundlichen Grüßen hielt der Bursche offenbar nichts. Kopfschüttelnd über so viel Ignoranz verschob Franko die Mail in den Ordner Güldenstein.



Montagmorgen fuhr er zur gleichen Zeit wie in der Woche davor nach Frankfurt. Güldensteins Assistentin hatte in dem Hotel direkt am Bahnhof ein Zimmer für ihn gebucht, weil diesmal ein zweitägiger Aufenthalt geplant war.

Der gesamte Tag gehörte Frau Götz, Leiterin der Buchhaltung. Wieder gesellte sich Güldenstein mittags – es gab Kanapees und Pudding zum Dessert - dazu.

„Wie läuft’s?“, erkundigte sich Güldenstein, als sie zu dritt am Tisch saßen.

„Ausgezeichnet“, behauptete Franko, obwohl die Götz weiterhin zickte.

„Es ist ungewohnt“, murmelte Frau Götz.

„Alles ist anfangs ungewohnt. Sie werden schon sehen: Es wird eine große Arbeitserleichterung.“ Güldenstein lächelte der Mitarbeiterin zu.

Der Typ war ein guter Schauspieler. Franko konnte nicht erkennen, ob Güldenstein die Dame schätzte oder verachtete.

Als sich Frau Götz vorm Dessert entschuldigte, um sich die Nase zu pudern, fragte Güldenstein: „Wie sieht es heute Abend mit einem gemeinsamen Essen aus? Oder sind Sie wieder verabredet?“

Der letzte Satz klang sarkastisch, so, als ob Güldenstein wusste, dass es sich um eine Ausrede gehandelt hatte.

Am liebsten hätte Franko abgelehnt, doch das hätte unhöflich ausgesehen. Gegenüber Kunden besaß er nun mal gewisse Verpflichtungen. „Sehr gern. Wann und wo?“

„Ich schlage vor, wir treffen uns in Ihrem Hotel. Passt es Ihnen um sieben?“

Er nickte.

Im Laufe des Nachmittags bereute er mehrfach, eingewilligt zu haben. Die Vorstellung, einige Stunden in der Nähe Güldensteins zu verbringen, verursachte ihm Gänsehaut der unguten Sorte. Noch nie war ein Kunde zudringlich geworden. Soweit er sich erinnerte, hatte sich aber auch nie ein Schwuler darunter befunden. Ach, er konnte sich seiner Haut schon erwehren. Schließlich war er kein Anfänger mehr.

Wenigstens war der Workshop mit Frau Götz ein Erfolg. Als sie sich um fünf voneinander verabschiedeten, gab sie nämlich zu, dass das neue Programm einige Vorteile bot.



Vierzehn Stunden später wachte er mit pochenden Kopfschmerzen auf. Sein Hintern pochte ebenfalls. Eine eingehende Bestandsaufnahme ergab eingerissen Mundwinkel, Kratzer am ganzen Körper und einige blaue Flecken. Zerwühlte Laken waren ein weiteres Indiz: Er hatte mit jemanden Sex gehabt, erinnerte sich jedoch nicht daran.

Stöhnend rieb er sich die Stirn. Das letzte, das er wusste, war, dass er mit Güldenstein Kaffee getrunken hatte und sie dabei angeregt geplaudert hatten. Danach war alles schwarz. Dieses Dreckschwein musste ihm Drogen ins Getränk gekippt haben. Er war, als sie den Kaffee bestellten, kurz auf Klo gegangen. Bei seiner Rückkehr hatten die Tassen bereits auf dem Tisch gestanden. Eine perfekte Gelegenheit für Güldenstein.

Plötzliche Übelkeit ließ ihn aufspringen. Im Bad übergab er seinen Mageninhalt der Kloschüssel. Anschließend saß er auf den kühlen Fliesen und dachte – soweit sein Zustand das zuließ – angestrengt nach. In seinem Schädel herrschte gähnende Leere. Kein einziger Erinnerungsfetzen. Also schien Güldenstein ihm K.o.-Tropfen verabreicht zu haben.

Während des Essens hatte er klar durchblicken lassen, dass kein Interesse an Sex bestand. Güldenstein hatte das mit einem Achselzucken abgetan. Was für ein mieses Stück Scheiße!

Und nun? Zur Polizei zu gehen, kam nicht infrage. Die würden ihn wahrscheinlich auslachen. Schwule waren schließlich scharf auf jeden Schwanz, egal zu wem der gehörte. Außerdem würde sein Chef dann einen Kunden verlieren. Er zweifelte nicht daran, dass Güldenstein den Auftrag cancelte, wenn er Anzeige erstattete.

Eine Dusche linderte die körperlichen Beschwerden. Das Gefühl, dreckig zu sein, blieb.

Zum Frühstück brachte er nur Kaffee runter. Das Zeug gärte in seinem Bauch, als er Güldensteins Imperium betrat. Er zitterte innerlich vor Angst, dem Typen zu begegnen. Bestimmt würde er Güldenstein dann auf die Füße kotzen. Das wäre in jedem Fall das Ende ihrer geschäftlichen Interaktion und damit knapp zwei Millionen für Maxi-Software zum Teufel.



Zu seinem – oder Güldensteins Glück, – ließ sich jener den ganzen Tag nicht blicken. Vielleicht musste sich die miese Sau von dem Sexmarathon erholen. So, wie sich Franko fühlte, war sowohl sein Mund als auch sein Loch ausgiebig benutzt worden.

Es war ebenfalls Glück, dass sich Herr Maier, Warenwirtschaft und Herr Poppenstiel, Einkauf, den überwiegenden Teil der Zeit konzentriert mit dem System beschäftigten. Zu viel Interaktion hätte Frankos Kraftreserven erschöpft.

Als er um halb fünf aufbrechen konnte. machte er drei Kreuze an die Wand. Nachdem er das Firmengebäude verlassen hatte, atmete er tief durch. Am besten vergaß er, was passiert war. Eine andere Lösung gab es nicht.

Leider war das gar nicht so einfach. Im Zug drängten sich ihm nämlich etliche Details des vergangenen Abends auf. Beim Essen hatte Güldenstein ein Hemd, das, fast bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, viel nackte, glatte Haut preisgab, getragen. Ein unmissverständlicher Aufreißer-Look. Auf seine Ansage hin, an Sex nicht interessiert zu sein, hatte Güldenstein gemurmelt: „Manche muss man zu ihrem Glück zwingen.“ Das hätte ihn misstrauisch machen müssen. Andererseits: Wer kam denn bitteschön darauf, dass ein Nein zur Folge hatte, unter Drogen gesetzt zu werden?

Er schloss die Augen, um ein bisschen zu schlafen. Prompt gaukelte ihm seine Fantasie widerliche Szenen vor; wie Güldenstein seinen Mund benutzte, ihn nach belieben aufs Bett drapierte und durchvögelte.

Franko gab den Schlafversuch auf und zückte sein Smartphone. Seine Recherche ergab, dass K.o.-Tropfen schon nach wenigen Stunden nicht mehr nachweisbar waren. Somit war seine Entscheidung, nicht zu den Bullen zu gehen, richtig gewesen.

In der Nacht quälten ihn Alpträume, in denen Güldenstein erneut über ihn herfiel. In jedem davon war er außerstande, sich dagegen zu wehren.

Am nächsten Morgen, als der Wecker ihn aus dem Schlaf riss, fühlte er sich völlig zerschlagen. Trotzdem schleppte er sich zur Arbeit, denn schließlich war er nicht krank. Pflichtbewusstsein lautete sein zweiter Vorname. Die Ablenkung tat ihm zudem gut.

Er erstickte fast daran, niemanden zu haben, um über die Sache zu reden. Bereits auf der Heimfahrt hatte er gegrübelt, wem er sich anvertrauen könnte. Ihm war keiner eingefallen. Jeder seiner Freunde würde das Ereignis als ist doch halb so wild bezeichnen und ihn auffordern, es zu den Akten zu legen. Seine Eltern, die zwar seine sexuelle Ausrichtung akzeptierten, seinen lottrigen Lebenswandel hingegen missbilligten, würden ähnlich reagieren und wenn sein Bruder davon Wind bekam ... nicht auszudenken.

Bei genauer Betrachtung war es wirklich kein Weltuntergang. Er hatte bereits Sex gehabt, den er mittendrin am liebsten abgebrochen hätte, weil es nicht passte. Der Unterschied bestand darin, dass er sich a) die Leute immer selbst ausgesucht hatte und b) bei Bewusstsein gewesen war; zumindest nicht zu betrunken, um etwas von dem Akt mitzubekommen. Trotz dieses Selbstbeschwichtigungsversuchs, fühlte er sich weiterhin elend.

Gegen halb elf tauchte eine E-Mail von Güldenstein in seinem Posteingang auf. Im Betreff stand: „Danke für den angenehmen Abend.“

In einer Mischung aus Widerwillen und Ungläubigkeit starrte Franko die Zeile an. Seine Finger zitterten, als er die Mail öffnete.

„Ich hoffe, wir können das bald mal wiederholen“, hatte Güldenstein geschrieben und einen zwinkernden Smiley angefügt.

Ihm wurde speiübel. Er sprang auf, raste zur Herrentoilette, in eine der Kabinen und übergab sich in die Kloschüssel.

3.

Die Zusammenarbeit mit Franko beim Projekt Güldenstein war erstaunlich harmonisch verlaufen. Der Kollege ist nur zu professionell, um dich vor Kunden runterzuputzen, mahnte ihn sein Verstand. Und mehr als einen Satz habt ihr danach nicht gesprochen. Dennoch wertete Görkan es als ersten Schritt zu einem entspannten Umgang. Ganz entspannt konnte er natürlich nicht sein, weil sein dämliches Herz weiterhin für Franko schlug, doch auf beruflicher Ebene sollte es wohl einigermaßen klappen.

Weder Montag noch am Dienstag hatte er Franko gesehen und wunderte sich daher umso mehr, als er zu den Toiletten ging, dessen Bürotür sperrangelweit offenstehen zu sehen. Sonst war sie immer geschlossen.

Kaum hatte er die Keramikabteilung betreten, vernahm er Würgegeräusche. Sie drangen aus einer der drei Kabinen. Da ließ sich jemand sein Frühstück nochmal durch den Kopf gehen, dachte er mitleidig.

Er stellte sich an eines der Pissoirs. Während er seine Blase leerte, erstarb das Geräusch. Jemand – vielleicht Franko, denn sie gingen ja häufig synchron aufs Klo und dann war da noch die offene Tür – schniefte.

Schon gegen Frauentränen war Görkan nicht gefeit. Bei Männern reagierte er noch sensibler. Es brauchte weitaus mehr, einen Mann zum Weinen zu bringen, als es üblicherweise bei Frauen der Fall war. Neulich hatte eine seiner Schwestern wegen eines verhunzten Haarschnitts geflennt. Ausnahmen bestätigten natürlich die Regel.

Nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, klopfte er gegen die Kabinentür. „Franko?“

Keine Antwort.

„Kann ich was für dich tun?“, versuchte er erneut sein Glück.

„Es is‘ alles in Ordnung.“

„Das hört sich aber nicht so an.“

„Hau ab!“

Görkan schickte sich an, den Raum zu verlassen. Die Türklinke in der Hand, zögerte er jedoch. Franko war bestimmt nur so bissig, weil’s ihm mies ging. Er wäre ein Feigling, sich davon in die Flucht schlagen zu lassen.

In der Kabine entstand Bewegung. Die Klospülung rauschte, dann wurde die Tür entriegelt. Mit leichenblassem Gesicht tauchte Franko auf, erstarrte bei seinem Anblick und fauchte: „Hier gibt’s nichts zu sehen!

„Soll ich dir ein Glas Wasser besorgen?“ Das gab’s zwar auch aus dem Wasserhahn, aber es schmeckte nicht.

Franko betrachtete ihn abwägend. Eine gefühlte Ewigkeit geschah nichts, dann wich Frankos aggressive Miene einem resignierten Ausdruck. „Ja, bitte.“

„Bin gleich zurück.“ Er eilte in die Teeküche, kehrte mit dem Gewünschten zurück und reichte es Franko, der es in zwei Zügen leerte.

Wieder trat Stille ein. Franko lag etwas schwer auf der Seele. Görkan konnte förmlich sehen, wie es auf den schmalen Schultern lastete.

„Kann ich sonst noch was für dich tun?“, erkundigte er sich schließlich.

„Kannst du etwas für dich behalten?“

„Natürlich.“

Kurz zögerte Franko, bevor er mit dem Kinn zur Tür wies. „Lass uns in mein Büro gehen.“

Gespannt darauf, was seinen Kollegen dermaßen aus dem Konzept gebracht hatte, verließ Görkan hinter ihm den Raum.

In Frankos Büro ließ er sich auf dem Besucherstuhl nieder. Du hast dich gerade als Mülleimer angeboten, flüsterte es in seinem Schädel. Hast du gar keinen Stolz? So wie sich Franko ihm gegenüber bisher verhalten hatte, durfte er wirklich nicht hier sitzen. Auf der anderen Seite konnte er Elend nicht mitansehen, ohne helfen zu wollen.

Franko ließ sich in den Sessel hinterm Schreibtisch plumpsen und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Unser gemeinsamer Kunde ist übergriffig geworden.“

Güldenstein? Görkan hatte den Typen gleich als Wichser eingestuft und war daher nicht großartig verwundert. „Wie sehr übergriffig?“

„Weit übers Ziel hinaus. Er hat mich mit Drogen ausgeknockt und …. Na ja, den Rest kannst du dir vielleicht vorstellen.“

Leider nur allzu gut. Görkan besaß eine lebhafte Fantasie. Der Wunsch, Güldenstein den Hals umzudrehen, veranlasste ihn, seine Hände zu Fäusten zu ballen. „Wirst du ihn anzeigen?“

Franko schüttelte den Kopf. „Du kannst dir sicher auch vorstellen, was dann passiert.“

Auch das schaffte er problemlos. Häme und Spott bei der Polizei. Gespieltes Entsetzen bei Güldenstein, dass man ihm solche Abscheulichkeit zutraute. Storno des Riesenauftrages.

„Aber es muss etwas passieren. Dir geht’s beschissen.“ Und Görkan gleich mit, weil – wie schon erwähnt – sein Herz an Franko hing.

„Das Dreckschwein hat mir vorhin eine E-Mail geschickt. Er hofft auf eine Wiederholung.“ Franko seufzte abgrundtief. „Es war zum Teil meine Schuld. Ich hätte besser aufpassen müssen.“

Was?!“, brauste Görkan auf. „Rede dir das nicht ein!“

„Er hat mich angebaggert und ich hab ihm einen Korb gegeben. Ich hätte ihn danach nicht allein mit meinem Getränk lassen dürfen.“

„Weil jeder abgewiesene Mann Drogen in der Tasche trägt? Sag mal, geht’s noch?“

„Ich hab geahnt, dass er über Leichen geht.“

„Aber nicht, dass er auch welche vögelt“, platzte Görkan heraus und schämte sich sogleich dafür, weil er Franko damit vielleicht triggerte. „Sorry.“

Zu seiner Freude zuckten Frankos Mundwinkel jedoch in der Andeutung eines Lächelns hoch.

„Du darfst ihn damit nicht durchkommen lassen. Er macht das sonst wieder, wenn nicht bei dir, dann bei jemand anderem“, warnte er.

„Ich weiß.“ Franko seufzte abermals, den Blick gesenkt. „Aber erstmal muss ich das irgendwie verdauen. Wenn ich wieder klarkomme, mache ich mir darüber Gedanken.“

„Hast du – versteh mich nicht falsch, aber manchmal ist es besser, Fachpersonal aufzusuchen – einen Therapeuten?“

„Der wird mir auch nichts anderes erzählen als du. Dass ich nicht schuld bin und so.“

„Du solltest Güldenstein an einen Kollegen abgeben.“

„Dann verliere ich, nach meiner Unschuld...“ Franko grinste schief. „... auch noch meine Provision.“

„Brauchst du die denn so dringend? Laut Flurfunk hast du es gar nicht nötig zu arbeiten.“

„Da ist der Flurfunk schlecht informiert. Meine Eltern sind zwar vermögend, aber ich muss selbst für meinen Unterhalt sorgen.“

Man sollte echt nicht darauf hören, was die Leute redeten. „Geht’s dir jetzt ein bisschen besser?“

Franko nickte. „Danke. Sorry, dass ich dir ein Ohr abgekaut hab.“

„Gern geschehen.“ Görkan erhob sich. „Wenn du nochmal Redebedarf hast, sag Bescheid. Und: Meine Lippen sind versiegelt. Darauf kannst du dich verlassen.“

Dafür erntete er ein dankbares Lächeln, das sein Herz wärmte.

Auf dem Flur hielt er einen Moment inne. Das Gespräch hatte ihn zugleich betrübt, weil Franko verletzt worden war und euphorisch gestimmt, weil sie kommuniziert hatten und das auch noch privat. Reg dich ab. Bestimmt würdigt er dich ab morgen wieder keines Blickes, flüsterte es in seinem Schädel. Leider glaubte er das auch.

Er wandte sich dem Problem Güldenstein zu. Dieses miese Schwein musste bestraft werden. Allein der Gedanke, dass der Typ nochmal die dreckigen Griffel an Franko legen könnte, verursachte bei ihm, neben Wut, Eifersucht. Die Frage war, wie man dem Mistkerl an den Kragen gehen konnte.

Als er an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, meinte Emmeline: „Du warst aber lange weg. Wollte schon eine Vermisstenmeldung rausgeben.“

„Manche Geschäfte dauern eben länger“, brummelte Görkan.

Sie winkte ab. „War nur ein Scherz. Du darfst so lange du willst Stuhlgang haben.“

„Keine Stuhlgang Unterhaltungen“, bat Max mit gequälter Miene. „Das steht gleich hinter Sex auf der Tabu-Liste.“

„Nichts darf man.“ Schmollend schob Emmeline die Unterlippe vor.

Max verdrehte bloß die Augen.

Zu gern hätte Görkan seine Kollegen nach ihrer Meinung zu dem Güldenstein-Problem gefragt, aber er stand ja unter Eid. Vertrauensmissbrauch war für ihn ein No-Go.

Obwohl er bis Feierabend noch dreimal die Herrentoilette aufsuchte, bekam er Franko nicht mehr zu Gesicht. Dem Bedürfnis, an dessen Bürotür zu klopfen, um sich zu erkundigen, wie’s ihm ging, widerstand er.

Abends, gegen sieben, tauchte unangekündigt seine Schwester Nesrin auf. Sie war mit vierzig die zweitälteste seiner Geschwister und ebenfalls in der EDV-Branche tätig; allerdings im Spielesektor. Eine schnelllebige Branche, die gut zu der flippigen Nesrin passte.

Derzeit hatte sie ihre Regenbogenphase. Beim Anblick ihrer bunten Klamotten, als er die Wohnungstür öffnete, schmerzten Görkan die Augen.

„Hi, Brüderchen“, flötete sie, gab ihm einen Schmatzer auf die Wange und schwebte an ihm vorbei.

„Wäre super, wenn du mal vorher anrufen würdest.“ Er schloss die Tür und folgte ihr in die Küche, wo sie seinen Kühlschrankinhalt unter die Lupe nahm.

„Wo bleibt da der Überraschungseffekt?“ Sie schnappte sich eine angebrochene Flasche Weißwein und beäugte das Etikett. „Eigentlich trinke ich ja keinen Billigfusel, aber für dich mache ich eine Ausnahme.“

„Zu liebenswürdig von dir“, erwiderte er sarkastisch.

Im Wohnzimmer richtete sie sich gemütlich auf der Couch ein, ein Glas Wein in der Hand. Görkan ließ sich in dem Sessel auf der anderen Seite des Couchtisches nieder, griff nach der Fernbedienung und stellte die Glotze aus.

„Wieso guckst du so grimmig?“, verlangte Nesrin zu wissen.

„Es gibt zu viel Böses auf dieser Welt.“

„Stimmt.“ Sie nippte an ihrem Weißwein. „Aber nicht erst seit heute.“

Nachdenklich nagte Görkan an seiner Unterlippe. Nesrin war vertrauenswürdig, außerdem kannte sie Franko gar nicht. „Hat dir schon mal jemand K.-o.-Tropfen untergeschoben?“

Sie schüttelte den Kopf. „Jedenfalls hab ich nie was davon gemerkt.“

„Einem Bekannten ist das passiert, dazu noch bei einem Kunden. Nun weiß er nicht, was er tun soll.“

Nesrin riss die Augen auf. „Bei Männern passiert das auch?“

„Offenbar.“

„Ist doch klar, was er tun soll: Zu den Bullen gehen und das Schwein anzeigen.“

„Dann zieht der den Riesenauftrag zurück.“

„Na und.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Geld ist bei sowas doch Nebensache.“

„Weiteres Problem ist, dass man Schwulen nicht glaubt, gegen ihren Willen Sex gehabt zu haben.“

„Davon hab ich gehört.“ Erneut setzte sie das Glas an ihre Lippen, die Stirn gerunzelt. „Aber er wird doch hoffentlich bei einem Arzt gewesen sein, der die Gewalteinwirkung dokumentiert hat.“

„Soweit ich weiß nicht.“

„Tja, dann sieht’s wirklich mau aus. Wer ist denn das Arschloch? Kennst du den Typen?“

„Ähm ... ja. Ich bin ihm mal begegnet.“

„Als erstes muss dein Bekannter den Täter auskundschaften. Irgendwo wird das Dreckschwein eine Schwachstelle haben und dann ...“ Sie rammte ihre Faust in die Luft. „... kann er zuschlagen.“

„Schwachstelle?“

„Hat er eine gesellschaftliche Stellung? Ist er verheiratet? Solche Dinge eben.“

„Und wie soll er zuschlagen?“

„Tja ...“ Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. „Da er bestimmt nicht erkannt werden möchte, wird es schwierig. Ein Strohmann könnte an seiner Stelle, beispielsweise in sozialen Netzwerken, den Täter beschuldigen.“

„Ist das nicht üble Nachrede?“

„Ist es nicht Vergewaltigung, einen Mann unter Drogen zu setzen und zu benutzen?“ Sie musterte ihn eingehend. „Wir reden hier aber bitte nicht über dich, oder?“

Vehement schüttelte er den Kopf. „Zum Glück nicht.“

Sie atmete vernehmlich auf. „Wirklich ein Glück, den ich würde denjenigen, der dir sowas antut, mit bloßen Händen ermorden.“

Die Sache mit den sozialen Netzwerken war ihm nicht geheuer. Er machte einen großen Bogen um diese Quatsch-und-Tratsch-Börsen. Was die Recherche betraf: Da wollte er sich hinter klemmen, sobald Nesrin gegangen war.

„Was führt dich überhaupt her?“, fragte er.

„Meine Liebe zu dir.“ Sie prostete ihm zu. „Ich dachte mir: Schau mal nach, was dein kleiner Bruder so treibt. Apropos: Treibst du es derzeit mit jemandem?“

„Siehst du hier jemanden?“

„Vielleicht versteckst du ihn im Schlafzimmer.“

Görkan seufzte. „Es gibt niemanden in meinem Leben.“

„Das muss sich ändern.“ Nesrin leerte ihr Glas und stand auf. „Ich melde dich bei einem Dating-Portal an.“

Das tust du nicht!“, rief er ihr hinterher, als sie in die Küche wanderte. „Dann lasse ich mich von dir scheiden!

„Dann mach es selbst“, gab sie zurück. „Ist ja echt kein Zustand.“

Er fand seinen Zustand eigentlich ganz okay.

Ein Glas Wein später brach Nesrin auf. Sie hatte ihn bezüglich ihrer Geschwister auf den neuesten Stand gebracht. Man sah sich zwar regelmäßig, aber meist im großen Kreis. Dann blieb wenig Zeit für jeden Einzelnen. Zudem waren stets ihre Eltern anwesend, so dass manche Themen nicht zur Sprache kamen. Görkans Vorliebe für Männer gehörte dazu.

Als schwuler Muslim hatte man es immer noch schwer. Er praktizierte den Glauben nicht, aber seine familiäre Umgebung schon – ausgenommen Nesrin und Taner, sein jüngster Bruder. Anfeindungen war er zwar nicht ausgesetzt, doch er spürte die Distanz, die seit seinem Outing herrschte.

Bauchschmerzen bereitete ihm seine Situation nicht. Er hatte es noch ganz gut getroffen. Ein ehemaliger Kommilitone, ebenfalls türkischer Abstammung, war schlimmer dran. Der Familienclan hatte Mesuts Outing zum Anlass genommen, ihn krankenhausreif zu schlagen. Seitdem humpelte Mesut und besaß nur noch ein Auge. Insofern schätzte sich Görkan glücklich, dass man ihn lediglich mit Abstand bestrafte.

Seine Gedanken wanderten wieder zu Franko. Er zog sein Notebook aus dem Fach unterm Couchtisch und suchte nach Ephraim Güldenstein. Unter den Treffern befanden sich auch einige, bei denen das Dreckschwein bei karitativen Anlässen fotografiert worden war, stets in Begleitung einer hübschen Frau.

„Ephraim Güldenstein mit Gattin Marlene besucht die Premiere von Hamlet“, las er unter einem der Fotos.

Also war Güldenstein schon mal verheiratet. Ein Ansatzpunkt. Görkan bezweifelte, dass die werte Gattin von den Aktivitäten ihres Mannes wusste. Andererseits gab es Frauen, die von dem Missbrauch ihrer eigenen Kinder wussten und nichts dagegen taten. Menschen waren wirklich merkwürdig. Manche verfügten über so wenig Empathie, dass sie genauso gut als Scheibe Weißbrot durchgehen könnten. Oder tat er dem Weißbrot damit unrecht?

Auf der Firmenseite fand er eine ausführlich Vita von Güldenstein. Grundschule, Gymnasium, Studium – bla,bla,bla. Mitglied im Golfclub, verheiratet, Vater dreier Kinder. Auf dem dazugehörigen Bild lächelte Güldenstein jovial in die Kamera.

Schade, dass die Schöpfung nicht dafür sorgte, dass Verbrecher mit Verbrechervisagen rumliefen. Dann könnte man sie leichter entlarven. Auf der anderen Seite wurde man nicht zum Verbrecher geboren. Vielleicht hatte Güldenstein eine schlechte Kindheit, ein gestörtes Verhältnis zu den Eltern, oder ein traumatisches Erlebnis. Sowas konnte einen auf die schiefe Bahn bringen.

Suchst du etwa gerade nach Entschuldigungen für das Stück Scheiße?, fragte er sich im Geiste und stellte diese Überlegungen sofort ein.

Er tippte Marlene Güldenstein ins Suchfeld. Die Dame unterhielt einen Facebook- und Instagram-Account. Unter den zahlreichen Fotos befanden sich auch welche der Kinder. Görkan schätzte das jüngste auf drei und das älteste auf sieben bis acht.

Sein Smartphone vibrierte. Ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen griff er danach und hielt es sich ans Ohr. „Ja?“

„Ich bin’s nochmal“, meldete sich Nesrin. „Mir ist eingefallen, dass der Freund eines Bekannten jemanden kennt, der schmutzige Dinge erledigt.“

„Ein Auftragskiller?“

Sie kicherte. „Nein, sowas macht er nicht.“

„Okay. Ich behalt’s im Hinterkopf.“

„Mach das. Und such dir endlich einen Lover. Ciao!“ Sie legte auf.

Einen Lover ... Einfacher gesagt als getan. Da er nicht in Clubs ging und sein Freundeskreis – wenn man die paar Leute so bezeichnen wollte – aus Heteros bestand, standen die Chancen schlecht. So lange sein dummes Herz noch an Franko hing, ging sowieso nichts anderes.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos / Kaipurgay
Bildmaterialien: Shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann, Sissi
Korrektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2023

Alle Rechte vorbehalten

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