Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos
Korrekturen: Aschure, Dankeschön!
Foto Cover: shutterstock_444451879, Depositphotos_5797970_l-2015
Cover: Lars Rogmann, Sissi
Kontakt: https://www.sissikaipurgay.de/
In einem Coffeeshop ereilt Monroe sein Schicksal: Er sieht einen blonden Twink und wird von Amors Pfeil getroffen. Er setzt sämtliche Hebel in Bewegung, um die Identität des Blonden rauszufinden. Leider beißt er auf Granit: Franko, so heißt der Typ, will von ihm nichts wissen. Davon lässt sich Monroe nicht abschrecken. Im Krieg und in der Liebe ist doch alles erlaubt, nicht wahr? Bestimmt auch ein klitzekleines bisschen Kidnapping.
Es geschah in einem Coffeeshop: Monroe wurde von Amors Pfeil getroffen. Die Erschütterung war so heftig, dass er zur Salzsäule erstarrte. Das hinderte ihn leider daran, das Objekt seiner frisch erwachten Zuneigung anzusprechen. Im Nu hatte der anziehende Blonde mit einem Coffee to go den Laden verlassen.
Er blinzelte. Sowas war ihm noch nie passiert. Sein Herz hatte bisher niemand in dieser Form berührt. Sein Schwanz war genauso begeistert. Eine Spontanerektion in dieser Größenordnung hatte er auch noch nie erlebt.
„Was kann ich für den Herrn tun?“, sprach ihn der Mitarbeiter hinter dem Tresen an.
„Ich ... äh ... ich hätte gern einen Latte to go.“ Möge seine Latte bitte auch weggehen. In der engen Hose war sowas kein Vergnügen.
Während der Angestellte das Gewünschte zubereitete, spähte er durchs Schaufenster. Der Blonde war verschwunden. Nun blieb nur zu hoffen, dass der kleine Adonis den Laden regelmäßig aufsuchte, sonst war Monroe verloren.
Es kam nur sporadisch vor, dass er mittags das Firmengebäude verließ. Meist aß er eine Kleinigkeit am Schreibtisch oder es gab Lunch Buffet, wenn ein Meeting stattfand. Davon – das behauptete zumindest seine Assistentin Elke – veranstaltete er viel zu viele. Er mochte es eben, Mitarbeiter um sich zu versammeln. Vielleicht sollte er wirklich weniger davon ansetzen.
Auf dem Rückweg überlegte er, ob es nicht Amors, sondern Eros‘ Pfeil war, der ihn getroffen hatte. Die Anzeichen waren ja ähnlich: Erhöhter Puls, Ständer, rosarote Brille. Das konnte er allerdings nur rausfinden, wenn er den Blonden wiedersah.
Als er ins Vorzimmer, in dem Elke residierte, trat, meldete sie: „Baumann aus dem Controlling bittet um Rückruf.“
„Hat er gesagt, worum es geht?“
Sie schüttelte den Kopf.
Er ging weiter in sein Büro und ließ sich in den Sessel hinter dem Schreibtisch fallen. Bereits sein Vater und Großvater hatten hinter dem Möbel gesessen, ein schweres Stück aus dunkler Eiche mit zahlreichen Schnörkeln. Es war grottenhässlich, repräsentierte aber die Familientradition, weshalb er es nicht durch etwas Moderneres ersetzte.
Nach einem Schluck Kaffee griff er zum Telefonhörer. Baumann wollte ihm bloß mitteilen, dass er eine Email mit den aktuellen Unternehmenszahlen geschickt hatte. Als ob Monroe die Post ohne diesen Hinweis nicht finden würde. Jemand sollte mal den Stock aus Baumanns Arsch entfernen.
Das sagte er nicht laut, denn der Typ war ein fähiger Mitarbeiter, sondern bedankte sich höflich, legte auf und wählte die Nummer des Hausmeisters. Facilitymanager, korrigierte er sich im Geiste. Dieses Neudenglisch ging ihm gehörig auf den Sack.
„Stets zu Diensten“, meldete sich Tefik Tabak.
In den Katakomben des Hauses führte Tefik ein eisernes Regiment. Er befehligte zwei Mitarbeiter, die dafür sorgten, dass alles reibungslos lief. Legte man sich mit ihm an, konnte es passieren, dass es auf der Herrentoilette nur noch einlagiges Klopapier gab. Oder die Kaffeebohnen waren plötzlich alle. Der Mann wusste, wie man Menschen auf der elementarsten Ebene empfindlich traf.
„Mein lieber Tefik. Ich habe eine große Bitte.“
„Ich bin ganz Ohr.“
„Ich bräuchte morgen Ihre Begleitung in den Coffeeshop.“
„Hat man Ihnen schlechten Kaffee angedreht oder Sie bedroht?“
„Weder, noch. Es geht um eine delikate Angelegenheit.“
„Delikatessen sind meine Stärke.“
„Passt es Ihnen um Viertel vor eins?“ Um die Zeit war der Blonde in dem Laden gewesen.
„Moment ...“ Papierknistern im Hintergrund. Vermutlich zerknüllte Tefik eine Zeitung, um hektische Betriebsamkeit zu vermitteln. „Ja, das kann ich zwischen zwei Terminen einplanen.“
„Wunderbar. Ich erwarte Sie dann morgen zu der Zeit in der Lobby.“
„Gibt es einen Dresscode?“
„Normales Straßenoutfit.“
„Alles klar. Bis morgen, Chef.“ Tefik legte auf.
Die Hausm... Facilitymanager liefen stets in orangen Kitteln, entsprechend der Farbe des Firmenlogos, herum. In solchem Ding wollte er Tefik nicht mitnehmen. Es würde unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Die Familie Tabak stand seit Jahrzehnten im Dienst der Firma Vaughn. Vor dem aktuellen Tefik hatte dessen Vater den Posten inne, davor der Großvater. Man konnte also mit Fug und Recht behaupten, dass es sich um einen Erbtitel handelte.
Die Tabaks waren mehr als gewöhnliche Angestellte. Für Monroes Großvater hatte der damalige Tefik – ja, der Name wurde wirklich von Generation zu Generation weitergegeben - ein paar schmutzige Geschäfte erledigt. Das war in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts gewesen. Auch sein Vater hatte den darauf amtierenden Tefik bei ein paar Sonderaktionen eingesetzt.
Der derzeitige Tefik war von Monroe bislang nur für private Kinkerlitzchen engagiert worden. Mal brauchte er einen Chauffeur, mal einen Gärtner und so weiter. Es gab immer einen in der Familie Tabak, – Bruder/Cousin/Neffe/etc. – der sowas übernahm, sofern Tefik es nicht selbst erledigen konnte. Zu allem Überfluss sahen die Verwandten Tefik sehr ähnlich, so dass man den Eindruck bekam, es mit einer multiplen Person zu tun zu haben.
Am folgenden Tag begab er sich um siebzehn Minuten vor eins in den Empfang. Tefik gesellte sich kurz darauf zu ihm.
Sie traten vor die Tür und beiseite, um den Mitarbeitern, die das Gebäude verließen oder zurückkehrten, nicht im Weg zu stehen.
„Gestern habe ich ein interessantes Zielobjekt im Coffeeshop gesehen. Ich brauche Daten über ihn“, erklärte Monroe.
„Ach, Boss ... immer noch auf Männer fixiert?“ Tefik bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick.
Angesichts der Toleranz, die Tefik ansonsten an den Tag legte, verzichtete er auf eine Rüge. „Die Aktion muss natürlich völlig unauffällig ablaufen.“
„Selbstverständlich. Diskretion ist mein zweiter Vorname.“
Gerade als sie den Coffeeshop erreichten, ging der Blonde in den Laden. Monroe beglückwünschte sich zu seinem Timing. Dichtauf gefolgt von Tefik betrat er ebenfalls das Geschäft. Zwei Kunden standen vorm Tresen, wovon einer das Zielobjekt war.
Tefik zückte ein Smartphone und tat so, als ob er die Preistafel fotografierte. Zumindest nahm Monroe an, dass das anvisierte Motiv in Wirklichkeit der Blonde war.
Die Schlange rückte auf. Das Zielobjekt bestellte Macchiato mit Karamellsirup. Seine Magenwände krümmten sich bei der Vorstellung, solches Zeug zu trinken.
„Was kann ich für die Herren tun?“, wandte sich der zweite Barista an Tefik und ihn.
„Einen doppelten Espresso mit Milchschaum und Honig“, bestellte Tefik, noch ehe er den Mund öffnen könnte.
„Für mich das Gleiche“, bat Monroe, etwas benebelt von der Nähe zu dem Blonden und um keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, obwohl er solche Mischung keinesfalls runterbekommen würde.
Das Zielobjekt zahlte mit Kreditkarte. Derart kleine Beträge mit solchem Zahlungsmittel zu begleichen, fand Monroe dämlich. Er achtete stets darauf, kein Bewegungsmuster zu hinterlassen und nutzte daher überwiegend Bargeld. Eine alte Gewohnheit, die in Zeiten der globalen Überwachung bestimmt Sinn ergab.
Der Blonde verließ, einen Pappbecher in der Hand, das Geschäft. Wenig später befanden auch Tefik und er sich auf dem Rückweg.
„Bis heute Abend haben Sie die Vita des Burschen“, versprach Tefik.
Daran zweifelte er nicht. Tefik besaß Verbindungen, die sehr weit reichten. „Mir reicht Name, Adresse und Orte, an denen er häufig anzutreffen ist.“
„Sie bekommen den vollständigen Bericht.“
Um halb fünf tauchte eine E-Mail von tefik.tabak@tabak-family.de in seinem Posteingang auf. Der Bursche war wundervoll diskret. Die EDV-Abteilung würde zwar niemals in seinem Postfach rumwühlen, hatte aber die Möglichkeit dazu.
„Hallo Boss, wie versprochen ... Ihr ergebener Tefik“, lautete das Anschreiben. Im Anhang befand sich ein PDF mit den gewünschten Informationen.
Der Blonde hieß Franko Meister, war neunundzwanzig, Sternzeichen Fische, hundertsiebzig Zentimeter groß und wog achtundsechzig Kilo. Augenfarbe: blau. Franko wohnte in einer Nebenstraße des Mittelwegs, in einer Wohnung im elterlichen Haus und arbeitete in einem Konzern, der Hardware vertrieb. Es folgten Daten über den Job, Einkommen, Einkommen der Eltern, Besitzverhältnisse, die Monroe lediglich überflog. Woher Tefik all diese Details hatte, wollte er lieber nicht wissen. Zum Feind sollte man den Mann keinesfalls haben.
Dreimal pro Woche, manchmal öfter, ging Franko in einen Club namens Goldener Hirsch. Von dem Etablissement hatte Monroe schon gehört. Es befand sich in Wandsbek, weitab seiner üblichen Jagdgefilde. Wobei er nicht mehr jagte, sondern bestellte, nämlich bei einem Edel-Callboy-Service. Das sparte Zeit und Nerven.
Franko pflegte im Goldenen Hirsch durchschnittlich 2,5 Mal Sex mit wechselnden Bekanntschaften zu haben. Wie konnte man 0,5 Mal Sex haben? Koitus interruptus? Sollte er Tefik diesbezüglich fragen? Der war ja ein Fachmann in Bezug auf Delikatessen – Ha, ha!
Im Ganzen war Franko also ein aktiver, begüterter Mann im richtigen Alter. Monroe bevorzugte es, wenn seine Partner nicht allzu jung waren. Er käme sich sonst wie ein Pädophiler vor. Das mit dem Reichtum passte auch: So brauchte er keine Sorge haben, nur wegen seines Geldes gemocht zu werden.
Seine Bedenken dahingehend waren nicht unbegründet. Mehr als einmal war sowas geschehen. Am schlimmsten getroffen hatte es ihn während seines Studiums. Er war in seinen Kommilitonen Max verknallt gewesen. Alles sah danach aus, als ob es eine super Lovestory werden würde. Kurz vorm Abschluss war es passiert: Max ergatterte einen gutbezahlten Job und gab ihm den Laufpass. Als er nach dem Grund für die Trennung fragte, bekam er zu hören, dass jemand mit seiner Fresse doch nicht erwarten könnte, dass man sich gern mit ihm sehen ließ.
Zugegeben: Seine Nase war etwas deformiert. Das kam von seinem Hobby, dem Boxen. Dadurch war sein ohnehin nicht sonderlich schönes Gesicht ein bisschen entstellt. Trotzdem fand sich Monroe attraktiv, denn seine Eltern hatte ihm ein gesundes Selbstbewusstsein mitgegeben. Außerdem besaß er, dank des Sports, einen Hammer-Body.
Zusammen mit seiner langen Mähne und dem gepflegten Vollbart gab er, nach seiner Meinung, eine stattliche Erscheinung ab. Im Dunkeln war es zwar schon mal geschehen, dass Passanten, denen er begegnete, einen Bogen um ihn machten, doch das tangierte ihn nicht. Leute reagierten auf große Menschen mit dunklerer Hautfarbe – irgendwo in seinem Stammbaum befand sich jemand mit indischen Wurzeln – eben merkwürdig.
Max‘ Nachfolger hatten sich weniger drastisch ausgedrückt. Eher gesagt hatten sie sich einfach verdrückt, wenn er für ihre Bedürfnisse seine Brieftasche nicht weit genug öffnete. Sämtliche Versuche, in seiner finanziellen Liga jemanden zu finden, für den sich sein Herz erwärmte, waren bislang erfolglos geblieben, bis jetzt ... jetzt war Franko da.
Dank Tefiks Bericht wusste er nun einem Ort, an dem er Franko rein zufällig begegnen und ihre Bekanntschaft anbahnen konnte. Er war zuversichtlich, dass ihm diesmal das Glück hold war. Nach all dem Pech musste es einfach so sein.
Samstagabend – laut den Infos der Tag, an dem Franko zuverlässig im Goldenen Hirsch auftauchte – betrachtete er seine Erscheinung im Spiegel. Schwarze, enge Jeans, schwarze Stiefel, ein schwarzes Hemd, über seiner behaarten Brust weit aufgeknöpft. Seine Mähne hatte er im Nacken mit einem schwarzen Zopfgummi zusammengebunden. Dazu trug er DIOR Fahrenheit in verschwenderischer Menge.
Mit einem Taxi ließ er sich zum Club chauffieren. Wie vermutet, handelte es sich beim Goldenen Hirsch um ein etwas runtergekommenes Etablissement. Die Eingangstür war zerkratzt, die Leuchtreklame schmutzig. Wieso man Aushängeschilder derart verkommen ließ, verstand Monroe nicht.
Die Klientel im Lokal war bunt gemischt, vom Gruftie bis zum Jungspund. Es gab zwei Tresen: Einen rechts vom Eingang und einen an der hinteren Wand. Er steuerte letzteren an, weil man dort wahrscheinlich den besten Überblick hatte.
Nachdem er einen doppelten Whisky bestellt hatte, scannte er die Gäste. Franko konnte er nicht unter ihnen entdecken. Die Lichtverhältnisse waren aber denkbar schlecht. Laserblitze störten die Sicht und in den Ecken war es sehr dunkel. Außerdem gab es wohl Hinterräume, denn durch den Torbogen am Ende der Bar kamen und gingen Leute.
Er zahlte seinen Drink, trank einen Schluck und richtete sich darauf ein, einige Zeit warten zu müssen.
Kaum hatte er sich damit abgefunden, sah er Franko. Sofort erhöhte sich sein Puls. Franko trug zerfetzte Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber eine braune Lederjacke und unterhielt sich mit einem der Gäste. Im nächsten Moment näherte er sich dem Tresen, an dem Monroe saß.
Franko rief dem Barkeeper: „Ein Pils!“, zu und ließ sich auf dem Hocker neben seinem nieder.
Er nutzte die Gunst der Stunde, indem er Franko mit seinem Whisky zuprostete. „Hi.“
Fragend hochgezogene Augenbrauen.
„Darf ich dich auf einen Drink einladen?“
Frankos Blick wanderte an ihm runter, wieder rauf und verweilte angeekelt auf seiner Brust. „Versuch dein Glück woanders.“
War da jemand oberflächlich? „Was hat ein Getränk mit meinem Brusttoupet zu tun?“
Der Barkeeper schob das bestellte Bier rüber. Franko zahlte, rutschte vom Hocker und zeigte ihm im Weggehen den Stinkefinger.
Monroe war schockiert. In einem Zug schüttete er seinen Drink runter und schlängelte sich durch die Gästeschar nach draußen, um tief durchzuatmen. Franko besaß keine Manieren. Es wurde Zeit, dass ihm jemand welche beibrachte. Das bot zugleich die Gelegenheit, einander besser kennenzulernen.
Von allen Seiten betrachtete sich Lutz im Spiegel. Seine Mutter durfte ihn so nicht sehen. Sie würde ihn auffordern, sich sofort umzuziehen. „Mit der Hose gehst du mir nicht aus dem Haus“, hörte er sie im Geiste schimpfen.
Wenn sie wüsste, dass er eine seiner Jeans für den Look zerstört hatte ... Dazu, eine große Summe zu berappen, um solche Hose zu kaufen, verspürte er nämlich keine Lust. Der halbe Nachmittag war draufgegangen, um den Stoff mit Schmirgelpapier und Schere zu bearbeiten. Mit dem Ergebnis war er recht zufrieden.
Er steckte fünfzig Euro in kleinen Scheinen in eine der Hosentaschen, warf einen letzten Blick in den Spiegel, schnappte sich seinen Schlüsselbund und öffnete behutsam die Wohnungstür. Seine Mutter lebte gegenüber. Sie besaß das Talent, genau dann im Treppenhaus aufzukreuzen, wenn er gerade kam oder ging. Ihr war es nämlich gar nicht recht, dass er vor zwei Jahren die Chance genutzt hatte, die nebenan freiwerdende Wohnung zu beziehen.
„Hier ist doch Platz genug für zwei“, lautete ihr Argument. „Warum willst du Miete zum Fenster rauswerfen?“
Lutz war aber der Meinung gewesen, mit Mitte zwanzig das Recht zu haben, sich abzunabeln. Das hatte er ihr wohlweislich nicht gesagt, sondern etwas von günstiger Gelegenheit und vielleicht gründe ich ja bald eine Familie gefaselt. Von seiner Neigung zu Männern wusste sie natürlich nichts. Sie würde ausflippen. Nicht, weil sie Schwule hasste, sondern weil sie unbedingt Enkel wollte.
Jedenfalls hatte er damit den richtigen Nerv getroffen. Sie war sofort besänftigt gewesen und bereit, ihm etliche Haushaltsgegenstände abzutreten. Leider auch solche, die er nicht haben wollte. Tja, es gab immer einen Wermutstropfen.
Auf Zehenspitzen trat er ins Treppenhaus, zog die Tür leise hinter sich ins Schloss, verriegelte sie und schlich die Stufen runter. Glücklicherweise fiel durch die Fenster auf jedem Absatz genug Licht, so dass er die Beleuchtung nicht anknipsen brauchte.
Die kurze Strecke zum Goldenen Hirsch legte er zu Fuß zurück. Nachts war es noch ziemlich kalt, weshalb er den Reißverschluss seiner Lederjacke bis oben hochzog und beide Hände in die Hosentaschen steckte.
Es war sein vierter Besuch im Goldenen Hirsch. Bei seinen letzten Aufenthalten hatte er die Szene sondiert und beschlossen, dass er sein Äußeres anpassen sollte. Er suchte zwar keinen Sexpartner, sondern jemanden fürs Herz, doch auch dafür musste man gewissen Standards entsprechen, sonst guckte einen keiner an. Na ja, es guckten schon welche, aber meist nur Mauerblümchen, wie er selbst eines war.
Sein Outfit hatte er bei einem Gast, der Ähnlichkeit mit ihm besaß, abgekupfert. Der Typ war äußerst beliebt. Ständig hingen gutaussehende Männer bei dem Mann rum. Sowas wollte Lutz allerdings nicht. Ihm reichte einer.
Als er den Parkplatz des Clubs erreichte, öffnete er den Reißverschluss seiner Jacke, fuhr sich durchs Haar – es hatte ewig gedauert, es zu zerstrubbbeln – und hauchte in seine Handfläche. Kein Mundgeruch. Wunderbar.
Er kam kaum drei Schritte weit, da umfassten ihn von hinten Arme. Ein stinkender Lappen auf Mund und Nase erstickte seinen Hilfeschrei. Dann wurde alles schwarz.
Als die Lichter wieder angingen, war immer noch alles dunkel. Sein Schädel pochte und seine Zunge fühlte sich pelzig an. Er konnte weder Arme noch Beine bewegen und in seinem Mund steckte ein Knebel.
Ich bin entführt worden!, war sein erster Gedanken und sein zweiter: Meine Mutter wird vor Sorge umkommen. Sein dritter: Was haben die mit mir vor?
Lutz war ein nüchterner Typ, entsprechend verfiel er nicht in Panik – dafür war’s eh zu spät und er konnte das später immer noch nachholen – sondern checkte die Situation. Den Fahrgeräuschen zufolge befand er sich in einem Auto. Wahrscheinlich hatte man ihn an einen Rollstuhl gefesselt. Er spürte Armlehnen und ab und zu bewegte sich das Möbel.
Zurück zu der Frage: Was haben die mit mir vor? Lösegeld war bei ihm keines zu holen, außer seine Mutter hortete einen Goldschatz. Wollte man ihm Betriebsgeheimnisse entlocken? Als Mitarbeiter in einem Versandhaus hatte er diesbezüglich nichts zu bieten. Oder wollte man ihn verkaufen? Man hörte ja immer wieder über Menschenhandel. Allerdings war er weder weiblich noch minderjährig. Insofern gehörte er nicht zum bevorzugten Personenkreis solcher Leute.
Der Wagen hielt. Eine Tür klappte. Offenbar handelte es sich um einen Transporter, denn neben ihm wurde eine Seitentür aufgeschoben. Hoffentlich presste man ihm nicht wieder den stinkenden Lappen aufs Gesicht! Seine Befürchtung war unbegründet: Er spürte ein Pieken in der Armbeuge, dann gingen erneut alle Lichter aus.
Beim nächsten Erwachen lag er. Vorsichtig blinzelnd schaute er sich um. Er befand sich in einem Flugzeug. Die Bullaugen und den Lärm von Triebwerken wertete er als sichere Indizien für diese Feststellung.
Der Pelz auf seiner Zunge war noch da, der Knebel verschwunden. Zwei Dinge mussten sofort erledigt werden, bevor er sich auf anderes konzentrieren konnte – sofern seine matschige Birne das überhaupt zuließ.
„Durst!“, krächzte er. „Muss mal!“
In der Sitzreihe vor ihm regte sich etwas. Eine Frau … nein, ein Mann mit langen Haaren, korrigierte er seinen ersten Eindruck, als er des Bartes ansichtig wurde, stand auf und stellte sich neben die Liege, auf die man ihn geschnallt hatte. Irgendetwas klingelte bei ihm. Den Typen hatte er schon mal gesehen, aber wo?
Der Mann hob seinen Kopf mit einer Hand an und hielt ihm mit der anderen eine Flasche an die Lippen. Wohltuend kühles Nass rann durch seine Kehle. Als nächstes machte sich der Typ an seiner Hose zu schaffen. Was sollte das denn? Würde man ihn etwa nicht zum Klo bringen?
Nein, würde man nicht. Der Typ ließ ihn in eine Plastikflasche, wie man sie aus Krankenhäusern kannte, pinkeln. Dafür drehte er Lutz‘ Unterkörper auf die Seite, so dass etwas Gefälle entstand. Die Aktion trieb ihm Schamesröte in die Wangen. Wenn er scheißen musste, würde man ihm dann eine Pfanne unter den Hintern schieben? Ausprobieren wollte er das lieber nicht. Es stand auf der Peinlichkeitsskala noch ein bisschen weiter oben, als von einem Fremden im Intimbereich begrabscht zu werden.
Nachdem seine Blase leer und sein Schwanz zurück in der Hose war, verschloss der Typ die Flasche mit einem Deckel und stellte sie auf den Boden.
„Was …“ Er musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. „… wollen Sie von mir?“
„Wir müssen an deinen Manieren arbeiten.“
„Hä?“
„Es heißt: Wie bitte?“
Der Typ hatte nicht alle Latten am Zaun. „Wohin bringen Sie mich?“
„Wir machen eine kleine Spritztour durch die Ägäis.“
Griechenland? „Wer sind Sie?“ Sein armes Hirn wusste immer noch nicht, woher ihm das Gesicht bekannt vorkam.
„Ts-ts!“ Der Mann, ein Riese von einem Kerl, schüttelte mit bedauerndem Lächeln den Kopf. „Immer noch so unhöflich.“
„Wer – bitteschön – sind Sie?“
„Das klingt ja schon besser. Wir machen Fortschritte.“ Der Typ feixte. „Schlaf jetzt.“
Gute Idee!, meldete sein lädiertes Gehirn. Prompt fielen seine Augen zu.
Als er sie wieder öffnete, schien Tageslicht durch die Bullaugen. Offenbar flogen sie durch Turbulenzen, denn die Maschine wackelte und sackte mit einem Mal ab. Seinem Magen gefiel das überhaupt nicht.
„Muss kotzen!“, blökte er.
Im Nu stand der Riese neben ihm, einen Eimer in den Händen.
Im Anschluss an die Brechaktion bekam er zu trinken. Vielleicht hatte er nicht nur seinen Mageninhalt, sondern auch den Rest Betäubungsmittel ausgekotzt, denn plötzlich lieferte sein Verstand die Antwort zu der Woher-kenne-ich-meinen-Entführer-Frage. Er hatte den Typen am vergangenen Wochenende im Goldenen Hirsch gesehen. War es besser, dieses Wissen für sich zu behalten?
Die Maschine befand sich nun eindeutig im Landeanflug, denn es ging beständig runter. Der Typ blieb neben ihm stehen, den Eimer in Griffnähe.
„Können Sie mich bitte losbinden?“ Einen Versuch war’s wert.
„Du lernst dazu“, freute sich der Typ. „Das muss aber noch warten, bis wir an Bord meiner Yacht sind.“
Yacht? Ach, ja, Ägäis … „Ich möchte nach Hause. Meine Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen.“
„Gottelchen, ja, die liebe Frau Mama. Sie hat Nachricht erhalten, dass ihr Sohn ein wenig in der Weltgeschichte herumschippern wird.“
Das glaubte seine Mutter niemals. „Ich möchte mit ihr telefonieren.“
Der Typ schüttelte den Kopf. „Leider kann ich das noch nicht erlauben.“
„Aber später darf ich sie anrufen?“
„Das kommt darauf an, wie du dich anstellst.“
„Anstellst?“, echote er verständnislos
„Sei weiter ein höflicher Junge, dann können wir darüber reden.“
„Ich bin immer höflich!“ Darauf hatte seine Mutter stets großen Wert gelegt.
„So?“, murmelte der Typ und bedachte ihn mit einem geringschätzigen Blick.
Vergeblich malträtiert er sein Gehirn nach Anhaltspunkten. Garantiert hatte er noch nie ein Wort mit diesem Typen gewechselt.
„Ich rufe um Hilfe, wenn Sie mich hier rausschieben“, warnte er und hätte sich im nächsten Moment in den Hintern treten können. Wie blöde war das denn, seinen Entführer darauf hinzuweisen?
„Gut, dass du mich daran erinnerst.“ Schwups!, saß der Knebel wieder an Ort und Stelle.
Inzwischen hatte die Maschine auf dem Boden aufgesetzt und bremste. Lutz hoffte, dass jemand vom Bodenpersonal misstrauisch wurde, wenn man einen gefesselten und geknebelten Mann aus einem Flugzeug beförderte.
Er hatte die Rechnung ohne Mr. Groß und Bärtig gemacht. Der Typ deckte ihn bis zur Nasenspitze mit einem Laken zu, bevor zwei Männer kamen und ihn aus der Maschine hievten. Dort wartete bereits ein Transporter, in den er mit der Trage geschoben wurde.
Die Fahrt ging zum Hafen, wo man ihn wiederum mitsamt Bettstatt verfrachtete, diesmal auf eine Riesenyacht. Die beiden Männer trugen ihn in einen Salon – oder hieß es Kajüte? Es sah mehr nach Wohnzimmer als maritim aus. Vorne gab es eine Essecke, bestehend aus einer Bank, einem Tisch und vier Stühlen. Dahinter – wo man ihn abstellte – befand sich eine Couchecke, ein Sideboard und darüber ein Flatscreen.
Seine Träger verschwanden. Eine Weile passierte nichts, dann ertönte ein tiefes Brummen und das Schiff begann, sich zu bewegen.
Mittlerweile war Lutz überzeugt, dass sein Entführer: 1. Verrückt war. 2. Kein grundsätzlich schlechter Mensch, denn solcher hätte sich vor seiner Kotze geekelt. 3. Irgendein Zusammenhang mit dem Goldenen Hirsch bestehen musste, dem einzigen Ort, an dem sie sich mehr oder minder begegnet waren. Vielleicht irgendwas mit Drogen oder so – er hatte keinen Schimmer.
Der Typ kam in den Salon, befreite ihn von dem Knebel und den Fesseln und half ihm in eine sitzende Position. Alles drehte sich. Lutz musste die Augen schließen, damit ihm von der Karussellfahrt nicht übel wurde.
Sein Glück, endlich frei zu sein, währte nur kurz: Mr Groß und Bärtig legte eine Handschelle um sein Handgelenk und befestigte sie am metallenen Gestell der Trage.
„Damit du nicht auf dumme Ideen kommst“, brummelte der Typ dabei.
„Wie beispielsweise aufs Klo zu gehen?“, schlug er sarkastisch vor.
„Musst du schon wieder?“
Lutz nickte.
Seufzend löste der Typ die Handschelle vom Bettgestell. „Du bist anstrengend.“
Er wurde in ein Bad geführt, die Tür hinter ihm verriegelt. Der Raum war mit Duschkabine, Waschbecken und Kloschüssel ausgestattet. Während er auf letzterer hockte, schaute er sich vergeblich nach einer Waffe um. Wenn er seinen Entführer mit einem Handtuch oder Stück Seife bedrohte, besaß das wohl kaum nennenswerten Effekt.
Sehnsüchtig betrachtete er die Dusche, aber was nützte es, sich zu waschen, wenn man keine frischen Klamotten dabeihatte? Apropos: Wo war seine Lederjacke hin? Für das Teil hatte er mehr bezahlt, als er sonst für seine Kleidung ausgab.
Als er sich die Hände wusch, schaute ihm aus dem Spiegel ein blasses Gesicht entgegen. Wenn ihn der Mistkerl nicht gekidnappt hätte, würde er jetzt vielleicht mit einem lieben Mann im Bett liegen. Ha-ha! Wovon träumst du nachts?, höhnte es in seinem Schädel. Nur weil du dich aufgebrezelt hast, taucht noch lange kein Traumprinz auf.
Davon mal abgesehen wüsste er nicht, wie sich ein Verhältnis gestalten sollte, ohne dass seine Mutter davon erfuhr. Seine Mutter! Bestimmt war die inzwischen ganz krank vor Sorge! Krank ist deine Mutter immer, meldete sich erneut die Stimme. Sobald du etwas tust, das ihr nicht gefällt, bekommt sie irgendein Zipperlein. Das stimmte. Obwohl ihm diese Manipulations-Methode bewusst war, konnte er sich nicht dagegen wehren.
Er war ihr einziger Sohn, ihr Wunschkind. Sie hatte sich, als ihre biologische Uhr mit Anfang vierzig laut tickte, von irgendeinem Typen schwängern lassen. Die näheren Umstände seiner Zeugung waren ihm unbekannt. Es gab Dinge, die wollte man auch nicht wissen. Es war jedenfalls verständlich, dass sie mit äffischer Liebe an ihm hing. Er liebte sie ja auch, nur war es manchmal ein bisschen erdrückend.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seiner Versunkenheit. „Bist du fertig da drinnen?“
„Wo ist meine Jacke?“
„In Sicherheit.“ Der Typ entriegelte das Türschloss und führte ihn zurück zur Bettstatt, um ihr wieder daran festzuketten.
Momentan war Franko recht handzahm, trotzdem war Monroe auf der Hut. Man endete ratzfatz mit einem Messer im Rücken, wenn man dem Falschen vertraute.
Er begab sich auf die Brücke, wo Zeus – nicht der Gott, sondern sein Kapitän - am Steuer stand. Da er keinen Bootsführerschein besaß, überließ er das Navigieren lieber fähigem Personal.
„Was meinst du, wie lange wir brauchen?“, erkundigte er sich.
„Approximate five hours.“ Zeus verstand Deutsch, sprach es aber nicht.
„Wie sieht es mit Frühstück aus?“, wandte er sich an Nikos, seines Zeichens Zeus‘ Assistent, zugleich Mädchen für alles.
„Five minutes.“ Auch Zeus benutzte lieber Englisch als Deutsch.
Monroe setzte sich auf eine der Bänke an der Reling. Den Fahrtwind zu spüren, tat nach den Stunden im stickigen Flugzeug gut. Er wischte sich eine Strähne, die sich aus dem Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht.
Tefiks Leute hatten gute Arbeit geleistet. Seine Befürchtung, dass Franko bei der Aktion lädiert wurde, war unbegründet gewesen. Okay, abgesehen von leichter Desorientierung. Als erstes darum zu bitten, mit der lieben Mutti telefonieren zu dürfen, fand er absonderlich. Es passte so gar nicht in das Bild, das er sich von Franko gemacht hatte.
Ursprünglich bestand sein Plan darin, Franko innerhalb der folgenden Woche dazu zu bringen, praktisch nur noch bitte und danke zu sagen. Bedauerlicherweise war Monroes dominante Ader nicht ausgeprägt genug, um das konsequent zu verfolgen. Er hätte Franko eigentlich darum betteln lassen müssen, aufs Klo zu dürfen. Na ja, vielleicht klappte es beim nächsten Mal.
Natürlich hatte er Frankos Mutter keine Nachricht geschickt. Das war ihm zu riskant. Vermutlich vermisste die Dame ihren umtriebigen Sohn sowieso nicht, wenn der mal ein paar Tage weg blieb.
Einige Minuten später erscholl Nikos‘ Ruf: „Breakfast is ready!“
Das kam genau richtig. Sein Magen hatte nämlich gerade beschlossen, ihn anzuknurren.
Im Salon war der Esstisch gedeckt. Er ließ sich daran nieder, inhalierte genüsslich den Duft von Speck und Rührei und griff nach der bereitstehenden Kaffeekanne.
„Was ist mit mir?“, ertönte zaghaft Frankos Stimme aus der Chill-Ecke.
„Was soll mit dir sein?“, gab er zurück.
„Kriege ich nichts zu essen?“
„Kommt drauf an ...“ Er verdünnte seinen Kaffee mit reichlich Milch.
„Worauf?“
„Ob du mich lieb bittest.“ Monroe schnappte sich eine Scheibe Weißbrot.
„Darf ich bitte wenigstens Kaffee haben?“
Gemächlich strich er Butter auf sein Brot, bevor er sich erhob und rüberging, um Franko an den Tisch zu holen. Etwas ratlos schaute er sich nach einer Möglichkeit um, die Handschelle festzumachen. Schließlich befestigte er sie am Tischbein. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, sämtliche Stichwerkzeuge aus Frankos Reichweite zu entfernen.
Weil er kein Unmensch war, legte er sein fertig geschmiertes Marmeladenbrot auf Frankos Teller und nahm sich eine neue Scheibe. Erst dann ging ihm auf, dass er schon wieder gegen seinen Grundsatz verstoßen hatte. Es hätte aber blöde ausgesehen, Franko das Brot wieder wegzunehmen. Er musste besser aufpassen. Gefühle waren echt total lästig. Seine Vernarrtheit in Franko war nämlich weiterhin vorhanden.
Stumm, den Blick gesenkt, knabberte Franko an dem Brot und nippte zwischendurch am Kaffee. Ein merkwürdiges Verhalten im Vergleich zu dem, was er bisher von dem Bürschchen gewohnt war. Allerdings war die Situation nun auch eine völlig andere. Monroe war empathisch genug, um sich vorstellen zu können, dass er in Frankos Lage ebenfalls verunsichert wäre.
„Darf ich jetzt meine Mutter anrufen?“, fragte Franko leise.
„Und was willst du ihr erzählen? Etwa: Ich bin gekidnappt worden. Informiere sofort die Polizei.“
„Nein, natürlich nicht. Nur, dass sie sich keine Sorgen machen braucht.“
„Vielleicht sollte sie sich aber Sorgen machen.“ Monroe grinste wölfisch.
Sein Gast zog den Kopf ein.
„Du darfst ihr einen Brief schreiben“, lenkte er ein, weil ihm Franko leidtat. „Ich kümmere mich darum, dass deine Mutter ihn unverzüglich erhält.“
Frankos hübsche, blaue Augen, umrahmt von dichten Wimpern, leuchteten auf. „Danke!“
Er griff nach der nächsten Scheibe Weißbrot.
„Darf ich – bitte! – einen Stift und Papier haben?“
„Darf ich in Ruhe zu Ende frühstücken?“
„Entschuldigung“, murmelte Franko.
Wer hätte gedacht, dass der arrogante Kerl derart unterwürfig sein konnte? Einerseits genoss Monroe seine Überlegenheit, auf der anderen Seite kämpfte er ständig gegen sein Mitgefühl an. Franko sah so verloren aus, vor allem in diesem Moment, als er mit trübem Blick die Tischplatte anguckte.
Die Hälfte des Marmeladenbrotes schaffte er zu essen, dann fiel ihm das Häufchen Elend zu sehr auf den Zeiger. Genervt schnaubend stand er auf, besorgte das Gewünschte und knallte es vor Franko auf den Tisch, bevor er sich wieder setzte.
„Danke“, flüsterte Franko, nahm den Stift und begann zu schreiben.
Nach der dritten Scheibe Brot war Monroe satt. Er schenkte sich Kaffee nach und schob seinen Teller beiseite, um Frankos Brief – inzwischen war der fertig – zu lesen.
Liebe Mama, ich bin mit einem alten Schulfreund spontan zu einer Segeltour aufgebrochen. Mach dir also keine Sorgen. Ich melde mich bald bei dir. Dein dich liebender Sohn. So, so, alter Schulfreund. Er schmunzelte, zückte sein Smartphone, fotografierte den Brief und schickte das Bild Tefik mit dem Text: Bitte ausdrucken und in den Briefkasten von Frankos Mutter werfen.
Als er das Handy zurück in seine Gesäßtasche gesteckt hatte, fragte Franko. „Geht es um ... um Sex?“
Für schwanzgesteuert gehalten zu werden, machte ihn zornig. Gab es für Franko denn nichts anderes auf der Welt? Sah er aus wie ein Monster, das nur das eine wollte? Wenn ja, sollte er sich auch so benehmen.
Von einer neuen Welle Wut gesteuert sprang er auf, öffnete seinen Hosenstall und kramte seinen weichen Schwanz aus der Pants, um damit vor Frankos Nase rumzuwedeln. „Da hast du ihn! Oder ist der dir auch zu haarig?“
Aus riesengroßen Augen glotzte Franko seine schlaffe Nudel an. „Haa.... haarig?“
Sein Gast guckte, als hätte er noch nie einen Schwanz gesehen. Wenn Monroe es nicht besser wüsste – 2,5 Mal pro Besuch im Goldenen Hirsch – hätte er das sogar geglaubt.
„Nun nimm ihn schon in den Mund!“, verlangte er.
Franko schielte zu ihm hoch und öffnete zögerlich die Lippen. Die mangelnde Begeisterung brachte ihn zur Besinnung. Er trat einen Schritt zurück, packte seinen Schwanz wieder ein und ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen.
„Es geht nicht um Sex“, brummelte er.
Sein Gast starrte ihn stumm an.
„Wenn du genug gegessen hast, bringe ich dich zurück zu deiner Liege.“
Nachdem er Franko wieder an die Bettstatt gefesselt hatte, begab er sich an Deck, wo er sich auf einer Bank niederließ. Irgendwas stimmte mit dem Kerl nicht. Man konnte sich doch nicht von heute auf morgen derart wandeln. Zwar hatte er Franko nur einige Momente gesehen, doch das reichte, um sich ein ungefähres Bild zu machen. Der eingeschüchterte, verklemmte Typ in der Kajüte wirkte wie ausgetauscht.
Den Rest der Überfahrt verbrachte er an der frischen Luft. Ab und zu schaute er in die Kajüte, ob bei Franko alles in Ordnung war. Einmal bat der darum, auf Klo zu dürfen. Das mit der Höflichkeit klappte jedenfalls wie verrückt.
Wie Zeus vorausgesagt hatte, erreichten sie gegen drei die Insel Rinia. Auf der Betonmole stand ein Quad, daneben Cadmus, das griechische Gegenstück zu Tefik. Monroe hatte ihn angewiesen, in der Finca alles für einen einwöchigen Aufenthalt vorzubereiten.
Das Anwesen hatten einst seine Eltern erworben. Als die letzten Einwohner die Insel verließen, war es für einen Appel und Ei zu haben. Sie hatten es mit allerlei Luxus ausstatten lassen und so manchen Urlaub darin verbracht. Inzwischen kamen sie nur noch selten hierher. Genauso sporadisch nutzten Freunde die Finca. Die Lage war vielen etwas zu einsam. Für Monroes Zwecke war sie ideal.
Niko brachte ihr Gepäck an Land. Nachdem er sich von Zeus verabschiedet hatte, bugsierte Monroe Franko vom Schiff.
„Ola, Chef!“, rief Cadmus, bereits dabei, die Koffer auf dem Quad festzuschnallen.
„Ola“, gab Monroe zurück. „Wir gehen zu Fuß“, fügte er im Hinblick auf das zweite Quad, das am Ende der Mole stand, hinzu.
Die Finca lag bloß einige Minuten entfernt. Nach all der untätigen Zeit im Flieger und an Bord dürstete er danach, seine Beine zu benutzen.
Cadmus salutierte. „Dann fahre ich voraus.“
Schweigend stapfte Franko neben ihm her. Ein staubiger Asphaltweg – Straße konnte man es nicht nennen, dafür war es zu schmal und löchrig – führte auf eine Anhöhe. Etwa auf halber Strecke fuhr Cadmus an ihnen vorbei und hob grüßend die Hand. Die Staubwolke, die das Quad aufwirbelte, veranlasste Monroe, einen Moment stehenzubleiben, bis sich das Zeug wieder gesenkt hatte.
Als sie die Finca erreichten, war das Quad bereits entladen. Die Haustür stand sperrangelweit offen. Er dirigierte Franko hindurch, in einen großzügigen Flur, an den sich das Wohnzimmer anschloss.
Es handelte sich um einen Bungalow mit drei Schlafzimmern, zwei Bädern, einer in den Wohnraum integrierten Küchenzeile und kleinem Pool. Strom erzeugten Sonnenkollektoren, die auf dem Dach angebracht waren. Wasser kam aus dem hauseigenen Brunnen.
Cadmus hatte das Gepäck im Wohnzimmer gestapelt und befand sich auf der Terrasse, beide Hände in die Seiten gestemmt und den Blick auf den Minipool gerichtet. Monroe begab sich nach draußen, um sich neben den Mann zu stellen.
„Alles in Ordnung damit?“, erkundigte er sich.
„Der Filter müsste erneuert werden. Ich kümmere mich darum.“
Er zückte seine Börse und gab Cadmus ein paar Scheine. „Das ist für Ihre Bemühungen. Die Rechnung für Ihre Einkäufe schicken Sie bitte an mein Büro.“
Cadmus deutete einen Diener an. „Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Wenn etwas ist, rufen Sie an.“
Sprach’s, folgte ihm nach drinnen und verließ das Haus.
Franko stand mit hängenden Armen im Wohnzimmer herum und murrte: „Ich hab Hunger.“
„So, so.“ Monroe verschränkte die Arme vor der Brust. „Pass mal auf, mein lieber Franko: Wir sind jetzt auf uns allein gestellt. Das heißt, dass du wir uns sämtliche Pflichten teilen. Am besten fängst du gleich mit Kochen an.“
Mein lieber Franko? Wieso nannte der Typ ihn so?
„Ich bin nicht ...“, platzte Lutz heraus, biss sich auf die Zunge und dachte fieberhaft nach. Franko, das war doch der Typ aus dem Goldenen Hirsch, dessen Outfit er imitiert hatte. Den Namen hatte er an einem Abend im Club aufgeschnappt. „Ich bin nicht gut im Kochen.“
Eine Lüge, denn er war sogar ziemlich versiert darin, aber ihm fiel nichts Besseres ein, um den begonnenen Satz zu beenden. Seit er allein wohnte genoss er es, Rezepte aus aller Welt auszuprobieren. Seine Mutter hatte für sowas nichts über. Sie fand, dass Deutsche nur Deutsches kochen sollten.
„Dann wirst du’s eben lernen.“ Der Mann wies auf einen Koffer. „Da sind Klamotten für dich drin. Du kannst das Schlafzimmer da vorn haben.“ Bei diesen Worten zeigte der Typ auf eine der fünf Türen, die vom Flur abgingen.
„Danke. Ich kümmere mich dann mal ums Essen.“ Lutz‘ Magen knurrte zustimmend.
„Falls du auf die Idee kommen solltest, mir ein Messer in den Rücken zu rammen, wirst du eine Woche mit meiner Leiche leben müssen. Hier gibt es nämlich sonst niemanden und weg kommst du hier auch nicht.“ Der Typ warf ihm einen warnenden Blick zu, schnappte sich den zweiten Trolley und steuerte damit eine der anderen Türen an.
Die Idee mit dem Messer war gar nicht so übel. Das sollte er im Hinterkopf behalten.
Die Küchenzeile war mit einem gigantischen, zweitürigen Kühlschrank ausgestattet. In dem Gerät befand sich alles, was das Herz begehrte. In dem Schrank daneben: Eine Riesenauswahl an Reis, Pasta, Nährmitteln und – ganz unten – eine Batterie Weinflaschen. Verhungern mussten sie wahrlich nicht.
Während er die Tomaten, und Paprika, die er aus dem Kühlgerät genommen hatte, wusch und schnippelte, dachte er intensiv nach.
Sein Entführer verwechselte ihn also mit Franko. Was hatte der dem Typen getan, um solche Aktion zu provozieren? Beim besten Willen konnte sich Lutz dazu kein Bild machen. Wie dem auch sei: Er war nun anstelle Frankos hier.
Option eins wäre, den Typen über den Irrtum aufzuklären, doch was passierte dann? Würde der Mann ihn abmurksen, hier verscharren und den echten Franko holen? Nur ein Gedankenspiel, denn daran glaubte er nicht. Der Riese sah zwar gefährlich aus, schien aber kein Mörder zu sein. Lutz vermutete eher, dass sein Entführer ihn unverzüglich zurück nach Hamburg befördern würde. Einerseits wäre das hilfreich, um seinen Job zu behalten. Unentschuldigtes Fehlen war bei seinem Arbeitgeber nämlich nicht gern gesehen. Andererseits ... andererseits sollte er sich eh etwas Neues suchen.
Er holte eine Pfanne sowie einen Topf aus dem Unterschrank und stellte sie auf den Herd. Nachdem er Wasser für Reis aufgesetzt hatte begann er, einige Zwiebeln zu schneiden.
Option zwei war, den Mund zu halten und abzuwarten, was passierte. Diese Möglichkeit fand Lutz äußerst spannend. Die Episode an Bord der Yacht – die Blowjob-Aufforderung - hatte ihn zwar verunsichert, doch inzwischen war er der Meinung, dass sein Entführer lediglich einen Kurzschluss erlitten hatte. Bei dieser ganzen Sache ging es nicht um Sex. Das hatte der Typ ja auch gesagt. Aber worum ging es dann?
Das Wasser kochte. Er schüttete Reis hinein und goss Öl in die Pfanne.
Plötzlich fiel ihm siedend heiß ein: Der Brief an seine Mutter dürfte nicht ihr, sondern Frankos alter Dame zugestellt worden sein. Scheiße! Trotz all ihrer Fehler liebte er seine Mutter und wollte nicht, dass es ihr schlecht ging. Er zermarterte sich das Gehirn, doch es fiel ihm keine Möglichkeit ein, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen. Dafür müsste er Option eins wählen, was ihm sehr missfiel. Entführt zu werden war das aufregendste, das ihm in seinem bisherigen eintönigen Leben widerfahren war.
Gleich nach seinem Schulabschluss hatte Lutz eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei dem Arbeitgeber angefangen, bei dem er aktuell noch tätig war. Seine sexuelle Erfahrung beschränkte sich auf eine Nacht mit einem wesentlich älteren Mann. Den Typen hatte er auf einer Fortbildung getroffen und nie wiedergesehen. Seine sozialen Kontakte begrenzten sich auf Arbeitskollegen und gelegentliche Treffen mit ehemaligen Schulkameraden. Man konnte es also mit Fug und Recht als Wunder ansehen, dass er noch nicht vor Langeweile gestorben war.
Als das Gemüse briet, inspizierte er den Gewürzvorrat. Es standen etliche Sorten zur Verfügung.
„Kochst du nur für dich oder reicht es für zwei?“, ertönte plötzlich die Stimme des Typen in seinem Rücken.
Vor Schreck zuckte er zusammen und ließ die Pfefferdose, die er gerade aus dem Schrank genommen hatte, fallen. „Es reicht auch für vier.“ Er bückte sich und hob die Dose, gottlob kein Glasbehälter, auf. „Wie heißen Sie eigentlich?“
„Monroe.“
Lutz, der sofort an Marylin Monroe dachte, runzelte die Stirn. „Hintenrum oder vorne rum?“
„Vorne.“
„Ungewöhnlicher Name“, murmelte er, streute Pfeffer übers Gemüse und schnappte sich den Salzstreuer.
Als er das nächste Mal über die Schulter guckte, war Monroe verschwunden. Das gab ihm Gelegenheit, weiter über seine Lage nachzudenken. Wählte er Option zwei, sollte er sich mehr auf seine Rolle konzentrieren, sonst flog er bald auf. Beispielsweise hätte Franko kaum wie ein Reh im Scheinwerferlicht dagesessen, wenn ihm jemand mit dem Schwanz vor der Nase rumwedelte. Er schätzte den Typen nämlich sehr cool ein. Mehr als einmal hatte er Franko mit einem Gast aus dem Torbogen, hinter dem die Klos und der Darkroom lagen, kommen sehen. Entsprechend besaß der Mann tausendmal so viel Erfahrung wie er und hätte Monroe bestimmt ohne Federlesens einen Blowjob am Frühstückstisch verpasst.
Wieder drängte sich ihm die Frage auf, was Monroe veranlasst hatte, Franko zu entführen. Sowas tat man doch nicht ohne Grund. Wollte sich Monroe für irgendetwas an Frankos Eltern rächen? Dann hätte er aber Lutz nicht erlaubt, den Brief zu schreiben, wobei ... vielleicht war der gar nicht zugestellt worden.
Das brachte ihn zurück zu dem Problem, seine Mutter zu benachrichtigen. Zweifelsohne würde sie bald die Polizei informieren. Wenn ihr Sohn an einem Sonntag nicht erreichbar war, dem Tag, an dem sie mittags stets gemeinsam aßen, dann mutmaßte sie bestimmt das Schlimmste.
Bis das Essen fertig war, hatte er noch keine Lösung gefunden. Er deckte den Küchentresen mit Tellern und Besteck, stellte eine Flasche Wasser sowie zwei Gläser dazu und begab sich auf die Suche nach Monroe.
Selbiger hing auf der Terrasse herum und las in einer Zeitschrift. Bei seinem Erscheinen klappte Monroe das Magazin zu, legte es auf den Gartentisch und guckte erwartungsvoll zu ihm hoch. Das sah niedlich aus, wobei dieser Begriff nicht zu Monroe passte. Mit der schiefen Nase und den dichten Augenbrauen erinnerte der Mann eher an Räuber Hotzenplotz oder irgendeinen anderen Bösewicht.
„Happa-Happa?“, erkundigte sich Monroe.
Lutz nickte. „Ich weiß aber nicht, ob es schmeckt“, log er.
„Egal. Hunger treibt’s rein.“ Monroe erhob sich und folgte ihm nach drinnen.
Nach einigen Bissen schaute sein Gegenüber ihn mit hochgezogenen Brauen an. „Stellt da jemand sein Licht unter den Scheffel?“
Mit Unschuldsmiene erwiderte er den Blick. „Soll das heißen, es ist gut gelungen?“
„Hervorragend.“ Monroe schaufelte sich die nächste Gabel voll in den Mund und fügte kauend hinzu: „Tja, dein Pech. Nun darfst du jeden Tag kochen.“
Konnte er das als Druckmittel benutzen? Er verwarf die Idee gleich wieder, dafür hatte er einen anderen Einfall. „Darf ich Sie um einen großen Gefallen bitten?“
„Dich.“
„Hä?“
Mit der Gabel wies Monroe auf ihn. „Hör auf mich zu siezen.“
Ach so! „Darf ich dich um einen großen Gefallen bitten?“
„So lange der nicht der ist, dass ich das Kochen übernehme ...“
„Ich habe eine Patentante. Sie kommt nicht gut mit meinen Eltern klar. Ich kann sie nur heimlich besuchen, sonst gibt’s Ärger.“ Klang das schlüssig? „Sie ist schon ziemlich alt.“ Mama, verzeih mir. „Ich möchte nicht, dass sie sich aufregt. Ihr armes Herz ...“
„Lass mich raten: Du willst ihr auch einen Brief schreiben.“
„Ähm ... ja. Bitte.“
„Ich bin ja kein Unmensch. Wir regeln das nach dem Essen.“
Einerseits erleichtert, dass es so einfach gewesen war, andererseits mit schlechtem Gewissen – lügen war echt nicht sein Ding – widmete er sich seiner Portion. Als nächstes musste er unbedingt rausfinden, was Franko verbrochen hatte. Allzu schlimm konnte es nicht sein, denn sonst würde Monroe ihn anders behandeln.
Begehrlich beäugte Monroe die Reste in der Pfanne. „Kann ich das haben?“
„Klar.“ Sein Gegenüber brauchte bestimmt doppelt so viele Kalorien wie er, um die Muskelberge zu ernähren.
Während er zuguckte, wie Monroe das restliche Essen verschlang, dachte er über Franko nach. In welcher Beziehung stand dieser zu Monroe? Hatten die beiden mal was miteinander gehabt oder noch am Laufen? Außer an dem einen Abend war ihm Monroe nicht im Goldenen Hirsch aufgefallen, was dagegen sprach; zumal Franko regelmäßig den Darkroom frequentiert hatte. Ach, nein, Monroe verhielt sich nicht wie ein Liebhaber. Es musste etwas anderes sein.
Nachdem Monroe alles verputzt hatte, räumte er rasch das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, bevor er wieder am Tresen Platz nahm. Zwischenzeitlich hatte Monroe Papier und Stift bereitgelegt.
„Liebe Herta, ich bin mit einem alten Schulkameraden zum Segeln gefahren. Mach dir keine Sorgen. Ich bin bald wieder zu Hause. Dein dich liebender Patensohn“, kritzelte er auf den Zettel.
Ihm war bewusst, dass er die Sache damit wohl verschlimmbesserte. Vielleicht dachte sie, er würde unter Drogen stehen oder einen Code benutzen, weil er sich in kriminellen Schwierigkeiten befand. Zumindest wusste sie aber, dass er noch lebte.
Monroe fotografierte den Brief. „Und wo wohnt die liebe Herta?“
Er diktierte seine Adresse, dann meldete sich ein dringendes Bedürfnis. Mit dem Koffer, den Monroe als seinen deklariert hatte, ging er in das zugewiesene Schlafzimmer. Der Raum war mit einem Doppelbett, Kleiderschrank und einer Kommode ausgestattet. Genau wie im Wohnzimmer bedeckten Fliesen den Boden. Eine Tür führte ins angrenzende Bad, das auch vom Flur zugänglich war.
Die Duschkabine übte, neben der Toilette, magische Anziehungskraft auf Lutz aus. Anschließend fühlte er sich wie runderneuert. Ein Handtuch um die Hüften geschlungen kramte er Pants, Shorts und ein Tanktop aus dem Koffer. Alles schien die richtige Größe zu haben. Entweder besaß Monroe ein gutes Augenmaß oder jemand, der etwas davon verstand, hatte die Sachen besorgt. Flipflops komplettierten sein Outfit.
Einen gelinden Schock erlitt er angesichts der Labels in den Klamotten. Derart teuren Kram würde er niemals kaufen. Zugegeben: Das Material der Pants schmeichelte seiner Haut, trotzdem … Die Unterwäsche, die er normalerweise trug – Beute, die seine Mutter von Sonderaktionen in Supermärkten mitbrachte – war voll okay.
Wieder fand er Monroe auf der Terrasse. Der Riese, in eine Badeshorts gekleidet, wandte ihm den Rücken zu und war damit beschäftigt, einen Flamingo aufzupumpen. Lutz nutzte die Gelegenheit, um Monroes muskulöse Arme und durchtrainierte Beine zu bestaunen. Letztere waren von dunklem Flaum überzogen, was er ungemein sexy fand.
Monroe wäre genau sein Typ, der Held seiner feuchten Träume. Leider passte solcher Mann weder in seine Lebensplanung, noch spielte Lutz in der passenden Liga. Er brauchte einen unauffälligen Partner, der bereit war, mit ihm im Schrank zu leben, bis er es wagte, seiner Mutter reinen Wein einzuschenken. Wann das sein würde, stand in den Sternen.
Er stellte sich neben Monroe, der soeben das Schwimmtier zustöpselte. „Sag mal ... Was ist eigentlich der Grund dafür, dass du mich entführt hast?“
„Kannst du dir das nicht denken?“ Mit einem gezielten Fußtritt beförderte Monroe den Flamingo ins Schwimmbecken.
„Dann würde ich wohl kaum fragen.“
„Ich möchte dich besser kennenlernen.“
„Ähm ... wäre da eine Einladung zum Essen nicht angebrachter gewesen?“
Monroe lüpfte spöttisch eine Augenbraue. „Meinst du nicht, du hättest mir dann wieder den Stinkefinger gezeigt?“
Oh Mann! Offenbar hatte Franko das getan, als Monroe ihn angesprochen hatte. Was für ein überheblicher Sack! Ihm lag auf der Zunge, sich zu entschuldigen, doch das hätte nicht zu Franko gepasst. „Stimmt“, erwiderte er daher trocken.
„Siehst du“, brummelte Monroe. „Ich hatte also gar keine andere Wahl.“
Das war eine Frage der Betrachtung. Genauso gut hätte Monroe die Sache auf sich beruhen lassen können. „Und warum willst du mich besser kennenlernen?“
„Du gefällst mir.“ Monroe sprang dem Flamingo hinterher.
Obwohl Lutz das Mittel nicht guthieß, fand er die Sache romantisch. Ihn würde niemals jemand aus Zuneigung kidnappen. Du willst gar nicht entführt werden!, erinnerte ihn sein Verstand. Wer will das schon?, gab er im Geiste zurück. Trotzdem ist das unglaublich süß. Offenbar hatte sein Gehirn unter der Betäubung gelitten, sonst würde er solchen Scheiß nicht denken.
Texte: Sissi Kaiserlos / Kaipurgay
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann, Sissi
Korrektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2023
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