Cover

Der Spirit von Matala


Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Fotos: shutterstock 2147853441, Blumen-Peace-Zeichen: Sissi

Cover: Lars Rogmann

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/, https://www.sissikaipurgay.de/


Inhalt




Der Spirit von Matala


Emil, 47, hat sich in einen wesentlich jüngeren Mann verliebt. Sven ist erst 25 und Influencer. Dafür, dass sie zusammen sein können, hat er sich von seinem langjährigen Partner Luis getrennt. Ein Schritt, den er für überfällig hielt, doch mit der Zeit ändert sich seine Meinung. Leider zu spät.

1.

„Jetzt nicht!“, wehrte Sven ihn ab und tänzelte aus seiner Reichweite. „Wir sind in einer Minute online.“

Ja und? Einen Kuss konnten sie ja wohl trotzdem noch tauschen. Emil schob die Unterlippe vor.

„Und zieh nicht so ’ne Fresse. Wie siehst du überhaupt aus?“ Sven rückte wieder näher und begann, an seinem Hemdkragen rumzufummeln.

„Das Ding erwürgt mich.“ Es handelte sich um einen extrem hohen Kragen, der – O-Ton Sven – seinen faltigen Hals kaschierte, genau wie einst bei Karl Lagerfeld.

Emil fand nicht, dass sein Hals faltig war. Er war eben nicht mehr der Jüngste und seine Haut entsprechend weniger straff ... aber faltig? Nein, auf keinen Fall!

„Lass das so, wenigstens so lange, bis wir meinen Beitrag im Kasten haben“, verlangte Sven, zückte sein Smartphone und aktivierte die Kamera. „Es geht los. Cheeese!

Er brauchte nichts weiter, als dämlich in die Kameralinse grinsen, während Sven dummes Zeug laberte. Jeden Abend zur gleichen Zeit postete sein Lover auf Instagram ein update, auf das die Fans – laut Sven – sehnsüchtig warteten. Manchmal likten einige Leute tatsächlich sofort den neuen Beitrag. Hatten die kein eigenes Leben? Überhaupt war Emil erstaunt, wie viele Menschen sich solchen Scheiß anguckten. Eigentlich schaltete man bei Werbung doch auf einen anderen Kanal. Svens Clips waren nämlich gespickt mit Hinweisen auf Kosmetik- oder Modelabel. Die zahlten dafür und sicherten somit Svens Einkommen.

„Macht’s gut! Wir sehen uns morgen zur gleichen Zeit“, flötete Sven, beendete die Kamerafunktion und begann, auf dem Display rum zu tippen.

„Stell dir vor, du hast Dünschiss und sitzt morgen um diese Zeit auf ’m Klo. Wirst du dann von dort deinen Beitrag senden?“, erkundigte sich Emil sarkastisch.

„Sch-sch! Muss mich konzentrieren“, brummelte Sven, die Augenbrauen zusammengezogen und den Blick aufs Handy konzentriert.

Sarkasmus war eh an Sven verschwendet. Sein Lover sah gut aus, besaß aber die Intelligenz einer Scheibe Toastbrot. Warum er so lange gebraucht hatte, das zu erkennen, war ihm ein Rätsel. Na gut ... Sex hatte ihn abgelenkt. Anfangs war kaum ein halber Tag vergangen, ohne dass sie es trieben. Inzwischen hatte sich die Frequenz auf ein halbes Mal pro Tag reduziert.

Manchmal dachte er mit Wehmut an Luis, den er für Sven abserviert hatte. Ihre Beziehung war zwar zur Gewohnheit verkommen, aber passierte das nicht bei allen Paaren? Auch mit Sven würde es irgendwann so sein ... oder war es schon soweit? Wenn man ihr abflauendes Sexleben betrachtete, war das wohl der Fall.

„Können wir endlich essen? Hab Kohldampf“, erkundigte er sich honigsüß.

„Mhm, mhm.“ Sven tippte noch einmal aufs Display und schaute auf. „Hab ich dir heute schon gesagt, dass du fantastisch aussiehst?“

Gab es eine versteckte Kamera? Verstohlen blickte sich Emil danach um. Vergeblich. „Was ist jetzt mit essen?“

Sven hakte sich bei ihm ein und steuerte auf die Tür zu, durch die sie auf den Balkon gekommen waren. Der heutige Beitrag für den Blog hatte vor dem Hintergrund von Hamburgs Skyline stattgefunden. Dafür hatten sie im Restaurant des Hotel Hafen Hamburg einen Tisch reserviert. Natürlich zahlte Emil, denn Sven war chronisch pleite. Eigentlich würden die Einkünfte völlig ausreichen, um ein sorgenloses Leben zu führen, aber wenn man unter Shopping-Sucht litt, funktionierte das nicht.

Während sie speisten, führte Emil mehr oder weniger Selbstgespräche. Sven war zumeist mit dem Smartphone beschäftigt und berichtete ein ums andere Mal, wie viele Leute den neuen Post bereits gesehen hatten. Er nahm sich vor, demnächst mal bei Luis anzuklingeln. Vielleicht ließ sich ihre Beziehung ja reparieren. Ohne wollte er nicht dastehen. Lieber ertrug er weiter Svens Marotten.

Im Anschluss ans Essen ging es in den Blauen Satellit, einen Club, in dem Svens Klientel herumhing. Weder die Musik noch die Leute entsprachen Emils Geschmack. Er kam sich vor wie ein Rentner im Kindergarten.

Gegen halb eins verdrückte er sich und ließ sich von einem Taxi nach Hause chauffieren. Derzeit wohnte er in einem möblierten Appartement am Rotherbaum. Die meisten Einrichtungsgegenstände hatte er Luis überlassen, den Rest eingelagert. Er wollte sich in Ruhe einen neuen Wohnsitz suchen und war bis vor Kurzem überzeugt gewesen, das zusammen mit Sven zu tun. Mittlerweile konnte er sich das nicht mehr vorstellen. Es war nicht nur der Altersunterschied. Zwischen ihnen klaffte in nahezu jedem Bereich eine Riesenlücke.

Emil mochte es zwar auch edel, aber nicht überkandidelt, so wie das Scheißhemd, dessen hohen Kragen er bereits im Taxi geöffnet hatte; oder das Jackett, bestehend aus silberdurchwirktem Stoff. Darin fühlte er sich wie ein mit Lametta behängter Weihnachtsbaum. Ganz zu schweigen von den Lackschuhen. Warum hatte er sich zu dem beschissenen Outfit überreden lassen?

Kaum in seiner Wohnung, streifte er Jackett und Hemd ab, schlüpfte aus den Schuhen und knöpfte die Anzughose auf dem Weg ins Schlafzimmer auf. In Jogginghose und T-Shirt gekleidet schenkte er sich einen Fingerbreit Whisky ein, den er vor der Balkontür stehend schlürfte.

Es war wie verhext. Ungefähr ab dem Zeitpunkt, an dem er mit Luis die letzten Dinge geregelt hatte, war es losgegangen: Er hatte angefangen, Sven mit anderen Augen zu sehen. Vielleicht, weil Luis nach langer Zeit zu treffen zu einem Vergleich animierte. Vielleicht, weil seine rosarote Brille verpufft war.

Jedenfalls war ihm einiges klargeworden, überwiegend unschöne Erkenntnisse. An dem Scheitern ihrer Beziehung trug er ein großes Maß Mitschuld, mal abgesehen davon, dass die Trennung von ihm ausgegangen war.

Als er wieder ins Büro durfte und Luis im Homeoffice blieb, waren etliche seiner Aufgaben weggefallen. Sang- und klanglos hatte Luis sie übernommen, nach dem Motto: Ich bin ja eh Zuhause, dann kann ich das schnell erledigen. Anstatt sich darüber zu freuen, mal Blumen mitzubringen, sich zu bedanken, hatte Emil das als selbstverständlich hingenommen.

Und nicht nur das. Zu allem Überfluss begann er, Luis als Hausfrau einzustufen. Er machte herablassende Bemerkungen und behauptete, sie wären nur ein Scherz, wenn sich Luis darüber beschwerte.

Das waren die beiden schlimmsten Verfehlungen. Hinzukamen etliche kleine Fehltritte. Im Großen und Ganzen hatte er sich wie ein Arschloch verhalten. War Einsicht nicht der erste Weg zur Besserung? Er würde Luis geloben, fortan mehr aufzupassen und sich richtig viel Mühe geben. Na ja, sofern Luis eine Chance anbot. Das wollte er gleich am nächsten Tag rausfinden.


Am folgenden Morgen fand er lediglich raus, dass Luis nicht zu erreichen war. Weder daheim, noch auf der Festnetz- oder Mobilnummer. Schließlich rief er, weil er keinen anderen Rat wusste, bei Helge und Marvin, Luis‘ besten Freunden, an.

„Hi, hier ist Emil. Wisst ihr, wo Luis steckt?“, fiel er mit der Tür ins Haus.

„Ähm ... warte mal“, antwortete Helge, der das Gespräch angenommen hatte.

Er hörte, wie die beiden tuschelten, leider ohne etwas zu verstehen.

„Luis wird eine ganze Weile weg sein“, meldete sich schließlich Marvin.

„Wie eine ganze Weile? Ist er in Urlaub?“

„Gewissermaßen.“

„Und wo?“

„Komm schon! Ich muss mit ihm reden.“

Wieder vernahm er Getuschel im Hintergrund, dann erwiderte Marvin: „Luis ist auf Kreta.“

„Kreta?“

„Er versucht, sich dort ein Leben aufzubauen.“

In Griechenland? Normalerweise wanderte man doch von da nach Deutschland aus, nicht umgekehrt. „Wo denn genau?“

„Ich glaube nicht, dass er einverstanden ist, wenn ich dir die Anschrift gebe.“

„Fragst du ihn bitte? Ich muss ihn echt sprechen.“ Bestimmt war diese Griechenland-Nummer eine Kurzschlusshandlung.

„Ich sage ihm, dass du angerufen hast.“

„Wie kommt er ausgerechnet auf Griechenland?“

„Wir haben da zusammen Urlaub gemacht.“

Ach ja … Marvin und Helge flogen jedes Jahr nach Kreta, immer in den gleichen Ort und das gleiche Hotel. Wie war noch der Name? „Hilf mir mal auf die Sprünge: Der Ort war irgendein Frauenname. Alessandra? Monika?“

Marvin lachte. „Fast richtig.“

„Nun sag schon.“

„Sorry, aber das fällt unter Datenschutz. Mach’s gut.“ Marvin legte auf.

„Wichser!“, murmelte Emil, tippte aufs rote Symbol und starrte das Handydisplay an. Wie war noch der verfickte Name? Irgendwas hinten mit A. Anna … Xenia … Marta … Marina! Genau! Das war es!

Er konsultierte sein Smartphone. Agia Marina war ziemlich groß und bot eine Fülle an Hotels. Er klapperte sie nacheinander ab, bis bei einem Namen etwas klingelte. Ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Er wollte sowieso mal wieder Urlaub machen. Da bot es sich doch an, eine Suite irgendwo in Agia Marina zu buchen. Bei der Gelegenheit konnte er auch gleich Luis kontaktieren. Dazu, allein zu verreisen, hatte er allerdings keine Lust.

Sven war sofort Feuer und Flamme, allerdings nicht für das von ihm anvisierte Ziel. „Wir müssen nach Matala. Da steppt der Bär, nicht in diesem Magarina.“

„Wir fahren erst dahin“, bestimmte Emil. „Danach sehen wir weiter.“

Sven maulte noch ein bisschen, doch die Aussicht, kostenfrei zu urlauben, schien zu verlockend, als dass sein Lover widerstehen konnte.

Als nächstes reservierte er eine Luxus-Suite in einem Gebäudekomplex, unweit des Hotels Petridis – derzeit Luis Aufenthaltsort, davon war er überzeugt. Flüge waren schnell gebucht. Nun brauchte er nur noch seinen Chef davon zu überzeugen, ihm spontan zwei Woche Urlaub zu geben.

2.

Zwei Wochen später saß er mit Sven im Flugzeug in Richtung Kreta. Es wunderte ihn nicht, dass er für seinen Begleiter Übergepäck bezahlen musste. Sven brauchte ja ausreichend Garderobe, um sich jeden Tag den Followern in einem anderen Dress zu präsentieren. Vielleicht hätte er sich darüber aufgeregt, wenn er sich nicht gedanklich bereits getrennt hätte.

Sven blätterte in einer Broschüre mit griechischem Grundwortschatz. Einige Begriffe, wie Kalimera für Guten Morgen und Kalinychta für Gute Nacht, waren hilfreich, um höflichen Umgang zu pflegen, aber das Fräulein? Wozu brauchte man das? Emil verdrehte die Augen und schaute wieder aus dem Fenster.

„Komische Sprache“, brummelte Sven. „Wieso können die keine deutschen Buchstaben verwenden?“

„Du meinst lateinische?“

„Nein. Ich meine die, die wir benutzen.“

Er war versucht, seine Stirn gegen das Bullauge zu schlagen. „Wir benutzen das lateinische Alphabet.“

„Echt?“, staunte Sven. „Warum das denn?“

Das konnte Emil nicht erklären, ohne Google zu befragen. „Vermutlich, weil die Römer halb Europa besetzt haben.“

„Das ist doch gerade ein Grund, deren Buchstaben nicht zu verwenden.“

Da war was dran.

„Ich würde mir sowas nicht diktieren lassen“, verkündete Sven im Brustton der Überzeugung. „Haben die Römer Griechenland nicht besetzt?“

„Keine Ahnung.“

„Was? Das weißt du nicht, obwohl du immer alles besser weißt?“ Svens‘ Stimme troff vor Spott.

Stimmte das? Mit Sicherheit konnte Emil das nicht von sich weisen.

„Jedenfalls kann man die Scheiß-Buchstaben kaum lesen“, grummelte Sven.

Er schloss die Augen und versuchte, ein bisschen zu schlafen.


Nach drei Stunden und vierzig Minuten landeten sie in Chania. Entgegen dem wechselhaften Frühlingswetter, bei dem sie gestartet waren, herrschte hier schon Hochsommer. Grell schien die Sonne durch die Scheiben der Halle, in der sie auf ihr Gepäck warteten.

Ein Taxi brachte sie zu ihrem Feriendomizil. Die Anlage sah genauso luxuriös aus wie auf den Fotos im Internet. Sven strahlte, als sie zur Lobby gingen, von einem Ohr zum anderen und das trotz der zwei Riesenkoffer, die sein Lover hinter sich herschleppte.

Während Emil die Formalitäten erledigte, filmte Sven die Umgebung und erzählte dazu, wo sie sich gerade befanden. Mit zwei Schlüssel ausgestattet, traten sie den Weg zu ihrem Appartement an.

Den Mittelpunkt des Komplexes bildete eine riesige Poollandschaft. Die Becken waren gesäumt von gepolsterten Liegen und weißen Sonnenschirmen. Es gab auch überdachte Ruhemöbel, die wie Himmelbetten aussahen. Livriertes Personal lief umher, um den Gästen Drinks und Snacks zu servieren.

„Geil“, meinte Sven. „Das ist echt obergeil.“

Hoffentlich erholte sich sein Lover schnell von dem Geil-Anfall. Generell hatte Emil nichts gegen das Wort, aber im Übermaß konnte er es nicht ertragen.

Im Appartement brach Sven erneut in Geil-Rufe aus. Die luxuriöse Ausstattung rechtfertigte das. Der Hammer war das eigene Schwimmbad vor der Terrasse. Es handelte sich zwar nur um einen Minipool, aber ganz für sie allein.

„Zwei Schlafzimmer?“, wunderte sich Sven nach dem Rundgang.

„Du brauchst so viel Platz für deine Klamotten, da hab ich lieber geklotzt, anstatt zu kleckern.“

„Geil!“, freute sich Sven. „Welches willst du haben?“

„Das rechte.“ Ihm war’s eigentlich egal, aber wenn er schon die Wahl hatte ...

Flugs bugsierte Sven die beiden Riesentrolleys in das linke Zimmer. Er hatte gar nicht gewusst, dass es die Dinger auch in Schrankgröße gab.

Nachdem er seine Sachen ausgepackt hatte, tauschte er Jeans und Hemd gegen Shorts und ein Tanktop. Da Sven noch beschäftigt war, begab er sich allein auf die Suche nach etwas Essbarem. Weit brauchte er nicht laufen. Eine Snackbar befand sich am südlichen Ende der Poollandschaft.

Mit Gyros á la Cretan Dream ließ er sich auf einer der Liegen nieder. Der Imbiss mutete eher wie ein Döner an, mit dem Teigfladen, in den die Fleischschnipsel gewickelt waren. Kulinarisch packte er häufig Griechenland und Türkei in eine Schublade. Kulturell war das natürlich ein No Go.

Er hatte seinen Snack gerade vernichtet, als Sven herbeispazierte. Wie nicht anders zu erwarten, trug sein Lover auffällige Klamotten. Rosa Badeshorts, dazu ein Tanktop mit Glitzeraufdruck und Flipflops, auf deren Zehensteg eine rosa Plastikmuschel thronte.

„Oh! Bekomme ich nichts?“, maulte Sven angesichts des Tellers, auf dem noch einige Krümel lagen

„Armer Schatz.“ Emil erhob sich und bedeutete seinem Lover, ihm zur Snackbar zu folgen.

Ausgerüstet mit einem Drink saß er kurz darauf wieder am Pool. Neben ihm verspachtelte Sven unter genüsslichen Seufzern einen Hot Dog á la Cretan Dream. Der einzige Unterschied zu Emils Imbiss: Anstelle des Teigfladen, lag das Fleisch in einem Brötchen.

„Machen wir heute noch was?“, erkundigte sich Sven.

„Ein Spaziergang?“, schlug er vor.

„Och nö. Dann bleibe ich hier.“

Das war ihm nur recht, war doch Sinn und Zweck der Sache, Luis aufzuspüren.

Wenig später brach er auf. Eigentlich keine gute Idee, in der Hitze des frühen Nachmittags los zu stiefeln, aber es ließ ihm keine Ruhe.

Er überquerte die Straße, die an der Hotelanlage vorbeiführte. Der dahinter liegende Strand war überwiegend steinig. Als er eine Weile am Meeressaum entlanggewandert war, wurde der Untergrund feinkörniger. Liegen mit Sonnenschirmen markierten den Beginn der Badezone. Vor jeder Unterkunft stand davon eine Batterie, vorwiegend in weiß.

Schließlich erreichte er das Hotel, in dem er Luis vermutete. Die Sonnenliegen, die an diesem Strandabschnitt standen, waren stark frequentiert. Es dauerte daher einen Moment, bis er Luis unter den Leuten ausmachte. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Wie hatte er diesen attraktiven Mann bloß gehen lassen können? Nun, diesen Fehler würde er nun berichtigen.

Er näherte sich Luis. Plötzlich, wie aus dem nichts, tauchte ein südländisch aussehender Typ auf, beugte sich über seinen Ex und küsste ihn mitten auf den Mund. Überrascht blieb Emil stehen. Er hoffte, dass es sich um einen sexuellen Übergriff handelte, doch Luis‘ Reaktion ließ die Seifenblase zerplatzen: Sein Ex schlang dem Typ einen Arm um den Nacken und erwiderte den Kuss.

Vor Enttäuschung wurde ihm flau im Magen. Bevor die beiden ihn entdecken konnten, verzog er sich in den Blickschutz der Büsche, die den Strand vom Hotelgrundstück abgrenzten.

Hand in Hand verschwanden die zwei aus seinem Sichtfeld. Die verliebten Blicke, die sich Luis und der Typ dabei zuwarfen, sprachen Bände.

Warum hatten Marvin und Helge nichts davon erzählt? Weil sie dir noch nicht mal Luis‘ Aufenthaltsort verraten haben, gab er sich selbst die Antwort. Nun, wo sich der Grund seiner Reise als Luftschloss entpuppt hatte, fühlte er sich verloren.

Langsam wanderte er den Weg zurück, den er gekommen war. Mit jedem Schritt wich die Niedergeschlagenheit, die ihn bei dem Anblick überfallen hatte, bis er zu der Einsicht kam, dass es mit Luis und ihm sowieso nichts mehr hätte werden können. Zum einen, weil zu viel zwischen ihnen gestanden hätte, zum anderen, weil ihre Gefühle abgekühlt waren. Eigentlich war Sven bloß ein Vorwand gewesen, um – ohne schmutzige Wäsche zu waschen – aus der Beziehung auszubrechen.

Warum hatte er so lange für diese Erkenntnis gebraucht? Und wieso hatte er dafür nach Kreta reisen müssen? Auf beide Fragen wusste er keine Antwort.

Bei seiner Rückkehr erwartete ihn ein schlecht gelaunter Sven. „Hier laufen nur alte Spießer rum“, verkündete sein Lover, der auf der Terrasse ihres Appartements saß. „Können wir woanders hin?“

Emil ließ sich in dem Korbstuhl gegenüber Sven nieder. Ihn hielt hier auch nichts mehr. „Lass uns morgen ein Auto mieten und auskundschaften, wo es uns besser gefallen könnte.“

Augenblicklich bogen sich Svens hängende Mundwinkel hoch. „Das weiß ich so schon. Buch irgendwas in Matala.“

Fragend zog er die Augenbrauen hoch.

„Da ist der Spirit der Hippies. Garantiert hängen da haufenweise coole Leute rum.“

Er konsultierte sein Smartphone. Die Hippie-Ära war schon lange Geschichte. Bereits vor 1970 waren sie aus dem Ort vertrieben worden. Ob sich der Flower-Power-Geist über fünfzig Jahre gehalten hatte, wagte er zu bezweifeln.

„Übrigens haben wir lange nicht gevögelt.“ Sven rückte ihm auf die Pelle und verstrickte ihn in einen Kuss.

Bezüglich Sex war Emil einfach gestrickt. Stand welcher in Aussicht, bekam er einen Ständer; jedenfalls, so lange der potentielle Bettpartner einigermaßen ansehnlich war. Entsprechend ließ er sich gern nach drinnen in Svens Schlafzimmer entführen.

Anschließend hielten sie zusammen nach einem geeigneten Quartier in Matala Ausschau. Es gab überwiegend Zwei-Sterne-Hotels. Das schien Sven nichts auszumachen. Ihre Wahl fiel auf eine Unterkunft mit Swimmingpool, in der zwei Doppelzimmer frei waren. Glaubte man den Fotos, brauchte Sven allein für das Gepäck ein eigenes Zimmer.

Es tat Emil ein leid, den vorausbezahlten Betrag für das aktuelle Appartement zu verlieren. Svens Vorschlag, zu behaupten, die Zimmer wären Kakerlaken verseucht, wies er jedoch zurück. Schließlich war er kein Arschloch, auch wenn Luis dazu bestimmt eine andere Meinung hatte.

Frisch geduscht begaben sie sich ins Restaurant. Am Pool war es ihm gar nicht so aufgefallen, dass die Gäste überwiegend sein Jahrgang oder älter waren. Sven kam sich bestimmt vor wie in einer Seniorenresidenz.

Das Essen war hervorragend, der Service ebenfalls. Beschwingt von dem Wein, den sie zu ihrem Mahl genossen hatten, machte es Emil nichts aus, für das tägliche Update mit Sven vor der Poollandschaft zu posieren.

„Wir befinden uns hier in einem der luxuriösesten Clubs auf der Nordseite von Kreta“, erzählte Sven. „Es wimmelt nur so vor heißen Bräutigamen und Bräuten. Trotzdem werden wir morgen die Location wechseln. Wie heißt es doch so schön? Wer rastet, der rostet.“

Abgesehen davon, dass sein Lover log, fand Emil den Beitrag ziemlich gut. Wer hätte gedacht, dass Sven die Mehrzahl von Bräutigam wusste? Er hätte dazu Google befragen müssen.

Inzwischen war die Sonne untergegangen. Unzählige Lichter illuminierten die Pools und strategische Punkte. Pianogeklimper wehte von der Bar herüber. Die Atmosphäre war so romantisch, dass ihm ein sehnsüchtiger Seufzer entwich. Mit Luis hätte er das Ambiente richtig genießen können. Mach dir nichts vor. Deine Träume haben nichts mit der Realität zu tun, ermahnte er sich im Geiste.

Sven, der auf dem Handy rumtippte, fragte: „Plantschen wir eine Runde?“

„Hier oder in unserem Privatpool?“

„Natürlich in unserem Pool. Vielleicht will ich dir an die Wäsche gehen.“ Sven ließ das Gerät sinken und grinste dreckig.

Emils Schwanz, das nimmersatte Ding, bekundete Interesse.

3.

An der Rezeption war man untröstlich, dass sie schon wieder abreisen wollten. Die Angestellte schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. Emil erwog, doch die Kakerlaken-Lüge zu benutzen, verwarf die Idee aber sofort wieder.

Bis zu der Autovermietung, bei der er am Vortag einen Wagen bestellt hatte, waren es einige Meter zu gehen. Sven, anfangs noch guter Dinge, begann bald zu ächzen.

Schließlich blieb sein Lover stehen. „Ich warte hier.“

„Dann kann ich meinen Koffer ja bei dir lassen.“ Er stellte seinen Trolley neben Svens ab. „Bis gleich.“

Die restliche Strecke dauerte noch ungefähr zehn Minuten. Ohne Gepäck war es kein Problem; mit wäre er in Schweiß ausgebrochen.

Es dauerte eine Weile, die Formalitäten zu erledigen. Als er mit einem weißen Kleinwagen am Bordstein hielt, um Sven einzusammeln, fächelte sich dieser mit einer Broschüre Luft zu.

Zwei Trolleys mussten sie auf die Rückbank quetschen, da nur einer in den Kofferraum passte. Im Anschluss nahm Sven auf dem Beifahrersitz Platz. Emil klemmte sich wieder hinters Lenkrad.

„Du musst mir den Weg weisen. Das Navi funktioniert nicht.“ Worauf ihn der Angestellte der Autovermietung erst im letzten Moment hingewiesen hatte.

„Was für eine Schrottkarre.“ Sven zückte das allgegenwärtige Smartphone. „Zum Glück bin ich der beste Navigator der Welt.“

Dank der wirklich hervorragenden Anweisungen erreichten sie ihr Ziel binnen drei Stunden. Auch ihre Unterkunft fanden sie schnell. Parken war kein Problem. Es standen nur wenige Wagen vor dem Hotel.

Wie die Fotos bereits vermuten ließen, waren die Zimmer klein. In dem, das sich Sven aussuchte, passten die Trolleys knapp durch die Tür, dann blieben sie zwischen Bett und Schrank stecken. Gemeinsam hievten sie die Ungetüme auf die Bettstatt, bevor sich Emil in das andere Hotelzimmer verzog.

Auf der Tour hatten sie einen Zwischenstopp in einem winzigen Ort, dessen Namen er sich nicht merken konnte, eingelegt. Von der Terrasse der Bäckerei hatte man Ausblick auf das nächste Tal. Die Fläche sah aus, als ob sie mit weißen Pflastern gespickt wäre. Erst als sie das Areal wenig später durchquerten, erkannte er die Pflaster als Plastiktreibhäuser. Eine ziemliche Verschandelung der Landschaft.

Auf der anderen Seite passte es wieder, denn es standen auch etliche halbfertige Gebäude, die wie Betongerippe wirkten, herum. Hinzukam der Müll, von dem man viel herumliegen sah.

Nachdem er sich häuslich eingerichtet hatte, legte er sich aufs Bett. Die Kurverei mit dem Leihwagen war ganz schön anstrengend gewesen. Viele der Straßen waren sehr schmal und einseitig von einer Leitplanke abgegrenzt, hinter der sich Abgründe auftaten. Insbesondere der Abstecher nach Agia Galini – das liegt doch praktisch auf dem Weg, lauteten Svens Worte – hatte ihm einiges abverlangt. Winzige Gassen zwischen Häuserfronten. Unversehens auftauchende Mopedfahrer. Touristen in Leihwagen, wohin man auch sah. Er war froh gewesen, als sie den Ort ohne Zwischenhalt wieder verlassen hatten.

Er war kurz davor, die Augen zu schließen, da platzte Sven ins Zimmer. „Kommst du mit, die Höhlen angucken?“

Sein Begleiter trug kanariengelbe, knielange Shorts, dazu ein weißes T-Shirt, auf dem eine riesige Sonnenblume in Regenbogenfarben prangte. Die gleiche Blume befand sich auf den ebenfalls gelben Flipflops.

„Ach, deshalb hast du deine Wanderstiefel angezogen“, spottete Emil, schwang seine Beine über die Bettkante und gähnte. „Vorher brauch ich einen Kaffee.“

An der Bar neben dem Pool ließen sie sich im Schatten nieder. Auch hier war das Publikum vorwiegend älter. Ein paar Kinder rannten kreischend über den Kunstrasen, der rund um das Becken ausgelegt war. Erst jetzt fiel Emil auf, im Cretan Dream keine Zwerge gesehen zu haben.

Während er genüsslich seinen Kaffee schlürfte, beobachtete er das Treiben. Ein älteres Ehepaar rieb sich gegenseitig den Rücken mit Sonnencreme ein. Als eines der Kinder in deren unmittelbaren Nähe in den Pool sprang, guckten die beiden sichtlich empört. Gegenüber lag ein junges Paar und hielt Händchen. Die zwei hatten nur Augen füreinander.

„Ist das nicht süß?“, flüsterte Sven, der ebenfalls die beiden anschaute.

„Mhm.“

„Manchmal wünschte ich, ich wäre hetero. Dann wäre vieles einfacher.“ Sven seufzte.

„Die haben’s auch nicht leicht.“

„Aber die Auswahl ist größer.“

Und es guckte einen niemand schief an, wenn man sich in der Öffentlichkeit küsste. Ach, es gab einige Vorteile, doch es war müßig, darüber nachzudenken.

Sven winkte ab, als er ihren Kaffee bezahlen wollte. „Du bist eingeladen.“

Vom Hotel konnte man über einen großen Parkplatz oder durch das Dorf zum Strand gehen. Sie entschieden sich für letzteres.

Shop reihte sich an Shop. Die meisten boten das Zeug an, das man überall auf der Welt kaufen konnte: Sonnenbrillen, billiger Nippes und Klamotten. Dazwischen: Restaurants, Hotels, Pensionen. Emil kam sich vor wie in einem Touristen-Disneyland. Dazu passend flanierten Leute in typischen Ferienoutfits durch die Straßen. Beispielsweise der dickbäuchige Typ mit X-Beinen in zu engem Shirt, das über der Wampe spannte und kurzen Hosen.

Sven fand eine Sonnenbrille mit gelbem Rahmen, passend zu Shorts und Flipflops. Dem Versuch, ihm auch ein Modell aufzuschwatzen, widerstand Emil; desgleichen bei einem T-Shirt mit der Aufschrift: Ich bin 40, bitte helfen Sie mir über die Straße.

Am Strand erwartete sie der typische Anblick: Gegrillte Haut. Manche Urlauber erinnerten von der Farbe her an Hummer. Je näher sie den Felsenhöhlen kamen, desto mehr alternative Gestalten befanden sich unter den Normalos; Leute mit Blumen im Haar, Bartträger mit Stirnband und Batikklamotten.

„Siehst du ...“ Sven stupste ihn an. „Ich sagte doch: Hier ist der Spirit der Hippies.“

Ein Zaun verstellte ihnen den Weg. Sie wanderten daran entlang, bis zu einer Holzbude, wo sie einen Obolus entrichteten, um in das Areal zu dürfen.

Sven schaffte es erstaunlich gut, mit Flipflops den Felsen zu erklimmen. Dennoch war Emil dankbar, in Sneakers unterwegs zu sein. Ein verstauchter Knöchel könnte den ganzen Urlaub ruinieren.

Die Höhlen entpuppten sich als teilweise sehr geräumige Behausungen. Es gab sogar steinerne Betten. Kein Wunder, dass die Hippies sie damals als geeignete Bleibe auserkoren hatten. Was er vermisste, war ein Lokus. Hatten die Bewohner den Hang runtergeschissen? Oder ein Loch am Strand gebuddelt?

Nach drei Höhlen hatte Sven genug. Emil würde gern weitere anschauen, gab aber nach. Er konnte ja zu einem anderen Zeitpunkt allein wieder herkommen.

Sie gingen über den Campingplatz zurück. Einigen Zelten sah man an, dass darin Anhänger der Hippie-Kultur hausten. Die Zeltplanen waren mit Peace-Zeichen, Regenbogen oder Sonnenblumen bemalt und an den Spannleinen hingen allerlei Gegenstände, wie Traumfänger und anderer Nippes.

Im Hotel folgte Sven ihm in sein Zimmer. Sie strapazierten die Bettfedern, bevor sie im hoteleigenen Restaurant zu Abend aßen. Allmählich spürte Emil den anstrengenden Tag, weshalb er anschließend nur noch zu einem Drink an der Bar bereit war. Sven schmollte zwar, doch davon ließ er sich nicht beeindrucken.

„Meine Follower werden dich vermissen“, brummelte sein Lover. „Sie werden fragen, ob bei uns alles in Ordnung ist.“

„Dann sag ihnen, dass man in meinem Alter früh ins Bett muss.“

Svens Mundwinkel bogen sich hoch. „Gute Idee.“

Na also! Im Grunde war Sven einfach zufriedenzustellen.

Nach dem Cocktail trennten sich ihre Wege. Sven wollte den täglichen Beitrag mit dem VW-Käfer, der vor dem Hotel parkte, im Hintergrund posten. Das Fahrzeug war über und über mit bunter Farbe und Symbolen der Hippie-Bewegung bemalt. Emil begab sich in sein Zimmer.

Das erste Mal seit ihrem Aufbruch von Agia Marina dachte er an Luis. Sein Ex wäre erstaunt, ihn in einem Ort wie Matala, in einem Zwei-Sterne-Hotel zu sehen. Er war ja selbst überrascht. Eigentlich bevorzugte er Shoppingparadiese wie Sylt und luxuriöse Unterkünfte á la Cretan Dream. Oft hatte Luis gespottet, er wäre mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden und könnte das nicht ablegen. Tja, anscheinend konnte er es doch. Er fühlte sich nämlich ziemlich wohl in seiner Unterkunft.

So wohl, dass er fast auf seinem Stuhl auf dem Balkon einpennte. Kaum, dass er sich ins Bett gelegt hatte, schlief er ein.


Am nächsten Morgen, beim Frühstücksbuffet, präsentierte Sven ihm stolz das Posting vom vergangenen Abend.

„Wir befinden uns jetzt in Matala, dem Ort, an dem der Spirit der Hippies nach wie vor in der Luft hängt. Ein Beweis ist der Käfer in meinem Rücken. Er ist von einem der ersten Höhlenbewohner. Ha-ha! Ich meine natürlich nicht die urzeitlichen Bewohner, sondern die Blumenkinder.“ An dieser Stelle zwinkerte Sven. „Man spürt an jeder Ecke den Geist der Freigeister. Es wimmelt vor Läden mit spirituellem Kram. Morgen werde ich versuchen, Kontakt mit einigen der Hippies, die hier campen, aufzunehmen.“

Läden mit spirituellem Kram? Die waren Emil gar nicht aufgefallen. Oder galten Plastik-Peace-Zeichen an Lederbändern und Traumfänger made in China als spirituell? Was den Käfer betraf: Er bezweifelte, dass das Fahrzeug von einem der Hippies aus den Siebzigern stammte. Von denen hätte doch bestimmt keiner den fahrbaren Untersatz hiergelassen. Im Ganzen fand er Svens Beitrag aber recht gelungen. „Das hast du fein gemacht.“

„Nicht wahr?“ Sven strahlte.

„Was hältst du davon, den roten Strand anzugucken?“

„Roter Strand?“, echote Sven stirnrunzelnd.

„Dafür müssten wir über den Berg da drüben ...“ Emil wedelte mit der Hand in die ungefähre Richtung. „... klettern.“

„Klettern? Nein, danke! Ich werde heute am Strand faulenzen.“

Der Gedanke gefiel ihm.

Ausgerüstet mit allem Nötigen, machten sie sich einen Neunundsechziger später auf den Weg. Ihre Sex-Frequenz hatte sich eindeutig erhöht. Wenn sie so weitermachten, erreichten sie bald wieder das Niveau der Anfangszeit.

Diesmal beäugte Emil die Läden, an denen sie vorbeikamen, genauer. Es blieb bei seinem ersten Eindruck: Es gab nichts, das man nicht überall auf der Welt ebenfalls kaufen konnte.

Am Strand suchten sie sich einen Platz möglichst fernab der Massen aus. Ein Schirm mit zwei Liegen kostete acht Euro. Er zahlte das gern dafür, den Luxus von Schatten und einer weichen Unterlage zu genießen.

Er machte es sich mit seinem Tablet gemütlich. Normalerweise las er richtige Bücher aus Papier, aber auf Reisen schleppte er sowas nicht mit.

Nach einer Weile lenkte eine Bewegung seine Aufmerksamkeit von der Lektüre auf Sven. Der winkte jemandem zu. Emil guckte über die Schulter. Fünf buntgekleidete Gestalten ließen sich unweit ihres Lagerplatzes auf dem Sand nieder. Sven schien gestern Abend noch Kontakte geknüpft zu haben.

„Du musst nicht bei mir rumhängen“, wandte er sich an seinen Lover. „Geh ruhig zu deinen Freunden.“

Flugs hüpfte Sven von der Liege und ging rüber zu der Gruppe. Amüsiert schmunzelnd, weil es schien, als ob sein Begleiter nur auf die Erlaubnis gewartete hatte, widmete er sich wieder seinem Lesestoff.

Irgendwann, als ihm zu warm wurde, legte er das Tablet beiseite, zog sein T-Shirt aus und schaute sich nach Sven um. Der hockte bei den drei Typen und zwei Mädels, die ein Tuch ausgebreitet hatten und darauf Schmuck anboten. Neugierig näherte er sich der Gruppe, um die Auslage in Augenschein zu nehmen. Es handelte sich um selbstgemachte Elaborate aus Lederbändern, Steinen und undefinierbarem Material.

„Die Anhänger sind aus Avocadokernen geschnitzt“, erklärte einer der Typen, ein hübscher Bursche mit langen blonden Locken.

„Und was soll sowas kosten?“

„Kommt drauf an. Was würdest du denn bezahlen wollen?“

Emil zuckte mit den Achseln. „Ich hab keine Ahnung, was sowas wert ist.“

„Ich hab da viele Stunden dran geschnitzt“, mischte sich eines der Mädels ein. Sie trug ihre Haare ebenfalls lang, ein Stirnband und ein mit Sonnenblumen bedrucktes Minikleid.

„Dann müsste die Kette über hundert Euro kosten“, konstatierte Emil.

„Ne-ne.“ Sie winkte ab. „Das ist sie nicht wert. Gib mir zehn Euro, dann gehört sie dir.“

Kurz darauf war er im Besitz eines Lederbandes, an dem ein geschnitztes Peace-Zeichen hing. „Ich wollte kurz ins Wasser. Behaltet ihr meine Sachen im Auge?“

„Klaro!“ Das Mädel nickte.

Er schenkte ihr ein Lächeln und legte auf dem Weg zum Wasser die Kette auf seine Liege.

Seinem Wunsch nach Abkühlung wurde das Mittelmeer mehr als gerecht. Die gefühlte Temperatur betrug minus zehn Grad. Emil schaffte es bis zu den Knien, in das Eiswasser zu waten, dann schaufelte er sich etwas davon über Arme und Brust, bevor er umkehrte. Er war schließlich kein Masochist. Seine Eier würden sich aus Protest in seinen Körper verkriechen und vielleicht nie wieder rauskommen.

An seinem Lagerplatz leerte er die mitgebrachte Wasserflasche zur Hälfte. Sein Magen knurrte. Er checkte die Uhrzeit. Mittag war vorbei, weshalb sein Hungeranfall durchaus begründet war.

Erneut begab er sich zu der Gruppe, bei der Sven weiterhin heurmlungerte. „Habt ihr einen Tipp, wo man hier was Leckeres zu Essen bekommt?“

„Die Gyros sind bei den zwei Brüdern am besten, aber auch am teuersten“, antwortete der Typ mit Vollbart und Regenbogenstirnband, der neben Sven saß.

„Gibt’s die da auch zum Mitnehmen?“

Der Typ nickte.

„Ich gebe eine Runde für alle aus“, verkündete Sven überraschend, weil bisher wenig spendabel, und erhob sich. „Es muss aber einer tragen helfen.“

Letztendlich begleitete sie Vollbart, der Markus hieß und – wie der Rest der Gruppe - aus Berlin kam. Außerdem erfuhr er, dass es sich um einen Studenten der Kunst- und Kulturgeschichte handelte.

„Was hältst du von der Blogger-Kultur?“, erkundigte er sich.

„Generell ist es keine schlechte Idee. Es ist die Frage, wie man damit umgeht.“

„Wie meinst du das?“

„Einerseits ist solche Plattform nützlich, um Inhalte zu vermitteln. Andererseits ist sie gefährlich, weil niemand diese Inhalte vorher prüft. Was die Follower angeht: Die sollten mehr Distanz wahren und manches hinterfragen.“

Aus dem Augenwinkel sah Emil, dass Sven von diesem Statement unbeeindruckt schien. Da er seinen Begleiter nicht in Misskredit bringen wollte, wechselte er das Thema. „Macht ihr häufig hier Urlaub?“

„Wir waren die beiden letzten Sommer hier.“

„In zwei Tagen wird’s richtig voll. Dann kommen alle Alt-Hippies“, meldete sich Sven zu Wort. „Die feiern hier jedes Jahr.“

„Echt? Die Leute von damals?“

„Ein paar schon. Diejenigen, die es noch schaffen. Einige sind ja auch schon tot“, erwiderte Markus.

Inzwischen hatten sie das Lokal erreicht. Die Preise, die außen an eine Tafel geschrieben waren, fand Emil moderat.

Während ihr Essen zubereitet wurde, saßen sie draußen auf einer Bank. Es war nicht zu übersehen, dass Sven und Markus Gefallen aneinander fanden. Das stellte Emil ohne Eifersucht fest. Ein Zeichen dafür, dass sich ihre Beziehung dem Ende näherte.

Ach, eigentlich hatte er das schon vor ihrer Abreise gewusst. Der Altersunterschied mochte momentan noch reizvoll sein, doch in ein paar Jahren würde er zum Prüfstein werden. Er besaß keine Ambitionen, den Daddy raushängen zu lassen und Sven nicht den Deut einer devoten Ader. Ausschließlich passiv zu sein, bedeutete nicht zugleich, sich zu unterwerfen. Emil beschloss, nachher das Gespräch zu führen, damit zwischen ihnen alles klar war.

„Und was machst du so?“, verlangte Markus zu wissen.

„Ich arbeite bei einer Krankenversicherung.“

Markus lüpfte eine Augenbraue. „Also bei einem Ausbeuterverein.“

„Wie muss ich das verstehen?“

„Die sollen ja eigentlich die Beiträge an Ärzte und Krankenhäuser weiterleiten. Stattdessen verbrennen sie unser Geld im Verwaltungsapparat.“

Da war was dran. Würde man die Anzahl der Mitarbeiter auf diejenigen reduzieren, die die Beiträge einsammelten und entsprechen weiterleiteten, wäre mehr Geld für Behandlungen übrig. Auch sein Job war im Prinzip überflüssig. Seine Abteilung war unter anderem damit beschäftigt, Kostenpauschalen für Behandlungen zu errechnen. Rausgeworfenes Geld, denn aus Erfahrung wusste man, dass so etwas nicht funktionierte. Krankheiten ließen sich nicht pauschalisieren. Am Ende zahlte der Patient, das schwächste Glied in der Kette, die Zeche. Einen Vorteil hatte davon niemand. Wie gesagt: Überflüssig.

„Ist nicht letztendlich jeder Betrieb ein Ausbeuterverein?“, konterte er. „Jeder, der Waren aus Drittländern importiert, ist im Grunde ein Sklaventreiber.“

Markus lachte. „Stimmt. Bei einigen fällt es nur mehr ins Auge.“

4.

Abends – Emil hatte sich nachmittags an den Hotelpool verzogen – tauchte Sven, der die ganze Zeit mit der Gruppe abgehangen hatte, auf und ließ sich am Fußende seiner Liege nieder. Sein Lover wirkte bedrückt.

„Ähm ...“ Sven verknotete die Finger miteinander. „Ich glaube, ich hab mich in Markus verknallt.“

Das wurde ja einfacher als gedacht. „Das finde ich schön.“

Erstaunen breitete sich auf Svens Miene aus.

„Echt. Ich freu mich für dich.“ Emil gab seine liegende Position auf, indem er seine Füße auf den Boden schwang und so neben Sven zum Sitzen kam. „Von meiner Seite ist das voll okay.“

Sven atmete vernehmlich auf. „Ich dachte, du bist sauer oder so.“

„Warum sollte ich? Das mit uns war nie für die Ewigkeit gedacht.“

„Na ja ... irgendwie dachte ich schon, dass es länger hält.“

Er tätschelte Svens Schulter. „Essen wir zusammen?“

„Gern.“

Nach dem Abendessen, das sie im Hotelrestaurant eingenommen hatten, verschwand Sven wieder in Richtung Zeltplatz. Emil verspürte Tatendrang. In seinem Zimmer rüstete er sich mit Sneakers, Taschenlampe und einer Flasche Wasser aus, bevor er dem Red Beach Trail folgte.

Der Weg führte durchs Dorf, bis zur östlichen Spitze und dann den Berg hinauf. Oben angekommen genoss er die Aussicht. Sonnenstrahlen tauchten den Horizont in rotgoldenes Licht. In einiger Entfernung lag eine Insel, die unbewohnt schien.

Die Strecke war mit rund einer halben Stunde Fußmarsch ausgewiesen. Emil brauchte etwas länger, da er immer wieder stehenblieb und die Umgebung auf sich wirken ließ. Am Roten Strand gab es eine Bar, die noch geöffnet hatte. Er ließ sich auf der Terrasse nieder und bestellte einen Mojito.

Lediglich ein weiterer Tisch war besetzt. Zwei Typen und zwei Mädels in ungefähr Svens Alter saßen vor ihren Getränken und betrachteten das Meer. Weiter hinten, wo der Strand in Felsen mündete, stand ein Mann und schoss Fotos.

Die Atmosphäre war herrlich entspannt. Wellenrauschen bildete die Geräuschkulisse für den Sonnenuntergang. Ein letzter, goldener Strahl leckte über den Horizont, dann versank die Welt in Dunkelheit. Im Gegenzug leuchteten erste Sterne am Himmel auf.

Emil war froh, dass Sven nicht neben ihm saß und mit dämlichem Gequatsche die Stimmung zerstörte. Etwas wehmütig dachte er an Luis, trat sich aber gleich dafür in den Hintern. Ein romantischer Abend hätte ihre Beziehung auch nicht kitten können.

Nahezu zeitgleich, als der Wirt verkündete, dass die Bar schloss, war sein Glas leer. Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und begab sich auf den Rückweg. Diesmal wählte er die Strecke, die nur kurz über unebenes Gelände, dann über eine Straße zurück nach Matala führte.


Am folgenden Tag unternahm er mit Sven und Markus einen Ausflug nach Knossos. Die Überreste der Palastanlage konnten ihn nicht begeistern. Markus hingegen war wie elektrisiert. Sven filmte mehrere Sequenzen, in denen Markus über irgendwelche Funde dozierte. Die beiden waren so niedlich dabei anzusehen, dass es Emils mangelnde Euphorie wettmachte.

Auf dem Rückweg speisten sie in einem winzigen Bergdorf in einem rustikalen Lokal. Man hätte es auch als heruntergekommen bezeichnen können, aber Emil fand, es besaß gewissen Charme.

Als sie in Matala ankamen, standen zwei buntbemalte VW-Busse, die vorher nicht dagewesen waren, auf dem Parkplatz.

„Es geht los!“, freute sich Markus. „Die ersten Höhlen-Urbewohner sind eingetroffen.“

Vor seinem geistigen Auge sah Emil Langhaarige in Lendenschurzen, mit Keulen in den Händen.

„Wow! Vielleicht kann ich einen von denen überreden, nachher bei meinem Posting dabei zu sein“, meldete sich Sven zu Wort.

Das wagte Emil zu bezweifeln, behielt das aber für sich.

„Wir grillen heute Abend. Du bist eingeladen.“ Markus schenkte ihm ein breites Lächeln. „Und danke für den Ausflug.“

„Danke für die Einladung, aber ich brauche beim Essen Tisch und Stuhl. Nichts für ungut.“

„Alles klar. Man sieht sich.“ Markus setzte sich in Richtung Campingplatz in Bewegung.

Sven zögerte, woraufhin Emil behauptete, was auch ein bisschen der Wahrheit entsprach: „Ich bin echt froh, wenn ich heute Abend meine Ruhe habe.“ Darauf, weiterhin das fünfte Rad am Wagen zu sein, konnte er gut verzichten.

„Okay. Dann bis morgen.“ Überraschend gab Sven ihm, bevor er Markus folgte, einen Kuss auf die Wange.

Auch im Hotel gab es neue Gäste. Während Emil an der Bar einen Kaffee schlürfte, fielen ihm davon einige ins Auge. Offenbar waren nicht alle Alt-Hippies scharf darauf, in Zelten rumzukriechen. Es konnte allerdings genauso gut sein, dass sich bloß Normalos als Blumenkinder verkleidet hatten. Er besaß ja ebenfalls, ohne dazu zu gehören, eine Peace-Kette, die aber in seinem Zimmer lag. Außerdem waren lange Haare, Bärte, Stirnbänder und Regenbogenklamotten eine Modeerscheinung, die nichts mit der inneren Einstellung zu tun hatte.

Weil er von dem spätnachmittäglichen Mahl noch gesättigt war, erwarb er beim Barkeeper eine Tüte Chips, für den Fall, vorm Schlafengehen eine Hungerattacke zu erleiden. In seinem Zimmer packte er sie, zusammen mit Taschenlampe, Getränk und Lesestoff, in seinen Rucksack.

Diesmal wanderte er zu dem Zaun, der den Zutritt zu den Höhlen verhinderte und daran entlang. Irgendwann musste das Ding doch enden. Er wollte auf die andere Seite des Bergmassivs. An der Wasserseite war ein Durchkommen nicht möglich, aber laut Google-Maps sollte es auf der Landseite für Fußgänger möglich sein.

Emil musste ziemlich lange gehen, bis die Umzäunung endete und noch weiter, bis ihm die Anhöhe erklimmbar schien. Als er oben angekommen war, war er außer Atem. Der fantastische Ausblick entschädigte ihn für die Strapaze. Er ließ sich, um sich von dem Aufstieg zu erholen, auf einem Felsbrocken nieder und genoss den Rundumblick.

Da ihn ein Abstieg wenig reizte, denn dann musste er anschließend ja wieder bergauf, wanderte er auf dem Plateau bis zum Rand, hinter dem es steil ins Meer abfiel. Wer von dort sprang, dürfte unten – sofern man nicht vorher vor Panik starb – den sicheren Tod finden. Spitze Felsen ragten aus dem Wasser.

Gemächlich begab er sich zurück zum Ausgangspunkt. Der Sonnenuntergang stand bevor. Von dem Felsbrocken aus, auf dem er bereits gesessen hatte, verfolgte er das Schauspiel, wobei er ein paar Chips knabberte. Im Anschluss begann er, wobei er seine Taschenlampe benutzte, den Hang hinunter zu steigen.

Etwa auf halber Strecke erregte ein flackernder Lichtschein seine Aufmerksamkeit: Von Neugier getrieben bewegte er sich darauf zu. Hinter niedrigem Gestrüpp entdeckte er eine Mulde, halb von einem überhängenden Felsen geschützt. Darin hatte sich jemand häuslich eingerichtet. Dieser Jemand saß im Kerzenschein im Schneidersitz da und schien zu meditieren.

Um den Mann nicht zu stören, kehrte Emil um, wobei er versehentlich ein paar lose Gesteinsbröckchen den Hang hinunterstieß.

„Oh! Ich habe Besuch! Nicht weglaufen!“, ertönte hinter ihm eine wohlklingende Stimme.

Er drehte also um und näherte sich wieder der Behausung. „Ich möchte nicht stören.“

„Du störst nicht. Ich bekomme so selten Besuch.“ Der Mann lächelte ihn herzlich an. „Setz dich gern zu mir.“

Emil ließ sich am Rand der Senke auf einer Strandmatte nieder. Die gesamte Höhle war mit solchen Matten gepflastert. Ein zusammengerollter Schlafsack lag neben einem Armeerucksack und einem Sammelsurium Campinggegenständen, bestehend aus Kartuschenkocher, Topfset, Plastikbecher, -teller und Besteck. Etliche Kerzen, mit Wachs auf Felsvorsprünge geklebt, beleuchteten die Behausung.

„Spielen wir eine Partie Backgammon?“ Bevor er antworten konnte, streckte der Mann die Hand nach einem Holzkasten aus, der sich aufgeklappt als Spielbrett entpuppte.

„Ich kenne die Regeln nicht.“

„Kein Problem. Ich erklär’s dir.“ Der Typ begann, Steine auf dem Brett zu verteilen und erzählte dabei, wie es funktionierte.

Im Prinzip war es ganz einfach, ein bisschen wie Mensch ärgere dich nicht.

Emil fiel sein Proviant ein. Er holte Chipstüte und Wasserflasche hervor und platzierte beides neben dem Spielbrett. „Ich bin Emil.“

„Alexander, aber alle nennen mich Alexos.“

„Machst du hier Urlaub?“

Alexos wiegte den Kopf hin und her. „Kann man so sagen.“

„Nimm dir gerne von den Chips.“

„Danke, nein. Ich faste gerade.“ Alexos schob ihm zwei Würfel zu.

Die erste Partie verlor Emil. Bei der zweiten fühlte er sich schon sicherer und die dritte gewann Alexos nur knapp. Bei der vierten traten längere Pausen ein, wenn Alexos grübelnd aufs Spielfeld starrte. Das gab Emil Gelegenheit, sein Gegenüber näher zu betrachten.

Lange, dunkle Haare, mit einem Gummiband im Nacken gebändigt. Ein Vollbart, der hübsche Lippen einrahmte. Alexos trug ein kunterbuntes Hemd mit großem Kragen, dazu Jeans mit weitem Schlag und eine Kette mit silberfarbenem Peace-Zeichen. Die Klamotten wirkten authentisch, wie aus den Siebzigern des letzten Jahrhunderts hierher gebeamt. In Zeiten von eBay und Co konnte man solche Originale bestimmt ergattern.

„Welches Jahr haben wir?“, riss Alexos ihn aus seinen Betrachtungen.

„Ähm ... 2023. Wieso fragst du?“

„Hm ... manchmal vergesse ich die Zeit.“ Alexos bewegte einen Stein, so dass er wieder am Zug war.

Abermals verlor Emil. Ihm fehlte Alexos‘ Erfahrung. „Ich glaube, mir reicht’s für heute“, verkündete er.

„Schade“, brummelte Alexos. „Kommst du morgen Abend wieder her?“

„Sofern ich den Weg finde, ja.“

„Super!“ Alexos fing an, die Spielsteine in das dafür vorgesehene Fach zu legen.

„Soll ich dir das Wasser dalassen?“ In der Höhle hatte er keine Flaschen entdeckt.

Alexos schüttelte den Kopf. „Danke, nein.“

Auf dem Rückweg musste Emil höllisch aufpassen, da es inzwischen stockfinster war. Als er einmal zurückblickte, war von dem Lichtschein nichts mehr zu sehen.


Am nächsten Morgen erschien ihm sein Erlebnis wie ein Traum.

Beim Frühstück herrschte Trubel. Dreimal so viele Kinder wie vorher rannten durch den Raum. Man musste aufpassen, mit keinem von ihnen zu kollidieren, wenn man zum Buffet ging. Vorsichtshalber versorgte er sich also mit einer ausreichenden Menge, die er gezwungenermaßen – es gab keinen anderen freien Platz - in Gesellschaft von drei anderen Gästen verspeiste.

Die Gespräche, denen er dabei lauschte, drehten sich um das bevorstehende Revival-Festival. Eine ältere Dame, die ihm schräg gegenübersaß, schien jedes Jahr extra zu diesem Event anzureisen. Was daran spannend war, einem Haufen Grufties zuzugucken, wie sie versuchten, die Flower-Power-Zeit wiederzubeleben, war ihm schleierhaft.

Ausgerüstet für einen Tag am Strand, begab er sich wenig später nach draußen. Die Anzahl bunter Autos hatte sich über Nacht verdoppelt. Als er durch das Dorf spazierte, traf er auf eine Menschenansammlung. Um rauszufinden, was so interessant war, spähte er durch eine Lücke zwischen zwei Gästen. Eine buntgekleidete Gestalt malte mit Kreide auf der Straße herum. Soweit er erkennen konnte, handelte es sich um einen abstrakten Künstler, denn das Elaborat ergab für ihn keinen Sinn. Es konnte auch sein, dass es an seinem mangelnden Kunstverständnis oder mangelndem Talent des Malers lag.

Am Strand war bereits einiges los. Sämtliche Liegen waren belegt und dort, wo er vor zwei Tagen gelagert hatte, saßen in großen Gruppen Anhänger der Hippie-Kultur herum. Er suchte sich ein Plätzchen am Übergang zum Zeltplatz, wo Steinblöcke eine Art Sitzbank bildeten.

Nach einer Weile gesellten sich Sven und Markus zu ihm.

„Ist das nicht abgefahren?“, flüsterte Sven ihm zu.

„Ich komme mir vor wie im Zoo“, gab er trocken zurück.

„Es ist schade, dass die Bewegung im Sande verlaufen ist“, meinte Markus. „Die meisten gehören inzwischen zum einst verhassten Establishment.“

„Im bin der Ansicht, dass sich trotzdem etwas verändert hat. Emanzipation und Akzeptanz von Homosexualität wären noch in den Kinderschuhen, wenn es diese Leute nicht gegeben hätte“, hielt Emil gegen.

„Das mag sein, aber die Macht des Geldes hat sich noch verstärkt. Damit meine ich auch die Macht auf den Einzelnen. In unserer Wohlstandgesellschaft herrscht Überfluss, dennoch sind wir nicht bereit zu teilen. Das sieht man besonders an der Ablehnung von Flüchtlingen. Kaum einem der deutschen Bürger würde es wehtun, monatlich ein paar Euro abzugeben, aber die Leute hocken auf ihrer Knete wie Dagobert Duck. Auch sehr kritisch finde ich, dass es als normal angesehen wird, Menschen in Drittländern auszubeuten“, dozierte Markus. „Wenn ich als Begründung für diese Ausbeuterei höre, dass die Leute froh wären, überhaupt Arbeit zu haben, könnte ich kotzen.“

„Aber das stimmt doch. Ohne uns könnten die armen Schlucker ihre Familien nicht ernähren“, wandte Sven ein.

„Würden wir über faire Löhne und menschenwürdige Arbeitsplätze reden, würde ich dir recht geben.“ Markus seufzte. „Lasst uns das Thema wechseln. Ich krieg sonst schlechte Laune.“

5.

Als sich die Sonne dem Horizont näherte, brach Emil auf. Er freute sich auf die Begegnung mit Alexos und war zuversichtlich, dieses Mal zumindest eine Backgammon-Partie zu gewinnen. Pjotr, ein Typ aus Markus‘ Gruppe, hatte ihm nämlich Nachhilfe gegeben.

Während er den Berghang hinauf kraxelte, überlegte er, was ihn zu Alexos hinzog. So aufregend war das Spiel nun auch nicht, um in Euphorie zu geraten. Er fand Alexos attraktiv und interessant. Als Einsiedler zu leben, hatte bestimmt einen Grund, den er gern erfahren würde.

Etwa auf der Höhe, auf der er das letzte mal abgebogen war, entdeckte er den Lichtschein. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

„Da bist du ja endlich“, begrüßte ihn Alexos, der vor dem bereits aufgebauten Spielbrett saß.

„Wir hatten keine Uhrzeit abgemacht.“

„Uhren werden überbewertet.“

Da Alexos auch Jahreszahlen keine Beachtung schenkte, wunderte Emil dieser Ausspruch nicht. Er ließ sich auf dem gleichen Platz wie beim letzten Mal nieder. „Wie war dein Tag?“

Alexos zuckte mit den Schultern. „Wie immer.“

„Hast du gesehen? Es sind einige Veteranen eingetroffen.“

„Veteranen?“

„Angeblich Hippies, die damals in den Höhlen gelebt haben.“

„Pft! Die sind doch schon alle tot. Wenn nicht an Altersschwäche, sind sie an Drogen krepiert.“

„Ein paar scheinen überlebt zu haben.“

Dazu sagte Alexos nichts, schob ihm zwei Würfel zu und los ging’s.

Während ihres Spiels brummelte Alexos ein paarmal anerkennend. Letztendlich verlor Emil die Partie, obwohl es bis kurz vorm Schluss gut für ihn ausgesehen hatte. Gegen einen Altmeister anzukommen, war echt harte Arbeit.

„Arbeitest du hier?“, erkundigte er sich, als Alexos die Steine neu aufstellte.

„Mhm-mhm. Ist ne Weile her, da hab ich Tomaten gepflückt.“

Garantiert ein mies bezahlter Job. „Kommst du aus Deutschland oder Österreich?“

Alexos runzelte die Stirn. „Eva kam aus Freiburg. Sie war das hübscheste Mädchen hier. Ich war todtraurig, als sie gegangen ist.“

„Gegangen? Ist sie tot?“

„Weiß ich nicht. Ich hab sie danach nie wieder gesehen.“ Alexos seufzte. „Sie war so jung – so jung ... gerade erst zwanzig geworden.“

Eine Urlauberin? Vermutlich. „Du warst in sie verliebt?“

Alexos nickte. „Und ich hab ihr das Blaue vom Himmel versprochen, damit sie mit mir ins Bett steigt. Ich bin ein Schwein – ein Schwein.“

Die nächste Spielpartie konnte Emil für sich entscheiden. Bestimmt nur, weil Alexos nicht ganz bei der Sache war. Die folgende verlor er wieder, genau wie die darauf.

„Ich wollte Eva besuchen.“ Alexos richtete den Blick in die Ferne. „Ich wollte es wirklich, aber dann war da dieser Trip ...“

Trip? LSD?

„Das hat mich total abgelenkt. Danach war alles anders“, fuhr Alexos fort.

Es hörte sich so an, als wäre Alexos auf dem Trip hängengeblieben. Das erklärte sein etwas seltsame Verhalten. Emil hatte das Zeug nie probiert. Vielleicht wäre er genauso drauf, wenn er es versucht hätte.

„Alles anders“, murmelte Alexos. „Ich bin müde.“

Emil erhob sich. „Ich komme morgen Abend wieder.“

Alexos nickte. „Das ist gut – ist gut.“

„Gute Nacht“, wünschte er, verließ die Höhle, schaltete seine Taschenlampe an und begab sich auf den Rückweg.

Bisher hatte er noch nie persönlich einen Menschen getroffen, der auf LSD hängengeblieben war. Sowas kannte er nur aus Berichten. Ihm reichte seine Erfahrung mit Haschisch. Heutzutage ließ er die Finger ganz von Drogen, ausgenommen ab und zu Alkohol.

In Matala herrschte noch reger Betrieb. Auf dem Zeltplatz brannten zahlreiche Lichter und Emil vernahm Gesang und Gitarrenklänge. Einen Moment dachte er darüber nach, noch bei Sven und Konsorten vorbeizuschauen, verwarf die Idee aber wieder. Darauf, den Jungs beim Rumreichen eines Joints zuzugucken, hatte er nach dem Erlebnis mit Alexos keine Lust. Die Gruppe bestand nämlich aus professionellen Kiffern.

 

Am folgenden Morgen im Frühstücksraum: Das gleiche chaotische Bild wie am Tag davor. Emil flüchtete an die Bar am Pool, wo er einen Kaffee trank. Nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hatte, tat ihm sein Verhalten unendlich leid. Es war unhöflich gewesen, Alexos derart aufzuwühlen. Elefant im Porzellanladen, hatte Luis ihn oft genannt. Er beschloss, im Ort eine Kleinigkeit zu essen und anschließend loszuziehen, um sich bei ihm zu entschuldigen.

Im Lokal Bei den zwei Brüdern genoss er ein Frühstück in ruhiger Atmosphäre. Es war so wenig los, dass sich der Kellner, der sich als einer der deutschen Eigentümer entpuppte, in ein Schwätzchen verwickeln ließ.

„Vor zwanzig Jahren bin ich mit meinem Freund hergekommen. Wir haben am Strand geschlafen und von der Hand in den Mund gelebt. Es hat uns hier so gut gefallen, dass wir alle Zelte in Deutschland abgebrochen und dieses Restaurant – damals eine Bruchbude - erworben haben.“

„Vermutlich für einen Appel und ein Ei“, mutmaßte Emil.

Der Typ lachte. „Richtig. Es war fast geschenkt. Im ersten Jahr haben wir nur außer Haus verkauft, weil es hier drinnen wie eine Baustelle aussah.“

„Ist es aus Dauer nicht ein bisschen eintönig, immer in diesem Nest zu leben?“

Der Mann zuckte mit den Achseln. „Ab und zu kriegen wir Lagerkoller. Dann reicht eine Tour nach Heraklion, damit wir uns wieder nach der Einöde sehnen.“

„Haben Sie mal von einem Mann namens Alexos gehört? Er lebt da hinten ...“ Emil wedelte mit der Hand vage in die entsprechende Richtung. „... in einer Höhle.“

Der Typ schüttelte den Kopf. „Hier wohnt niemand mehr in Höhlen. Diese Zeiten sind vorbei. Ab und zu kommen sogar die Bullen, um Wildcamper zu vertreiben.“

Die Ankunft weiterer Gäste beendete ihre Plauderei. Nachdenklich runzelte Emil die Stirn. Er hatte den Eindruck, dass Alexos schon ziemlich lange in der Höhle hauste. Wie konnte das unbemerkt bleiben? Gut, sie lag weitab des Ballungszentrums, dennoch ... Matala war so winzig, – laut Internet gerade mal 110 Einwohner – dass jemand wie Alexos außerhalb der Saison doch bestimmt auffallen würde.

Wenig später machte er sich auf den Weg. Auf dem Campingplatz, an dem er vorbeikam, regte sich nur wenig Leben. Wahrscheinlich hatten die meisten Bewohner lange gefeiert.

Er erreichte die Stelle, an der er die beiden letzten Male den Aufstieg begonnen hatte. Während er den Hang erklomm, hielt er nach der Höhle Ausschau. Von unten war sie nicht zu erkennen. Das erklärte, wieso Alexos den Bewohnern Matalas verborgen blieb.

Zur Orientierung dienten ihm drei Büsche, die nahezu in einer Reihe standen. Dort bog er nach links ab. Das nächste Gestrüpp stand vor der Höhle. Als er dort ankam, erwartete ihn eine Überraschung. Nicht nur, dass von Alexos keine Spur zu sehen war: Die Felsmulde wirkte unbewohnt. Gesteinsbrocken und Zweige bedeckten den Boden, auf dem am Vorabend noch Matten lagen. Sämtliche Campingausrüstung, inklusive der Kerzen, waren verschwunden.

Verdutzt sah er sich nach allen Seiten um, ob er sich vielleicht verirrt hatte. Nein, es gab keinen Zweifel: Dies war der richtige Ort.

Emil betrat die Höhle und suchte nach Anzeichen, dass Alexos aufgebrochen und vorher alles in Urzustand versetzt hatte. Plötzlich, als er einen Schritt machte, knackte etwas unter seiner Schuhsohle. Es hörte sich an wie ein trockener Zweig, nur dass da keiner lag. Mit der Schuhspitze schob er das Geröll beiseite und erstarrte: War das ein menschlicher Knochen?

Er wich zurück, ohne das Ding aus den Augen zu lassen. Hatte Alexos jemanden umgebracht und hier verscharrt? Wenn ja, musste dieses Ereignis eine Weile her sein ... eher gesagt Jahre. Wie lange dauerte es, bis eine Leiche skelettierte?

Wieder guckte er sich nach allen Seiten um. Keine Menschenseele in Sicht. Vorsichtig näherte er sich dem Knochen und schob mit der Schuhspitze weitere Steine beiseite. Unversehens blitzte etwas im Sonnenlicht. Er erkannte ein silbernes Peace-Zeichen, das an einer ebenfalls silberfarbenen Kette hing. Als er noch mehr freilegte, trat ein Schädel zutage. Den Schmuck hatte Alexos am Vorabend getragen. Wieso hing er nun an dem Skelett?

Um nachzudenken, verzog er sich auf einen Felsbrocken, der unweit der Höhle lag. Die Kette sprach dafür, dass es sich bei dem Toten um Alexos handelte. Vor einem Tag mit Alexos geredet zu haben, sprach dagegen. Oder hatte er das nur geträumt? Zweimal hintereinander? Unwahrscheinlich. Genauso unwahrscheinlich, wie einen gestern noch lebendigen Mann in diesem Zustand vorzufinden.

Und was nun? Die Polizei verständigen? Würden die ihn festnehmen? Sollte er so tun, als hätte er das Skelett nie gefunden? Das würde ihm Alpträume bescheren. Außerdem wollte er unbedingt wissen, wessen Skelett das war.

Im Eilschritt kehrte er nach Matala zurück. Einem Impuls folgend steuerte er das Lokal Die zwei Brüder an. Der Typ, mit dem er gesprochen hatte, war ja fast ein Einheimischer und würde wissen, was zu tun war.

Nur ein Tisch war besetzt. Seine Frühstücksbekanntschaft stand hinterm Tresen und las Zeitung. Bei seinem Erscheinen guckte der Typ hoch und lächelte. „Hi.“

„Gibt es in der Nähe eine Polizeistation?“

Der Mann hob fragend die Augenbrauen.

„Ich hab ...“ Emil senkte seine Stimme und beugte sich über die Theke. „Ich hab was Schreckliches entdeckt. Oben, in einer Höhle, liegt eine Leiche.“

Bitte, was?

„Eigentlich sind es nur noch Knochen.“

„Ach so. Das ist bestimmt ein verendetes Tier.“

Emil schüttelte den Kopf. „Es sind menschliche Knochen.“

„Sicher?“

Er nickte.

„Das gucken wir uns mal an, bevor wir die Bullen aufscheuchen. Warte kurz.“ Der Typ verschwand durch eine Schwingtür, die wohl in die Küche führte.

Kurz darauf waren sie zu zweit unterwegs. Der Mann, Kevin – sie hatten sich aufs Du geeinigt - , trug einen Rucksack und hörte Emils Bericht zu. Als er geendet hatte, meinte Kevin: „Das klingt, als ob du einem Geist begegnet wärest.“

„An sowas glaube ich nicht.“

„Kiffst du?“

„Nicht mehr.“

Das war das letzte Wort, das fiel, bis sie die Höhle erreichten.

Kevin beäugte das Skelett. „Sieht wirklich menschlich aus.“

„Da hinten stand Alexos Rucksack, das Kochgeschirr und da lag der Schlafsack. Der ganze Boden war mit Bastmatten ausgelegt.“

„Kochgeschirr?“, brummelte Kevin, holte einen Klappspaten aus dem Rucksack und begann damit in der Ecke, auf die Emil gezeigt hatte, im Geröll zu wühlen. „Hier ist was Metallenes.“

Es handelte sich um einen völlig verschmutzten Topf. Daneben fanden sie eine ebenfalls metallene, eckige Dose. Mit etwas Mühe bekamen sie den Deckel auf. Schweigend begutachteten sie den Inhalt. Ein Personalausweis, der auf den Namen Alexander Berger, geboren 1955, lautete. Das Bild zeigte eindeutig Alexos. Ein Führerschein, auch auf Alexos ausgestellt. Ein zusammengefalteter Zettel mit der Adresse von Eva Mörke, wohnhaft in Freiburg. Ein Foto, auf dem Alexos mit einer blonden, langhaarigen Schönheit posierte.

„Das ist der Alexos, mit dem ich gestern gesprochen habe.“ Emil zeigte auf das Bild.

„Laut dem Perso wäre er jetzt ...“ Kevin legte eine Pause ein, wohl zum Rechnen. „68. Dann sieht man etwas anders aus.“

So alt war Alexos keinesfalls. „Langsam glaube ich, ich habe halluziniert.“

Kevins Blick wanderte zu dem nur zu einem Bruchteil freigelegten Skelett. „Wollen wir noch mehr von ihm ausgraben?“

„Lieber nicht. Das kann die Polizei machen.“

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos / Kaipurgay
Bildmaterialien: Shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure - dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2023

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