Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos
Korrekturen: Aschure, Dankeschön!
Foto Cover: shutterstock_179129984, Leuchtturm, Insel: Sissis Malkünste
Kontakt: https://www.sissikaipurgay.de/
Aus Volkers Beziehung ist die Luft raus. Bei einem Kurzurlaub auf Amrum trifft er einen interessanten Mann, was das Ganze beschleunigt. Leider kennt er nur den Vornamen und Beruf. Keine Eckdaten, mit denen man jemanden wiederfinden kann, doch das Glück ist ihm hold.
Kühler Wind zerzauste Volkers Haar. Genüsslich atmete er ein und stopfte beide Hände in seine Jackentaschen. Es ging doch nichts über eine Prise Nordseeluft. Schade, dass sein Mann die Insel nicht mochte. Lasse bevorzugte den Süden. Maximal Sylt kam noch infrage, weil man da wenigstens shoppen konnte.
Nach einem letzten Blick übers Wattenmeer, zur Insel Föhr, wanderte er weiter. Sein Ziel war Steenodde. Dort wollte er einen Happen essen, bevor er seine Tour fortsetzte. Hoffentlich fing es nicht an zu regnen. Das würde seinen Tagesplan über den Haufen werfen, denn Spazierengehen machte in nassen Klamotten keinen Spaß. Seine Jacke und Schuhe waren zwar wetterfest, doch die Hose nicht. Außerdem pflegte es auf Amrum, wegen des starken Windes, nicht senkrecht, sondern von allen Seiten zu regnen. Es würde also kein Stück von ihm trocken bleiben.
Rund zwanzig Minuten später erreichte er sein Ziel. Am Anleger gab es frische Krabben. Er erwarb einen Liter und begab sich zu dem Lokal, das er anvisiert hatte. Leider öffnete das Restaurant erst abends. Tja ... da hätte er wohl besser vorher im Internet nachgeschaut, anstatt sich auf die Erinnerung an seinen letzten Besuch zu verlassen; vor allem, weil der einige Jahre zurück lag.
Da er mit den Krabben nicht quer über die Insel rennen wollte, kehrte er um. Dann würde es eben einen Imbiss in seinem Domizil geben. Dafür braucht er nur noch Eier und Schwarzbrot.
Ungefähr auf der Hälfte der Strecke kam ihm ein Mann, dessen Blick sich auf den durchsichtigen Plastikbeutel in seiner Hand heftete, entgegen.
„Gibt es da, wo die herkommen, noch mehr?“, wollte der Typ wissen. „Und wo ist das?“
„Auf dem Anleger in Steenodde steht eine Bude und eben war noch ein ganzer Haufen da.“
„Dann werde ich mal mein Glück versuchen.“ Der Mann schenkte ihm ein Lächeln und marschierte mit weit ausholenden Schritten in die Richtung, aus der Volker gekommen war.
Er schaute dem Davoneilenden hinterher. Dem Mann haftete etwas Melancholisches an. Auch ein Alleinreisender? Auf der Fähre hatte er den Eindruck gewonnen, als einziger solo unterwegs zu sein.
Seufzend, weil er lieber mit Lasse hier wäre, wandte er sich um und setzte seinen Weg fort.
In Wittdün suchte er den Supermarkt, der seinem Domizil am nächsten lag, auf. Zusätzlich zu dem Benötigten, landeten Kekse, eine Flasche Rotwein und eine Zeitung in seinem Einkaufskorb.
Mit den Krabben und zwei Schüsseln machte er es sich wenig später auf dem Balkon gemütlich. Der Freisitz mit gläserner Umrandung lag auf der seeabgewandten Seite des Hauses, so dass er Ausblick auf die Inselstraße und Südspitze hatte.
Gemächlich pulte er eine Krabbe nach der anderen, wobei er die Umgebung beobachtete. Tagsüber herrschte Trubel, dafür war ab sechs Totentanz. Auf Amrum wurden um diese Zeit die Bürgersteige hochgeklappt. Lediglich Restaurants hatten dann noch geöffnet.
Gerade hatte er die letzten Schalentiere am Wickel, da tauchte der Typ, dem er vorhin begegnet war, in seinem Sichtfeld auf. Der durchsichtigen Tüte, die der Mann trug, zufolge, hatte er noch Krabben ergattert. Der Typ ging an dem Haus, in dem Volkers Domizil lag, vorbei und in das Gebäude, das sich daneben befand.
Volker warf die letzte Krabbenschale in die Schüssel mit dem Abfall, nahm die andere mit nach drinnen und begann, seinen Imbiss vorzubereiten. Sein Magen, der seit dem Frühstück keine Nahrung mehr bekommen hatte, knurrte. Aus Gewohnheit war er um sieben aufgewacht. Inzwischen war es halb zwei.
Mal wieder bedauerte er Lasses Abwesenheit. „Was willst du auf dieser gottverlassenen Insel? Noch dazu bei dem Scheißwetter?“, hatte Lasse geschimpft. „Lass uns lieber nach Malle jetten.“ In diesem Jahr war ihm nicht danach zumute gewesen, nachzugeben. Natürlich musste man in einer Partnerschaft Kompromisse machen, aber immer war er derjenige, der am Ende einlenkte. Na ja, vielleicht kam es ihm auch nur so vor. Jedenfalls hatte er das Appartement für zwei Personen gebucht und bis zuletzt gehofft, dass Lasse doch noch mitkam.
Das mit dem Scheißwetter stimmte übrigens nicht. Amrum zeigte sich von seiner besten Seite, mit strahlendem Sonnenschein und fast wolkenlosem Himmel. Nur die Temperaturen könnten ein bisschen höher sein. Dafür, sich an den Strand zu setzen, war’s definitiv zu kalt; im Frühling an der Nordseeküste normal.
Eben wegen dieser Kälte, verspeiste er das Krabbenrührei auf Schwarzbrot am Küchentisch vorm Fenster. Der Ausblick war beinahe genauso gut wie auf dem Balkon. Links, hinter der Südspitze, konnte man am Horizont eine Hallig erahnen. Geradeaus verstellten Häuser die Sicht aufs Meer.
Nachdem er die Reste im Kühlschrank verstaut hatte, brachte er die Krabbenschalen zum Mülleimer. Als er den Deckel hochschob, wallte ihm eine Wolke Gestank entgegen. Angewidert rümpfte er, während er den Abfall entsorgte, die Nase, Hoffentlich kam die Müllabfuhr, bevor die Faulgase in dem Gefäß explodierten.
Auf dem Weg zurück zur Haustür erblickte er den Typen, der in Richtung Supermarkt marschierte. Er blieb stehen und winkte, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen, woraufhin der stoppte.
„Gibt’s bei Ihnen auch Krabbenrührei?“, rief Volker.
Der Typ schüttelte den Kopf. „Ich mag’s lieber mit Remoulade auf Toast, nur hab ich beides nicht im Haus.“
„Dann sind Sie also auf der Jagd?“
Der Mann lachte. „Genau.“
„Viel Glück.“ Er winkte abermals, bevor er sich ins Haus begab.
Einige Zeit später stieg er in den Bus nach Norddorf. Auf der Strecke zwischen Wittdün und dem Leuchtturm sah er erneut den Mann, der am Straßenrand entlang wanderte. Da der Typ wieder allein unterwegs war, schlussfolgerte er, dass es sich ebenfalls um einen solo Reisenden handelte. Wäre es zu aufdringlich, Kontakt zu suchen? Ach, probieren konnte er es ja mal.
Die Gelegenheit ergab sich, als er von seinem Ausflug zurückkehrte. Er entdeckte den Mann nämlich im Außenbereich des Cafés gegenüber der Bushaltestelle.
Volker betrat den von verglasten Trennwänden geschützten Bereich und näherte sich dem Tisch, an dem der Typ, ein Smartphone in der Hand, saß.
„Hi. Darf ich mich dazusetzen?“, sprach er den Mann an.
Der Typ schaute auf. „Klar.“
Er nahm auf dem Stuhl gegenüber dem Mann Platz und schnappte sich die Getränkekarte, die in einem silberfarbenen Halter steckte. Nach dem Kaffee, den er in der Bäckerei Schuldt – nebst einem opulenten Stück Friesentorte – genossen hatte, dürstete es ihn nach etwas Kaltem.
„Bitte ein Alsterwasser!“, rief er dem Kellner, der sich gerade am Nebentisch befand, zu.
Sein Gegenüber hatte das Smartphone beiseitegelegt. „Fangfrisch waren die Krabben nicht. Dazu waren sie zu matschig.“
„Vermutlich stammen sie vom Flensburger Fischmarkt“, stimmte Volker zu. „Soweit ich weiß, gibt es hier ja gar keine Fangflotte mehr.“
Der Mann nickte. „Es ist nur noch eine Illusion, dass man in Meeresnähe Fisch direkt aus dem Wasser bekommt.“
„Ich bin Volker“, stellte er sich vor.
„Maik.“ Jener hob die Kaffeetasse und prostete ihm zu.
„Bist du oft hier?“
Maik zuckte mit den Achseln. „Wie man’s nimmt. Immer, wenn mir meine Arbeit Zeit dafür lässt, meine Ferienwohnung zu nutzen. Also nicht häufig genug.“
„Ich war seit Jahren nicht hier. Meine bessere Hälfte reist lieber in den Süden.“
„Tja.“ Maik trank einen Schluck. „So ist das nun mal, wenn man verheiratet ist.“
„Wohl wahr. Bist du geschieden?“
Ein Schatten flog über Maiks Gesicht. „Verwitwet.“
„Das tut mir leid.“ Blöde Phrase, aber was sollte er sonst sagen?
„Ist schon eine Weile her.“ Maik seufzte, die Wimpern gesenkt. „Vor seinem Tod waren wir immer zusammen hier.“
Seinem Tod? Volker hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht, ob sein Gegenüber schwul sein könnte. Es war eh unwichtig. Schließlich gab es Lasse. „Das ist sicher sehr schmerzhaft.“
Maik nickte.
Der Kellner, der sein Alsterwasser brachte, sorgte für eine kurze Pause.
Als der Mann wieder weg war, erwiderte Maik, weiterhin den Blick auf die Kaffeetasse gerichtet: „Ich versuche, neue Erinnerungen zu schaffen, damit ich die alten loslassen kann.“
Volker nippte an seinem Getränk. „Darf ich fragen, woran er gestorben ist?“
„Krebs. Zwei Monate nach der Diagnose war Bodo tot.“
„Mein Beileid.“
In der folgenden Stille musterte er Maik, der weiterhin die Tasse fixierte. Zerzauste, braune Haare, ein attraktives Gesicht. Schätzungsweise war Maik in seinem Alter. Die gesunde Hautfarbe zeugte von häufigem Aufenthalt im Freien. Überhaupt machte Maik einen sehr fitten Eindruck. Gäbe es Lasse nicht, hätte er durchaus Interesse.
Maik richtete den Blick auf ihn. „Lass uns von was anderem reden. Woher kommst du?“
„Hamburg.“
„Ich auch. Und was machst du so, wenn du nicht gerade urlaubst?“
„Ich leite die Buchhaltung einer bekannten Baumarktgruppe.“
„Da wittere ich doch gleich die Chance, Prozente zu bekommen. Ich bin in der Gas-Wasser-Scheiße-Branche tätig.“
„Ich wette, dass du woanders bessere Konditionen bekommst. Über die Waren meines Arbeitgebers darf ich nichts Schlechtes sagen, aber auch hier gilt: woanders wirst du garantiert die für dich besser zu deiner Arbeit passende Qualität finden.“
Maik winkte schmunzelnd ab. „War eh nur ein Scherz.“
„Was genau meinst du mit der Gas-Wasser-Scheiße-Branche? Bist du Klempner?“
Maik nickte. „Ich hab eine eigene Firma.“
„Wow!“ Volker hob anerkennend einen Daumen. „Dann brauchst du ja nur vom Schreibtisch aus deine Arbeit delegieren.“
„Ne-ne. Ich bin selbst aktiv.“
„Irgendwie muss ich da gleich an Brösel denken. Kennst du die Comics mit Meister Röhrich?“
„Klar.“
„Was hast du denn schon so erlebt? Hausfrauen, die dir im Negligé mit nichts darunter öffnen?“
„Erinnere mich bloß nicht daran.“ Maik zog eine Grimasse. „Das war der peinlichste Moment meines Lebens. Zu den ekligsten Erfahrungen zählt das Mal, als man mich wegen eines verstopften Klos gerufen hat. Die Schüssel war bis obenhin voll mit Scheiße. Ich hätte mich da durchgraben müssen, um an das Rohr zu kommen.“
„Und? Hast du das getan?“
„Natürlich nicht. Die Kunden mussten die Schüssel selbst leeren.“
Bei der Vorstellung schüttelte es Volker.
„Am liebsten mag ich Neuinstallationen mit freiem Budget. Sowas begegnet einem aber äußerst selten. Meist ist der Kostenrahmen eng gesteckt“, erzählte Maik weiter.
Während Volker gemächlich sein Glas leerte, lauschte er weiteren Anekdoten. Als plötzlich der Kellner auftauchte und kassieren wollte, weil das Lokal in wenigen Minuten schloss, war sein Bedauern groß.
„Darf ich dich zum Abendessen einladen?“, fragte er.
„Da muss ich erst in meinen Terminkalender gucken.“ Maik schmunzelte. „Ein Scherz. Ich gehe gern mit dir essen, aber wir teilen uns die Rechnung.“
Sie verabredeten, sich in einer halben Stunde beim Italiener, einem Restaurant, das sich im Erdgeschoss von Volkers Urlaubsdomizil befand, zu treffen.
Beim Essen drehte sich ihr Gespräch um weltliche Dinge. Politisch waren sie fast einer Meinung, doch beim Sport schieden sich die Geister. Maik war St.-Pauli-Fan, Volker präferierte den HSV. Befeuert vom Rotwein, den sie konsumierten, lieferten sie sich eine hitzige Diskussion, welcher Verein der bessere wäre. Letztendlich einigten sie sich darauf, dass beide Vor- und Nachteile besaßen. Als Jungspund hätte Volker das niemals getan, doch in seinem reifen Alter war er bereit, Zugeständnisse zu machen.
Gegen neun brachen sie auf. Vor der Tür verabschiedete sich Maik von ihm mit den Worten: „Man sieht sich.“
Um nicht aufdringlich zu wirken, - er hätte gern für den folgenden Tag eine Verabredung getroffen - beließ er es dabei. „Bis bald.“
Zurück in seinem Domizil checkte er sein Handy, das er dort liegengelassen hatte. Drei verpasste Anrufe, eine Nachricht. Alle stammten von Lasse. Komme morgen mit der ersten Fähre. Ld – Lasse
Ld stand für liebe dich. Diese Abkürzung hatte Volker in ihrer Anfangszeit charmant gefunden. Inzwischen war sie abgenutzt.
Stirnrunzelnd starrte er das Display seines Smartphones an. Warum freute er sich nicht über Lasses Erscheinen? Weil dein Freund die ganze Zeit rumnörgeln wird, antwortete sein Verstand. Das war es aber nicht allein. Es war auch Enttäuschung darüber, dass Lasses Anwesenheit weitere Treffen mit Maik verhinderte. Der wollte garantiert nicht, insbesondere als trauernder Witwer, das fünfte Rad am Wagen sein.
Mit einem Glas Weißwein – roten hatte er nicht gekauft – setzte er sich vor die Glotze. Mit halbem Auge sah er eine Krimiserie, wobei seine Gedanken weiter bei Lasse weilten. Sollte er seinen Mann bitten, nicht herzukommen? Das würde Lasse gar nicht gut aufnehmen. Es sähe auch blöde aus, nachdem Volker mehrfach darum gebeten hatte, dass er mitkam.
Letztendlich beschloss er, sich auf Lasses Ankunft zu freuen. Das ging zwar leider schlecht auf Kommando, aber wenn er es sich oft genug vorsagte, würde es schon klappen.
Das erste Mal seit dem Todestag hatte Maik einige Stunden am Stück nicht an Bodo gedacht. Ein echter Fortschritt. Befand er sich endlich auf dem Weg der Besserung? Nach über einem Jahr sollte er den Verlust doch allmählich verwunden haben. Dass er Volker attraktiv fand, war ein weiteres Anzeichen, nur dass er sich dabei schlecht fühlte; so, als würde er Bodo betrügen.
In seiner Wohnung – Eigentum, zusammen mit Bodo erworben, um darin ihren Lebensabend zu verbringen – machte er es sich auf der Couch gemütlich. Wenn es das hölzerne Balkongeländer nicht gäbe, hätte er von dort freien Blick aufs Meer. Leider wehrte sich die Eigentümergemeinschaft dagegen, das Holz durch Glas austauschen zu lassen. Die meisten vermieteten ihre Objekte nur. Denen war es egal, worauf man guckte.
Er zückte sein Handy, das er seit seinem Cafébesuch stumm geschaltet hatte. Eine SMS von Henning war eingetroffen. Die treue Seele. Sie kannten sich von Kindesbeinen an. Durch Henning hatte er bei einem Fußballspiel Bodo kennengelernt. Oft scherzte sein Freund, sich selbst einen Bärendienst erwiesen zu haben, ihn ins Millerntorstadion mitgenommen zu haben. Henning war nämlich in ihn verliebt. Das hatte Maik allerdings erst nach Bodos Tod erfahren.
„Wie geht es dir?“, lautete Hennings Nachricht.
Bevor er antwortete, trank er einen Schluck Mineralwasser. „Die Luftveränderung tut mir gut. Liebe Grüße – Maik.“
Henning wäre gern mit ihm gefahren. Hätte er zugestimmt, hätte er seinem Freund den Bärendienst vergolten. Obwohl sie sich prima verstanden, fehlte der zündende Funke. Verliebtheit schliff sich zwar mit der Zeit ab, aber sie sollte zumindest am Anfang vorhanden sein.
Prompt vibrierte sein Smartphone. Henning rief an.
„Hallo Nervensäge“, begrüßte er seinen Freund.
„Hallo Schatz“, gab Henning zurück. „Vereinsamst du da oben nicht?“
„Nö. Mir geht’s echt gut.“
„Ich könnte wenigstens für ein-zwei Tage raufkommen.“
„Henning! Nein!“
Ein enttäuschter Seufzer drang an sein Ohr. „Hast du denn gar kein Mitleid mit mir?“
„Doch, und genau deshalb möchte ich dich hier nicht haben.“ Vor ungefähr einem halben Jahr hatte Henning angefangen, massiv um ihn zu werben. Hoffentlich hörte das bald wieder auf.
„Ja, ja“, grummelte Henning. „Aber wenn du es dir anders überlegst, lass es mich wissen.“
„Dann erfährst du es als erster.“
„Na gut ...“ Henning atmete vernehmlich durch. „Schlaf nachher schön.“
„Du auch. Bis bald.“ Er beendete die Verbindung, schaltete das Gerät aus und legte es auf den Couchtisch.
Damals, als Bodo und er zusammenkamen, war Henning erstmal auf Abstand gegangen. In seinem Liebesdusel hatte er das gar nicht bemerkt. Später war Henning für Bodo und ihn ein guter Freund gewesen. Ab und zu hatte er sogar Partner zu ihren Einladungen mitgebracht. Dass Henning die ganze Zeit in ihn verliebt war, konnte sich Maik überhaupt nicht vorstellen. Schließlich handelte es sich um einen Zeitraum von fünfzehn Jahren.
Fünfzehn Jahre, in denen er mit Bodo auf Wolke 7 geschwebt hatte. Natürlich nicht immer. Sie hatten sich auch mal gestritten. Ihr letzter Zank hatte sich darum gedreht, dass Bodo nicht zum Arzt gehen wollte. Sein Mann gehörte zu denen, die todkrank sein mussten, um einen Doktor zu konsultieren. So war es am Ende geschehen. Als sich Bodo endlich in die Praxis ihres Hausarztes bewegte, läutete das ihre letzten vier gemeinsamen Wochen ein.
Maik hatte seinen Betrieb auf Sparflamme gestellt, um seinen Mann zu pflegen. Jamal, sein Geselle, und Linda, Sekretariat und Buchhaltung, waren dazu angehalten gewesen, nur Notfälle zu bearbeiten.
Als Bodo den letzten Atemzug tat, war in ihm ebenfalls etwas gestorben. Es hatte ihn immense Kraft gekostet, mit seinem Leben weiterzumachen. Jeden Morgen fragte er sich, warum er überhaupt noch aufstand. Ohne Henning, der ihn regelmäßig heimsuchte, hätte er diese Phase kaum überstanden. Dafür schuldete er seinem Freund mehr, als nur platonische Dankbarkeit, aber Gefühle ließen sich nun mal nicht erzwingen.
Er schob die Gedanken beiseite und griff nach dem Buch, das er am Vortag angefangen hatte: Amrum erzählt - Sagen, Geschichten, Düntjes ... Bodo hatte bei jedem Aufenthalt auf Amrum im Buchladen gestöbert und ihre Wohnung mit der Beute vollgestopft. Viele der Bücher hatte sein Mann auch gelesen. Als Lehrer für Geschichte und Latein, interessierte sich Bodo für die Inselhistorie.
Ob ein Klempner und Pädagoge zusammenpassten, hatte sich Maik anfangs oft gefragt. Es harmonierte wunderbar, vor allem, weil sie miteinander kommunizierten. Etwas, das mehr und mehr vom Aussterben bedroht war. Wer sprach heutzutage noch miteinander? Natürlich quasselten die Leute weiterhin, doch es mangelte an echten Dialogen. Kaum jemand hörte zu. Die meisten hörten sich nur selbst gern reden.
Er klappte das Buch wieder zu – seine Konzentration war mangelhaft – und trat hinaus auf den Balkon. Der Wind war nahezu eingeschlafen. Träge leckte die Dünung am Beton des Anlegers. Maik liebte diese friedliche Stimmung. Oft hatte er den ganzen Abend mit Bodo auf dem Freisitz verbracht, bei einer Flasche Wein und Kerzenschein. Vielleicht sollte er die Wohnung verkaufen. Sie barg zu viele schmerzhafte Erinnerungen.
Am nächsten Morgen begab er sich zum Anleger, um zur Hallig Langeness zu fahren und dort das Kapitän-Tadsen-Museum zu besuchen. Ein Vorhaben, das er mit Bodo - warum auch immer - nie umgesetzt hatte.
Beeindruckt von dem Erlebnis kehrte er am späten Nachmittag nach Amrum zurück. Im Café Pustekuchen verdaute er bei einem Cappuccino das Gesehene. Frühere Generationen hatten ein hartes Leben geführt, insbesondere an der Küste. Durch eine Sturmflut war das 1741 erbaute Haus vor etwa 200 Jahren schwer beschädigt worden. Man hatte es wiederaufgebaut und erweitert. Sich vorzustellen, in den engen Räumlichkeiten zu leben, dazu noch ständig von der Nordsee bedroht, fand Maik bedrückend.
Plötzlich geriet Volker, in Begleitung eines Mannes, in sein Blickfeld. Erst sah es so aus, als ob die beiden aufs Café zusteuerten, doch dann drehten sie ab und gingen weiter. Maik war sicher, dass Volker ihn gesehen hatte. Was sollte das? Wieso mied Volker ihn? Ach, Scheiß drauf! Dann würde er Volker eben auch meiden.
Auf dem Weg zu seiner Wohnung sah er die beiden erneut. Sie standen vor einem Schaufenster und beäugten die Auslagen. Rasch wechselte er die Straßenseite, wobei er demonstrativ keinen Blick in ihre Richtung warf.
Obwohl er das Thema für abgehakt erklärt hatte, beschäftigte es ihn weiterhin. War es Volker peinlich, ihn – einen Schwulen - zu kennen? Sein nur schwach ausgeprägter Gaydar hatte eigentlich gemeldet, es mit einem Gleichgesinnten zu tun zu haben. Wie gesagt: schwach ausgeprägt. Dass Volker mit einem Mann durch die Gegend rannte, war nicht unbedingt ein Indiz, um seine vage Empfindung zu bekräftigen. Auch Hetero-Männer trieben sich zu zweit herum.
Der Gedanke, dass seine sexuelle Ausrichtung Volker abstieß, machte ihn sauer. Homophobe Personen konnte er auf den Tod nicht leiden. Es war also gut, dass sie einander nicht mehr kannten.
Soweit er sich erinnerte, wollte Volker nur für ein verlängertes Wochenende bleiben und würde somit in zwei Tagen abreisen. Er brauchte also lediglich einen begrenzten Zeitraum seine Aktivitäten derart planen, dass man einander nicht begegnete.
Mit der homophoben Einstellung war Volker auf der Insel in guter Gesellschaft. Mehr als einmal hatte Maik angeekelte Mienen bemerkt, wenn er Hand in Hand mit Bodo spazieren gegangen war. Diesbezüglich war man auf Sylt und Föhr toleranter, was wohl an der größeren Einwohnerzahl lag. In dörflichen Gegenden hielten sich mittelalterliche Ansichten erwiesenermaßen länger.
Wenn seine Vermutung stimmte, war Volker ein verdammt guter Schauspieler. Während ihres gemeinsamen Abendessens hatte er nämlich kein Fünkchen Ablehnung gespürt. Bei ihm war sogar der Eindruck entstanden, dass sie sehr gut miteinander klarkamen. Tja … seine Menschenkenntnis schien keinen Pfifferling wert zu sein. Das hatte Bodo ihm auch mehrfach aufs Brot geschmiert.
Am nächsten Morgen verließ er früh das Haus, um am Strand bis nach Nebel zu wandern. Dort verleibte er sich einen Imbiss in Form eines Fischbrötchens ein, bevor es mit dem Bus weiter nach Norddorf ging. Den Rückweg absolvierte er nach einer ausgiebigen Pause wieder über den Strand, so dass er erst spätnachmittags in Wittdün eintraf. Trotzdem er körperlich fit war, spürte er jeden Muskel in seinen Beinen.
Am folgenden Tag erholte er sich von der Strapaze, indem er die meiste Zeit auf seinem Balkon verbrachte. Ab mittags lag der Freisitz in der Sonne, so dass es, gegen den kühlen Wind durch eine Wolldecke abgeschirmt, gut auszuhalten war.
Gen Abend beobachtete er mit einem Fernglas das Treiben auf dem Anleger, um rauszufinden, ob Volker wie erwartet abreiste. Tatsächlich begab sich sein Zielobjekt in Begleitung des Typen auf die Fähre. Maik atmete auf. Er fand es anstrengend, ständig auf Tauchstation zu bleiben, um eine Konfrontation zu vermeiden. Es war ihm nämlich überhaupt nicht egal, dass Volker ihn – wie man so schön auf Neudeutsch sagte – ghostete. Es verletzte seinen Stolz.
Den Rest seiner Urlaubswoche – er hatte sich nur eine genehmigt, als Test, ob er es allein auf Amrum aushielt – versuchte er, nicht mehr an den Mist zu denken. Bei weiterhin schönem Wetter sammelte er Muscheln am Strand, besuchte die Mühle, stieg auf den Leuchtturm und wanderte über den Nebler Friedhof. Jeden zweiten Tag fragte Henning per SMS nach seinem Befinden. Stets antwortete er höflich und knapp. Eines stand fest: Nach seiner Rückkehr war ein ernstes Gespräch fällig.
Sein Vorhaben, den Scheiß aus seinem Kopf zu streichen, schaffte er nur teilweise. Immer, wenn er am Café Pustekuchen oder dem italienischen Restaurant vorbeikam, war Volkers Verrat wieder präsent. Ihm war es weiterhin schleierhaft, wie sich ein Mensch über Nacht derart verändern konnte.
Am Tag seiner Abreise überfiel ihn Wehmut. Er wäre gern noch länger geblieben, was er als gutes Zeichen wertete. Also konnte er einen ausgedehnteren Inselurlaub im Sommer einplanen.
„Irgendwie bist du scheiße drauf“, maulte Lasse, als sie in Dagebüll von der Fähre gingen. „Kannst du mal anders als sauertöpfisch gucken?“
Wie sollte Volker das anstellen, obwohl sein Partner ihm die letzten beiden Tage verdorben hatte? Und wie sollte er Lasse das mitteilen, ohne persönlich zu werden? Provinznest, Shoppingwüste, Einöde – das waren nur ein paar der Schimpfwörter, mit denen sein Mann Amrum bedacht hatte.
Er klebte sich ein Lächeln auf die Lippen.
„Na also“, brummelte Lasse.
Das war für lange Zeit das letzte, was sie miteinander sprachen. So hatte Volker Gelegenheit, seine Gedanken schweifen zu lassen. Maik ausgewichen zu sein fand er schäbig, aber was hätte er sonst tun sollen? Lasse und Maik einander vorstellen? Lieber nicht. Maik, der die Insel offensichtlich mochte und dort sogar eine Wohnung besaß, mit dem Anti-Amrum-Lasse bekanntzumachen, hätte Diskussionen provoziert. Vielleicht wäre sein Mann obendrein eifersüchtig geworden, obwohl es dazu keinen Grund gab. Wirklich nicht?, flüsterte eine Stimme in seinem Schädel. Zugegeben: Maik gefiel ihm sehr. Gäbe es Lasse nicht, hätte er einen Flirtversuch gewagt.
Dann schaff Lasse doch ab. Eure Partnerschaft besteht doch sowieso nur noch aus Gewohnheit. Da steckte leider wieder ein Körnchen Wahrheit drin. Das, was er Harmonie nannte, waren eingefahrene Gewohnheiten, wie beispielsweise ihr Sex, der mittwochs und samstags stattfand. Die Sache selbst war auch nicht sonderlich abwechslungsreich. Meist trieben sie es im Doggystyle.
Na, siehst du? Willst du das etwa für den Rest deines Lebens so hinnehmen? Die Aussicht, noch rund dreißig Jahre so weiterzumachen, war echt nicht berauschend. Die, mit Lasse Schluss zu machen, allerdings ebenfalls nicht.
Im Laufe der folgenden Tage suchte die Stimme ihn immer öfter heim. Hinzukam, dass er häufig an Maik dachte. Zu gern würde er einen Abend wie in dem italienischen Restaurant wiederholen. Da er Maiks Kontaktdaten nicht besaß, noch nicht mal den Nachnamen, war es unwahrscheinlich, dass sie sich je wiedersahen. Und so lange du mit Lasse zusammen bist, käme das eh nicht infrage.
Am Samstag machte Lasse den Vorschlag, ihren Sommerurlaub auf Ibiza zu verbringen.
Von heftigem Unwillen erfasst stieß er hervor: „Nur über meine Leiche! Da kannst du allein hinfahren.“ Er hasste Ibiza noch mehr als Mallorca, was Lasse sehr wohl wusste.
„Vielleicht mache ich das sogar.“ Lasse bedachte ihn mit einem bösen Blick.
Volker schnaubte verächtlich, verließ die Küche, in der sie gerade zu Abend gegessen hatten und stellte sich im Wohnzimmer an die Fensterfront. Allmählich setzte sich der Frühling durch. Die Krokusse waren verblüht, dafür sah man überall grüne Knospen.
Er hörte, dass Lasse hereinkam, drehte sich aber nicht um, weil er keinen Bock auf reden hatte.
„Volki? Ich glaube, wir sollten uns trennen. Wenn wir noch nicht mal mehr gemeinsam Urlaub machen, was bleibt dann noch?“
Konnte Lasse Gedanken lesen? Seufzend wandte er sich um. „Du hast recht. Mir gefällt das zwar nicht, aber es gibt wohl keine andere Möglichkeit.“
„Tja ... dann gehe ich mal meine Koffer packen.“ Sprach’s und trottete davon.
Ein harmoniesüchtiger Impuls, Lasse zurückzuhalten, überkam ihn, doch er zwang sich, dem nicht nachzugeben. Es war der richtige Schritt, auch wenn es wehtat. Sie hatten schöne Jahre miteinander verlebt, doch davon war wirklich nichts mehr übrig. Abermals seufzend ließ er sich in einem der Sessel nieder.
Als er Schritte auf der Treppe vernahm, blinzelte er und schaute auf die Uhr. Eine halbe Stunde hatte er ins Leere gestarrt? Ihm kam’s kürzer vor.
Lasse erschien im Türrahmen. „Ich penne erstmal bei Martin. Sobald ich eine Wohnung gefunden habe, hole ich den Rest.“
Martin war Lasses Busenfreund. Manchmal hatte Volker den Eindruck, dass die beiden füreinander geschaffen waren. Vielleicht erkannten sie es ja, wenn sie aufeinander hockten.
Er stand auf, unschlüssig, ob er Lasse zum Abschied umarmen sollte. „Du musst nicht gleich ausziehen. Das Haus ist groß genug, dass wir uns aus dem Weg gehen können.“
Lasse winkte ab. „Lieb gemeint, aber es ist besser so.“
Das stimmte und er war froh, dass sein halbherziges Angebot ausgeschlagen wurde.
„Dann ... mach’s gut.“ Lasse schenkte ihm ein gezwungenes Lächeln.
Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss. Die zurückbleibende Stille war ohrenbetäubend. Volker sank zurück in den Sessel und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Trotz allem tat die Trennung weh.
Den Sonntagvormittag verbrachte er damit, Lasses Krimskrams aus dem Wohnzimmer zu räumen. Das Haus gehörte ihm, bezahlt mit einem vorzeitigen Erbteil seiner Eltern. Die Möbel hatten sie größtenteils gemeinsam beschafft. Darüber mussten sie verhandeln. Einige hatte Volker nie gemocht, einige würde er gern behalten.
Nachdem er die Kartons im Keller verstaut hatte, setzte er sich ans Notebook und buchte für den Sommer ein Quartier auf Amrum. Es war befriedigend, solche Entscheidung ohne Diskussion fällen zu können. Danach reservierte er für das folgende Wochenende ein Hotelzimmer in Wittdün. Vielleicht hatte er Glück, dass sich Maik noch auf der Insel befand. In den Brancheneinträgen Hamburgs nach Klempnern mit diesem Vornamen zu suchen, hielt er für zwecklos, daher probierte er es gar nicht erst.
Kaum ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch, meldete sich die Stimme in seinem Kopf zu Wort. Sollte er eine angemessene Trauerfrist verstreichen lassen, bevor er auf die Pirsch ging? Hatte er die Beziehung mit Lasse schon vor dem offiziellen Ende geistig abgehakt? Es sah ganz danach aus.
Dennoch vermisste er Lasse. Das Haus war so leer ohne ihn. Kurzerhand rief er seine Schwester an, die ihn einlud, auf einen Kaffee vorbeizukommen.
Anita war geschieden und wohnte mit ihren beiden fast erwachsenen Kindern in einem Haus in Bramfeld, ungefähr zehn Minuten mit dem Auto entfernt. Als er bei ihr aufschlug, brach sein Neffe Bobo gerade auf. Es reichte nur für ein „Hi Onkel Volker“, bevor die Haustür hinter dem Jungen zuklappte.
„Hi Bobo-Bärchen!“, rief er seinem Neffen hinterher. „War nett, mit dir zu plaudern!“
„Lass ihn. Er ist in einer schwierigen Phase“, erklärte seine Schwester, die ihm die Tür geöffnet hatte.
Er folgte ihr in die Wohnküche, um die er sie glühend beneidete. In seiner war lediglich Platz für einen kleinen Zwei-Personen-Tisch. In ihrer stand ein großes, rundes Exemplar mit sechs Stühlen.
Auf einem davon nahm er Platz. „Lasse und ich haben uns getrennt.“
Seiner Schwester fiel die Kinnlade runter. Die Kaffeekanne in der einen Hand, einen Becher in der anderen, starrte sie ihn ungläubig an.
„Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir nicht zusammenpassen“, fuhr er fort.
„Meinst du, ich hab jetzt eine Chance bei ihm?“ Anita ließ sich ihm gegenüber nieder.
„Dazu fehlt dir ein entscheidendes Teil und zwei hast du zu viel.“
„Schwänze werden überbewertet.“ Sie füllte den Becher und schob ihn zu Volker rüber. „Und Hängetitten gibt es auch bei Männern.“
„Dank einem Schwanz hast du zwei entzückende Kinder.“
Anita verdrehte die Augen. „Wohl eher wegen dem, was da rausspritzt. Das hätte ich mir auch in der Samenbank besorgen können.“
„Jedenfalls wird Lasse nicht für dich konvertieren.“
„Schade“, brummelte sie.
„Letztes Wochenende war ich auf Amrum.“
„Was wolltest du denn da?“
„Ausspannen.“
„Das kannst du doch auch auf der Couch.“
„Du würdest wirklich gut zu Lasse passen.“
„Sag ich doch.“ Sie schnappte sich einen Keks von dem Teller, der in der Mitte des Tisches stand. „Die hab ich selbst gebacken.“
Skeptisch beäugte er das Gebäck. „Warum sehen die so braun aus?“
„Weil ich sie zu lange im Ofen gelassen habe. Man kann sie aber noch essen.“
„Ich hab auch Amrum jemanden kennengelernt“, nahm er den Faden wieder auf.
„A-HA!“, rief Anita und zeigte mit dem angebissenen Keks auf ihn. „Da liegt also der Hase im Pfeffer.“
„Wir haben nur ein bisschen geplaudert.“
Sie winkte ab. „Das sagen sie alle.“
„Ich glaube, ich will nicht mehr dein Bruder sein.“
Jemand trampelte die Treppe runter und kam in die Küche. Seine Nichte Enni. Wie immer seit einiger Zeit trug sie schwarz. Ihre Haare waren zu winzigen Zöpfen geflochten, an denen Perlen hingen. Der Look wurde vervollständigt durch knallrote Lippen und kohlschwarz umrandete Augen.
„Hi Volki.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich an ihre Mutter wandte: „Ich brauche zwanzig Euro.“
„Sagen das nicht alle?“, murmelte Volker grinsend.
Zum gleichen Zeitpunkt, zu dem sich Enni den Gruftie-Rasta-Lolita-Look zugelegt hatte, war sie von Onkel Volker auf Volki umgestiegen.
„Wofür?“, wollte Anita wissen.
„Mein Taschengeld ist alle.“
„Ein schlagkräftiges Argument.“ Er nickte ernst.
„Ich wüsste trotzdem gern den Verwendungszweck“, beharrte seine Schwester.
Enni rollte mit den Augen, als wäre dieser Wunsch unfassbar. „Ich muss ins Kino.“
Volker verkniff sich den blöden Spruch: Was muss, das muss. Schließlich wollte er die Erziehung seiner Schwester nicht allzu sehr bombardieren.
„Was läuft?“, erkundigte sich Anita.
„Der neue Ghost-Buster.“
„Was? Gibt es noch einen Teil?“, wunderte er sich.
„Das ist ein Remake“, klärte ihn seine Nichte auf. „Das muss man gesehen haben.“
Er nickte verständig, zückte seine Börse und hielt ihr einen braunen Schein hin. „Das Wechselgeld kannst du behalten.“
Seine Schwester kniff die Lippen zusammen und bedachte ihn mit einem Danke, du Arschloch Blick.
„Du bist der beste!“, rief Enni, schnappte sich das Geld, hinterließ einen feuchten Kuss auf seiner Wange und raste davon.
Einige Momente herrschte Schweigen. Er nippte an seinem Kaffee und betrachtete erneut die Kekse. Sollte er einen runterwürgen, um des lieben Friedens willen?
„Wo waren wir stehengeblieben? Irgendwas mit Amrum“, ergriff Anita das Wort.
„Ich war auf Amrum mit Maik essen und nun würde ich ihn gern wiedersehen.“
„Dann ruf ihn doch an.“
„Ich weiß nur seinen Vornamen, dass er auch in Hamburg wohnt und Klempner ist.“
„Dann frag Google. Mit den drei Kriterien sollte der Klempner Maik doch leicht zu finden sein.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus.
„Also fahre ich nächstes Wochenende wieder nach Amrum.“
„Ich komme mit.“ Sie nahm einen weiteren Keks. „Kann eine Auszeit gut gebrauchen.“
„Willst du deine Kinder echt allein lassen?“
„Die sind bei Horst.“
Das war ihr Exmann. „Ich will aber nicht das ganze Wochenende angemotzt werden, weil auf Amrum nichts los ist.“
Sie überkreuzte zwei Finger und schwor: „Das tue ich nicht.“
„Na gut. Dann buche ich dir nachher auch ein Zimmer.“
„Zimmer?“
„Für so kurze Aufenthalte bekommt man keine Ferienwohnung.“
„Hotel? Pension?“
„Hotel. Ich hoffe, die haben noch ein Einzelzimmer.“
„Wir können uns ein Zimmer teilen.“
„Lieber nicht. Du schnarchst mir zu laut.“
Anita lachte. „Sagt der, der nachts ganze Wälder abholzt.“
„Lasse hat sich nie beschwert.“
„Vermutlich hättest du ihm sonst Sexentzug verordnet.“
„Auf wessen Seite stehst du?“, beschwerte er sich.
„Natürlich auf deiner.“
Schritte auf der Treppe kündigten Enni an. Seine Nichte spähte in die Küche. „Ich bin dann mal weg.“
„Um zehn bist du spätestens zu Hause.“
„Ja, ja“, brummelte Enni, winkte zum Abschied und huschte davon.
Laut fiel die Haustür ins Schloss.
„Wie läufts bei den beiden in der Schule?“, fragte Volker.
„So la-la. Aber zumindest gehen sie noch jeden Tag hin.“
Wenn ihre Eltern das mitbekommen hätten, hätten sie die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Beide waren kurz hintereinander gestorben. Zu dem Zeitpunkt war Anitas Nachwuchs noch klein und niedlich und sie noch nicht geschieden gewesen.
„Es tut mir leid wegen Lasse.“ Anita griff über den Tisch und tätschelte seine Hand. „Ich fand, dass ihr gut zusammenpasst.“
„Tja ... das dachte ich auch.“
Am folgenden Wochenende hatte Volker kein Glück. Maik schien Amrum bereits verlassen zu haben und seine Schwester hielt sich nicht an ihr Versprechen. Sie motzte aber weniger als Lasse, so dass es auszuhalten war.
„Wie schön, dass du wieder da bist, Chef“, begrüßte seine Assistentin Linda Maik am Montagmorgen.
„Gab’s Probleme?“
Sie schüttelte den Kopf. „Alles paletti.“
Jamal traf fünf Minuten später ein. Sie besprachen die anliegenden Aufträge. Drei davon konnte sein Geselle allein erledigen, so dass ihm Zeit bleib, ein bisschen Bürokram aufzuarbeiten. Auf seinem Schreibtisch hatte sich ein Berg Papiere angesammelt.
Gegen zehn klingelte sein Telefon. Hennings Büronummer stand im Display. Seufzend griff Maik nach dem Hörer. „Hallo Nervensäge.“
„Gehen wir heute Abend zusammen essen?“
„Wann und wo?“
„Um sieben bei Carlos?“
Das war ihr Lieblingsspanier. „Okay. Bis nachher.“
„Ciao Schatzi.“ Ein Kussgeräusch drang an sein Ohr.
Er musste schmunzeln. Henning war süß. Irgendwann würde sein Kumpel jemanden finden, der das zu schätzen wusste und auf rothaarige Twinks stand. Maik bevorzugte Männer in seiner Größe und Statur, möglichst mit braunen Augen.
Rechtzeitig zur Mittagspause tauchte Jamal wieder auf. Sein Mitarbeiter stammte aus Montenegro, was man nur noch an dem südländischen Äußeren und dem Eintrag im Personalausweis erkannte. Jamal sprach nämlich besser Deutsch als so mancher Weißer, der hier geboren war. Durfte man überhaupt noch Weißer sagen, oder war das genauso verpönt wie Schwarzer und so weiter? Oder galten diese Reglementierungen nur für Minderheiten? Und hast du keine andere Probleme?, erklang eine sarkastische Stimme in seinem Kopf.
Jamal verzog sich in die Werkstatt. Vermutlich, um das mitgebrachte Butterbrot zu essen. Sein Geselle war so sparsam, dass Linda und er oft scherzhaft meinten, Jamal hätte Stacheldraht an den Hosentaschen. Beim ersten Mal hatten sie dafür einen verständnislosen Blick geerntet. Inzwischen kannte Jamal die Bedeutung und grinste stets, wenn sie ihn damit aufzogen.
Da Linda in den Imbiss, der nur wenige Minuten entfernt lag, gehen wollte, übernahm Maik das Telefon. Zur Mittagszeit riefen zwar kaum Kunden an, aber ständige Erreichbarkeit während der Geschäftszeiten hielt er für unabdingbar.
Um sechs machte er Feierabend. Linda und Jamal waren bereits vor über einer Stunde gegangen. Sein Heimweg dauerte nur eine Minute, weil sich Bürotrakt und Lager auf dem gleichen Grundstück wie sein Zuhause befanden. So konnte er, wenn ein Notruf reinkam, blitzschnell reagieren und sparte haufenweise Zeit, die andere im Berufsverkehr feststeckten.
Nach einer kurzen Dusche rasierte er sich und zog eine saubere Jeans und das bernsteinbraune Hemd an, das sein Liebster so sehr an ihm gemocht hatte. Es betont die wunderschöne Farbe deiner Augen, hörte er Bodos Worte, als hätte er sie erst gestern gesagt. Er hatte die romantischen Anwandlungen seine Gatten geliebt, so wie alles an ihm.
Pünktlich um sieben betrat er das Carlos, ein winziges Lokal mit urigem Ambiente. Henning saß schon an einem der Tische und winkte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Während er sich durch den eng bestuhlten Raum schlängelte, streifte er seine Jacke ab.
„Wie schön, dass du endlich wieder da bist.“ Henning strahlte ihn an.
„Ich war nur eine Woche weg.“ Er hängte die Lederjacke über die Lehne des Stuhls, bevor er sich darauf niederließ.
„Du hast mir gefehlt.“
„Henning! Reiß dich zusammen, sonst gehe ich gleich wieder.“
Sein Gegenüber seufzte. „Sorry. Ich kann doch nichts dafür, dass ich dich liebe.“
„Und ich kann nichts dafür, dass ich dir nicht die Liebe geben kann, die du verdienst.“
Der Kellner, der an ihrem Tisch aufkreuzte, reichte ihnen Speisekarten und verschwand mit ihrer Getränkebestellung. Maik brauchte nur einen kurzen Blick in das Angebot werfen, um sich zu entscheiden. Meist aß er die Paella und würde es heute wieder tun.
Auch Henning klappte die Karte rasch wieder zu. „Wie war’s auf der Insel?“
„Das weißt du doch schon. Wir haben jeden Tag Nachrichten geschrieben.“
„Immer nur einen Satz.“
„Das Wetter war durchgehend schön. Ich bin viel gewandet, hab reichlich Umsatz bei den örtlichen Gastronomen gemacht und die Seele baumeln lassen.“
„Also war es nicht so schlimm wie befürchtet?“
Vor seiner Abreise hatte er mit Henning darüber gesprochen, dass er Angst hatte, überall Bodo zu begegnen. Er schüttelte den Kopf.
„Hast du jemanden kennengelernt?“, bohrte Henning weiter.
„Einmal war ich mit einem anderen Feriengast essen und das war’s schon.“ Er erzählte, wie sich die Sache mit Volker zugetragen hatte. Unterdessen brachte der Kellner ihre Getränke.
Mit dem bestellten Glas Wein prostete Henning ihm zu. „Sei froh, dass dich dieses homophobe Arschloch danach in Ruhe gelassen hat.“
Er hob ebenfalls sein Weinglas. „Das bin ich auch.“ Noch viel froher wäre er gewesen, wenn sich Volker als lieber, schwuler Mann entpuppt hätte. Gefallen hatte der Typ ihm nämlich schon sehr.
„Also fährst du im Sommer wieder nach Amrum?“
Maik nickte. „Ich habe schon drei Wochen geblockt.“
Er vermietete die Wohnung an eine Handvoll Leute, die er kannte. Darauf, Fremde in sein Eigentum zu lassen, hatte er keine Lust. Es war bezahlt und würde ihn nur einen Haufen Einkommensteuer kosten.
„Es lohnt wohl nicht zu fragen, ob ich mitkommen darf“, brummelte Henning.
„Stimmt. Aber du kannst die Wohnung gern nutzen, wenn ich nicht dort bin.“
„Mal sehen ...“
Nach diesem Abend hielt sich Henning mehr zurück. Auf der Geburtstagsfeier ihres gemeinsamen Freundes Paul, die zwei Wochen später stattfand, knutschte sein Kumpel sogar mit einem der Gäste rum. Die Sache schien somit endlich erledigt zu sein. Das hoffte er jedenfalls.
Ansonsten lief alles seinen gewohnten Gang. Das Geschäft brummte. Jamal, der seit rund zwei Jahren bei ihm arbeitete, war eine zuverlässige Hilfe. Maik befürchtete, dass sein Mitarbeiter irgendwann einen eigenen Betrieb eröffnen würde. Um den entgegenzuwirken, erhöhte er Jamals Gehalt. Warum sollte er Geld auf Kosten seiner Angestellten scheffeln, wenn er doch eh schon genug hatte? Und wieso dachten andere Chefs nicht genauso? Man siehe sich doch nur die Arschgeigen an, denen Tesla oder Amazon gehörten. Die waren unanständig reich, die Mitarbeiter konsequent unterbezahlt.
Im Mai gastierten Paul und dessen Partner Anton in der Amrumer Wohnung, in der ersten Junihälfte Jamals Schwager mit Gattin und Kind. Unmittelbar im Anschluss hatte sich Henning eine Woche erbeten. am fünfundzwanzigsten Juni gaben sie sich praktisch die Klinke in die Hand: Maik reiste gegen zwei Uhr an, Henning saß bereits auf gepackten Koffern.
„Der Flirtfaktor ist hier praktisch null“, maulte Henning. „Nur in der Blauen Maus hatte ich Glück. Einer der Barkeeper ist Zucker.“
„Und? Hast du ihn gedatet?“
Henning schüttelte den Kopf. „In der Saison arbeitet der rund um die Uhr. Er sagt, ich soll im Herbst nochmal herkommen.“
„Das sind ja nur noch zwei Monate.“
„Bis dahin hab ich ihn vergessen.“
Sie drehten eine gemächliche Runde um die Südspitze und wanderten die Promenade entlang, bevor sie ins Café Pustekuchen einkehrten. Unweigerlich erinnerte das Maik an den Nachmittag mit Volker. Es blieb ihm weiterhin unbegreiflich, dass der Schwulenhasser mit ihm Essen gegangen war. Bei dem stimmte doch irgendwas nicht.
„Ich kann mir nicht vorstellen, ständig hier zu leben“, verriet Henning. „Klar, wunderschöne Natur, aber der Rest ... immer die gleichen Gesichter und im Sommer überall Touris.“
„Genau, so wie dich und mich.“
„Gestern, im Supermarkt, hab ich gehört, wie ein Angestellter zum anderen sagte: Hat es in der Nähe gebrannt? Was die damit meinten, hab ich erst begriffen, als ich gesehen habe, dass die beiden feixend einen Schwarzen, der an der Kasse Schlange stand, anguckten.“
Einen Moment stand Maik auf dem Schlauch, dann fiel der Groschen. „Ich denke, wenn Leute mit niedrigem Bildungsniveau in einer kleinen, geschlossenen Gemeinschaft leben, schlagen sie automatisch auf alles Andersartige ein.“
„Ich find’s pervers.“
Maik nippte an seinem Kaffee. „Ganz meine Meinung.“
Im Anschluss an ihren Cafébesuch, begleitete er Henning zur Fähre.
Sein Kumpel gab ihm ein Abschiedsküsschen auf die Wange. „Amüsier dich gut.“
„Ich werde mir Mühe geben.“
Er schaute Henning hinterher, bis dessen Gestalt von den anderen Passagieren verdeckt wurde. Langsam legte er den Weg zu seiner Wohnung zurück. Als erstes musste er die Vorräte sichten, ob es einer Aufstockung bedurfte.
Am gewöhnungsbedürftigsten bei jedem Aufenthalt fand er die restriktiven Ladenschlusszeiten. In den meisten Ferienorten hatten Geschäfte in der Saison lange geöffnet. Auf Amrum hingegen wurden sämtliche Läden um sechs geschlossen. Wenn man um fünf nach sechs die Inselstraße entlangging, gewann man den Eindruck, die Bürgersteige wären hochgeklappt worden, so leer waren die Gehwege und Straße.
Henning hatte gut vorgesorgt. Es gab reichlich Milch, Kaffee, Marmelade, Eier und Toast; außerdem zwei Flaschen Wein, einen Sixpack Bier, Salzstangen und Chips. Auch der Zustand der Wohnung war super. Die Böden blitzten, nirgendwo ein Stäubchen.
Flink packte Maik seine Sachen aus und bezog das Bett. Danach begab er sich auf die Jagd an einer warmen Mahlzeit.
Texte: Sissi Kaiserlos / Kairpurgay
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2023
Alle Rechte vorbehalten