Cover

Wahrheit oder Pflicht

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.


Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Fotos: Herz: Depositphotos_38359793_XL, Cover: Shutterstock 419627521

Cover-Design: Lars Rogmann

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

https://www.sissikaipurgay.de/


Wahrheit oder Pflicht

Für Leonard sind Treue und Ehrlichkeit in einer Beziehung Pflicht. Als er seinen Ehemann in flagranti erwischt, ist das für ihn ein Scheidungsgrund, zumal Philip schon vorher fremdgegangen ist. Oder sieht er das zu eng? Muss man eine gewisse Anzahl Fehltritte akzeptieren? Das Schicksal bietet ihnen eine Chance, ihre Ehe zu kitten, aber dafür müssen sie erstmal ihre Gefühle sortieren.

Prolog

Die Stimmung näherte sich dem Siedepunkt, dabei war es erst elf. Irgendein Idiot hatte glitzerndes Konfetti mitgebracht. Das Zeug hing in Leonards Haaren und überall an seiner Kleidung. Sogar in sein Bier hatten sich ein paar Schnipsel verirrt. Seine Schuld. Warum trank er auch welches vom Fass, anstatt eine Flasche zu bestellen?

Silvester im Goldenen Hirsch zu verbringen, war Philips Idee. Leonard hätte es vorgezogen, entweder im kleinen Kreis oder zu zweit zu feiern. Da er aber kein Spielverderber sein wollte, hatte er zugestimmt. Zweimal war er inzwischen sogar mit Philip auf der Tanzfläche gewesen. Das erinnerte ihn an alte Zeiten, daran, wie sie sich kennengelernt hatten. Mein Gott! Er klang schon wie ein Gruftie. Es war doch erst sieben Jahre her, dass sie sich hier getroffen und ineinander verliebt hatten.

Er trank einen Schluck, wobei er die Anwesenden musterte. Einige Gesichter kamen ihm bekannt vor.

Einst hatte er zum Stammpublikum gehört, doch seit er mit Philip zusammen - mittlerweile sogar verheiratet - war, ging er nur noch selten hierher. Tanzen war nicht sein Ding und sich bei der lauten Musik zu unterhalten, fand er überaus anstrengend. Wenn man über dreißig war, änderten sich eben einige Dinge. Philip hingegen wäre am liebsten weiterhin jedes Wochenende losgezogen. Streit hatte es deswegen nie gegeben. Wenn sein Mann ausgehen wollte, dann musste er das eben allein tun. Leonard traf sich dann mit Freunden oder verbrachte den Abend vor der Glotze.

Streit hatte es allerdings gegeben, als Philip vor einiger Zeit nach Hause kam und nach Sex stank. Als mildernde Umstände galten Philips Alkoholpegel und die Tatsache, dass in ihrem Bett seit mehreren Wochen tote Hose herrschte. Der Grund für letzteres war Leonards angeschlagene Gesundheit gewesen: Auf eine Magenschleimhautentzündung folgten Migräneattacken. Wenn man sich derart mies fühlte, hatte man eben keine Lust auf Bettsport.

Obwohl er also den Anlass für Philips Fremdgehen in gewisser Weise verstand, war er nicht damit einverstanden. Treue gehörte für ihn, neben Ehrlichkeit, zu den wichtigsten Bestandteilen einer Beziehung.

Philip leugnete den Fehltritt nicht und zeigte Reue. Zwei Nächte verbrachte Leonard bei seinem Bruder Gunnar und dessen Frau, bevor er sich in der Lage sah, seinen Platz im Ehebett wieder einzunehmen. Bis er Philip an sich ranlassen konnte, dauerte es etwas länger.

Er gehörte zu den Typen, die Sex und Liebe nicht unterschieden. Zwar wusste er, dass Philip anders tickte, doch das sagte lediglich sein Verstand. Sein Gefühl sagte, dass Philip ihn nicht nur körperlich, sondern auch emotional betrogen hatte. Das machte die Sache besonders schmerzhaft.

Abermals ließ er den Blick über die Gäste schweifen. Wo steckte Philip? Sein Mann wollte bloß pinkeln gehen. Vielleicht war er von irgendeinem Bekannten im Schwatz aufgehalten worden.

Weil Leonard keinen Bock hatte, noch länger allein rumzustehen, leerte er sein Glas und begab sich in Richtung der Toiletten. Dafür musste er einen Torbogen passieren, an den sich ein Gang anschloss, an dessen Ende die Keramikabteilung lag. Ungefähr in der Mitte befand sich die offenstehende Tür zum Darkroom.

Als er an letzterem vorbeikam, warf er einen neugierigen Blick hinein. Ihm blieb das Herz stehen, als er unter den kopulierenden Männern Philip erkannte. Mit den weizenblonden Haaren war sein Mann sogar im Halbdunkel leicht auszumachen.

Philip lehnte an der Wand und ließ sich von einem Typen mit Krauskopf einen blasen. An der Situation gab es nichts zu deuteln, auch wenn Leonard den Bläser bloß von hinten sah. Unterhalten würde der sich wohl kaum mit Philips Schwanz.

Er kehrte um, durchquerte den Club, ließ sich seine Jacke an der Garderobe aushändigen und trat ins Freie. Nachdem er ein paarmal tief durchgeatmet hatte, stieg er in eines der Taxis, die am Bordstein standen.

Leonard nannte dem Fahrer seine Adresse und lehnte sich zurück. Wie konnte Philip ihm das antun? War das Absicht gewesen? Eine Trennungsansage auf diesem Weg? Wenn ja, warum? Sie sprachen doch über alles. Nun, anscheinend nicht. Er fühlte sich wie betäubt. Vermutlich eine Schutzreaktion seines Geistes auf die schreckliche Erkenntnis, dass ihre Ehe vorbei war.

Als er in ihrer gemeinsamen Wohnung ankam, holte er zwei Koffer aus der Abstellkammer und begann zu packen. Glücklicherweise besaß er einen Schlüssel für Gunnars Haus. Sein Bruder war mitsamt Gattin an die Ostsee gereist und würde erst am 2. Januar zurückkehren.

Rund zwanzig Minuten nach seiner Ankunft brach er wieder auf. Um zu fahren, hatte er zu viel getrunken, weshalb er mit den Trolleys zum nächsten Bahnhof ging. Ungefähr auf halber Strecke vibrierte sein Smartphone. Er blieb stehen, zog es aus der Hosentasche und sah Philips Konterfei auf dem Display. Ihm war danach, es auf den Boden zu schmettern und darauf rumzutrampeln.

Stattdessen nahm er das Gespräch an: „Hallo Arschloch.“

„Wo steckst du?“

„Ich ziehe gerade aus. Schönes Leben noch.“ Er beendete die Verbindung, sperrte Philips Nummer und setzte seinen Weg fort.

1.

Allmählich erwachte die Natur aus dem Winterschlaf. Noch war es bloß eine Ahnung, hier und da Knospen an den Sträuchern, doch man konnte es förmlich riechen: Die kalte Jahreszeit verabschiedete sich.

Leonard manövrierte seinen Wagen in eine schmale Parklücke, stieg aus und ging auf das Haus zu, in dem er ein möbliertes Appartement bewohnte. Der Eigentümer, ein Freund seines Bruders, befand sich auf Weltreise. Welch glückliche Fügung, dass sie zu dem Zeitpunkt frei wurde, als er dringend eine neue Bleibe benötigte. Er hätte zwar noch länger das Gästezimmer bei Gunnar und seiner Schwägerin belegen können, wollte den beiden aber nicht länger auf die Nerven fallen. Besuch war ja bekanntermaßen wie Fisch: Nach drei Tagen fing er an zu stinken.

Die Wohnung lag im Erdgeschoss, bestand aus zwei Zimmern, Küche sowie Bad und besaß eine Terrasse. Das Mobiliar erinnerte an eine Ferienwohnung: Schlichte Holzmöbel, helle Polster und nichtssagende Bilder an den Wänden. Laut Gunnar hielt sich der Freund nur zwischen den Reisen darin auf. Es handelte sich um einen Blogger, der Einkünfte mit den Trips erwirtschaftete.

Nachdem er seinen Anzug – wegen eines Kundentermins war Dresscode angesagt gewesen – gegen etwas Bequemeres getauscht hatte, ließ er sich im Wohnzimmer auf der Couch nieder.

Obwohl Silvester drei Monate her war, steckte ihm das Erlebnis weiterhin in den Knochen. Das Bild, wie sich Philip einen blasen ließ, hatte sich in seine Netzhaut eingebrannt. Mit seinem zukünftigen Exmann hatte er seit dem kurzen Telefonat kein Wort gewechselt. Natürlich würden sie irgendwann reden müssen, aber dazu fühlte er sich noch nicht in der Lage.

Er griff nach der Fernbedienung für die Glotze. Im selben Moment begann sein Smartphone zu vibrieren. Seufzend, weil er auf telefonieren überhaupt keine Lust hatte, zog er das Gerät aus der Hosentasche. Erstaunt sah er den Namen seiner Schwiegermutter auf dem Display. Sie hatten zuletzt am Silvestermorgen miteinander gesprochen.

Das Verhältnis zu seinen Schwiegereltern war sehr herzlich. Sie hatten ihn wie einen zweiten Sohn in der Familie willkommen geheißen.

„Hallo Elke“, meldete er sich, darauf gefasst, dass sie versuchen würde, Frieden zwischen Philip und ihm zu stiften.

„Leonard, mein Schatz ...“ Sie seufzte. „Ich hab lange darüber nachgedacht, ob ich dich behelligen darf.“

„Worum geht’s denn?“

„Vor einer Woche hatte Philip einen Unfall. Inzwischen ist er soweit genesen, dass man ihn aus dem Krankenhaus abschieben will.“

„Dann geht’s ihm also wieder gut?“

„Körperlich ist er auf dem Weg der Besserung, aber er erinnert sich an gar nichts. Nicht mal an seinen Namen.“

„Wie ist das passiert?“

„Bert hat sich ein neues Fahrrad gekauft. So eines mit Motor. Philip wollte es unbedingt ausprobieren. Direkt vor unserem Haus ist er von einem Auto angefahren worden.“

Also deshalb hatte man nicht ihn als Notfallkontakt alarmiert. „Und an welcher Stelle komme ich ins Spiel?“

„Der Arzt sagt, dass Philip die besten Heilungschancen in seiner gewohnten Umgebung hat. Ich weiß, dass bei euch einiges im Argen liegt, aber kannst du bitte trotzdem für ihn da sein?“

„Wie stellst du dir das vor?“

Kurz herrschte Stille. Er hörte sie tief einatmen.

„Er braucht momentan bekannte Menschen um sich herum. Könntest du wieder zu ihm ziehen? Bert und ich, wir helfen dir.“

„Du verlangst ein großes Opfer.“

„Das ist mir bewusst. Und mir ist auch bewusst, dass Philip ganz großen Mist gebaut hat. Er ist aber mein einziges Kind und erkennt mich nicht mehr.“ Sie schniefte. „Ich könnte es dir nicht verdenken, wenn du ablehnst, aber bitte denk darüber nach, ob es nicht doch geht.“

Leonard verdrängte den Gedanken, dass Philip bloß die gerechte Strafe für die Scheiß-Fremdgeherei bekommen hatte. Selbst wenn sein zukünftiger Exmann ständig fremdgegangen wäre, war solche Maßnahme zu hart. „Ich muss das erstmal sacken lassen.“

„Danke. Meldest du dich, wenn du eine Entscheidung getroffen hast?“

„Natürlich. Grüße an Bert.“ Er legte auf, ließ sich gegen die Couchlehne sinken und starrte ins Leere.

Elkes Bitte zu erfüllen, würde bedeuten, jeden Tag mit Philip konfrontiert zu werden, ohne sich mit ihm auseinandersetzen zu können. Du willst doch gar nicht mit ihm darüber reden, erinnerte ihn sein Verstand. Anscheinend hatte er wohl doch das Bedürfnis, obwohl er wusste, dass es nichts brachte. Philips Einstellung zu Sex war ganz anders als seine. Dennoch drängte sich die Frage auf, wieso es nach so vielen Jahren kurz hintereinander zweimal passierte, dass sein Ex fremdging. Darüber hatte er sich bereits den Kopf zerbrochen, doch ohne Ergebnis.

Worüber er sich noch den Kopf zerbrochen hatte: War er kleinlich? Sollte er nach so vielen schönen Jahren toleranter sein? Leider kamen ihm bei solchen Überlegungen wieder seine Emotionen in die Quere. Sein Herz war nun mal der Meinung, dass jemand, der mit anderen schlief, ihn nicht mehr liebte. Philip hatte mal gemeint, dass er zu viele weibliche Hormone besäße, weil er wie eine Frau dachte.

Seufzend richtete er seinen Blick auf die Zeitanzeige des Smartphones. Er durfte Elke nicht allzu lange schmoren lassen. Sie hatte es nicht verdient, unter dem Zerwürfnis mit Philip zu leiden.

Er schnappte sich das Gerät und tippte auf die Wahlwiederholung.

Sie nahm das Gespräch sofort an. „Ja?“

„Also gut: Ich tu’s.“

Vernehmliches Aufatmen. „Ich danke dir von Herzen.“

„Wann geht’s los?“

„Ich gebe im Krankenhaus Bescheid, dass man ihn übermorgen nach Hause statt in die Kurzzeitpflege bringen soll.“

Kurzzeitpflege? Ihm schauderte es. Seine Oma hatte ihre letzten Tage in solcher Einrichtung verbracht. Das war noch schlimmer als ein Altenheim. Eine Auffangstation für arme Teufel, die sonst nirgendwo hin konnten. „Dann werde ich mir dafür einen Tag freinehmen.“

„Das brauchst du nicht. Ich bleibe bei ihm, bis du von der Arbeit kommst.“

„Ich nehme Urlaub. Keine Widerrede!“

„Also gut. Können wir uns morgen in eurer Wohnung treffen, um die Einzelheiten zu besprechen?“

„Natürlich. Ich sage dir noch Bescheid, wann ich dort aufschlagen werde.“

Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, fing er an zu packen. Seit seinem Auszug hatte er noch zweimal Sachen aus ihrer gemeinsamen Wohnung geholt, immer dann, wenn Philip verlässlich auf der Arbeit war. Alles würde er nicht wieder dorthin schleppen, da es sich ja lediglich um eine Interimslösung handelte.

In dieser Nacht schlief er schlecht. Andauernd quälten ihn Alpträume, in denen er vorm Darkroom stand und Philip mit einem oder mehreren Männern kopulieren sah. Als er zum x-ten Mal schweißgebadet aufwachte, entschied er, dass es eine Scheißidee gewesen war, Elke seine Hilfe zuzusagen. Leider kam ein Rückzieher nicht infrage. Das würde sie ihm - und auch er sich selbst - niemals verzeihen.


Am nächsten Morgen lud er die beiden Koffer in seinen Wagen und fuhr zur Arbeit. Im Firmengebäude hatte er einen Tiefgaragenplatz inne, so dass er sich keine Sorgen machen brauchte, dass sie nachmittags nicht mehr da waren.

In dem Büro, das er sich mit einem Kollegen teilte, herrschte noch Dunkelheit. Markus kam meist erst gegen neun. Leonard hingegen war ein früher Vogel und trat seinen Dienst stets vor acht an.

Er schaltete das Licht an, hängte seine Jacke an die Garderobe und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Sein E-Mail-Postkorb quoll über vor Nachrichten. Die Hälfte verschob er in den Ordner Unwichtiges, den Rest sortierte er nach Dringlichkeit.

Wie immer gab es einige Hilferufe, weil die Software nicht nach den Wünschen der Anwender funktionierte. Diese arbeitete er als erstes ab. Der häufigste Fehler war, dass die Leute nicht lasen. Wenn auf dem Monitor eine Meldung auftauchte, klickten viele diese einfach weg, ohne sie vorher genauer anzuschauen.

Bis Markus eintraf, hatte er alle supereiligen Nachrichten beantwortet.

„Hast du mal wieder hier übernachtet?“, scherzte sein Kollege und ließ sich hinter dem zweiten Schreibtisch nieder.

„Fühlt sich fast so an“, brummelte Leonard.

„Stell dir vor: Meine Älteste hat sich dieser FFF-Bewegung angeschlossen. Demnächst planen die, ein paar Barkassen zu kapern und damit einen Containerfrachter zu rammen.“

Leonards Blick, eben noch starr auf den Bildschirm gerichtet, schnellte rüber zu Markus. „Wie bitte?

„Ha-ha! Ich wusste, dass dich das aufwecken würde. Willst du auch einen Kaffee?“

„Verarschen kann ich mich allein.“

„Aber nicht so erfolgreich.“ Markus sprang auf. „Also, wie sieht’s aus? Koffein?“

Er folgte seinem Kollegen in die Teeküche. Die Fake-Nachricht, wobei er solche Aktion den FFFlern durchaus zutrauen würde, hatte ihn etwas aufgemuntert. Oder verwechselte er die mit der letzten Generation? Das war alles ganz schön verwirrend.

Vor Anne und Martina, Abteilung Buchhaltung, die sich am Kaffeeautomaten aufhielten, brachte Markus abermals den Scherz. Prompt entspann sich eine Diskussion. Anne, Ende fünfzig, war der Ansicht, dass es sich um Rotzlöffel handelte. Martina, Mutter von zwei kleinen Kindern, fand es hingegen gut, dass endlich mal jemand etwas tat.

„Schließlich geht es um die Zukunft meiner Babys und zukünftiger Enkel. Wenn wir den Planeten weiter verheizen, haben die keinen Lebensraum mehr“, erklärte sie.

„Saubere Luft, aber nichts zu fressen“, ätzte Anne.

„Ist dir schmutzige Luft und ein dicker Bauch lieber?“, fragte Markus.

„Wir sind doch gar nicht diejenigen, die am meisten Dreck in die Atmosphäre schleudern“, hielt sie gegen. „Das sind die Chinesen und Amis.“

„Weil die Chinesen unseren ganzen Kram produzieren. Und weil alles billig sein muss, scheißen die auf Umweltschutz. Na ja, eigentlich eher derjenige, der den Preisdruck ausübt.“ Anne seufzte. „Lassen wir das Thema. Jeder hat dazu eben seine Meinung.“

Die beiden Frauen verließen die Teeküche.

„In Sachen Selbsttäuschung zum Schutz ihrer Komfortzone, sind viele Leute echt Weltmeister“, schimpfte Markus leise, stellte einen Becher in den Kaffeeautomaten und drückte die Taste für einen doppelten Espresso.

Das röhrende Mahlwerk enthob Leonard einer Erwiderung. Er hatte eh keine Lust, über globale Probleme zu reden, da sein aktuelles vordringlich war.

Als der Lärm verstummte, meinte Markus: „Und nun erzähl mal: Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?“

Sie arbeiteten seit vier Jahren im gleichen Raum und die Chemie stimmte, daher wussten sie fast alles übereinander. „Ich ziehe wieder zu Philip.“

Markus riss die Augen auf. „Ist nicht dein Ernst!“

Er zuckte mit den Achseln. „Was soll ich denn machen? Meine Schwiegermutter sagt, er leidet seit seinem Unfall unter Amnesie.“

„Was für ein Unfall? Ist er in irgendeinem Arsch steckengeblieben?“

Manchmal fand er Markus‘ Ausdrucksweise etwas drastisch. „Er ist mit dem Fahrrad unters Auto gekommen.“

„Das nennt sich ausgleichende Gerechtigkeit.“ Markus nahm den Becher aus dem Automaten. „Und was sollst du gegen die Amnesie machen?“

„Meine Schwiegermutter glaubt, dass meine Anwesenheit ihm vielleicht hilft, sich zu erinnern.“

„Versuch’s doch mit einer Schocktherapie, indem du vor seinen Augen mit einem anderen Kerl vögelst.“

„Erstens würde ich sowas nie tun, zweitens glaube ich nicht, dass es helfen würde.“ Leonard stellte seinen Kaffeebecher in den Automaten und betätigte eine Taste.

Markus verdrehte die Augen. „Du bist zu gut für diese ...“

Das letzte Wort wurde vom Röhren des Mahlwerks verschluckt. Sein Kollege tätschelte ihm die Schulter und ließ ihn mit dem Höllengerät allein.

War an der Schocktheorie etwas dran? Er nahm sich vor das gleich, wenn er zurück an seinem Arbeitsplatz war, zu recherchieren.

Gustav, Marketingabteilung, spazierte herein und holte einen Becher aus einem der Oberschränke. Inzwischen hatte sich die Lärmquelle auf erträgliches Maß reduziert.

„Na, Münster? Wie geht’s, wie steht’s?“, fragte Gustav, der die dämliche Angewohnheit besaß, alle Kollegen mit dem Nachnamen anzusprechen.

„Dienstagmorgen und die Woche nimmt kein Ende.“

Gustav lachte. „Recht hast du. Was bin ich froh, dass meine Woche nur vier Tage hat.“

Was der Mistkerl jedem bei jeder Gelegenheit unter die Nase rieb. Gustavs Frau verdiente so viel, dass ihr Gatte kürzertreten konnte.

Leonard schnappte sich seinen Kaffee und suchte das Weite, bevor Gustav ihm noch mehr die ohnehin schlechte Laune verderben konnte.

„Vergiss das mit der Schocktherapie“, empfing ihn Markus. „Dafür müsstest du ihn vor ein Auto schubsen.“

Er blinzelte irritiert.

„Man muss den Patienten mit genau dem schocken, was die Amnesie ausgelöst hat“, erklärte Markus. „Das weiß doch jeder, der Asterix und Obelix gelesen hat.“

Der Groschen fiel. „Ach, du meinst den Kampf der Häuptlinge.“ Leonard ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. „Soweit ich mich erinnere, hat der Therapieansatz da auch nichts gebracht.“

„Stimmt. Jedenfalls wäre es nicht ratsam, wegen deines Ex straffällig zu werden.“

Das hatte er auch bestimmt nicht vor.

2.

Um kurz nach vier betrat er Philips Wohnung, stellte seine Koffer im Flur ab und machte einen Rundgang. Es hatte sich in den zwei Monaten seit seinem letzten Besuch kaum etwas verändert. Auffällig war, dass nirgendwo ein Stäubchen lag. Anscheinend hatte Elke geputzt, denn sein Ex war nicht so übertrieben penibel. Insbesondere das Gästezimmer glänzte. Die Schlafcouch war in eine Ecke geschoben worden, genau wie der Schreibtisch.

In der Küche klebte ein Zettel am Kühlschrank: Lieber Leonard, nachher wird ein Krankenbett für Philip geliefert. Es soll in das Gästezimmer. Bis später – Elke

Daher also die Umräumerei. Somit hatte sich sein Plan, in dem Raum Quartier zu beziehen, erledigt.

Er rollte seine Koffer ins Schlafzimmer. Angesichts des breiten Bettes überfiel ihn Wehmut. Philip war eine Kuschelnatur. So gut wie jede Nacht hatte er sich an Leonard geschmiegt.

Im Schrank war seine Hälfte noch frei. Er räumte seine Sachen hinein, verstaute die beiden Trolleys in der Abstellkammer und drehte erneut eine Runde durch die Wohnung. Er liebte die Immobilie. Damals, bei der Besichtigung, war er auf den ersten Blick angetan gewesen. Der hohe Preis hatte Philip Kopfzerbrechen bereitet. Letztendlich verdienten sie aber genug, um sich die Traumwohnung leisten zu können. Miete müssten sie woanders ja auch zahlen.

Wozu heirateten die Leute überhaupt, wenn sie sich Grundbesitz anschafften? Das war genauso bindend. Philip wollte aber unbedingt mit ihm zu Standesamt. Warum eigentlich, wenn schon nach kurzer Zeit andere Schwänze interessanter waren als seiner? Sieben Jahre sind keine kurze Zeit, erinnerte ihn sein Verstand. Hatte es etwas mit der verflixten Zahl auf sich? Erlahmte im siebten Jahr das sexuelle Interesse? Von seiner Seite konnte er das nicht bestätigen. Zwar begehrte er Philip nun nicht mehr, doch vor dem Scheiß an Silvester schon.

Er ging auf den großzügigen Balkon. Im Schutze des darüberliegenden Freisitzes sowie abgedeckt von einer Plane stand der Strandkorb, den sie letztes Jahr beschafft hatten. Das restliche Mobiliar lagerte im Keller.

Auf die Brüstung gelehnt ließ Leonard den Blick schweifen. Im Innenhof standen zwei Bäume, deren Äste noch kahl waren, genau wie das Buschwerk. Lediglich der Rasen sorgte für einen grünen Farbklecks. In einigen Fenstern brannte bereits Licht.

Zu dieser Jahreszeit wurde der Hof so gut wie nie genutzt. Im Sommer hingegen spielten darin oft Kinder und manchmal wurde gegrillt.

Das Läuten der Türglocke drang an sein Ohr. Im Flur schnappte er sich den Hörer der Gegensprechanlage und bellte: „Ja?“, hinein.

„Guten Tag. Wir haben hier ein Bett für sie“, schallte ihm eine weibliche Stimme entgegen.

Kurz darauf rollten zwei Leute ein Krankenbett in das Gästezimmer. Leonard gab den beiden ein großzügiges Trinkgeld, bevor er sie zur Tür geleitete. Just in dem Moment trat seine Schwiegermutter aus der Fahrstuhlkabine. Angesicht der weißen Jacken mit der Aufschrift Pflegebetten-24, welche die Lieferanten trugen, begann sie zu strahlen.

„Wie wunderbar, dass es so schnell geklappt hat!“, rief sie.

„Bei uns finden Sie nun mal keine Servicewüste“, erwiderte die Frau, zwinkerte Elke zu und folgte ihrem Kollegen in den Lift.

Seine Schwiegermutter umarmte ihn so fest, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen anstatt nur drei Monate. Anschließend inspizierte sie das Krankenzimmer.

„Ein Nachtschrank fehlt“, stellte sie fest. „Fällt dir was ein, womit wir improvisieren können?“

Letztendlich trug er einen der Nachttische aus dem Schlafzimmer hinüber. Der war zwar zu niedrig, aber besser als gar nichts. Derweil kochte Elke Tee, mit dem sie sich auf der Couch im Wohnzimmer niederließen.

„Nun erzähl mal, was genau bei Philip lädiert worden ist“, bat Leonard. „Ich meine das, was nicht vorher schon kaputt war.“

„Fraktur linker Unterschenkel, Prellungen der Rippen. Gehirnerschütterung.“

„Hat er einen Helm getragen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Dann kann er wohl von Glück reden, derart glimpflich davongekommen zu sein.“

„Allerdings. Ich bezweifle aber nicht, dass er sich jederzeit wieder ohne aufs Rad schwingen wird, weil ein Helm seine Frisur ruiniert. Philip ist ein eitler Fatzke.“

Das konnte er sofort unterschreiben.

„Ich hab ihm ein Foto von euch gezeigt und nur erzählt, dass ihr derzeit getrennte Wege geht.“ Elke sah ihn mit Welpenblick an. „Kannst du ihm bitte sagen, dass ihr euch auseinandergelebt habt oder so? Er darf sich nicht aufregen. Wenn du ihm verrätst, was wirklich passiert ist, wird er mit aller Macht versuchen, sich zu erinnern. Das könnte seine Heilung negativ beeinflussen.“

„Natürlich“, murmelte Leonard. Sowas hatte er sich schon gedacht.

„Ich werde das Gefühl nicht los, dass er absichtlich vors Auto gefahren ist“, fuhr sie fort. „Er war todtraurig, als du ausgezogen bist. So, als hätte ihn jeglicher Lebensmut verlassen.“

Dafür hatte Philip erstaunlich wenig Anstalten gemacht, das Gespräch mit ihm zu suchen. Andererseits hätte er sich gar nicht darauf eingelassen. Was gab es dazu noch zu sagen? Dass es nicht das war, wonach es ausgesehen hatte? Dass Philips Schwanz aus Versehen in den Mund des Typen gerutscht war? Dass Philip gedacht hatte, bei den Lippen handelte sich um ein Pissoir? Lächerlich!

„Weißt du …“ Elke nippte an ihrem Tee. „Bert hat mich auch mal betrogen. Das ging über ein Jahr, bevor ich es rausbekommen habe. In seinem Job hatte er ja viele Gelegenheiten und so war es eben passiert.“

Leonards Schwiegervater, inzwischen Rentner, hatte für eine Bausparkasse gearbeitet. Laut Philips Erzählungen war Bert viel unterwegs gewesen, häufig auch abends. Das war eben die Zeit, in der man Kunden Zuhause antraf.

„Er wollte mich wegen ihr verlassen.“ Elke seufzte. „Sie war jünger und schöner als ich. Schlussendlich hat er sich aber doch für mich entschieden, weil es ihm Angst bereitete, nochmal von vorne, mit Kindern und so, anzufangen.“

„Sehr schmeichelhaft für dich.“

„Nicht wahr?“ Sie grinste schief. „Ich liebe Bert und habe ihn gern zurückgenommen. Seitdem läuft unsere Ehe besser als je zuvor.“

„Wie lange ist das her?“

„Ungefähr fünfzehn Jahre.“

Zu dem Zeitpunkt war Philip bereits volljährig gewesen.

„Jedenfalls will ich damit sagen, dass man manchmal Vergangenes hinter sich lassen muss“, redete Elke weiter. „Ich finde, ihr seid ein schönes Paar. Es würde mich sehr schmerzen, dich zu verlieren.“

„Ich werde deine Worte beherzigen. Wann wird Philip morgen geliefert?“

„Im Laufe des Vormittags. Ich werde gegen neun herkommen, um dir beizustehen.“

„Beim Frühstück beistehen?“, witzelte Leonard.

Sie lachte. „Soll ich Brötchen mitbringen?“

„Wenn du dich schon selbst einlädst, musst du auch was beitragen.“

Nachdem Elke gegangen war, setzte er sich wieder auf der Couch und ließ seine Gedanken schweifen. Natürlich würde er gern seine Ehe retten. Obwohl er Philip momentan nicht mal anfassen könnte, liebte er das Arschloch. Die Aussicht, in Zukunft immer wieder mit Seitensprüngen konfrontiert zu werden, ekelte ihn jedoch an. Wer es einmal tat, machte es nämlich immer wieder. Den Beweis hatte Philip an Silvester erbracht.

Beim ersten Mal war es, laut seinem Gatten, ein Ausrutscher gewesen. „Mit dir ist Sex wie ein hervorragendes Fünf-Gänge-Menü. Kennst du nicht auch das Bedürfnis, ab und zu Fastfood zu essen? So ist es mir jedenfalls gegangen“, hatte Philip erklärt.

Er kannte sowas nicht, dafür das überwältigende Bedürfnis, dem Mistkerl ein Veilchen zu verpassen.

Philip hatte versprochen, dass es nie wieder vorkommen würde. Im Rückblick war das wohl ein Versprecher gewesen. Wollte er wissen, ob es sich bei dem Grund für den Silvester-Seitensprung auch um Fast-Food-Hunger gehandelt hatte? Bislang war er der Warum-Frage ausgewichen, indem er die Fremdblas-Aktion als Scheidungsansage betrachtete. Nach Elkes Aussage über Philips Zustand drängte sie sich jedoch förmlich auf.

Sein Verstand lieferte keine brauchbaren Erklärungsversuche. Philip war an Silvester weder besinnungslos besoffen, noch ihr letzter Sex Äonen her gewesen. Erschwerend kamen der denkbar ungünstig gewählte Zeitpunkt und Ort hinzu. Hätte Leonard die Aktion nicht mit eigenen Augen gesehen, wäre er weniger verletzt worden. Na ja ... vielleicht auch nicht. Es tat ihm generell weh, wenn Philip besonders intime Momente mit anderen teilte.

Schon früher hatte er des Öfteren überlegt, ob seine Maßstäbe vielleicht zu engstirnig waren. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass einer seiner Partner fremd naschte. Auf der anderen Seite ließen sich Emotionen kaum beeinflussen. Für ihn zählte Sex zu den Dingen, die er nur mit vertrauten Personen haben wollte. Dass viele es lockerer sahen, musste ja nicht zwangsläufig bedeuten, dass er in dieser Hinsicht falsch gepolt war.


Am nächsten Morgen wachte er wie gerädert noch vorm Weckerklingeln auf. Abermals hatten ihn Alpträume heimgesucht. Gähnend schlurfte er in die Küche, setzte die Kaffeemaschine in Betrieb und ging ins Bad.

Um halb neun rief seine Schwiegermutter an. „Gerade hat sich das Krankenhaus gemeldet. Sie bringen Philip um zehn.“

„Dann hab ich ja noch Zeit, ein paar Blumen zu besorgen“, brummelte Leonard ironisch.

„Süße Idee! Ich besorge welche auf dem Weg zu dir. Bis gleich.“ Sie legte auf.

Er hätte daran denken sollen, dass Ironie an sie verschwendet war.

Einunddreißig Minuten später ertönte die Türglocke. In der einen Hand einen eingewickelten Blumenstrauß, in der anderen eine Brötchentüte, stand Elke im Treppenhaus. Sie gab ihm zur Begrüßung ein Küsschen auf die Wange, wofür sie sich auf Zehenspitzen stellte, und marschierte in die Küche.

Ihr zuliebe schmierte er sich ein halbes Marmeladenbrötchen, obwohl sein Appetit vor Aufregung gen Null tendierte. „An wie viel kann sich Philip denn überhaupt erinnern?“

Sie seufzte bekümmert. „Momentan an gar nichts. Mich erkennt er nur, weil ich zu seinen neuen Erinnerungen gehöre, genau wie Bert. Wir waren ja jeden Tag bei ihm.“

„Bestimmt hat er sein Gedächtnis bald wieder.

„Das hoffe ich auch. Wenn nicht, müssen wir uns Hilfe holen.“

Er nippte an seinem Kaffee.

„Bert lässt dich übrigens grüßen. Er hat mir aufgetragen, dich zu beknien, unseren missratenen Sohn zu behalten.“

„Philip ist nicht missraten.“

„Natürlich ist er das nicht. Schließlich ist er mein Goldschatz. Er hat nur manchmal seltsame Anwandlungen.“ Sie guckte auf seinen Teller. „Du isst ja gar nicht.“

Widerstrebend führte er die Brötchenhälfte an seine Lippen, da erlöste ihn das Läuten der Türglocke. Er ließ sie wieder fallen, sprang auf und lief in den Flur, wo er den Hörer der Gegensprechanlage an sein Ohr hielt. „Ja?“

„Wir bringen Philip Grotewohld“, schallte ihm eine männliche Stimme entgegen.

„1. Stock“, erwiderte er und betätigte den Öffner.

Elke gesellte sich zu ihm. „Was für ein Glück, dass ihr den Fahrstuhl habt. Sonst müssten die armen Männer Philip tragen.“

Unfähig etwas zu erwidern öffnete er die Wohnungstür und lauschte. Im Erdgeschoss klackten Schuhsohlen über den Boden. Die Aufzugkabine bewegte sich leise surrend nach unten.

„Erschrick dich nicht. Er ist etwas lädiert im Gesicht“, fuhr Elke fort.

„Wie – lädiert?“

„Eine dekorativ genähte Platzwunde an der Stirn.“

Leonard atmete tief durch. Sein Herz klopfte wie ein Dampfhammer gegen seine Rippen. Das letzte Mal hatte er Philip vor drei Monaten gesehen, als der ihm vor der Firma, in der er arbeitete, aufgelauert hatte.

Die Türen der Fahrstuhlkabine glitten auseinander. Trotz Elkes Warnung war der Anblick ein Schock. Weniger wegen der Naht, sondern wegen Philips verunsicherter Miene. Sein sonst stets selbstbewusster Gatte sah ihn nur kurz an und fixierte dann Elke.

„Hallo, mein Schatz“, säuselte seine Schwiegermutter. „Willkommen zu Hause.“

Einer der beiden Sanitäter reichte Philip Krücken. „Den Rollstuhl nehmen wir wieder mit. Wenn Sie einen benötigen, können Sie einen im Sanitätshaus leihen.

Philip stemmte sich aus dem Sitz. „Danke für die kostenlose Beförderung.“

Also war der Charakter seines Gatten, erkannte Leonard an dem kessen Spruch, noch derselbe wie vor dem Unfall.

„Der Dank geht an Ihre Krankenkasse“, erwiderte der andere Sanitäter und bugsierte den Rolli zurück in den Fahrstuhl.

„Darf ich mich umschauen?“, erkundigte sich Philip, als sie zu dritt im Flur standen.

„Natürlich“, entgegnete Leonard. „Du wohnst hier.“

Er begab sich in die Küche, schüttete heißen Kaffee zu seinem mittlerweile lauwarmen und lehnte sich gegen die Arbeitsfläche. Einerseits war es schwerer als gedacht, Philip gegenüberzutreten, andererseits bot der Gedächtnisverlust die erwünschte Distanz. Irgendwie würde er die Zeit, bis die Erinnerung zurückkehrte, schon überstehen.

Nach einem Weilchen tauchte Elke auf und ließ sich am Frühstückstisch nieder. „Philip inspiziert das Bad“, berichtete sie. „Er hat sich gerade über die ganzen Schönheitsmittelchen, die vorm Spiegel stehen, gewundert.“

„Das tue ich auch regelmäßig.“ Er nahm ihr gegenüber Platz. „Ich muss noch einen Hocker für die Dusche besorgen und einen Plastiküberzieher für sein Bein.“

„Ach was.“ Elke winkte ab. „Vorläufig kann sich der Junge auch so waschen. Ist noch keiner dran gestorben.“

Da täuschte sie sich in ihrem duschverrückten Sohn.

„Kann ich auch einen Kaffee haben?“, meldete sich Philip vom Flur her.

„Selbstverständlich!“ Elke sprang auf und zeigte auf den dritten Stuhl. „Komm her und setz dich.“

3.

Das Vakuum in Philips Schädel war beängstigend. Wann immer er versuchte, sich zu erinnern, setzten unerträgliche Kopfschmerzen ein. Er hatte es daher erstmal aufgegeben, auch weil der Arzt meinte, er sollte sich in Geduld üben.

Laut dem Doktor erlangten 99 Prozent aller Patienten ihr Gedächtnis innerhalb einiger Stunden wieder. Anscheinend gehörte er zu dem einen Prozent, das dafür länger brauchte, denn dieser Zustand hielt inzwischen seit über einer Woche an.

Während er an seinem Kaffee nippte, ließ er seinen Blick durch die Küche schweifen. Nichts kam ihm bekannt vor, genauso wenig wie der Mann, der ihm gegenübersaß. Sollte man sich nicht an seinen Gatten erinnern? Seine Mutter – inzwischen hatte er sie als solche akzeptiert – meinte, sie wären sieben Jahre verheiratet. Da musste doch etwas haften geblieben sein, zumindest ein Anflug von Gefühl. Das einzige, was er empfand, war Anerkennung für Leonards – den Namen hatte ihm seine Mutter genannt - Attraktivität. Mit den braunen Haaren und Augen, dem Bartschatten und dichten Wimpern sowie der schlanken Figur war sein Gatte ein echter Hingucker.

Was hatte es mit den getrennten Wegen auf sich? Führten Leonard und er eine offene Ehe? Lass das erstmal auf sich beruhen, ermahnte er sich im Geiste. Du hast andere Prioritäten. Die hatte er wirklich, nämlich sich in seiner Umgebung zurechtzufinden. Wenn einem das eigene Zuhause fremd war, fühlte man sich wie ein führungsloses Schiff in der Brandung.

„Möchtest du ein Brötchen?“, fragte seine Mutter.

„Danke, nein. Ich hab schon gefrühstückt.“ Zwar nur eine halbe Scheibe Toast, aber ihm war nicht nach Essen zumute.

„Ich hab extra deine Lieblingsmarmelade gekauft.“ Sie wies auf ein Glas Himbeerkonfitüre.

Ihre kleinen Hinweise auf dieses oder jenes waren gut gemeint, aber kontraproduktiv. Sie bewirkten lediglich, dass er sich noch unzulänglicher fühlte.

„Ich lege mich ein bisschen hin.“ Er leerte seinen Becher. „Hab schlecht geschlafen.“

„Mach das, mein Schatz.“ Sie tätschelte seine Wange. „Du bist auch ganz blass.“

Als er die Küche verließ, streifte er Leonard mit einem Seitenblick. Wenn sie nicht bereits getrennte Wege gehen würden, wäre es bestimmt in Kürze soweit. Wer wollte schon einen Krüppel, der zudem noch an Gedächtnisschwund litt? Dafür hätte er großes Verständnis.

In dem Zimmer, das vermutlich ihm zugedacht war, ließ er sich auf dem Bett nieder. Da es das gleiche Modell wie im Krankenhaus war, fühlte sich das vertraut an. Allerdings zerstörte die Bettwäsche, rot mit schwarzen Schriftzeichen, diesen Eindruck ein bisschen.

Offenbar handelte es sich um das Gäste- oder Arbeitszimmer. Schreibtisch und Couch waren in eine Ecke gerückt worden. Nebenan lag ein Raum, in dem Fitnessgeräte standen. Das würde ihm helfen, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Gegenüber befand sich das Bad, daneben ein Schlafzimmer mit Doppelbett und am Ende des Flures das Wohnzimmer, an das sich ein riesiger Balkon anschloss.

Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass er als Abteilungsleiter im Marketing einer Versicherung arbeitete. Er schien in dieser Position gut zu verdienen und Leonard ebenfalls, dass sie sich solche Wohnung leisten konnten. Dazu noch in dieser Gegend. Harvestehude gehörte zu den teuersten Pflastern Hamburgs.

Erstaunlich war, dass er vieles wusste. Beispielsweise, wer aktuell Kanzler war und in welchen Teilen der Welt Krieg herrschte. Nur was sein eigenes Leben betraf, klaffte in seinem Schädel eine gähnende Lücke.

Er streifte seine Sneaker ab, legte sich hin und studierte die Decke. Die war genauso weiß wie seine Vergangenheit. Was sollte er tun, wenn seine Erinnerung für immer verschüttet blieb? Eine Vorstellung, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Nach einer Weile – er hatte ein bisschen gedöst – klopfte es an der Tür. Seine Mutter schaute ins Zimmer. „Ich lasse euch jetzt allein. Oder kann ich noch etwas für dich tun?“

„Danke, ich komm klar.“

Sie kam herein und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ruf an, wenn etwas ist.“

„Mach ich.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, bevor sie den Raum verließ.

Er hörte, dass Leonard sie zur Wohnungstür geleitete, wo die beiden miteinander tuschelten. Redeten sie über ihn, den armen Tropf, der nichts mehr wusste? Vermutlich. Warum sollten sie sonst flüstern?

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, näherten sich zögernd Schritte. Leonard erschien, beide Hände in den Hosentaschen vergraben. „Ich fahr mal los, ein paar Dinge besorgen. Brauchst du was?“

Er verkniff sich den Spruch, dass er ein Pfund Gehirn benötigte. „Danke, nein.“

Kurz darauf herrschte in der Wohnung absolute Stille. Philip wartete einige Momente, bevor er aufstand und sich auf seinen Krücken ins Wohnzimmer bewegte. Vorhin hatte er sich nicht getraut, den Raum näher zu inspizieren. Es war, als würde er in den Sachen fremder Leute schnüffeln. Nun öffnete er jeden Schrank und beäugte den Inhalt. In einem lagen Gesellschaftsspiele, in einem anderen Fotoalben.

Umständlich – die verdammte Schiene an seinem Unterschenkel war echt hinderlich – ließ er sich auf dem Boden nieder, um in letzteren zu blättern. Leonard und er vor Palmen. Strahlende Gesichter. Sie im Kreis von Unbekannten. Wieder grinsten sie in die Kameralinse. Abermals Palmen, Strandfotos. In Badehose machte Leonard eine sehr gute Figur. Philip allerdings auch. Offenbar nutzten sie beide regelmäßig die Geräte im Fitnessraum.

Hochzeitsbilder. Haufenweise unbekannte Gesichter, abgesehen von seinen Eltern. Er trug einen weißen Anzug, Leonard einen schwarzen. Zig Mal hatte man sie beim Küssen fotografiert.

Er klappte das Album zu und legte es zurück zu den anderen. Keines der Fotos hatte bei ihm etwas ausgelöst. Auch der restliche Kram, der in den Regalen und auf dem Sideboard stand, bewirkte nichts.

Mit einem der Bücher, die seine Mutter ihm ins Krankenhaus gebracht hatte, verzog er sich aufs Bett.


Irgendwann weckte ihn Geschirrgeklapper. Irritiert blinzelte er und stellte fest, dass er beim Lesen eingeschlafen war. Das Buch lag aufgeschlagen auf seinem Bauch. Außerdem war plötzlich alles wieder da. Leider auch der Grund, weshalb sich Leo ihm gegenüber reserviert verhielt.

Und nun? Wenn er verriet, dass er sich erinnerte, war Leo ratzfatz weg. Er würde sich also verhalten, als ob er weiterhin einen Blackout hatte. Damit betrügst du Leo schon wieder, mahnte sein Gewissen. Er verpasste dem nervigen Ding einen Maulkorb.

Warum war Leo überhaupt hier? Aus Liebe oder aus Pflichtgefühl? Konnten zwei Fehltritte sieben Jahre Ehe zunichtemachen? Es war mehr, als nur Fehltritte, meldete sich erneut sein Gewissen. Das ist momentan irrelevant, gab er im Geiste zurück. Vorrangig wollte er Leo wiederhaben. Er liebte seinen Mann über alles.

Ein Klopfen lenkte seine Aufmerksamkeit zur Zimmertür, die er vorhin sperrangelweit offenstehen lassen hatte. Nun war sie angelehnt.

„Ja?“

„Ich hab Rührei gemacht. Möchtest du mit mir essen?“, erkundigte sich Leo durchs Türblatt.

War das ein Versuch rauszufinden, wie’s um seine Erinnerung stand? Philip mochte nämlich kein Rührei. „Gern.“

„In fünf Minuten steht das Essen auf dem Tisch.“

Leo klang wie seine Mutter. Doch, es war schön, sich an all das zu erinnern. Könnte er die letzten sechs Monate streichen, wäre er mehr als glücklich.

Er schwang seine Beine aus dem Bett und begab sich ins Bad, wo er rasch das Nötige erledigte. In der Küche erwartete ihn ein gefüllter Teller, allerdings ohne Rührei. Stattdessen lag ein Hähnchenschenkel neben den Bratkartoffeln.

„Nanu?“, wunderte er sich, wobei er sich gegenüber Leo niederließ.

„Ich will dich ja nicht vergiften.“

„Wieso vergiften?“

„Du hasst Rührei.“

„Ach so“, murmelte er, schnappte sich seine Gabel und spießte eine Kartoffelscheibe auf. „Musst du heute gar nicht arbeiten?“

„Hab mir freigenommen.“

Abermals klopfte sein schlechtes Gewissen an. Sein Appetit nahm rapide ab. „Das ist lieb von dir.“

Leo zuckte mit den Schultern und widmete sich der Mahlzeit. Mit gesenktem Blick folgte Philip diesem Beispiel. Die Hälfte seiner Portion bekam er runter, dann gab er auf. Leo schaffte ein bisschen mehr, bevor er ebenfalls das Besteck auf dem Teller ablegte.

„Ich liebe dich“, platzte Philip heraus.

Aus großen Augen starrte Leo ihn an.

Bitte, du musst mir glauben. Ich liebe dich wirklich.“ Er legte all sein Gefühl in die Worte, doch es blieben eben nur Worte, die nichts ungeschehen machten.

„Also erinnerst du dich?“, konstatierte Leo trocken.

Philip nickte.

„Dann kann ich ja wieder ausziehen.“ Sprach’s, stand auf und begann, den Tisch abzuräumen.

„Ich wollte dir nicht wehtun.“

Stumm fuhr Leo fort, die Reste von den Tellern in den Mülleimer zu kratzen.

Was konnte er noch sagen, ohne sich tiefer in die Scheiße zu reiten? Ihm fiel nichts ein.

Die Arme vor der Brust verschränkt setzte sich Leo wieder hin. „Ich betrachte unsere Ehe als beendet. Wie wir mit der Wohnung verfahren, können wir in ein paar Monaten besprechen. Ich werde aber schon mal einen Anwalt beauftragen, die Scheidung in die Wege zu leiten.“

„Ich will mich nicht scheiden lassen!“

„Das war kein Vorschlag, sondern eine Feststellung.“

„Aber ich liebe dich doch so sehr“, flüsterte Philip und spürte, dass seine Augen zu brennen anfingen.

„Allerdings nicht genug, um deinen Schwanz von anderen Mündern fernzuhalten.“ Leo machte Anstalten aufzustehen.

„Ich würde es dir gern erklären, aber ich verstehe es selbst nicht.“

Stirnrunzelnd sackte Leo zurück auf den Stuhl. „Was gibt es daran nicht zu verstehen? Ich genüge dir offenbar nicht mehr.“

„Das stimmt nicht. Es ist nur so ... mit Dragisa, das ist irgendwie anders.“

„Dragisa?“

„So heißt der Typ, mit dem du mich gesehen hast. Er ist Grieche.“

Abermals verschränkte Leo die Arme vor der Brust.

„Obwohl ich dich über alles liebe und du mir alles gibst, was ich brauche, ist es irgendwie passiert.“ Philip atmete tief durch. Er schuldete Leo die Wahrheit. „Ich hab mich in Dragisa verknallt.“

„Man kann nicht zwei Personen zugleich lieben.“

Dieser Meinung war er bisher auch gewesen.

„Ich hab vorhin einen Plastikhocker und ein Kondom für dein Bein gekauft, damit du duschen kannst.“ Leo erhob sich. „Wenn du Hilfe brauchst, kannst du ja Elke anrufen. Ich räume hier noch schnell auf, dann bin ich weg.“

Eine Träne kullerte über Philips Wange. Er hatte zwar schon vorher gewusst, was geschehen würde, dennoch schmerzte es wie verrückt. Unfähig sich zu bewegen starrte er ins Leere.

Er hätte sich gegen seine Gefühle wehren müssen; wenigstens dagegen, sich von ihnen zu dummen Taten verleiten zu lassen. Als Dragisa ihn an Silvester im Flur vorm Darkroom abgefangen hatte, hätte er ihn abweisen müssen. Stattdessen war sein Herz, angesichts des sehnsüchtigen Blicks aus dunklen Augen, geschmolzen. Ab dem Moment hatte sein Verstand ausgesetzt.

Seit der Nacht, in der er mit Dragisa im Darkroom gewesen war, hatte er es vermieden, dienstags oder freitags in den Goldenen Hirsch zu gehen. Es handelte sich um die Tage, an denen Dragisa häufig dort anzutreffen war. Auf diese Weise hatte er das Risiko, erneut in Versuchung zu geraten, minimiert.

Wie schwer es ihn erwischt hatte, war ihm erst an Silvester bewusst geworden. Dragisas Anziehungskraft bestand nämlich aus mehr als sexuellem Reiz. Er mochte die ganze Person. Bevor es das erste Mal geschehen war, hatten sie oft geplaudert. Daher wusste er, dass Dragisa Informatik studierte, gern las, intelligent, humorvoll und ein Romantiker war.

„Weiß der Typ, dass du verheiratet bist?“, sprach Leo, der ihr Geschirr in die Spülmaschine räumte, ihn an.

„Ich hab’s ihm an Silvester, nachdem ich mit dir telefoniert habe, gesagt. Daraufhin hat er mir eine gescheuert.“

„Ist er derjenige, mit dem du schon davor rumgemacht hast?“

Er nickte.

„Also war das mit dem Fast-Food gelogen?“ Leo schloss die Tür des Gerätes und lehnte sich mit dem Hintern gegen die Arbeitsfläche.

„Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es mehr ist.“

„Dann ist doch alles klar: Wir lassen uns scheiden, du heiratest diesen Dragisa und alle sind glücklich.“ Leo marschierte aus der Küche.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.02.2023

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /