Wilfried entdeckt in der Straße, in der er wohnt, einen Bettler mit roten Schuhen. Das ungewöhnliche Schuhwerk weckt sein Interesse. Als er dem Mann eine Mahlzeit spendiert, erfährt er Unglaubliches. Anscheinend leidet der Bettler an überbordender Fantasie, oder stammte er wirklich aus der Zukunft?
Wilfried taten die Füße weh und ihm war bitterkalt. Um zu sparen, und weil die Straßenbahn um diese Zeit überfüllt war, war er zwei Stationen gelaufen. Nun freute er sich umso mehr auf das geheizte Zimmer, das er sich mit Martin teilte. Hoffentlich war sein Mitbewohner schon zu Hause und hatte den Kohleofen angefeuert.
Er hatte wirklich Glück gehabt, den Raum im Souterrain anmieten zu können. Die Wände schimmelten, oft stank es nach Kloake und dunkel war es auch, aber er kam gut mit Martin klar und keine neugierige Wirtin machte ihnen das Leben schwer. Sein Arbeitskollege Hans wohnte zur Untermiete bei einer alten Dame, die ihm kein bisschen Privatsphäre ließ. Davon hatte er zwar auch wenig, weil Martins und seine Schlafstatt nur durch einen zweitürigen Schrank getrennt wurden, doch es genügte ihm.
Er erreichte den Bäckerladen, von dem es nur noch wenige Schritte bis nach Hause waren. Vor einigen Minuten hatte es angefangen zu schneien. Noch blieb der Schnee nicht liegen, aber wenn es in der Nacht fror, musste er sich morgen früh auf eine Rutschpartie gefasst machen. Wilfried hasste den Winter.
Neben dem Luxus eines Kohleofens gab es in dem Zimmer ein Waschbecken mit fließend kaltem Wasser. So waren Martin und er nicht darauf angewiesen, sich im Abort zu waschen. Ein großer Vorteil, weil es dort sehr zugig war.
Er erreichte die Treppe, die ins Souterrain führte. Einige Meter entfernt entdeckte er einen Bettler. Kein ungewöhnlicher Anblick. Allerorten sah man Leute, manche verkrüppelt aus dem Krieg zurückgekehrt, die um Geld bettelten.
Wilfried stieg die Stufen runter. Angenehme Wärme empfing ihn, als er die Tür öffnete. Martin saß auf einem Stuhl direkt neben dem Ofen, auf dem eine Kasserolle stand. Essensgeruch übertünchte den Gestank der verbrennenden Kohle.
„Witwe Bolte hat Eintopf spendiert“, verkündete Martin, der zu besagter Witwe, die eigentlich Alma Boltmann hieß, ein inniges Verhältnis pflegte. Ob es darüber, ihre Kohlen aus dem Keller in den 3. Stock zu schleppen, hinausging, entzog sich Wilfrieds Kenntnis. Es interessierte ihn auch nicht.
Vorfreudig knurrte sein Magen. Überwiegend ernährten sie sich von Butterbroten, sofern es Butter gab. Nicht selten musste eine Scheibe trockenes Brot reichen.
Rasch befreite er sich von seinem Schal und Mantel, die er an einen Haken neben der Tür hängte. In Ermangelung von Geschirr begnügten sie sich je mit einem Löffel, mit dem sie gemeinsam direkt aus dem Topf aßen.
„Der Bettler …“, meinte Martin zwischen zwei Bissen. „… der macht einen merkwürdigen Eindruck.“
„Welcher Bettler?“
„Der, der vorm Schlachter sitzt.“
„Wieso merkwürdig?“
„Der trägt ganz merkwürdige Sachen. Rotes Schuhwerk und eine Jacke, die glitzert.“
„Wie der Weihnachtsmann?“
Martin schüttelte den Kopf. „Die Schuhe wirken wie Hausschlappen. Sie haben aber Senkel.“
Wilfried würde auch gern rote Schuhe besitzen, doch er wollte so vieles, was er sich weder leisten konnte, noch zeigen durfte. Letzteres betraf seine Vorliebe für Männer. Wenn jemand auch nur den Verdacht hegen würde, wäre er reif fürs Krankenhaus. Oder fürs Grab. Mit Schwulen sprang man nicht zimperlich um.
Nach Kriegsende hatte man zwar inhaftierte Homosexuelle freigelassen, aber rehabilitiert waren sie damit noch lange nicht. Erst neulich hatte er gehört, dass ein schwuler Arzt für den Aufenthalt im KZ Unterbringungskosten und Verpflegung bezahlen sollte. Trotz der Niederlage hatte sich in den Köpfen der Menschen nichts geändert. Die Deutschen waren und blieben ein Volk von Mitläufern, Denunzianten und Sadisten. Natürlich gab es Ausnahmen, doch die bestätigten nur die Regel.
Selbst seine Eltern – sein Vater war in Russland gefallen, seine Mutter während eines Bombenangriffs gestorben – hatten bis zum letzten Atemzug gegen Homosexuelle gewettert und Hitler in den Himmel gelobt. Ihm stand ein Leben als Geheimniskrämer bevor. Anfreunden konnte er sich damit nicht, aber was blieb ihm übrig? Auszuwandern war keine Option, schon wegen des Geldmangels. Aber selbst wenn er welches hätte: In anderen Ländern sah es wahrscheinlich genauso aus.
„Und wie glitzert die Jacke?“
Martin zuckte mit den Achseln. „Ganz komisch. Als ob sie von Eiskristallen überzogen wäre.“
Den Glauben an Gott hatte Wilfried spätestens verloren, als sein Sandkastenfreund Walter erschossen wurde. Er stand direkt daneben. Walters Fehler war gewesen, in Gegenwart eines Alliierten – lediglich aus Spaß - den Hitlergruß zu zeigen. Diese Unbedachtsamkeit hatte sein Freund bitter gebüßt. Nie würde Wilfried Walters erschrockenen und dann im Tod gebrochenen Blick vergessen.
Als sich Wilfried gesättigt zurücklehnte, war die Kasserolle noch halb voll. Auch Martin schien genug gegessen zu haben.
„Darf ich den Rest dem Bettler bringen?“ Der Mann mit den roten Schuhen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
„Sinnlos. Bevor der auch nur einen Löffel gegessen hat, ist es kalt.“
„Du hast recht.“
„Ich bin noch verabredet“, verkündete Martin, stand auf und begab sich zur Tür, um Schal und Jacke anzulegen. „Wird wahrscheinlich spät.“
„Viel Spaß“, wünschte er, gedanklich weiterhin bei dem Bettler.
Die Außentür klappte hinter Martin zu. Plötzlich war es still. Durchs Fenster sah Wilfried, dass es immer noch schneite. Die Vorstellung, dass jemand dort draußen in der Kälte hockte, verursachte ihm ein inneres Frösteln.
Kurzentschlossen zog er seinen Mantel an und verließ die Wohnung. Beide Hände in den Manteltaschen vergraben legte er die wenigen Schritte bis zum Schlachterladen zurück.
Der Bettler hockte auf der Stufe vorm Eingang, die vom überhängenden Dachfirst geschützt wurde. Tatsächlich war das Schuhwerk rot mit Schnürsenkeln und die dunkle Jacke glitzerte im Schein der Straßenbeleuchtung. Das lenkte Wilfried einen Moment von dem bleichen Gesicht mit den bläulichen Lippen ab.
„Haben Sie … Sie vielleicht ein paar Pfennig für mich?“, krächzte der Bettler.
In der Mütze, die vor dem Mann auf dem Boden lag, befand sich lediglich eine Münze. Wilfried kramte zwanzig Pfennig aus seiner Hosentasche und legte sie dazu. Nachdenklich musterte er den Mann. In seinen Augen sah der harmlos aus. Außerdem tat er Wilfried furchtbar leid. Niemand sollte bei dieser Kälte draußen herumsitzen.
„Wenn Sie mir versprechen, mich nicht zu ermorden, können Sie sich bei mir aufwärmen“, bot er an.
„Ver ... versprochen.“ Schwerfällig stand der Mann auf, sammelte die Mütze vom Boden und schenkte ihm ein zittriges Lächeln.
Auf dem kurzen Weg bis zu seinem Zuhause, hörte er die Zähne des Bettlers klappern, was ihn in seinem Entschluss, den Mann mitzunehmen, bestärkte. Zudem war er äußerst neugierig, wo jemand mit roten Schuhen herkam. Vom Zirkus? Vor dem Krieg war er mit seinen Eltern in einer Vorstellung gewesen. Einer der Clowns hatte auch rotes Schuhwerk getragen.
Er ließ seinen Gast eintreten, schloss rasch die Tür, damit die Kälte draußen blieb und schälte sich aus seinem Mantel.
Der Bettler guckte sich um. „Gemütlich.“
In der besseren Beleuchtung erkannte er, dass der Mann nur wenig älter als er sein dürfte. Schätzungsweise fünf bis zehn Jahre. „Ich bin Wilfried.“
„Timo.“
Merkwürdiger Name. „Setz dich doch an den Ofen.“
Sofort ließ sich Timo auf Martins Stuhl nieder und hielt die Hände über das Heizgerät.
„Hast du Hunger?“
Timo nickte.
Wilfried nahm die Kasserolle, die zum Abkühlen auf den Fenstersims stand und stellte sie auf den Ofen. „Möchtest du nicht deine Jacke ausziehen?“
Timo schüttelte den Kopf. „Noch ist mir zu kalt.“
Neugierig beäugte er das Kleidungsstück. Es schimmerte, als wäre es aus Seide, schien jedoch dicker Stoff zu sein. Die Schuhe fand er bei näherem Hinsehen noch besser als zuvor. Sie sahen bequem aus und leuchteten so schön.
„Bist du vom Zirkus?“, erkundigte er sich.
Ein Grinsen erschien auf Timos Lippen – übrigens sehr hübschen Lippen, nun, wo sie eine rosige Farbe annahmen.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Na ...“ Er zeigte auf Timos Schuhe. „Deswegen. Clowns tragen solche Schuhe.“
„Leider nicht.“
„Aber wieso trägst du dann solches Schuhwerk?“
„Das ist in meiner Zei... ähm, in der Gegend, woher ich stamme, ist das ziemlich normal.“
„Und wo ist das?“
„Es riecht sehr gut. Meinst du, es ist schon heiß genug?“ Mit dem Kinn wies Timo auf die Kasserolle.
Wilfried ging auf die Ablenkung ein. Es wäre unhöflich, seinen Gast mit hungrigem Magen auszufragen. Flink wusch er seinen Löffel ab, legte ein Holzbrett auf Timos Schoß und platzierte den Topf darauf.
„Guten Appetit“, wünschte er und reichte Timo den Löffel.
Sollte er etwas von seinen Biervorräten anbieten? Als Mitarbeiter einer großen Brauerei bekam er monatlich Deputate, also Sachzuwendungen. Normalerweise verwendete er sie, um etwas zu essen dagegen einzutauschen. Manchmal kaufte Martin ihm ein Bier ab. Wilfried selbst hielt nichts von Alkohol. Er hatte lieber all seine Sinne beisammen. Schließlich wollte er nicht sein Leben lang niedere Arbeiten verrichten, sondern irgendwann eine bessere Stelle ergattern.
Wilfried entschied sich gegen Alkohol. Stattdessen bot er Wasser an, das er in einem Blechbecher neben die Kasserolle aufs Brett stellte.
„Was sagtest du noch mal, wo du herkommst?“, nahm er den Gesprächsfaden wieder auf.
Timo aß den letzten Bissen und trank einen Schluck Wasser. „Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich aus der Zukunft komme?“
Obwohl es völlig abwegig war, – man konnte nicht durch die Zeit reisen – wollte ein Teil von ihm es glauben. Es würde die ungewöhnlichen Schuhe und glitzernde Jacke erklären. „Wenn du von dort kommst: Wieso fährst du nicht zurück, anstatt in der Kälte zu sitzen und zu betteln?“
„Das würde ich ja gerne, aber mein Treibstoff ist alle.“
„Treib-stoff?“ Was sollte das sein?
„Die Maschine benötigt eine bestimmte Flüssigkeit, um zu funktionieren. Ich hatte nur genug dabei, um hierher zu kommen.“
„Und welche Flüssigkeit ist das?“
„Bier.“ Timo seufzte. „Ich dachte, das finde ich in fast jeder Epoche, hab aber leider nicht zu Ende gedacht, wie ich es bezahlen soll. Ich hab zwar Euros dabei, doch die nimmt ja keiner.“
„Euros?“
„Das ist die Währung in der Zukunft.“
Das klang in seinen Ohren alles sehr irre. Handelte es sich um einen Trick, um seine Biervorräte zu plündern? Aber woher wusste Timo davon? Nein, davon konnte er gar nichts wissen. Sie waren gut versteckt und wenn er sie nach Haus brachte, achtete er stets darauf, dass niemand bemerkte, was er in seiner Tasche transportierte.
„Gibt es hier eine Toilette?“
„Der Abort ist zwei Treppen hoch. Ich muss auch hin.“
Im Hochparterre stank es mal wieder nach Pisse und Scheiße. Im Winter war das gerade noch erträglich, doch im Sommer kaum auszuhalten.
Er überließ Timo den Vortritt. Während er auf dem Treppenabsatz wartete, kam Fräulein Meier, die im 2. Stock zur Untermiete wohnte, die Stufen hoch. Wie stets huschte sie stumm an ihm vorbei, den Blick gesenkt.
Obwohl Wilfried wusste, dass es kaum Sinn machte, versuchte er, sie attraktiv zu finden. Irgendwie musste er ja gegen seine Andersartigkeit ankämpfen. Er wollte nämlich nicht ewig allein bleiben, sondern schon einen Menschen haben, mit dem er alt werden konnte. Oft fühlte er sich entsetzlich einsam, selbst inmitten vieler Menschen. Der Verlust seiner Familie spielte dabei bestimmt auch eine Rolle. Seine Eltern waren zwar recht kaltherzig gewesen, doch Blutsbande blieben eben Blutsbande.
Die Tür zum Abort sprang auf. Timo erschien. „Tja ... dann danke für alles.“
„Gern geschehen“, gab er zurück und beeilte sich, aufs Örtchen zu kommen, da es mittlerweile ziemlich dringend war.
Erst als er den Raum wieder verließ und Timo nirgends erblickte, ging ihm auf, dass sich sein Gast mit den letzten Worten offenbar verabschiedet hatte. Die Befürchtungen hinsichtlich seiner Biervorräte waren also unbegründet gewesen.
Die Aussicht auf eine Nacht in dieser Kälte behagte Timo gar nicht. Zum x-ten Mal verfluchte er seine spontane Idee, die Zeitmaschine einem Echt-Test zu unterziehen. Ein Trost war, dass er sich nicht in die Steinzeit katapultiert hatte, wobei ... wenn er die umherliegenden Trümmer betrachtete, konnte man dieses Jahrzehnt auch so nennen.
Seufzend ließ er sich auf den Eingangsstufen einer Ruine nieder. Er sollte zurück zu Wilfried gehen und fragen, ob er dort schlafen durfte. Das fand er zwar doof, weil er den lieben Mann nicht ausnutzen wollte, aber welche Wahl hatte er denn? Erfrieren war keine Option.
Abermals seufzend stand er auf und trottete die Straße runter. Die wenigen Leute, die unterwegs waren, machten einen Bogen um ihn. Er fiel auf wie ein bunter Hund mit seinen Klamotten. Vielleicht dachten die Passanten auch, dass er vom Zirkus kam.
Vor Wilfrieds Tür zögerte er. Schließlich fasste er sich ein Herz und klopfte. Wilfried öffnete die Tür einen Spalt, erblickte ihn und zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Es ist mir echt peinlich, aber ... aber ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll“, stotterte Timo. „Kann ich bei dir pennen?“
An Wilfrieds verständnisloser Miene erkannte er, dass er sich anders ausdrücken musste.
„Kann ich bei dir übernachten?“, präzisierte er.
Wilfried runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht recht ... ich wohne hier nicht allein.“
„Schon gut. Ich dachte nur, fragen kostet ja nichts.“ Mit hängendem Kopf machte er kehrt und stieg die Stufen wieder rauf.
„Warte!“, hielt Wilfried ihn auf.
Hoffnung regte sich. Er guckte über die Schulter.
„Komm schon rein“, brummelte Wilfried, öffnete die Tür weiter und trat beiseite.
Timo fiel ein Stein vom Herzen. Er eilte die Treppe hinunter in das warme Zimmer.
„Jeder fährt bei euch ein Auto?“, staunte Wilfried.
Sie saßen am Ofen, jeder einen Blechbecher Wasser in der Hand.
Timo nickte. „Manchmal sogar zwei.“
„Wie funktioniert das? Kann man die gleichzeitig fahren?“
„Man benutzt sie abwechselnd.“
Mit offenem Mund starrte Wilfried ihn an. Der Mann war herzzerreißend naiv ... nein, die Bezeichnung war gemein. Schließlich würde Timo genauso reagieren, wenn er in dieser Zeit aufgewachsen wäre. Kindliche Neugier traf es eher.
„Du bist ein guter Geschichtenerzähler.“ Wilfried prostete ihm zu. „Du solltest Bücher schreiben.“
In den letzten Minuten hatte Timo den Eindruck gewonnen, dass Wilfried ihm Glauben schenkte. Tja, falsch gedacht. War das überhaupt wichtig? Wilfried konnte ihm doch sowieso nicht helfen. So ärmlich, wie es in dessen Bude aussah, besaß der gar nicht die finanziellen Mittel, um die benötigte Menge Treibstoff zu beschaffen.
„Wo steht deine Maschine überhaupt?“, erkundigte sich Wilfried.
„Im Eichtalpark.“
Stirnrunzeln zeigte, dass dieser Name nicht bekannt war. Hatte der Park damals, also heute, anders geheißen?
„Meinst du den Wandsbeker Stadtpark?“, hakte Wilfried nach.
Das klang passend. Er nickte.
„Wenn es nicht schon dunkel wäre, würde ich sie mir gerne angucken.“
„Ich hab eine Taschenlampe dabei.“ Wenigstens daran hatte er gedacht. Und an seine Börse, die er nun zückte und Wilfried ein paar Geldscheine, seinen Ausweis und Führerschein zeigte.
„Hm-hm“, machte Wilfried mit skeptischer Miene.
Verständlich, wenn jemand nicht wusste, woran man die Echtheit der Papiere erkannte. Die Banknoten erinnerten auch Timo ein wenig an Monopoly-Scheine.
Wenig später brachen sie auf. Angesichts des fadenscheinigen Mantels, dünnen Schals und der alten Schuhe, die Wilfried trug, empfand er Mitleid. Allerdings hatte er im Laufe des Tages Leute gesehen, die noch weitaus schlechter gekleidet waren.
Es schneite nicht mehr. Die Bürgersteige waren von einer weißen Schicht überzuckert. Nur wenige Fußspuren zeugten davon, dass noch andere Leute unterwegs waren. Sie begegneten auf der ganzen Strecke zum Park nur zwei Personen, die mit hochgezogenen Schultern und langen Schritten an ihnen vorbeieilten.
Sobald sie in den Schatten der Bäume eintauchten, knipste Timo seine Taschenlampe an. Sie überquerten die Brücke, die über die Wandse führte. Dahinter verließen sie den Weg. Laub raschelte unter ihren Sohlen. Noch hingen ein paar Blätter an den Ästen und Sträuchern, was Timo die Tarnung der Maschine erleichtert hatte.
Sie bestand aus einem ausrangierten Autoscooter, den sein Mitbewohner Mehmet, der maßgeblich an der Konstruktion beteiligt war, in Camouflage-Farben lackiert hatte. Eigentlich schwebte Timo eher eine Telefonzelle vor, doch Mehmet meinte, die wäre nicht aerodynamisch genug. Die Lenksäule hatten sie, um Platz für die Zentraleinheit zu schaffen, abgeflext. Damit die Technik vor feuchter Witterung geschützt war, hatte Mehmet eine Haube, die Timo scherzhaft Käseglocke nannte, aus Plexiglas angefertigt. Dank Scharnieren ließ sie sich hochklappen, um ein Einsteigen zu ermöglichen. Der Tank befand sich unter dem Sitz und dahinter ein Gepäckfach, das Timo leider nicht mit sinnvollen Dingen gefüllt hatte, wie beispielsweise Treibstoff.
Als sie die Maschine erreichten, ließ er den Strahl der Taschenlampe darüber wandern.
„Was ist das?“ Wilfried berührte die Käseglocke. „Glas?“
„Plastik.“
Wilfried lehnte sich vor, um durch das Plexiglas zu spähen.
„Leider kann ich dir nicht zeigen, wie die Zentraleinheit funktioniert, weil sie keinen Saft hat.“
„Saft?“
„Strom. Mit dem Treibstoff wird eine Lichtmaschine angetrieben, die den Strom erzeugt.“
„Bier erzeugt Strom?“
„In diesem Fall: Ja.“
Wilfried richtete sich auf und vergrub die Hände in den Manteltaschen. „Sieht interessant aus.“
Es klang eher nach: Was hast du mir da denn für ein popliges Ding gezeigt? „Da steckt wahnsinnig viel Arbeit drin.“
„Mhm-mhm“, machte Wilfried und wandte sich zum Gehen.
Der Rückweg verlief schweigend. Wilfried, den Blick gesenkt und die Stirn gerunzelt, wirkte nachdenklich. Timo grübelte ebenfalls. Mit Betteln würde es ewig dauern, bis er die nötige Summe beisammenhatte. Er müsste ja auch von etwas leben und vor allem irgendwo übernachten. Wilfried konnte er keinesfalls die ganze Zeit ausnutzen.
Als sie im Souterrain eintrafen, war der Vorhang, der die beiden Einzelbetten trennte, zugezogen. So leise wie möglich richtete sich Timo auf dem Fußboden ein, wofür Wilfried ihm ein Handtuch und ein paar Lumpen lieh. Obwohl sein Lager hart war und Sorgen ihn plagten, wie er nach Hause kommen sollte, fand er bald in Morpheus‘ Arme.
Am nächsten Morgen wachte er auf, als jemand über ihn hinwegstieg. Er blinzelte und erkannte im fahlen Morgenlicht einen Typen, bei dem es sich wohl um Wilfrieds Mitbewohner handelte, der am Ofen hantierte.
Es stank nach den Ausdünstungen dreier Männer und war arschkalt. Er hatte einen schrecklichen Geschmack im Mund und wünschte seine Zahnbürste herbei. Andererseits war das ein Luxusproblem.
„Hi. Ich bin Timo“, stellte er sich dem Mitbewohner vor.
„Martin“, gab der zurück, ohne sein Tun zu unterbrechen.
„Sorry, dass ich hier übernachtet habe, aber ich wusste nicht wohin.“
Martin schloss die Ofenklappe und richtete sich auf. „So lange du hier nicht einziehst, ist das in Ordnung. Es wäre doch etwas eng zu dritt.“
Hinter Timo regte sich Wilfried. „Wer ist mit Kaffee kochen dran?“
„Du“, erwiderte Martin und verzog sich auf das Bett auf der anderen Seite des Vorhangs.
Manche Dinge änderten sich nie. Wenn es in Timos WG ums Kochen oder Abwaschen ging, war auch immer er dran.
Er begab sich auf die Toilette. Bei seiner Rückkehr – er hatte sich auch notdürftig gewaschen – duftete es schwach nach Kaffee. Wilfried reichte ihm einen Becher mit durchsichtiger Brühe und ließ ihn mit Martin allein.
Mittlerweile verströmte der Ofen bullige Hitze. Timo setzte sich auf den Stuhl, der direkt daneben stand, beide Hände um den Blechbecher geschlossen. Nach einigen vorsichtigen Schlucken wurde ihm so warm, dass er seine Jacke öffnete.
„Verkaufst du mir deine Jacke?“, sprach Martin, der auf der Bettkante hockte, ihn an.
War das seine Chance, an Treibstoff zu kommen? „Wie viel würdest du denn dafür geben?“
„Meinen Mantel und zwei Mark.“
„Dafür kann ich sie nicht hergeben.“
„Drei Mark“, bot Martin an.
Timo schüttelte den Kopf.
„Drei Mark fünfzig.“
„Tut mir leid, aber wir kommen wohl nicht ins Geschäft.“ Aus irgendeinem Grund traute er Martin nicht und behielt daher die Sache mit dem Treibstoff für sich. Der Supergau wäre, wenn jemand die Maschine fand und wegtransportierte oder zerstörte. Dann säße er in dieser grauenhaften Zeit fest.
Er atmete auf, als Wilfried einen Moment später den Raum betrat, weil sich in dessen Gegenwart Martin anscheinend nicht traute, weiter zu verhandeln. Sonst hätte er wohl kaum gewartet, bis sie allein waren.
Zum Frühstück gab ihm Wilfried eine halbe Scheibe Brot, dünn mit Butter bekratzt, ab. Timo schämte sich, aber sein Hunger überwog. Danach brach Martin auf. Wie er dem Gespräch der beiden entnahm, um auf einem Bauernhof zu arbeiten.
Während Wilfried am Waschbecken das Geschirr spülte, überlegte Timo, was er nun tun sollte. Jobs waren in dieser Zeit offenbar genauso knapp wie Bier und Geld. Im blieb also eigentlich nur übrig, weiter zu betteln. Dann würde er noch lange hier festsitzen.
„Ich hab nachgedacht“, meldete sich Wilfried zu Wort. „Wie viel Treibstoff brauchst du für deine Maschine?“
„Zehn Liter.“
Wilfried drehte sich zu ihm um, einen Lappen in den Händen. „Wenn ich dir das Bier gebe, nimmst du mich dann mit?“
Perplex starrte er seinen Gastgeber an. War das eine hypothetische Frage?
„Das musst du schwören auf alles, was dir heilig ist“, redete Wilfried weiter.
Er schien es ernst zu meinen. „Ich schwöre bei dem Leben meiner Eltern.“
Einen Augenblick betrachtete Wilfried ihn prüfend, nickte dann, hängte den Lappen über den Waschbeckenrand und ging zum Bett. Nacheinander kramte er einen gammligen Rucksack und zwanzig Halbliterflaschen Bier darunter hervor.
Erstaunt riss Timo die Augen auf. Noch wagte er nicht, an sein Glück zu glauben. Erst wenn sie die Maschine betankt ... nein, erstmal mussten sie die kostbare Fracht unauffällig dorthin bringen. Immer einen Schritt nach dem anderen.
Zwölf Flaschen passten in den Rucksack. Damit es nicht verdächtig klirrte, stopften sie Lappen zwischen die Bierflaschen. Die restlichen verteilten sie auf ihre Jacken- beziehungsweise Manteltaschen.
Derart beladen verließen sie das Souterrain. Wilfried sperrte die Tür ab, stieg die Stufen hinauf und wartete, bis Timo ebenfalls die Treppe überwunden hatte.
„Was machen wir, wenn es nicht funktioniert?“, fragte er leise.
„Beten, dass uns bald jemand aus meinem Jahrhundert holen kommt.“ Mehmet besaß die Dokumentation. Irgendwann, wenn sein Mitbewohner anfing, sich Sorgen zu machen, würde er bestimmt ein zweites Modell bauen und nach ihm suchen.
Die Temperaturen befanden sich glücklicherweise im Plusbereich. Glatte Wege wären für ihre zerbrechliche Fracht ein hohes Risiko. Passanten waren nur wenige unterwegs. Keiner von ihnen beachtete sie, obwohl sie mit ihren ausgebeulten Klamotten merkwürdig aussahen.
Ohne Zwischenfälle erreichten sie den Park. Auch dort herrschte Totentanz. Als sie die Maschine erreichten, atmete Timo auf. Niemand schien sich daran zu schaffen gemacht zu haben.
Es dauerte ein Weilchen, die Flascheninhalte in den Tank zu gießen. Während er das erledigte, stand Wilfried Schmiere. Lediglich ein Spaziergänger kam in der Zeit vorbei.
Schließlich, als das letzte Bier geleert war, öffnete Timo die Kuppel und stieg in die Maschine. Problemlos startete die Zentraleinheit. Auf dem Display stand seine Ankunftszeit samt Koordinaten. Er tippte auf die Taste mit dem Rückwärtspfeil, woraufhin Startzeit und -position erschienen.
„Funktioniert sie?“, flüsterte Wilfried, weiterhin dabei, die Umgebung zu scannen.
„Sieht so aus. Steig ein.“
Es er sich’s versah, hatte sich Wilfried neben ihn gequetscht. Er schloss die Plexiglaskuppel und atmete tief durch. Der Zeitsprung war ziemlich unangenehm gewesen.
„Gleich wird’s dunkel“, warnte er Wilfried, bevor er den Startknopf drückte.
Wusch!, tauchten sie in finstere Schwärze.
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2022
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