Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autoren.
Copyright Texte: die Autoren
Fotos: Shutterstock Vektor 550777759
Coverdesign: Lars Rogmann
Korrektur: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Sissi Kaiserlos
Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/
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Liebe Leserinnen und Leser,
zum 34. Mal haben Autoren Geschichten gespendet. Gerade zu Weihnachten fanden wir das Thema Trennung – Versöhnung sehr passend, denn wer möchte nicht im Kreis seiner Liebsten die Feiertage verbringen?
Danke, dass du den Band erworben hast. So machst du es möglich, dass die Spendenempfänger – die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz Berlin – Menschen, die sich auf der Schattenseite des Lebens befinden, Hilfestellung geben können. Den Nonnen auch ein großes Danke, für ihren selbstlosen Einsatz.
Im Namen aller Mitwirkenden wünsche ich eine besinnliche Adventszeit und frohe Weihnachten
Sissi Kaiserlos
Im Nudelgewand
Johann ist frisch von Martin getrennt. Er macht Urlaub mit Chris, seinem Ex, der ihn einst für einen Älteren verlassen hat. Inzwischen sind beide 40 und befinden sich in Palma de Mallorca
Johann streckte seine Beine aus, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Es war herrlich, neben Chris in der mallorquinischen Sonne zu sitzen. Dank des räumlichen Abstandes und der lieben Urlaubsbegleitung, schmerzte die Trennung von Martin inzwischen etwas weniger. Es war aber auch beschissen, wenn man zusammenwohnte und praktisch live miterlebte, wie der Ex mit dem Neuen rummachte. Also, nur im übertragenen Sinne, nämlich dadurch, dass Martin nachts durch Abwesenheit glänzte.
Ehrlich gesagt hatte er das Ende ihrer Beziehung schon lange kommen sehen. Wo mal glühende Leidenschaft blühte, war nur noch Gewohnheit übriggeblieben. Andererseits: Ging es nicht den meisten Paaren so? Wer schaffte es denn, die Verliebtheit der ersten Zeit in den Alltag hinüberzuretten? Johann kannte niemanden, mit Ausnahme seiner Eltern. Wie oft die beiden ihren zweiten Frühling erlebt hatten, konnte er gar nicht zählen.
„Ich hätte Lust auf einen Café con leche“, meldete sich Chris zu Wort.
„Hast du das nicht immer?“, spottete Johann milde. Gleich nach ihrer Ankunft hatten sie welchen in der Hotellobby getrunken.
„Der letzte ist über eine Stunde her.“
„Was sagt denn dein Blutdruck zu deiner Kaffeesucht?“
„Der ist völlig okay, genau wie mein Cholesterinspiegel.“ Chris feixte und stand auf. „Also, was ist? Kommst du mit?“
Sie schlenderten die Promenade entlang, bis sie ein Café entdeckten, das ihnen gefiel. Chris bestellte Milchkaffee, Johann eine Saftschorle. Zu viel Koffein vertrug er nicht. Mit Anfang vierzig musste man auf einiges achten und ihm graute davor, wie es erst mit fünfzig werden würde.
Er musterte sein Gegenüber. An Chris waren die Jahre auch nicht spurlos vorübergegangen. Fältchen in den Augenwinkel, silberne Strähnen an den Schläfen. Johann fand, dass sein Begleiter dadurch noch attraktiver wirkte. Sein eigenes Spiegelbild hingegen mochte er momentan gar nicht. Vermutlich, weil er durch einen Jüngeren ersetzt worden war. Martins Neuer war Mitte zwanzig. Dagegen sah er uralt aus.
Der Mallorca-Urlaub war eine spontane Idee gewesen. In seinem Kummer hatte er durch die Kontaktliste seines Handys gescrollt und war bei Chris‘ Namen hängengeblieben. Sie hatten sich zum Abendessen getroffen und dabei festgestellt, dass sie beide einen Ortswechsel brauchten. So war es zu der Buchung der Reise gekommen.
Die Ironie an der Geschichte: Damals hatte sich Chris ebenfalls von ihm getrennt, um mit einem anderen zusammen zu sein, allerdings einem älteren Mann. Anfangs war Johann dermaßen verletzt gewesen, dass er jeglichen Kontakt vermied. Im Laufe der Monate hatte er sich besonnen und es war Freundschaft zwischen Chris und ihm entstanden. Je nachdem, ob einer von ihnen in einer festen Beziehung steckte, sah man sich mal mehr mal weniger. Martin mochte Chris nicht, weshalb ihr Verhältnis geruht hatte. Im Nachhinein fand Johann es unverständlich, wegen seines Ex ihre Freundschaft vernachlässigt zu haben.
„Übrigens hab ich das Riesen-Arschloch letzte Woche im Sky getroffen“, berichtete Chris. „Sein Neuer kann dir nicht das Wasser reichen.“
Mit Riesen-Arschloch war Martin gemeint. „Sein Neuer hat wesentlich weniger Jahre auf dem Buckel.“
„Ja und? Dann hat er eben ein paar Falten weniger, dafür aber auch weniger Charakter.“
„Und straffere Hinterbacken.“
„Pft.“ Chris machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sex ist nicht alles.“
„Es läuft aber immer darauf hinaus.“
„Zugegeben: Eine platonische Beziehung wäre nichts für mich. Trotzdem muss auch der Rest stimmen.“
„Womit wir wieder bei Mr. Perfekt wären.“ Früher hatten sie oft darüber sinniert, wie der perfekte Partner sein sollte. Als er Martin traf, dachte er, sein Ideal gefunden zu haben. Erfolgreich, gutaussehend, zärtlich und monogam. Vielleicht hatten sie zu wenig an ihrer Beziehung gearbeitet.
„Übrigens mache ich eine Therapie wegen meines Vaterkomplexes“, wechselte Chris das Thema. „Das hätte ich schon viel eher tun sollen.“
„Wieso? Wenn du mit Greisen glücklich bist, ist das doch in Ordnung.“
Chris zeigte ihm einen Vogel. „Der Altersunterschied mag ja okay sein, so lange man jung ist. Inzwischen ist meine Zielgruppe über sechzig. Das ist ja schon fast Leichenschändung.“
„Wieso? Viele werden heutzutage achtzig und älter.“
„Aber nicht bei voller Manneskraft.“
„Ach, geht’s jetzt doch wieder um das eine.“
„Wie gesagt: Platonisch ist nicht mein Ding. Dazu poppe ich zu gern.“
Entweder verstand der Kellner kein Deutsch oder hatte seine Miene gut unter Kontrolle. Mit unbewegtem Gesichtsausdruck stellte er die Getränke vor ihnen ab und eilte wieder davon.
„Und was war noch gleich der Grund, weshalb du deinen letzten Macker abgeschossen hast?“, erkundigte sich Johann süffisant. Laut Chris hatte jener unter Sexsucht gelitten und es jede Nacht dreimal treiben wollen.
„Zu viel ist eben zu viel.“ Chris nippte am Kaffee. „Wie sieht’s aus? Leihen wir uns einen Wagen?“
„Heute schon?“
Chris lüpfte die Augenbrauen. „Gibt es eine Regel, nach der man nicht am ersten Urlaubstag zum Autoverleiher gehen darf?“
Wenig später saßen sie in einem weißen Cabrio und fuhren in Richtung Ballermann. Noch spürte Johann keine Müdigkeit. Sie hatten den ersten Flug um fünf vor sechs ab Hamburg genommen, weshalb er mitten in der Nacht aufgestanden war. Wahrscheinlich würde er den Schlafmangel jedoch bald spüren, denn sie planten, in El Arenal Currywurst zu essen. Natürlich Chris‘ Idee. Sein Freund war diesbezüglich immer noch der Alte: Stets bereit, irgendwelchen Unsinn zu verzapfen.
Als sie gemächlich die Straße am Strand entlang gondelten, äußerte Chris das, was er auch dachte: „Was für eine Scheißidee. Lass uns woanders hin.“
Gesagt -getan. Letztendlich hielten sie in einem Bergdorf und aßen in einem winzigen Restaurant, von dessen Terrasse man bis zum Meer blickte. Currywurst gab es dort glücklicherweise nicht. Anschließend düsten sie noch ein bisschen durch die Gegend, bevor sie nach Palma zurückkehrten, den Wagen abgaben und in ihr Hotel gingen.
Auf die Schnelle hatten sie nur ein Doppelzimmer ergattert. Da sie einander körperlich in- und auswendig kannten, sah Johann darin kein Problem. Derzeit war ihm sowieso nicht nach Alleinsein zumute.
Chris belegte das Bad, während er es sich auf dem Balkon gemütlich machte. Sie hatten Glück: Von dem Freisitz aus konnte man den Hafen sehen. Das andere, verfügbare Zimmer war etwas günstiger, dafür guckte man in eine Seitenstraße.
Er trank einen Schluck Mineralwasser, wobei er das Treiben beobachtete. Unglaublich, wie viele Menschen derart viel Geld besaßen, sich eine große Yacht zu leisten. Andererseits waren diese Luxusobjekte vielleicht durch Darlehen finanziert. Bestimmt galt für sie das Gleiche, wie für dicke Autos.
Chris gesellte sich zu ihm, ein Fläschchen Orangensaft in der Hand. Der Inhalt der Minibar war unverschämt teuer, aber im Urlaub war das okay.
„Und? Wie geht’s dir?“, fragte Chris leise.
„Gut.“ In den letzten Stunden hatte er kaum an Martin gedacht.
„Warum zieht das Riesenarschloch nicht zu dem Neuen?“
„Damit will er noch warten. Er sucht schon nach einer anderen Bleibe.“
„Du könntest erstmal bei mit unterkriechen, bis Mr. R.A. ausgezogen ist.“
„Nenn ihn nicht immer so.“
„Aber es stimmt doch. Er hätte sich erst eine Wohnung suchen sollen, bevor er dir den Arschtritt verpasst.“
„Das ist, wie du weißt, nicht so einfach.“
„Am Geld mangelt’s bei ihm nicht, also ist es doch einfach.“
Das stimmte, aber Martin war nun mal sparsam. Wohlweislich sprach Johann das nicht laut aus, weil er wusste, was Chris dazu sagen würde. Geizhals wäre wohl noch das harmloseste Schimpfwort. „Es ist nun so, wie es ist.“
Wäre die Wohnung nicht sein Eigentum, würde er ausziehen. Manchmal war es ganz schön lästig, etwas zu besitzen.
„Du bist zu gut für diese Welt“, stellte Chris fest, leerte die Flasche und erhob sich. „Gehen wir eine Runde bummeln, bevor‘s Abendessen gibt?“
Bereichert um eine Sonnenbrille mit rotem Gestell, quietschbunte Badehose und einen Mini-Ventilator, - alles Dinge, die er auf Chris‘ Drängen hin erstanden hatte – kehrten sie in ein Lokal ein. Zu Paella gönnten sie sich einen guten Tropfen Rotwein.
Angenehm beschwipst und vollgefressen begaben sie sich zurück ins Hotel. Als Johann ins Bett fiel, dauerte es keine zwei Sekunden, bis er eingeschlafen war.
Am nächsten Morgen war er einige Momente orientierungslos, bis er sich an die Geschehnisse des Vortags erinnerte. Neben ihm: Chris‘ blonder Schopf auf dem Kopfkissen. Das weckte weitere Erinnerungen.
Damals, in ihrem ersten Studienjahr, waren sie rund acht Monate zusammen gewesen. Unzertrennlich, bis Nathan auftauchte. Es kam nicht unerwartet, dass sich Chris von heute auf morgen dem zwanzig Jahre älteren Mann zuwandte. Johann hatte von der Neigung zu Vaterfiguren gewusst. Er konnte es sogar ein bisschen verstehen. Chris‘ Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann, dafür im Privatleben ein Versager. Stets hatte Chris um Zuneigung gebettelt und nie erhalten. Nach dem Outing war’s endgültig vorbei gewesen. Chris‘ Eltern hatten ihren eigenen Sohn rausgeworfen, allerdings mit ordentlicher Mitgift ausgestattet. Schließlich wollten sie sich nicht vorwerfen lassen, ihr Kind zu einer Drogen- oder Stricherkarriere getrieben zu haben.
Johann mochte sich gar nicht vorstellen, wie es in dem lieblosen Elternhaus zugegangen war. Er hatte das genaue Gegenteil erlebt. Auch nach seiner Offenbarung, auf Männer zu stehen, war ihm keine Zuneigung entzogen worden. Dafür war er unendlich dankbar. Vielleicht hätte er sonst ebenfalls einen seelischen Defekt davongetragen, wobei der Hang zu Älteren ja nicht unbedingt von einem Trauma ausgelöst wurde. Manche mochten es eben lieber, wenn ihr Partner mehr Erfahrung besaß.
Chris drehte sich zu ihm um und blinzelte ihn an. „Wer bist du und was tust du in meinem Bett?“
„Erinnerst du dich nicht? Du hast mich gestern abgeschleppt. Wir hatten dreimal heißen, wilden, schmutzigen Sex.“
„Ach so. Dann ist ja alles gut.“ Chris gähnte. „Ich brauch Koffein.“
„Überraschung“, murmelte Johann spöttisch, schwang die Beine aus dem Bett und trottete ins Bad.
Die folgenden drei Tage verbrachten sie mit langen Spaziergängen, ein bisschen Kultur und Ausruhen. Am vierten mieteten sie erneut ein Auto, um die Insel zu erkunden. Dank der späten Jahreszeit waren die Attraktionen nicht überlaufen. Dafür mussten sie allerdings einige Regenschauer und kühlen Wind in Kauf nehmen. Zum Glück hatten sie sich für einen geschlossenen Wagen entschieden. Chris wollte zwar unbedingt wieder ein Cabrio, doch diesmal hatte sich Johann durchgesetzt. Angesichts des fadenscheinigen Stoffverdecks bei dem letzten hielt er seine Entscheidung für sinnvoll.
Beim Abendessen, das sie im Hotelrestaurant einnahmen, geschah es: In dem einen Moment betrachtete er Chris noch als Freund, im nächsten trug er die berühmte rosarote Brille. Hatten seine Gefühle nur auf eine Gelegenheit gewartet, um nach all den Jahren wieder zutage zu treten?
Später, als sie im Bett lagen und Chris schlief, dachte er über die Sache nach. Damals hatte er unter ihrer Trennung sehr gelitten. Mehr als unter der von Martin. Letztendlich hatte er entschieden, dass er lieber ein bisschen Chris als gar keinen wollte. So war ihre Freundschaft entstanden. Konnte es sein, dass seine Liebe die ganze Zeit überdauert hatte? War es mit jedem seiner Partner schiefgelaufen, weil er sie mit Chris verglichen hatte? Wäre es besser gewesen, jeglichen Kontakt zu unterbinden? Andere Frage: Hatte er überhaupt eine Chance bei Chris? Das mit der Therapie klang ja vielversprechend, aber konnte sich ein Mensch derart stark verändern?
Am nächsten Tag bemühte sich Johann redlich, seine Gefühle zu verbergen. Ein schwieriges Unterfangen. Das Bedürfnis, Chris zu berühren, zu küssen, war in manchen Augenblicken übermächtig. Ab und zu gewann er den Eindruck, dass Chris ihm näher als sonst auf die Pelle rückte. Das bildete er sich aber bestimmt ein.
Gegen Abend, als sie sich im Hotelzimmer für das anstehende Essen frisch machten, - Johann stand im Bad vorm Waschbecken und rasierte sich – erschien plötzlich Chris hinter ihm.
„Was hältst du davon, wenn wir für den Rest unseres Urlaubs einen auf Freunde plus machen?“ Fragend schaute Chris ihn im Spiegel an.
Es verschlug Johann die Sprache. Erstens: Wie kam Chris mit einem Mal auf sowas? Zweitens: Wie erteilte er eine Absage, ohne seinen Freund zu verletzen? Drittens: Oder sollte er darauf eingehen, um wenigstens ein kleines Stück des begehrten Kuchens zu bekommen?
„Du guckst, als hätte ich dir einen unsittlichen Antrag gemacht“, beschwerte sich Chris, die Augenbrauen mürrisch zusammengezogen.
„Ähm … das hast du doch auch.“
„Wir waren doch aber schon zusammen im Bett.“
„Vor zwanzig Jahren.“
„Und in den letzten Nächten.“
„Das ist was anderes.“
„Vergiss einfach, dass ich gefragt habe“, brummelte Chris und verließ das Bad.
Johann starrte sein Spiegelbild an. Hatte er das gerade geträumt? Hoffentlich, denn er kam überhaupt nicht damit klar.
Als er sich fertig rasiert hatte, wusste er immer noch nicht, was er von dem Ganzen halten sollte. Hatte Chris Druck auf der Leitung? Dafür war er sich eigentlich zu schade. Dennoch flüsterte ihm sein Herz ständig zu, dass er den Brosamen mitnehmen sollte. Sein Schwanz war der gleichen Meinung. Auf den zu hören, hatte bisher immer Unglück gebracht.
Kaum hatte er das Badezimmer geräumt, belegte Chris es mit Beschlag. Es dauerte eine Viertelstunde, die er weiter grübelte, bis sein Freund wieder aufkreuzte.
„Wir tun so, als hätte unsere Unterhaltung nie stattgefunden“, teilte Chris ihm mit, steckte Börse und Zimmerschlüssel ein und ging zur Tür.
Leichter gesagt als getan. Dass auch Chris damit ein Problem hatte erkannte er daran, dass zwischen ihnen Schweigen der unangenehmen Sorte herrschte. Es war, als stünde ein Elefant im Raum und sie versuchten beide krampfhaft, diesen zu übersehen.
Im Restaurant hielt die Stille weiter an. Schließlich, als sie bestellt hatten und ihre Getränke auf dem Tisch standen, schenkte Chris ihm ein zaghaftes Lächeln. „Da hab ich wohl ziemliche Scheiße gebaut, nicht wahr?“
„Sagen wir es mal so: Damit hab ich nicht gerechnet.“
„Ich auch nicht.“ Chris seufzte und spielte mit dem Besteck, die Wimpern gesenkt. „Es ist nur so, dass ich … na ja, du weißt, dass ich nicht lange ohne Sex auskomme und da dachte ich … aber, wie gesagt, vergiss es.“
„Klassischer Samenstau“, konstatierte Johann trocken.
Chris schüttelte den Kopf. „Nicht nur. Ich finde dich eben höllisch attraktiv und dazu bist du auch noch ein toller Typ.“
Das war ganz schön dick aufgetragen. Hässlich fand er sich nicht, aber eine Schönheit war er auch nicht. „Meinst du nicht, dass Sex unsere Freundschaft kaputtmachen würde?“
„Wieso?“ Chris schaute hoch, die Stirn gerunzelt. „Wir hatten doch schon welchen und sind immer noch befreundet.“
„Das ist was anderes. Damals waren wir verliebt. Zumindest ich.“
„Ich auch!“
„Deshalb hast du mich auch für Nathan verlassen.“
Wieder fixierte Chris die Tischdecke.
„Tschuldige. Das war unfair.“
„Du hast ja recht.“ Chris seufzte und hob den Blick. „Ich weiß nicht, was damals mit mir los war. Ich war so durcheinander und dachte, Nathan könnte Ordnung schaffen.“
„Das hat er doch auch geschafft.“ Unter Tisch trat er sanft gegen Chris‘ Schienbein. „Schwamm drüber. Lass uns von was anderem reden.“
„Vielleicht musste ich ein alter Knacker werden, um von alten Knackern die Schnauze voll zu haben.“
„Das hast du schön formuliert.“ Johann feixte.
„Mein Therapeut würde passendere Worte finden. Er ist der Meinung, dass ich mich praktisch schon selbst geheilt habe.“
„Es ist keine Krankheit, reife Personen sexy zu finden.“
„Deshalb finde ich dich ja auch so sexy.“ Chris schenkte ihm ein Lächeln, das die Schmetterlinge in seinem Bauch aufscheuchte.
Und da war er wieder, der Eindruck, dass seine Gefühle erwidert wurden. Im Geiste schalt er sich einen Narren, der sah, was er sehen wollte.
„Okay, Themawechsel. Was hältst du davon, das Problem der Überbevölkerung dadurch zu lösen, alle Menschen zu verhomosexualisieren?“
Ungläubig blinzelte er Chris an.
„Das würde auch weitere Probleme lösen“, fuhr Chris fort. „Stell dir doch nur vor, den Muftis in Saudi-Arabien wird befohlen, ab sofort schwul zu sein. Die würden doch alle Harakiri begehen.“
„Öhm … verwechselst du da nicht was?“
„Ja, ja, ich weiß, das machen die Japaner. Es wäre doch aber toll, wenn die Muftis diesen Brauch übernehmen.“
„Das heißt: Menschen mit arabischen Wurzeln.“
„Mit doch egal, woher die ihre Wurzeln nehmen.“
Der Kellner brachte ihre Vorspeisen. Als der Mann wieder gegangen war, fragte Chris: „Was treiben eigentlich deine Eltern?“
Damit hatten sie genug Gesprächsstoff, um erstmal heikle Themen zu umgehen. Chris war von Johanns Eltern gleich adoptiert wurden. Ihre Trennung hatte bei den beiden große Bestürzung ausgelöst. Es war, als hätten sie einen Sohn verloren. Übertrieben, da sie ja nur kurz zusammen gewesen waren, aber sie hatten Chris nun mal ins Herz geschlossen.
Benebelt von reichlich Rotwein, der zum Essen geflossen war, begaben sie sich auf den Heimweg. Chris griff nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger miteinander. Das half, einigermaßen geradeaus zu gehen. Wie zwei Teenager kicherten sie, wenn einer von ihnen stolperte.
Im Hotelzimmer wechselten sie sich im Bad ab. Dann lagen sie im Bett. Johann knipste die Nachttischlampe aus. Er blinzelte ins Dunkel und überlegte, ob er ein schlechter Mensch war, dass er die Trennung von Martin bereits verwunden und sich wieder verliebt hatte. Sollte man nicht etwas Zeit zwischen solchen Ereignissen verstreichen lassen?
„Krieg ich einen Gutenachtkuss?“, murmelte Chris.
Dazu konnte er nicht nein sagen, weil es ihn zu sehr danach verlangte. Er drehte sich also in Chris‘ Richtung und spitzte die Lippen. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Lichtverhältnisse gewöhnt, so dass er sah, wie sich Chris zu ihm beugte. Ihr sanfter Kuss war nicht annähernd genug. Dennoch zog er sich zurück, um keine falschen Erwartungen zu wecken. Chris rückte hinterher und küsste ihn erneut.
Ab dem dritten Kuss hörte Johann auf zu zählen. Sein Herz summte glücklich und sein Schwanz signalisierte Bereitschaft. Er protestierte weder, als Chris ihm ganz auf die Pelle rückte, noch, als sich eine Hand unter den Bund seiner Shorts schob. Dann ging alles sehr schnell. Plötzlich hing sein T-Shirt unter seinen Achseln, die Pants in seinen Kniekehlen und Chris wälzte sich auf ihn. Finger schlossen sich um ihre Ständer. Unter weiteren Küssen holte Chris ihnen einen runter.
Danach, als sich seine Atmung allmählich normalisierte, sprang sein Verstand wieder an. Sofort begann er, die vergangenen Minuten zu analysieren und nach Anzeichen zu suchen, dass Chris seine Liebe erwiderte. Leider sprach nichts dafür. Küsse und einen Handjob tauschten auch Leute, die einander nichts bedeuteten.
„Mhm … schön“, nuschelte Chris, der sich an seine Seite geschmiegt hatte, gegen seine Schulter.
Im nächsten Moment verrieten gleichmäßige Atemzüge, dass er der letzte Wache im Raum war. Obwohl es so vieles gab, über das er nachdenken musste, forderten Alkohol und Orgasmus ihren Tribut: Er schlief ebenfalls ein.
Im Morgengrauen wachte Chris auf. Vom reichlichen Rotweingenuss hatte er Kopfschmerzen. Als er sich an die Vorkommnisse in der Nacht erinnerte, verstärkte sich das Pochen.
Leise schlüpfte er aus dem Bett, in seine Klamotten und verließ das Zimmer. In der Lobby bestellte er einen Café von Leche, bevor er die Toilette aufsuchte, um sich etwas frisch zu machen. Der Typ, der ihm aus dem Spiegel überm Waschbecken entgegen guckte, war ihm fremd. Mit einem übergriffigen Arschloch, das seinen Freund zu sexuellen Handlungen nötigte, wollte er nichts zu tun haben.
Nachdem er sich seine Koffeindröhnung verpasst hatte, ging er nach draußen. Beide Hände in den Hosentaschen marschierte er zum Strand, wo er am Wassersaum entlangwanderte.
Als Johann vor zwei Wochen anrief und von der Trennung von Martin erzählte, hatte das bei ihm widerstreitende Emotionen ausgelöst. Einerseits tat ihm sein Freund leid, andererseits war er erfreut und das nicht nur, weil er Johanns Ex nicht ausstehen konnte. Er hatte darüber mit seinem Therapeuten gesprochen. Doktor Kuschel – im Ernst, so hieß der Mann tatsächlich und sah auch so aus – meinte dazu: „Geben Sie Johann Raum und Zeit, um sich von dem traumatischen Erlebnis zu erholen. Erst wenn das verwunden ist, kann sich etwas Neues entwickeln.“
Statt sich an diesen Rat zu halten, hatte er Johann erst mit der Freunde-plus-Sache brüskiert und dann im Rotweinrausch begrabbelt. Anscheinend hatte er sein Gehirn in Hamburg vergessen. Sein Herz hingegen war mitgereist und es schlug für Johann. Das hatte es immer getan, aber er brauchte eben die Anerkennung eines älteren Mannes, um sich gut zu fühlen. Mittlerweile war das Geschichte. Sein letztes Verhältnis mit Gustav, dem sexsüchtigen, hatte das bewiesen. Es war ihm mächtig auf den Zeiger gegangen, auf Händen getragen zu werden. Entweder hatte die Therapie ihn geheilt oder die Zeit dieses Wunder vollbracht. Bekanntermaßen heilte die ja alle Wunden.
Tja … und er hatte es versaut. Vielleicht war Johann, wenn er ins Hotel zurückkehrte, schon abgehauen. Verdenken könnte er es seinem Freund nicht. Wer wollte schon mit einem Grabsch-Monster das Bett teilen? Er auch nicht.
Seufzend kickte Chris ein Steinchen ins Wasser. So früh am Morgen war der Strand verwaist. Ihm war bisher nur ein Jogger begegnet.
Schließlich drehte er um. Davon, wegzulaufen, wurde nichts besser. Er musste sich Johanns Vorwürfen stellen. Mit ganz-ganz viel Glück verzieh ihm sein Freund. Leider konnte er sich selbst nicht verzeihen. Warum musste er bloß so tief ins Glas gucken? Auf der anderen Seite war er, als er den beschissenen Vorschlag machte, vollkommen nüchtern gewesen. Dem Alkohol konnte er also nicht die gesamte Schuld in die Schuhe schieben.
Auf dem Rückweg malte er sich alle möglichen Schreckensszenarien aus; dass Johann ihm vorwarf, ein egomanisches Schwein zu sein; ihm die Freundschaft kündigte; das Geschehene als ekelhaft bezeichnete. Chris nahm sich vor, auf die Knie zu gehen und um Verzeihung zu bitten. Ihm wurde speiübel bei dem Gedanken, Johann nie wiederzusehen.
Als er das Hotel betrat, hatte er eiskalte Hände und Füße. Seine Knie schlotterten und in seinem Magen rumorte es. Im Aufzug vermied er es, sich in den spiegelnden Wänden zu betrachten. Es hätte den Kotzreiz nur verstärkt.
Vor ihrem Zimmer atmet er tief durch, bevor er mittels der Keycard die Tür öffnete. Vorsichtig spähte er in den Raum. Kein Johann, aber abgereist war sein Freund nicht, wie er an den vorm Bett stehenden Sneakers erkannte.
Er trat ein, schloss die Zimmertür und begab sich auf den Balkon.
Dort saß Johann, einen Becher Kaffee in der Hand und schaute mit gerunzelter Stirn zu ihm hoch. „Wo warst du denn?“
„Ich … ich war ein bisschen am Strand.“ Chris lehnte sich gegen die Balkonbrüstung, seine Finger miteinander verknotet und den Blick gesenkt. „Wegen gestern … es tut mir unendlich leid. Bitte, verzeih mir.“
Johann winkte ab. „Ist doch gar nichts passiert.“
Wie bitte? Vor Überraschung fiel ihm die Kinnlade runter. Moment! Wieso war er empört? Eigentlich sollte er doch erleichtert sein.
„Wir waren beide besoffen. Dann passiert sowas halt“, fuhr Johann fort.
So betrunken war Chris nun auch wieder nicht gewesen. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn das so ist, hätte ich mich ja gar nicht entschuldigen brauchen.“ Halt die Klappe, mahnte sein Verstand. Du reitest dich gerade in die Scheiße.
„Stimmt“, erwiderte Johann trocken. „Ich werde trotzdem heute abreisen.“
Seine Wut verrauchte zugunsten Niedergeschlagenheit. „Bitte nicht.“
„Dann hast du den Freiraum dir jemanden zu suchen, mit dem du deinen sexuellen Frust abbauen kannst.“ Johann klang boshaft, was er gar nicht von seinem Freund kannte.
„Ich hab keinen sexuellen Frust.“
Stumm lüpfte Johann eine Augenbraue.
Na los, sag’s ihm, drängte sein Herz. Bist du verrückt? Er wird dich auslachen, widersprach seine Vernunft. „Ich möchte nicht, dass du abreist.“
Johann leerte den Becher, stand auf und begab sich ins Zimmer.
Chris lief hinterher und ballte die Hände zu Fäusten. Ein eisernes Band aus Angst quetschte seinen Brustkorb zusammen. Wenn er Johann gehenließ, davon war er überzeugt, würden sie sich nicht so bald wiedersehen. Vielleicht gar nicht. Dagegen musste er etwas tun. „Ich hab dich nicht aus Frust überfallen, sondern weil … weil ich dich liebe. Ich hab dich immer geliebt.“
Johann, der inzwischen Anstalten machte zu packen, schnaubte verächtlich. „Ja, klar. Deshalb waren wir ja auch die letzten zwanzig Jahre zusammen.“
„Ich wollte, aber ich konnte nicht. Ich war so … so zerrissen.“ An Johanns Stelle wäre er auch ungläubig. Er sank auf die Knie, die bei dieser ungewohnten Beanspruchung knackten. „Bitte, gib mir eine Chance.“
„Ich bin doch nicht verrückt“, brummelte Johann, legte den geöffneten Koffer aufs Bett und wandte sich dem Kleiderschrank zu.
Es war niederschmetternd, dass er erneut Verständnis für diese Reaktion empfand. Hätte Johann ihm damals einen Arschtritt verpasst, würde er genauso misstrauisch sein. Leider fiel ihm nichts ein, was daran etwas ändern konnte.
Er erhob sich und ging auf dem Balkon, wo er blicklos in die Ferne starrte. Es war naiv gewesen zu glauben, dass zwischen ihnen je wieder etwas laufen könnte.
Jeden Moment rechnete er damit, die Zimmertür ins Schloss fallen zu hören. Seine Nerven waren angespannt, seine Finger und Füße erneut eiskalt; ganz zu schweigen von seinen Kopfschmerzen.
Plötzlich spürte er eine Bewegung in seinem Rücken. Er wagte einen Blick über die Schulter. Im Türrahmen lehnte Johann und schaute ihn nachdenklich an. Das war doch gut, oder? Jedenfalls besser als böse oder mit Abscheu.
„Ich bin doch verrückt, weil ich dir unbedingt glauben möchte“, ergriff Johann das Wort.
In Chris‘ Brustkorb regte sich, in Form von verstärktem Herzschlag, Hoffnung. Er drehte sich um. Kein Ton wollte über seine Lippen.
„Ich will kein Versprechen, dass wir ewig zusammen sein werden, aber wenigstens das, dass du mich nicht bei dem nächsten vorbeikommenden Senior wieder verlässt.“ Johanns Mundwinkel zuckten kurz hoch. „Falls du es doch tust, werde ich dir die Eier abreißen.“
„Und sie braten und zum Frühstück verspeisen?“, schlug Chris zaghaft vor.
„Gute Idee.“ Johann machte einen Schritt auf ihn zu. „Versprichst du es?“
Er nickte vehement.
„Okay.“ Johann atmete vernehmlich durch. „Dann lass es uns versuchen.“
Chris überwand die letzte Distanz, schlang beide Arme und Johann und presste ihm die Lippen auf den Mund. Vergessen war jeglicher Schmerz. Sein Herz jubilierte. In seinem Bauch tanzten Schmetterlinge.
Wehmütig betrachtete Johann vom Balkon aus die Umgebung. Vieles hatte sich in all den Jahren verändert. Dort war ein altes, wunderschönes Haus abgerissen und durch einen Betonklotz ersetzt worden. Das Café an der Ecke, wo sie einst Tapas gespeist hatten, existierte nicht mehr.
Seit jenem schicksalsträchtigen Urlaub war er nicht mehr hier gewesen. Es gab so viele andere Orte, die er sehen wollte. Warum also zu bekannten reisen? Nun hatte es ihn doch hergezogen, um in Erinnerungen zu schwelgen. Er wurde allmählich sentimental.
„Wo bleibst du?“, ertönte Chris‘ ungeduldige Stimme aus dem Zimmer.
Amüsiert schmunzelnd folgte er dem Lockruf. Chris lag nackt auf dem Bett, ein Bein angewinkelt, ein Glas Champagner in der Hand. Er schnappte sich das zweite, das auf dem Nachtschrank stand und stieß mit seinem Mann an.
„Auf uns“, flüsterte Chris in schönster Verführertonlage.
Sie tranken, wobei sie sich tief in die Augen schauten.
Noch immer konnte er sich in Chris‘ himmelblauen verlieren. Oft gab er bei einem Streit nach, wenn er in diese Seelenfallen blickte. Lediglich bei einem Thema blieb er standhaft: Heirat. Chris wollte ihn unbedingt zum Standesamt bewegen, aber er weigerte sich beharrlich. Den Grund dafür wusste er nicht genau. Vermutlich war es Sorge, dass sich Chris in der Ehe eingesperrt fühlen würde. Irrational, doch Ängste waren ja selten logisch.
„Zieh dich endlich aus“, verlangte Chris.
Er stellte das Glas beiseite und gehorchte. Im Adamskostüm gesellte er sich zu Chris aufs Bett und griff erneut nach seinem Champagner. „Wir hätten schon eher wieder herkommen sollen.“
„Wer wollte denn nach New York, Rio, Tokio?“
„Und wer wollte nach Sydney, Istanbul und Manila?“
„Ist eh egal. Jetzt sind wir ja hier.“ Unvermittelt kippte Chris etwas von dem Prickelzeug in seinen Bauchnabel. „Sehr praktisch, dass die Mulde so tief ist.“
Sprach’s und rutschte runter, um den Champagner von seiner Haut zu lecken.
Ja, er hatte sich einen kleinen Bauch zugelegt, allerdings nicht allein. Auch Chris war nicht mehr so schlank wie einst. Johann fand das sexy. Überhaupt gefiel ihm jedes Detail an Chris. Wie lange konnte man eine rosarote Brille tragen? Ein Leben lang?
„Hier unten wird jemand munter“, meldete Chris, der sich bis zu seinem Schwanz vorgearbeitet hatte.
Als ob er das nicht selbst gemerkt hätte.
„Ich kümmere mich darum.“ Chris streckte den Arm aus, um das Gleitgel vom Nachtschrank zu angeln und schmierte ihn damit ein. Anschließend schwang er sich über Johanns Hüften und ließ sich langsam auf ihn sinken.
Sex mit Chris war immer großartig, egal ob es schnell ging oder sie sich viel Zeit ließen. Im Nu schwebte Johann in höheren Sphären. Sein Puls dröhnte in seinen Ohren und übertönte fast Chris‘ Stöhnkonzert. Zum Ende hin wurde sein Liebster leiser. Beim Kommen reduzierte sich die Geräuschkulisse auf wonnevolles Wimmern.
Hinterher kuschelte sich Chris an seine Seite, einen Arm um seine Taille geschlungen. Eine warme Brise fächelte über ihre erhitzten Körper. Von draußen drangen Straßenlärm und eine Vielzahl von Aromen ins Zimmer. Gegrillter Knoblauch vom gegenüberliegenden Restaurant, süßlicher Duft von den am Balkon rankenden Gewächsen.
„Eigentlich wollte ich dich mit Sexentzug erpressen, damit du mich endlich heiratest“, gestand Chris. „Aber mein Fleisch ist schwach.“
Ach, was soll’s. Ab und zu musste man Risiken eingehen. „Wenn wir zurück sind, darfst du ein Aufgebot beim Standesamt machen. Die Ringe suchen wir aber gemeinsam aus.“
Chris richtete sich halb auf, die Augen aufgerissen. „Was?“
„Ja, ich will dein Mann werden.“
Chris‘ Mundwinkel flogen hoch. „Endlich! Lass uns gleich Ringe kaufen gehen, bevor du es dir wieder anders überlegst.“
„Jetzt?“
„Wieso nicht?“
„Ich bin total erschöpft.“
„Dann bestelle ich Kaffee aufs Zimmer.“ Chris hechtete aus dem Bett und griff zum Telefon.
„Für mich bitte Tee.“ Übertrieben ächzend stand Johann auf, um sich ins Bad zu begeben.
Sie duschten gemeinsam. Dafür war die Kabine eigentlich zu eng, aber es passte, wenn man keine akrobatischen Verrenkungen machte. Kaum waren sie fertig, klopfte es an der Zimmertür. Ein Handtuch um die Leibesmitte geschlungen nahm Chris ihre Bestellung in Empfang.
In Shorts und T-Shirt gekleidet ließen sie sich mit ihren Getränken auf dem Balkon nieder. Im Hafen herrschte reges Treiben, genau wie in den Straßen. Es war bestimmt keine kluge Entscheidung, in den Herbstferien nach Mallorca zu fliegen, hatte sich aber nun mal so ergeben. Eher ging es nicht und später wollten sie nicht, um noch etwas vom verblühenden Sommer mitzubekommen.
„Weißt du noch, letztes Jahr in dem österreichischen Restaurant in Auckland?“ Chris strich mit den Zehen an seinem Schienbein entlang.
„Ich hab selten eine so gute halbe Ente gegessen.“
„Ich meinte meinen Heiratsantrag, den du zum x-ten Mal abgelehnt hast.“
„Oh! Ja, das war romantisch.“ Bei der Erinnerung stahl sich ein breites Grinsen auf Johanns Lippen.
Chris hatte den Wirt bestochen, schnulzige Musik aufzulegen. Bei Kerzenschein war Chris vor ihm auf die Knie gefallen. Sämtliche Gäste hatten zugeguckt. Um ein Haar hätte er, um das Publikum nicht zu enttäuschen, ja gesagt. Stattdessen hatte er Chris mit den Worten: „Frag mich in einem Jahr nochmal“, vertröstet.
„Warum willst du plötzlich zum Standesamt?“
„Ich denke, es ist an der Zeit.“
„Du meinst, bevor wir an Altersschwäche sterben?“
„Genau.“ Er beugte sich rüber, um Chris auf die Wange zu küssen. „Noch sind wir fit genug, um die Hochzeitsnacht zu genießen.“
„Ob du die überleben wirst …“ Chris feixte.
„Ich hab dich zwanzig Jahre überlebt. Da wird mich das nicht mehr umbringen.“
Wenig später brachen sie auf, um Ringe zu kaufen. Händchenhaltend schlenderten sie durch Palmas Gassen. Johann atmete tief die würzige Luft ein und empfand pures Glück. Das war eine Momentaufnahme, aber mit Chris gab es viele solcher Momente. Das Wagnis, ihre Beziehung wieder aufleben zu lassen, hatte sich zweifelsohne gelohnt.
ENDE
Verstohlen sah Anson über den oberen Rand des Buches und musterte Ray, der zusammen mit Kenny und Todd, den anderen beiden Mitgliedern ihrer Band Dark Myths, auf der Ledercouch in der Ecke saß.
Grinsend zeigte er den beiden die Nachrichten, die ihm einige weibliche Fans hinterlassen hatten. Beeindruckt taten die Jungs ihre Begeisterung kund, beglückwünschten Ray dafür, dass er so viel Erfolg bei der holden Weiblichkeit hatte.
So war es schon immer gewesen. Ray und er kannten sich seit der Schulzeit. Anson hatte sich im Gegensatz zu Ray nie für Mädchen interessiert. Dieser war schon immer dafür bekannt gewesen, nichts anbrennen zu lassen.
Wie Anson all diese Mädchen und später Frauen beneidet hatte, die sich so leicht damit taten, Ray in ihr Bett zu bekommen. Er hingegen lag Nacht für Nacht allein in seinem Zimmer, stellte sich die Dinge vor, die er gern mit Ray getan hätte, und befriedigte sich dabei selbst.
Jede noch so kleine zufällige Berührung, die nichts bedeutet hatte, löste Herzrasen aus, ließ ihn für kurze Zeit alles vergessen.
Doch für Ray war Anson nie mehr gewesen als sein bester Freund. Ihm erzählte er lang und breit davon, was er so alles getan hatte, und versuchte ständig, ihn mit irgendeiner seiner abgelegten Eroberungen zu verkuppeln.
Als Teenager wollte er Ray beeindrucken, ihm beweisen, was für ein toller Kerl er war, deshalb ließ er sich immer wieder darauf ein, tat so, als habe er Spaß dabei, wurde jedoch mit jedem Mal nur noch deprimierter. Alles, was er wollte, war, dass Ray ihn so küsste wie eine dieser Tussis, ihn so ungezwungen berührte, mit ihm im Hinterzimmer verschwand, um sich zu vergnügen.
Natürlich wusste er, dass er sich hätte zurückziehen müssen, um sich selbst zu schützen, doch er wollte die Freundschaft zu Ray nicht verlieren. Dieser Kerl war die einzige Konstante in seinem Leben. Seit er fünf Jahre alt gewesen war, hatte man ihn von einer Pflegefamilie zur nächsten abgeschoben, mehr als ein oder zwei Jahre hatte er nie bei denselben Leuten verbracht. Sein leiblicher Vater war Mitglied einer Gang gewesen und saß im Knast. Diesen würde er auch nicht mehr verlassen, da man ihn wegen mehrfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt hatte. Seine Mutter war drogensüchtig, weshalb man ihr Anson wegnahm. An seinem achten Geburtstag erfuhr er, dass sie gestorben war. Erst später hatte er herausgefunden, dass sie sich den goldenen Schuss gesetzt hatte.
Ray, ihre Band, das war alles, was ihm Freude bereitete.
Darum hatte er seine Traurigkeit und die Sehnsucht heruntergeschluckt, gute Miene zum bösen Spiel gemacht und trotzdem immer gehofft, dass er irgendwann einmal wirklich glücklich werden könnte.
Und es sah auch so aus, als würde sich der Abwärtstrend, in dem sich sein Leben befand, umkehren, sich zu etwas entwickeln, dass es wert war, dafür zu kämpfen.
Sie waren gerade einmal achtzehn, als sie in einem Club die Gelegenheit bekamen zu zeigen, was sie konnten. Kenny, Todd, Ray und er selbst nutzen diese Chance natürlich, denn sie wussten, dass dort hin und wieder Manager nach neuen Talenten Ausschau hielten.
Ihr Auftritt war perfekt verlaufen. Jeder von ihnen war über sich hinausgewachsen. Obwohl Anson sich auf das Schlagzeug vor ihm konzentriert hatte, war ihm nicht entgangen, wie gut Ray als ihr Leadsänger gewesen war. Seine Stimme war tief und klang immer ein wenig rau. Er schaffte es, jedem Song, den er zum Besten gab, Leben einzuhauchen. Jeder im Publikum hing an seinen Lippen.
Im Backstagebereich suchte sie später ein Mann auf, der sich als Mitarbeiter einer großen Plattenfirma entpuppte.
Einige Monate später hatten sie einen Vertrag unterschrieben. Ihr erstes eigenes Album ließ dann natürlich nicht lange auf sich warten.
Dies war nun fünf Jahre her. Sie hatten sich einen Namen gemacht, ihre Songs stürmten regelmäßig die Charts und ihre Fanbase wuchs noch immer stetig an.
Alles könnte so schön sein, doch Anson fühlte sich jetzt noch schlechter als damals als Heranwachsender.
Seufzend verbarg er sich wieder hinter seiner Lektüre, ohne auch nur ein Wort zu lesen.
Vor vier Jahren, während ihrer ersten großen Tour, hatte sich etwas zwischen Ray und ihm verändert. Die Erinnerungen daran waren noch immer so deutlich, als wäre es erst gestern geschehen. Wenn er die Augen schloss, dann sah er alles vor sich, war wieder dort, mit ihm.
Sie hatten sie ein Zimmer geteilt, da das Hotel vollkommen überbucht gewesen war.
Total aufgeputscht kamen sie von ihrem Auftritt zurück und hatten gefeiert. Anson war es seltsam erschienen, dass Ray nicht noch losgezogen war, um sich jemanden zu suchen, der für ihn die Beine breit machte. Willige Kandidatinnen gab es immer genug.
„Wieso sollte ich, wir haben doch auch so genug Spaß“, hatte er ihm lachend geantwortet, nachdem er ihn gefragt hatte, wieso er nicht mit Kenny und Todd noch in den nahe gelegenen Club gegangen war. Dabei hatte sich sein Blick förmlich in Anson gebohrt.
Langsam war Ray durch den Raum auf ihn zugekommen und schließlich vor ihm stehen geblieben.
Panik hatte sich in Anson ausgebreitet, als ihm Rays Geruch in die Nase gestiegen war. Wie sollte er sich zurückhalten, wenn dieser ihm so nahe, so verdammt nahe kam? Seine Hände bebten und wurden feucht, sodass Anson sie tief in seinen Hosentaschen vergraben hatte.
Keiner der anderen wusste, dass Anson schwul war. Es hatte nie einen Grund gegeben, es ihn zu sagen. Für ihn gab es, so verrückt es auch war, ohnehin nur Ray. Für keinen anderen interessierte er sich, obwohl zu ihren Fans auch viele gutaussehende Männer gehörten, die ihnen eindeutige Angebote unterbreiteten. Mehr als seine Fantasien gab es nicht und so würde es bleiben, da er zu diesem Zeitpunkt weder vorhatte, sich zu outen, noch sich im Verborgenen jemanden zu suchen. War Ray ihm etwa auf die Schliche gekommen?
Dieser hatte ihn weiterhin angestarrt, war ihm so dicht auf die Pelle gerückt, dass kaum noch etwas zwischen sie gepasst hätte.
Alles in Anson schrie nach Flucht, doch seine Beine hatten sich geweigert, ihm zu gehorchen.
Wieso tat Ray das? War es ein Spaß und er würde gleich in schallendes Gelächter ausbrechen?
„Ich habe gesehen, wie du mich ansiehst.“ Rays Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, hatte in ihm widergehallt, als habe ihn sein Gegenüber angeschrien, jeder einzelne Herzschlag war schmerzhafter als der vorherige.
„Es ist nicht … ich … es tut mir leid.“ Diese wenigen Worte waren ihm so schwer über die Lippen gekommen, dass er meinte, an ihnen ersticken zu müssen. Ray wusste Bescheid! Bei Gott, er wusste es! Würde er ihn für abartig halten, ihn bei allen, die sie kannten, bloßstellen?
„Wieso?“ Stirnrunzelnd betrachtete ihn Ray weiter, bannte ihn auf gewisse Weise mit seinen Blicken.
„Was meinst du mit wieso?“, fragte er leise, war sich nicht sicher, worauf genau Ray damit anspielte. Wollte er wissen, weshalb er auf ihn stand?
„Warum tut es dir leid?“
Im Moment sah es nicht so aus, als würde sein Gegenüber gleich ausflippen, und doch fühlte er sich von diesem eingeschüchtert, obwohl sie mitten im Raum standen, in die Ecke getrieben.
„Weil ich nicht wollte, dass du es mitbekommst. Es ist auch vollkommen egal, du brauchst dir keine Gedanken zu machen, ich komme dir nicht zu nahe“, hatte Anson geantwortet, seine Stimme überschlug sich fast während des Sprechens. Endlich konnte er sich wieder rühren, stolperte rückwärts, bis er gegen den Tisch stieß.
Mit zwei großen Schritten war der andere wieder bei ihm. Jetzt gab es für ihn kein Entkommen mehr. Traurig hatte er den Blick gesenkt, wollte in diesen schönen Augen, die er so liebte, keine Abscheu oder gar Ekel sehen.
„Und was, wenn ich genau das will?“
Ansons Kopf war nach oben geschnellt. Ungläubig erwiderte er den Blick. Es konnte unmöglich wahr sein, Ray erlaubte sich sicher einen Spaß mit ihm.
Energisch stieß Anson ihn von sich.
„Verarschen kann ich mich auch selbst. Als ob der Frauenheld, der nie etwas anbrennen lässt, von einem anderen Typen betatscht werden will! Ist das ein Scherz? Findest du es lustig, mich zu provozieren?“ Anson wandte sich ab, wollte, nein, musste aus diesem Zimmer raus, weg von Ray, von der Versuchung, die dieser für ihn darstellte, und von dem Schmerz, der auf ihn wartete, wenn er den einzigen Menschen, der ihm wirklich etwas bedeutete, verlor.
„Anson, warte!“, rief Ray ihm nach, doch er konnte nicht stehen bleiben. Tränen, die der andere unter keinen Umständen sehen sollte, brannten in seinen Augen.
Gerade als er die Tür öffnen wollte, wurde er gepackt, herumgerissen und mit dem Rücken gegen die Tür gepresst. Ray war schon immer stärker gewesen und auch jetzt hatte Anson keine Möglichkeit, sich gegen ihn zu wehren. Auch wenn Anson selbst nicht klein war, überragte ihn der andere um fast einen Kopf.
„Verflucht noch mal, ich verarsche dich nicht. Ich … es ist nicht leicht für mich, es zuzugeben … aber es ist nun mal so. Du bedeutest mir etwas, schon so lange, eigentlich immer.“
Ein Zittern erfasste Anson.
„Ich bedeute dir schon immer etwas?! Dass ich nicht lache. Wieso fickst du dann jede Frau, die nicht bei drei auf den Bäumen ist?“ Er versuchte, sich loszumachen, scheiterte wieder. „Lass mich los, bitte“, bat er, schluckte heftig. Nur nicht heulen, zeig ihm nicht, wie es in dir aussieht, das sagte er sich stumm immer wieder.
„Weil es mir gefallen hat und … du unerreichbar für mich warst.“
Schniefend zog Anson die Nase hoch.
„Ich war immer da, neben dir. Du hättest dich mir nur zuwenden müssen. Doch für dich waren die Mädchen und später Frauen immer wichtiger. Also tu nicht so, als habe es an mir gelegen.“
Noch immer glaubte Anson seinem besten Freund kein Wort, zu unwahrscheinlich, viel zu weit hergeholt hörte es sich an. War sein Gegenüber betrunken? Riechen konnte er nichts, aber das musste nichts heißen. Vielleicht war Ray auch zugedröhnt. Jede dieser Erklärungen klang logischer als das, was der andere von sich gab.
„Du hast aber nie etwas gesagt, darum ging ich davon aus, dass du hetero bist. Und ich, ich hatte Schiss, als ich merkte, dass sich bei mir auch was regt, wenn ich dich angesehen habe. Du kennst meinen Vater, der wird keine Luftsprünge machen, wenn ich ihm sage, dass ich bi bin. Doch seit wir unterwegs sind, habe ich deine Blicke gesehen, die du mir zuwirfst, wenn du denkst, dass ich es nicht mitbekomme. So oft wollte ich schon mit dir reden, aber mir fehlte der Mut. Den Schwanz einzuziehen ist leichter, als sich auf unbekanntes Gebiet vorzuwagen.“ Zögernd hob Ray die Hand und strich Anson mit den Fingerspitzen über die Wange bis hin zu seinen Lippen. „Aber jetzt kann ich nicht mehr, es setzt mir zu sehr zu, denn ich sehne mich nach dir, möchte nichts mehr als dir nahe sein. Seit einiger Zeit kriege ich nur einen hoch, wenn ich an dich denke.“
Ansons Herz schlug wie verrückt, sein Puls raste und dröhnte durchdringend in seinen Ohren.
Er konnte nichts sagen, kaum klar denken.
„Ich würde dich so gern küssen“, raunte Ray. „Darf ich?“
Die Frage schwebte zwischen ihnen. Ohne darüber nachzudenken, nickte Anson.
So unsicher, fast schon ängstlich hatte er Ray noch nie erlebt, als er die letzten Zentimeter überbrückte und seine Lippen behutsam auf Ansons gelegt hatte.
Ein Ruck ging durch ihn hindurch, als Ray ihn an sich zog. Wie von selbst schmiegte er sich an den anderen Körper, ehe er die Umarmung erwidern konnte.
Vergessen waren alle Zweifel. Gerade zählte nur, dass Ray ihn immer leidenschaftlicher küsse. Er schmeckte noch besser, als Anson es sich ausgemalt hatte.
Erst viel später war er wie aus einer Trance erwacht. Gemeinsam lagen sie auf dem Bett, hatten so gut wie nichts mehr an und ihr Atem ging schnell.
Anson wollte noch viel mehr. Endlich würde er die Hände des anderen auf sich spüren. Trotzdem war da auch wieder das alt bekannte Misstrauen, das er bis jetzt hatte verdrängen können.
Er setzte sich auf. Verwundert sah ihn Ray an.
„Was ist los? Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte dieser unsicher. Sein braunes Haar mit dem rötlichen Schimmer stand herrlich verwuschelt in alle Richtungen ab, seine Wangen waren gerötet. Seine sanften braunen Augen schienen ihm bis in die Seele
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: die Autoren
Bildmaterialien: Shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Bernd Frielingsdorf, Aschure, Sissi Kaiserlos
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2619-6
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