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Ein Bisschen zur Abendstunde

 

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Fotos: shutterstock_33264934

Cover-Design: Lars Rogmann

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/, https://www.sissikaipurgay.de/


Ein Bisschen zur Abendstunde

Lasse will eine Woche mit Freunden Urlaub in Dänemark machen. Als letzter startet er von Hamburg aus in Richtung Limfjord. Leider macht sein Wagen kurz hinter der dänischen Grenze schlapp und das ausgerechnet mitten in der Pampa. In dem Dörfchen Öster Gammelby hofft er, Hilfe zu finden. Die bekommt er auch, dazu noch ein ungewöhnliches Geschenk.

1.

Seit Lasse die dänische Grenze überquert hatte, stotterte der Motor seines alten Fords. Wann immer er bremste, schien sich der Wagen zu verschlucken und drohte abzusaufen. Zu allem Überfluss regnete es und die Strecke zu dem Ferienhaus, das er mit Freunden angemietet hatte, war noch lang.

Warum musste er auch bis fünf arbeiten, nur weil er keinen halben Tag Urlaub verschwenden wollte? Seine Kumpel waren bereits mittags aufgebrochen. Wäre er mit ihnen gefahren, hätte er jetzt ein Problem weniger.

Mitten in einem Waldstück geschah es: Der Motor verreckte endgültig. Lasse schaffte es gerade noch, den Wagen von der Fahrbahn zu lenken, bevor er stehenblieb. Er streichelte das Lenkrad, flüsterte dem Auto aufmunternde Worte zu und drehte mehrmals den Zündschlüssel. Abgesehen von einem metallischen Klicken geschah nichts.

Ein Weilchen saß er da und starrte durch die Windschutzscheibe. Schließlich, da es zunehmend dunkler wurde, konsultierte er sein Smartphone, um rauszufinden, in welche Richtung es näher zum nächsten Dorf war. Anschließend stieg er aus, holte seinen Rucksack aus dem Kofferraum und marschierte los.

Schon bald lichtete sich der Wald. Links und rechts lagen Felder. In der Ferne sah Lasse Häuser. Der Dauernieselregen durchweichte seine Klamotten. Eine Regenjacke wäre nützlich, aber sowas hatte er zuletzt als Kind besessen. Als Pubertierender war solches Zeug uncool und später … er hatte es noch nie gebraucht.

Als er das Dorf erreichte, war seine Stimmung auf dem Tiefpunkt angekommen. Mit mürrischer Miene trottete er durch die Straße, die vorwiegend von Bauernhöfen gesäumt war. Hoffentlich gab’s in diesem Kaff wenigstens ein Hotel oder eine Pension. Heute kam er hier bestimmt nicht mehr weg.

In der Mitte der Ortschaft befand sich ein kleiner Supermarkt – natürlich schon geschlossen – und eine Kneipe, hierzulande Kro genannt. Er betrat das Lokal, nahm seinen Rucksack ab und schaute sich um. Die Gäste, die am Tresen saßen, hatten sich bei seinem Erscheinen alle in seine Richtung gedreht. Das Gleiche galt für diejenigen an den Tischen.

„Guten Abend“, grüßte er in die Runde. „Ich habe eine Autopanne.“

In dieser Region, das wusste er aus vormaligen Dänemark-Urlauben, sprach man deutsch.

„Die Werkstatt hat schon zu“, teilte ihm ein älterer Herr mit.

Ach nee! Als hätte er das nicht selbst gewusst. „Gibt es eine Möglichkeit, ein Zimmer für eine Nacht zu bekommen?“

Der Mann tauschte Blicke mit den anderen Gästen, bevor er sich wieder Lasse zuwandte. „Auf Gäste sind wir hier nicht eingestellt.“

Auf Höflichkeit offenbar auch nicht.

Eine Frau, die an einem der Tische saß, rief auf Dänisch etwas quer durch den Raum, woraufhin der alte Herr reumütig guckte. Dann richtete die Frau das Wort an einen Typen, der am Ende des Tresens hockte. Der Mann machte einen griesgrämigen Eindruck, was sich noch verstärkte, je länger die Frau redete.

Da man ihm hier offenbar nicht helfen wollte, schulterte Lasse seinen Rucksack. Notfalls musste er im Auto schlafen. Eine Vorstellung, die ihm nicht behagte. Es würde garantiert arschkalt werden, zumal er weder Schlafsack noch Decke dabeihatte.

„Warten Sie“, hielt die Frau ihn auf, erhob sich und trat zu dem Griesgram, um diesem eine Hand auf die Schulter zu legen. „Oliver kennt sich mit Autos aus und hat ein Gästezimmer.“

Mit Bettelblick – es war nicht der richtige Zeitpunkt für Stolz - schaute Lasse den Typen an.

„Also gut.“ Oliver rutschte vom Barhocker. „Ich gucke mir die Karre mal an.“

Lasses schlechtes Gewissen, dem Typen den Abend zu verderben, wurde von Erleichterung überwogen. Zum nächsten Kaff waren es rund zehn Kilometer. Zu Fuß eine ziemlich weite Strecke. Sofern der gute Oliver seinen Wagen nicht wieder in Schwung bekam, ließ er sich bestimmt überreden, ihn in einem gastfreundlicheren Dorf abzusetzen.

Er folgte Oliver nach draußen und die Straße entlang. Zumindest hatte endlich der Scheißregen aufgehört. Das war doch ein positives Zeichen, oder?

Oliver bog in die Zuwegung eines Grundstücks, an dem Lasse vorhin vorbeigekommen war, ein. Hundegebell ließ Lasse zusammenzucken. Sein Verhältnis zu diesen Tieren war etwas gestört, seit er als Kind von einem Boxer gebissen worden war.

Ein Mischling, in dem eindeutig ein Schäferhund steckte, galoppierte auf sie zu. Nachdem Oliver dem Tier den Kopf getätschelt hatte, näherte es sich Lasse, der stocksteif dastand.

„Beißt der?“, erkundigte er sich mit peinlich hoher Stimme.

„Selten“, gab Oliver trocken zurück.

Lasse ließ sich beschnüffeln und traute sich sogar, dem Hund seine Hand hinzuhalten. Anscheinend fand er Gnade vor den Augen des Tieres, denn es begann, ihm die Finger abzulecken. Ach ja: Auf der Fahrt hatte er eine Mini-Salami gegessen. Bestimmt hing deren Geruch noch an seiner Hand.

„Mads! Lad ham være i fred!”, rief Oliver, der inzwischen neben einem Volvo stand.

Der Hund ließ von ihm ab und trollte sich mit eingezogenem Schwanz in Richtung Scheune.

Im Wagen roch es nach Hund und dem Duftbäumchen, das am Rückspiegel baumelte. Während sich Lasse anschnallte, fuhr Oliver den Wagen rückwärts auf die Straße und fragte: „Wo steht deine Karre?“

Er wies in die entsprechende Richtung. „Hast du eine Taschenlampe dabei?“

Oliver bedachte ihn mit einem herablassenden Seitenblick. „Natürlich.“

Wie konnte er bloß so eine dämliche Frage stellen? Selbstverständlich hatte der autosachverständige Naturbursche alles Nötige an Bord.

Lasse guckte, bis sie bei seinem Wagen ankamen aus dem Seitenfenster. Hoffentlich schaffte Oliver es, seinen Liebling wiederzubeleben. Er hing an der alten Rostlaube. Davon mal abgesehen hatte er keinen blassen Schimmer, wie er ohne fahrbaren Untersatz zum Limfjord kommen sollte.

Oliver hielt neben seinem Wagen, stieg aus und ging zum Kofferraum. Lasse verließ ebenfalls den Volvo und schwang sich auf den Fahrersitz seines Fords. Sein Versuch, den Motor zu starten, zeigte das gleiche Ergebnis wie vorhin. Er löste die Verriegelung der Motorhaube, bevor er sich zu Oliver, der sie hochklappte, gesellte.

Von Motoren hatte er null Ahnung. Sein Wissen reichte gerade mal, um den Öl- sowie Kühlwasserstand zu kontrollieren und den Wischi-Waschi-Tank aufzufüllen.

„Da kann ich heute nichts machen“, verkündete Oliver nach einer Weile, in der er an Kabeln und Schläuchen rumgefummelt hatte. „Ich muss erst gucken, ob ich ein Ersatzteil organisieren kann.“

Scheiße! Also musste Lasse echt in dem Kaff mit den unfreundlichen Einwohnern übernachten.

Oliver schloss die Motorhaube, ging zum Kofferraum des Volvos und kehrte mit einem Abschleppseil zurück.

Kurz darauf saß Lasse hinterm Steuer seines Fords und ließ sich in Richtung Dorf ziehen. Wie hieß das noch gleich? Irgendwas mit Gammel. Ach ja: Öster Gammelby, also östliche alte Stadt oder so.

Ihm fiel ein, dass er seine Freunde über die Ereignisse informieren sollte. Bestimmt machten sie sich Sorgen. Das musste aber warten, bis er seinen Ford abgestellt hatte. Er gehörte nicht zu denen, die gleichzeitig fahren und telefonieren konnten – auch wenn er gar nicht fuhr, sondern bloß abgeschleppt wurde.

Als sein Wagen auf Olivers Zufahrt zum Stehen kam, zog er die Handbremse an und stieg aus. Mads, der ihre Ankunft schwanzwedelnd beobachtet hatte, hängte sich an seine Fersen. Merkwürdigerweise empfand er keine Furcht. Andererseits hatte ihm noch nie ein Hund die Hand abgeleckt.

Er schulterte seinen Rucksack und folgte Oliver zum Haus. Es bestand aus rotem Backstein und entbehrte des Charmes, den man sonst so häufig in Dänemark sah. Ein Siedlungshäuschen, wie man es in Nordfriesland zuhauf fand.

Drinnen empfing Lasse heimelige Wärme in einem breiten Korridor. Gleich links lag die Küche, rechts führte eine Treppe nach oben.

„Muss Bettzeug holen“, brummelte Oliver und ließ ihn einfach stehen.

Weiße Wände, keine Bilder. An der Garderobe hingen zwei Jacken. Darunter: Holzpantinen, Gummistiefel und Sneaker. Geradeaus schien das Wohnzimmer zu liegen.

Decke und Kissen auf den Armen kehrte Oliver zurück und wies mit dem Kinn in Richtung Treppe.

„Ich bin übrigens Lasse und komme aus Hamburg“, stellte er sich vor, denn man sollte doch wohl wissen, wie der Besuch hieß.

„So, so“, murmelte Oliver und begann, die Stufen raufzusteigen.

Wenn man das Wort ungastlich googelte, bekam man bestimmt als erstes Öster Gammelby angezeigt. Im nächsten Moment fiel ihm ein, dass Oliver anhand seines Nummernschilds wusste, woher er stammte. Also hatte er sich wieder zum Affen gemacht.

Im Obergeschoss gab es nur schräge Wände. Die breite Matratze, die unterm Giebelfenster lag, sowie zwei Flickenteppiche auf den Holzdielen, bildeten die einzige Einrichtung.

Oliver ließ das Bettzeug auf die Matratze fallen. „Das Klo ist unten. Zu trinken gibt’s im Kühlschrank.“

Sprach’s und machte Anstalten, die Treppe runterzugehen.

„Warte! Bekommt man in der Gaststätte was zu essen?“ Lasse hatte darauf gezählt, nach seiner Ankunft im Ferienhaus verköstigt zu werden. Entsprechend war er ohne Proviant, ausgenommen die Minisalami, aufgebrochen.

„Wenn du auf Hausmacherkost stehst, ja.“

„Und wie komme ich danach wieder hier rein?“

„Die Tür ist immer offen.“ Oliver stieg die Stufen runter.

Seufzend ließ sich Lasse auf der Matratze nieder und zückte sein Handy.

Nahezu sofort nahm Felix, mit dem er seit einem Jahr zusammen war, das Gespräch an: „Wo steckst du?“

„In Griesgramhausen.“

„Hä?“

„Fragewort mit zwei Buchstaben“, spottete er. „Das Kaff heißt in Wirklichkeit Öster Gammelby und liegt kurz hinter der dänischen Grenze. Mein Autochen hat den Geist aufgegeben. Nun hocke ich im Gästezimmer des Obergriesgrams und hoffe, dass er den Wagen morgen reparieren kann.“

„Was für eine Scheiße!“

„Das kannst du laut sagen.“ Er seufzte abermals. „Wie läuft’s bei euch?“

„Die Mädels zicken rum, weil das Wasser im Pool zu kalt ist. Die Betten sind zu schmal, die Küchenausstattung dürftig. Also das Übliche.“

„Ich verpasse nichts“, stellte er grinsend fest.

„Außer meinem hervorragenden Chili.“

Davon hätte er wirklich gern ein-zwei Teller. „Bewahr mir was auf. Und grüß die anderen.“

„Mach ich. Melde dich morgen mit neuen Infos.“

„Sobald ich näheres weiß, rufe ich dich an. Bis bald.“ Er schickte einen Luftkuss, den Felix erwiderte.

Nach diesem Gespräch fühlte sich Lasse noch verlorener. Warum war er ausgerechnet in dem fremdenfeindlichsten Dorf Dänemarks gelandet? Andererseits hatte er ein warmes Bett für die Nacht und Aussicht auf etwas zu essen. Er hätte es schlimmer treffen können, beispielsweise, wenn er in seinem Auto schlafen müsste.

Rasch richtete er das Bettzeug, kramte seinen Kulturbeutel aus dem Rucksack und begab sich ins Erdgeschoss. Anscheinend war Oliver rausgegangen, denn dort war alles dunkel und still. Das Bad befand sich gegenüber von der Küche. Es schien erst kürzlich renoviert worden zu sein, denn die Elemente und Armaturen wirkten neu. Mads schien sich gern darin aufzuhalten, denn es hingen dunkle Hundehaare im weißen Badteppich. Vermutlich mochte der Hund die Fußbodenheizung, wofür Lasse Verständnis hatte.

Nachdem er sich ein bisschen frisch und den Kulturbeutel zurück ins Dachgeschoss gebracht hatte, verließ er das Haus. Tatsächlich gab es außen an der Haustür eine Türklinke. Schlossen alle Dorfbewohner in Dänemark nicht ab? War die Kriminalitätsrate derart niedrig? Das musste er nachher mal recherchieren.

In der Scheune brannte Licht. Suchte Oliver nach dem Ersatzteil? Da es garantiert als aufdringlich empfunden wurde, wenn er hinging und fragte, marschierte er in Richtung Straße. Auf halbem Weg gesellte sich Mads zu ihm. Eine feuchte Hundenase tippte gegen seine Hand, woraufhin er dem Hund den Kopf kraulte.

„Dein Herrchen ist ziemlich besonders“, vertraute er Mads an. „Aber er scheint dich gut zu behandeln, also interessiert dich das wohl nicht.“

Am Ende der Auffahrt stoppte er und fixierte den Hund mit strengem Blick. „Du kannst nicht mitkommen. In dem Gasthaus sind Hunde bestimmt nicht erlaubt.“

Mads setzte sich hin und wedelte mit dem Schwanz.

„Außerdem darfst du nicht einfach mit fremden Leuten mitgehen“, fuhr Lasse fort.

Unbeeindruckt schaute Mads zu ihm hoch.

„Geh zu deinem Herrchen.“ Er wies in die entsprechende Richtung.

Mads schleckte sich übers Maul. Da sein Befehl offenbar nicht ernstgenommen wurde, zuckte Lasse die Achseln und ging weiter. Die Funzel, die am Straßenrand stand, spendete nur wenige Meter Licht. In einiger Entfernung befand sich die nächste. Anscheinend markierten die Dänen auf diese Weise ihre Einfahrten, denn ansonsten gab es keinerlei Beleuchtung.

Hechelnd trabte Mads neben ihm her. Plötzlich war Lasse froh über die Gesellschaft, denn es war ein Unterschied, in vollkommener Dunkelheit anstatt Dämmerung die Landstraße entlang zu wandern.

Plötzlich vernahm er ein Heulen. Mads spitzte die Ohren, zeigte aber ansonsten keine Reaktion. Wieder ertönte der langgezogene Laut. Es klang, als ob ein Hund den Mond – obwohl momentan nicht vorhanden, wie Lasse mit einem prüfenden Blick nach oben feststellte - anheulte. Oder ein Wolf? Müsste Mads dann nicht von Jagdfieber erfasst werden? Gab es überhaupt Wölfe in Dänemark?

Der restliche Weg verlief ereignislos. Kein vorbeikommendes Auto, kein anderer Passant, kein Geheule. Vor dem Gasthofe versuchte Lasse erneut sein Glück bei Mads: „Du darfst da nicht rein. Geh nach Hause.“

Allerdings sah er kein Schild, das die Mitnahme von Hunden verbot. Er öffnete also die Tür, woraufhin Mads an ihm vorbei schlüpfte. Angesichts des großen Hallos, mit dem der Hund begrüßt wurde, war dieser hier Stammgast. Mads wanderte von Gruppe zu Gruppe, um sich Streicheleinheiten abzuholen, bevor er sich wieder zu Lasse, der am Tresen Platz genommen hatte, gesellte.

Ungefähr die Hälfte der Gäste hatte er vorhin gesehen. Die andere Hälfte bestand aus Leuten in ungefähr seinem Alter oder jünger. An einem der Tische wurden Karten gezockt, an einem anderen laut diskutiert. Zumindest ging Lasse davon aus, denn verstehen konnte er die dänisch Sprechenden nicht.

„Was kann ich dir bringen?“, fragte der Wirt, ein älterer Herr.

„Ein Pils und irgendwas zu essen, bitte.“

Irgendwas steht nicht auf der Karte.“ Der Mann reichte ihm ein laminiertes Blatt.

Es gab die unvermeidlichen Pölser, Hotdogs und Hamburger. Letztere wurden in drei Varianten angeboten: a) mit Senf-Ketchup-Gurke, b) mit Remoulade-Eisbergsalat und c) mit Rotkohl-Schweinebraten-Gurken.

Er bestellte Variante c) und guckte runter zu Mads. „Möchtest du auch was haben? Bier? Cola? Wein?“

Mads hechelte.

„Der Junge bekommt nur Wasser.“ Mit diesen Worten schob der Wirt einen gefüllten Napf über den Tresen, den Lasse auf den Boden stellte.

Mads machte sich darüber her, als wäre er kurz vorm Verdursten.

Kurz darauf stand ein Humpen Bier vor Lasse. Er nippte an dem würzigen Bräu, wobei er die neben ihm an der Theke Sitzenden aus dem Augenwinkel betrachtete. Es handelte sich um den Alten von vorhin und zwei Typen ungefähr Mitte zwanzig. Der eine war hübsch, mit den blonden Haaren und hellblauen Augen. Der andere hatte eine Adlernase und ein fliehendes Kinn. Würde Lasse in Klischees denken, hätte er dem einen schwedische und dem anderen britische Wurzeln zugeordnet.

„Wo kommst du her?“, sprach ihn Adlernase an.

„Hamburg.“

„Ah, ja, das hört man.“ Adlernase grinste.

Dabei stolperte er doch gar nicht über den spitzen Stein, wie man es Hamburgern oft nachsagte. „Wohnt ihr hier?“, erkundigte sich Lasse.

Die beiden nickten.

„Ich bin Frederik und das ist Emil.“ Der Blonde warf einen kurzen Blick auf Mads, der brav zu seinen Füßen lag. „Du gastierst bei Oliver?“

„Nur für eine Nacht. Mein Wagen streikt.“

„Der ist bei Oliver in guten Händen. Es gibt fast nichts, was der nicht wieder zum Laufen kriegt“, erwiderte Emil.

Der Wirt brachte Lasses Bestellung. Heißhungrig widmete er sich seinem Burger, der hervorragend schmeckte. Niemals würde er Rotkohl und Gurkensalat mischen, doch irgendwie passte es wunderbar zusammen.

Gerade hatte er den letzten Bissen verdrückt, da trafen neue Gäste ein. Kinderstimmen wurden laut. Neugierig spähte er über die Schulter zur Tür. Es handelte sich um eine Familie mit drei Kleinen. Einer der Zwerge wieselte auf allen Vieren über den Boden, direkt auf Mads zu. Obwohl Lasse den Hund inzwischen als sehr gutmütig einstufte, fand er das riskant.

Er beugte sich also runter und versuchte, das Kind mit einer Handbewegung fortzuscheuchen. Das Unglaubliche geschah: Der Zwerg biss zu und zwar richtig. Schmerzerfüllt zischte Lasse. Im selben Moment pfiff die Mutter das Monster zurück. Nach einem letzten erbosten Blick auf ihn drehte das Kind um und bewegte sich in Richtung der Familie.

Lasse begutachtete seinen Finger. Blut quoll aus der Wunde, die ihm die spitzen Zähne des Balges beigebracht hatten. Er leckte es ab, fischte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wickelte es um den Finger.

„Mit Henrik legst du dich besser nicht an“, meinte Frederik schmunzelnd. „Wenn der etwas will, kann er ganz schön aggressiv werden.“

Allerdings. Dem Balg sollte man ein Schild um den Hals hängen: Vorsicht, bissig.

2.

Grelles Sonnenlicht weckte ihn am nächsten Morgen. Nach drei Pils war er in seine Unterkunft zurückgekehrt. Oliver hatte er weder gesehen noch gehört. Mads war ihm wie ein Bodyguard bis zur Tür gefolgt, um sich dann in die Scheune zu verziehen.

Gähnend streckte er die Arme über den Kopf. Hoffentlich war seine Kiste inzwischen wieder flott, was er aber nicht glaubte. Schließlich konnte Oliver nicht zaubern.

Er klemmte sich seinen Kulturbeutel unter den Arm und stieg die Treppe runter. Ein Blick in die Küche verriet ihm, dass Oliver bereits auf war. Eine Thermoskanne sowie Frühstücksutensilien standen auf dem Tisch.

Nachdem er sich frisch gemacht und angezogen hatte, goss er sich einen Becher Kaffee ein. Vom Fenster aus hatte man Ausblick auf den Hof. Mads streunte über das Kopfsteinpflaster. Die Motorhaube seines Fords war hochgeklappt, von Oliver keine Spur zu sehen.

Lasse trank einen Schluck, wobei ihm das Ereignis des Vorabends wieder einfiel. Er betrachtete seinen Finger. Merkwürdig. Oder war es die andere Hand gewesen? Auch dort keine Spur von einer Wunde. Hatte er nur geträumt, von dem Balg gebissen worden zu sein? Oder besaß die dänische Landluft magischen Wundheilungseffekt?

Eine Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf den Hof. Oliver marschierte quer übers Pflaster, irgendwas in den Händen und beugte sich über den Motor. Hübscher Hintern in der fadenscheinigen Jeans. Tja … die größten Ärsche besaßen oft die attraktivsten Körper. War das ausgleichende Gerechtigkeit, um über den miesen Charakter hinwegzutäuschen? Du weißt doch gar nichts über ihn, mahnte sein Gewissen. Außerdem hat er dir ein Bett für die Nacht angeboten und sogar Frühstück bereitgestellt. Apropos … Lasse nahm am Tisch Platz.

Das Graubrot schmeckte hervorragend. War es vielleicht selbst gebacken? Lasses Großmutter hatte diese Kunst beherrscht. Nur zu gern erinnerte er sich an ihr ofenfrisches Brot mit einer fingerdicken Schicht Butter. Mittlerweile war sie schon fünfzehn Jahre tot.

Er war bei seinem zweiten Becher Kaffee und der dritten Scheibe Marmeladenbrot, als er das Öffnen der Haustür vernahm. Schritte im Flur. Oliver betrat die Küche.

„Guten Morgen. Danke für das tolle Frühstück“, begrüßte er seinen Gastgeber.

Oliver winkte ab. „Nachher bringt ein Kumpel das Ersatzteil.“

„Wow! Heißt das, ich kann heute noch weiterfahren?“

Oliver zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich.“

Lasse wertete das als Versprechen. Seine Laune hob sich blitzartig. „Wie viel schulde ich dir?“

Abermals winkte Oliver ab. „Auf dem Land hilft man sich gegenseitig.“

„Kann ich irgendwas tun? Den Stall ausmisten oder so?“

Ein spöttisches Grinsen erschien auf Olivers Lippen. „Ich glaube nicht, dass du die Schweineboxen säubern möchtest. Hinterher stinkt man, als wäre man in Jauche gefallen.“

Zugegeben: Darauf war er wirklich nicht scharf. „Fällt dir was anderes ein, wie ich mich revanchieren kann?“

„Lass gut sein. Noch läuft deine Karre nicht.“ Oliver bediente sich am Kaffee und verließ mit dem Becher in der Hand den Raum.

Was für ein bärbeißiger, ungemein attraktiver Typ. Geschätzt eins neunzig Muskeln, braune Locken und grüne Augen. Bei so viel geballter Schönheit könnte sich Lasse glatt zu körperlichem Dank hinreißen lassen. Ähm, wäre da nicht Felix und die Tatsache, dass Oliver bestimmt hetero war. Jedenfalls hatte sein Gaydar nichts Gegenteiliges gemeldet.

Er räumte den Tisch ab und holte seine Jacke aus dem Gästezimmer. Als er vor die Haustür trat, wehte ihm eine frische Brise entgegen. Schwanzwedelnd trabte Mads auf ihn zu, um ein paar Krauleinheiten zu erbetteln. Anschließend verzog sich der Hund in die Scheune. Sollte er hinterher gehen und Bescheid geben, dass er sich ein bisschen in der Umgebung umsah? Bestimmt bekäme er darauf eine dämliche Antwort, also ließ er es bleiben.

Gegenüber der Ausfahrt zu Olivers Anwesen begann ein Trampelpfad, der zwischen zwei Feldern entlangführte. Das eine war abgeerntet. Auf dem anderen stand Mais, der vermutlich auch bald eingefahren wurde.

Der Pfad mündete in einen Sandweg. Reifenspuren zufolge wurde dieser häufig von Autofahrern genutzt. Lasse wandte sich nach rechts. Nach einer Weile erblickte er ein Hausdach. Das Grundstück wurde durch eine hohe Hecke, hinter der Kinderstimmen erklangen, abgeschirmt.

Neugierig, ob es sich um die Zwerge, die er in dem Gasthaus gesehen hatte, handelte, suchte er nach einer Lücke im Grün. Tatsächlich waren es die drei Kinder vom Vorabend. Eines saß auf einem Dreirad und wurde von dem größeren geschoben. Der Kleinste watschelte hinterher und schimpfte.

Schmunzelnd wollte sich Lasse gerade abwenden, da geschah etwas Merkwürdiges: Anstelle des Minizwergs rannte plötzlich ein Hund über den Rasen. Er blinzelte. Wo war das Tier denn mit einem Mal hergekommen? Und wo war der Kleinste hin?

Der Hund sprang um die beiden verbliebenen Kinder herum, bis sie stoppten und auf das Tier einredeten. War es überhaupt ein Hund? Das Tier bellte weder, noch wedelte es mit dem Schwanz. Andererseits kannte sich Lasse damit nicht aus. Vielleicht gab es Rassen, die beides nicht taten.

Er nahm seine Wanderung wieder auf, wobei er sich gedanklich mit dem Gesehenen beschäftigte. Das Verschwinden des Kleinsten und Auftauchen des Hundes fand er unheimlich. Man war ja inzwischen durch die ganzen Animationen in Filmen einiges gewohnt, doch live war es anders. Hatte er sich alles nur eingebildet? Wahrscheinlich, denn eine glaubhafte Begründung für das Geschehen wollte ihm nicht einfallen.

Der Weg führte zu einer asphaltierten Straße, die durch den Ortskern verlief. Eine hochtrabende Bezeichnung für die Ansammlung von ungefähr zehn Häusern.

Da er noch keine Lust verspürte, zu Mr. Griesgram zurückzukehren, ging er in den Gasthof. Trotz der fortgeschrittenen Stunde – inzwischen war Mittagszeit – saßen an einem Tisch Gäste und aßen Frokost, also Frühstück. Ansonsten war das Lokal leer.

Lasse nahm am Tresen Platz und bat den Wirt um einen Kaffee. Obwohl er schon häufig in Dänemark Urlaub gemacht hatte, war er selten mit Einwohnern ins Gespräch gekommen. Wenn man ein Haus mietete, beschränkten sich Kontakte auf Besuche im Supermarkt und gelegentliche Ausflüge zum Imbiss. Dabei redete man ja bekanntermaßen nicht viel.

„Gibt es in Öster Gammelby gar keinen Tourismus?“, fragte er, als der Wirt einen Becher vor ihm abstellte. Er bekam ein Kopfschütteln als Antwort. „Und wovon lebt man hier?“

„Hauptsächlich Landwirtschaft. Einige arbeiten in Tondern.“

„Wie viele Einwohner hat der Ort?“

„Ungefähr fünfzig.“ Der Wirt kam hinter dem Tresen hervor und begab sich zu den anderen Gästen.

Während Lasse seinen Kaffee schlürfte, schaute er sich genauer um. Im Tageslicht wirkte das Innere des Lokals schäbig. Die Holzdielen waren zerkratzt, die Tapeten vergilbt. Das Mobiliar – Holzstühle und Tische – hatte auch schon bessere Tage gesehen. Er fand’s gemütlich. Mit den modernen Bars im amerikanischen Stil konnte er nichts anfangen.

Der Wirt hielt sich eine ganze Weile bei den Gästen – einem älteren Pärchen – auf, bevor er wieder hinter die Theke ging und begann, Gläser zu polieren. Wegen der abweisenden Miene des Mannes verzichtete Lasse darauf, erneut das Gespräch zu suchen.

Erst als er ausgetrunken hatte, ergriff er das Wort: „Was schulde ich Ihnen?“

Nachdem er die lächerlich geringe Summe, aufgerundet durch ein Trinkgeld, auf den Tresen gelegt hatte, verließ er das Lokal. Gemächlich legte er die Strecke bis zu Olivers Anwesen zurück. Als er in die Auffahrt bog, entdeckte er einen weißen Pickup, der neben seinem Ford stand. Hoffentlich war das der Kumpel mit dem Ersatzteil.

Zwanzig Minuten später konnte er in Richtung Limfjord starten. Genau wie der Ersatzteillieferant, lehnte Oliver erneut eine Bezahlung ab. Lasses schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen, da er lediglich mit einem gebrummelten farvel verabschiedet wurde. Manieren schienen in Olivers Kosmos keine Bedeutung zu spielen.

Auf halber Strecke legte er eine kurze Pause ein, um Felix anzurufen. Nach Vrist Strand, wo das gemietete Haus lag, waren es laut seinem Navi rund drei Stunden zu fahren. Er kündigte seine Ankunft demnach für vier Uhr an.

Während er seine Reise fortsetzte, knabberte er die Mini-Salami, die er in einer Tankstelle gekauft hatte. Das erinnerte ihn an Mads. Der Hund hatte sich von ihm wie von einem alten Freund verabschiedet, inklusive traurigem Winseln. Vielleicht sollte sich Mads Herrchen davon eine Scheibe abschneiden. Warum machte er sich überhaupt darum Gedanken? Er würde Oliver nie wiedersehen, außer sein Motor streikte auf der Rücktour an der gleichen Stelle. Das wäre ein so ungeheurer Zufall, dass es bestimmt nicht passierte. Andererseits gab es Murphys Law. Dieses Gesetz durfte man nicht unterschätzen.

Zehn Minuten vor der prognostizierten Zeit traf er am Ferienhaus ein. Felix begrüßte ihn mit einem heißen Kuss, die anderen begnügten sich mit Umarmungen. Alle wollten von ihm einen detaillierten Bericht hören, den er bei einem Kaffee bereitwillig abliefert. Einige Kleinigkeiten ließ er aber aus, wie Olivers Attraktivität und das bissige Kind. Das eine hätte Felix bestimmt verletzt, das andere war – zumal es keine vorzeigbare Wunde gab – unwichtig.

3.

In der ersten Nacht schlief Lasse wie ein Stein, ausgelaugt von den sexuellen Aktivitäten mit Felix. In der zweiten wachte er irgendwann auf und blinzelte ins Dunkel. Seine rechte Armbeuge juckte wie verrückt. Hatte ihn das geweckt? Oder war es der Mondschein? Er kratzte sich, wandte dem Fenster den Rücken zu und schloss wieder die Augen.

Auch in den folgenden Nächten wurde er zwischendurch wach. Das Jucken wanderte den Arm hoch, bis zu seiner linken Brusthälfte. Nachdem es diese Stelle erreicht hatte, verschwand es.

Am Tag der Abreise war der Himmel bewölkt. Davor hatten sie ausschließlich Sonnenschein gehabt.

„Dänemark weint, weil wir es verlassen müssen“, witzelte Kai.

Seit Jahren reisten sie in der gleichen Konstellation an den Limfjord. Kai war inzwischen nicht mehr mit Uschi zusammen, Berti nicht mehr mit Merle, dennoch fuhren die beiden Frauen weiterhin mit. Dann war da noch Max, der sich als asexuell bezeichnete und Florian, der seine Partnerinnen häufiger als seine Unterwäsche wechselte.

„Ich sehe keine einzige Träne“, erwiderte Max mit einem prüfenden Blick aus dem Fenster.

Kai verdrehte die Augen. „Das war im übertragenen Sinne gemeint.“

Wenig später klemmte sich Lasse hinters Steuer seines Fords und Felix nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Auf der Hintour war sein Freund bei Uschi und Merle mitgefahren.

„Ich mag die Mädels ja echt gern, aber ihr Gequassele …“ Felix seufzte. „Als wir hier ankamen, musste ich erstmal zwei Stunden an den Strand, damit sich meine Ohren davon erholen.“

„Eigentlich kannst du doch super auf Durchzug schalten.“ Lasse startete den Motor.

„Das hätte sie mürrisch und unfroh gemacht. Mürrische Weiber sind noch schlimmer als Quasselstrippen.“

Das war das letzte Wort, das für lange Zeit zwischen ihnen fiel. Lasse störte das nicht. Genau wie Felix, empfand er Aversion gegen ständiges Gelaber. Außerdem beschäftigte ihn das Erlebnis auf seiner Hinreise. Im Kofferraum befand sich eine Flasche Whisky, die er aus ihrem gemeinsamen Vorrat abgezweigt hatte. Er plante, einen Zwischenstopp in Öster Gammelby einzulegen, um sie seinem Wohltäter zu überreichen. Griesgram hin oder her – Oliver hatte seinen Urlaub gerettet. Dafür schuldete er dem Mann Dank.

Was ihn noch beschäftige: Sein neuer Hang dazu, mitten in der Nacht aufzuwachen. Sowas war ihm sonst überaus selten passiert. Hinzukamen merkwürdige Träume. Mal lief er allein durch den Wald, mal war er in Gesellschaft mehrerer Wölfe unterwegs. Hatte sich das, was er auf dem Spaziergang in Öster Gammelby zu sehen glaubte, in seinem Unterbewusstsein verankert? Oder hatte ihn die positive Erfahrung mit dem Hund dermaßen beeindruckt? Vermutlich würde ein Seelenklempner auf letzteres tippen.

„Nächste Woche hab ich ein Seminar“, beendete Felix schließlich das Schweigen. „Hab versucht mich zu drücken, aber keine Chance.“

„Wohin geht’s denn?“

„In den Osten. Schulung und Teambuilding-Spielchen. Ich könnte kotzen.“

„Mach das Beste draus.“

„Das sagt mein Kollege Jens auch immer.“ Felix seufzte. „Zum Glück ist er auch dabei, sonst wäre es eine Katastrophe.“

So oft, wie Felix von Jens redete, hatte Lasse den Eindruck, dass es zwischen den beiden mehr als ein kollegiales Verhältnis war. Ihn störte das nicht. Wenn sich ihre Wege trennten, wäre das für ihn kein Weltuntergang, da ihre Beziehung überwiegend aus Sex bestand.

Wieder trat Stille ein, untermalt von Radiomusik. Felix gehörte zu denen, die mit ihrem Smartphone verwachsen waren. Lasse hatte keinen Schimmer, was so interessant war, um ständig dieses Gerät anzuglotzen. Immer, wenn er mal einen Blick aufs Display warf, gab es dort irgendwelche Getränke oder Speisen zu sehen. Irgendwann, wenn die Menschheit ausgestorben war und Außerirdische nach deren Spuren suchten, würden sie diesen ganzen Mist finden und feststellen: Es hatte nie intelligentes Leben auf der Erde gegeben.

Als er in Öster Gammelby in Olivers Auffahrt einbog, schaute Felix hoch. „Wo sind wir hier?“

„Bei meinem Lebensretter. Ich hab dir doch von dem Burschen, der meine Karre repariert hat, erzählt.“ Er stoppte hinter Olivers Volvo, stieg aus und ließ Mads überschwängliche Begrüßung schmunzelnd über sich ergehen.

Felix, der ebenfalls den Wagen verlassen hatte, kam auch in den Genuss von Hundesabber. Im Gegensatz zu ihm war sein Freund ein echter Hundenarr und kannte keinerlei Berührungsängste.

Mads!“, tönte Olivers Stimme über den Hof. „Lad det være!”

Der brave Hund zog den Schwanz ein und setzte Welpenblick auf. Sein Herrchen marschierte übers Pflaster auf sie zu und runzelte die Stirn. „Hast du wieder eine Panne?“

Lasse schüttelte den Kopf, ging zum Kofferraum und holte den Whisky heraus. „Ich hab mich gar nicht richtig bedankt.“

Als er Oliver die Flasche reichte, fügte er hinzu: „Sorry. Ich hatte leider kein Geschenkpapier zur Hand.“

„Tak“, murmelte Oliver mit der Andeutung eines Lächelns.

„Dann fahren wir mal wieder“, verkündete Lasse. „Nochmal danke für alles.“

„Darf ich den Hund mitnehmen?“, erkundigte sich Felix, der Mads verliebt anglotzte.

„Den muss ich behalten. Er bewacht meinen Hof.“ Bei dieser Aussage grinste Oliver schief, was ihn von gutaussehend in höllisch attraktiv verwandelte.

„Schade“, brummelte Felix, begab sich zur Beifahrerseite und stieg ein.

Kaum hatte Lasse den Wagen zurück auf die Straße gelenkt, platzte Felix heraus: „Warum hast du dem heißen Holzfäller nicht deinen Arsch als Dankeschön angeboten?“

„Der heiße Holzfäller steht nicht auf Ärsche.“

„Eher fresse ich einen Besen. Der ist hundertpro schwul.“

„Woher willst du das wissen?“

„Dafür hab ich ein untrügliches Gespür. Kein Hetero guckte einem Mann auf den Schwanz.“

„Das hat Oliver gar nicht getan.“

„Du hast keine Augen im Kopf. Klar hat er dir zwischen die Beine gestarrt.“

Ernsthaft: Felix war derjenige, der mal zum Augenarzt gehen sollte. Oliver hatte überall hingeguckt, aber nicht auf seinen Schritt. Da Lasse keinen Bock auf diskutieren hatte, hielt er den Mund.

In Hamburg steuerte er Felix‘ Adresse an. Felix gab ihm einen Kuss auf die Wange, stieg aus, holte das Gepäck aus dem Kofferraum und winkte zum Abschied.

Auf der Weiterfahrt dachte er an seinen Job. Seine Freunde nannten ihn Workaholic, bloß weil er Einsatz zeigte. Zugegeben: Er könnte einen Gang zurückschalten und aufhören, sich jede Aufgabe zu eigen zu machen. Leider gehört er zu denen, die immer hier riefen, wenn der Chef etwas delegieren wollte. Auf diese Weise war sein Schreibtisch immer voll, während die der Kollegen sehr aufgeräumt aussahen.

Er hatte seine Ausbildung zum Kaufmann im Großhandel bei der Firma Pro-Kontra, Händler für Werbeartikel, bei der er aktuell noch tätig war, absolviert. Entsprechend behandelten ihn viele Kollegen weiterhin wie den Azubi. Schon oft hatte er sich vorgenommen, nach einem anderen Job zu suchen, doch bei dem Vorsatz war es stets geblieben. Letztendlich wurde doch überall nur mit Wasser gekocht.

Am nächsten Morgen erwartete ihn ein Berg Arbeit. Lasse brauchte zwei Tage, um den Kram zu sortieren und das Wichtigste zu erledigen. Währenddessen füllte sich sein Eingangskorb mit neuen Aufgaben.

Am Wochenende war er dermaßen erledigt, dass er sich zu Hause einigelte. Felix hatte sich eh die ganze Zeit nicht gemeldet und die Party bei Kai würde sowieso zu einem Saufgelage ausarten. Das konnte er in seinem angeschlagenen Zustand überhaupt nicht gebrauchen.

Wie schon in den Nächten davor, wurde er auch von Samstag auf Sonntag wach. Diesmal war es aber anders als zuvor. Er konnte nicht wieder einschlafen, was wohl an dem hellen Vollmond lag. Innere Unruhe trieb ihn dazu, aufzustehen und in der Wohnung rum zu tigern. Seine Haut juckte, so dass er sich beständig kratzte. Mal am Arm, mal am Rücken, mal an der Schulter.

Irgendwann, als er am Garderobenspiegel vorbeikam, entdeckte er etwas Merkwürdiges. Er blieb stehen und starrte sich an. Seine Augen … schimmerten die gelblich? Hatte er etwa Gelbsucht? Eine Recherche am Notebook ergab: Die Symptome – Juckreiz, gelb verfärbte Augen - sprachen dafür. Akute Lebensgefahr bestand nicht, weshalb er beschloss, einen Arztbesuch auf Montag zu verschieben.

Am folgenden Tag war seine Augenfarbe wieder normal. Vielleicht hatte er sich alles nur eingebildet.

In der Nacht – abermals wachte er zur Geisterstunde auf – waren seine Augen immer noch braun. Erneut quälte ihn Juckreiz und Unruhe. Außerdem spürte er das Bedürfnis, auf allen Vieren durch die Gegend zu laufen. Wurde er verrückt? War es eventuell Tollwut, ausgelöst durch den Biss des Kindes?

Auch diese Erkrankung passte zu seinen Symptomen, verriet ihm das Internet. Eine Übertragung durch Menschen war möglich, durch infizierten Speichel oder andere Sekrete. Danach suchte er seinen Impfpass, den er aus unerfindlichen Gründen in der Schublade mit Unterwäsche fand. Vielleicht hatte er das Dokument nach einer Reise versehentlich dort hineingeworfen. Eine Impfung gegen Tollwut war darin nicht verzeichnet.

Montagmorgen meldete er sich krank. Ihm ging’s wirklich schlecht, weil er zu wenig geschlafen hatte. Bei seinem Hausarzt nahm man ihm Blut ab, bevor er ins Sprechzimmer gerufen wurde.

Doktor Methelmann hörte sich alles an, guckte ihm in den Mund, die Augen und Ohren. „Wir müssen die Laborergebnisse abwarten. Auf mich wirken Sie gestresst. Nehmen Sie sich ein paar Tage Auszeit. Ihre Krankschreibung erhalten Sie in der Anmeldung.“

Damit war er entlassen und so schlau wie vorher.

Einige Stunden später, kurz nach Mitternacht, war er, als er seine Gestalt im Spiegel sah, etwas schlauer. Zu dem Wolf passten die gelben Augen. Wie es möglich war, dass er plötzlich als Vierbeiner herumlief und ob das so bleiben würde, war ihm aber unbekannt. Im Ganzen gab es reichlich Gründe, um in Panik zu verfallen.

4.

Oliver hielt nichts von der bestehenden Hierarchie im Rudel. Er hatte die Position des Alpha von seinem Vater, als der vor fünf Jahren starb, geerbt; so, als ob Führungsqualitäten durchs Erbgut weitergegeben wurden. Nach seiner Meinung war Randy, die Inhaberin des örtlichen Supermarktes, viel besser dafür geeignet, doch das war das zweite Problem: Frauen besaßen innerhalb des Rudels keinen Rang. Ihnen oblag bloß die Aufzucht des Nachwuchses. Warum in der Gemeinde immer noch Mittelalter herrschte, war ihm ein Rätsel.

Er leerte seinen Kaffeebecher und stellte ihn in die Spülmaschine. Im Flur schlüpfte er in Gummistiefel sowie Jacke und verließ das Haus. Mads kam ihm schwanzwedelnd entgegen. Nachdem er den Hund ausgiebig gekrault hatte, begaben sie sich zusammen in die Scheune.

Im Schweinepferch war mal wieder Siesta angesagt. Als er das Gatter öffnete, regte sich hier und da ein Tier und als er den Futtertrog füllte, erhob sich die ganze Mannschaft, ausgenommen Auguste. Vor zwei Tagen hatte die Sau vierzehn Ferkel geworfen. Die Kleinen hingen praktisch nonstop an ihren Zitzen.

Oliver entriegelte die Pforte, die ins Freilaufgehege führte. Er züchtete glückliche Schweine, die er an Gourmet-Restaurants und Bio-Schlachter verkaufte. Ein Erbe seines Vaters, das ihm – im Gegensatz zu der Alpha-Sache – in Fleisch und Blut übergegangen war. Es war aber nur ein Hobby, denn leben konnte man davon nicht. Sein Haupteinkommen stammte aus der Vermietung von Objekten, auch aus dem Nachlass seines Vaters. Nach dem Tod seiner Mutter, die bei seiner Geburt gestorben war, hatte sich sein alter Herr mit Arbeit getröstet und jedes verfügbare Oer in Immobilien investiert.

Er zog sich aus dem Pferch zurück und lehnte sich auf die Umzäunung, um den Schweinen beim Fressen zuzugucken. Seine Gedanken wanderten zu Lasse, wie so manches Mal in letzter Zeit. Randy behauptete, Lasse wäre sein Gefährte. An den Scheiß glaubte er ebenso wenig, wie an die Alpha-Sache. Nur, weil man ein Gestaltwandler war, musste man ja nicht jede Mär für bare Münze nehmen.

Zugegeben: Lasse war ziemlich sexy. Das bedeutete jedoch nichts, denn das traf auf einige Typen zu. Wenn Oliver viel Druck auf der Leitung hatte, fuhr er nach Esbjerg wo er in einem der Clubs immer jemanden für einen One-Night-Stand fand. Sein letzter Aufriss war mindestens so attraktiv wie Lasse gewesen. Insofern hatte er keinerlei Bedürfnis, sich für Sex ein Problem ans Bein zu binden. Das stellten Menschen nämlich dar, weil sie nicht mit seiner zweiten Gestalt klarkamen.

Oliver?“, ertönte eine Stimme, die er nach kurzer Überlegung Emil zuordnete.

Mads erhob sich und flitzte davon.

„Bei den Schweinen“, gab er zurück.

Emil mit Mads im Schlepptau tauchte im Scheunentor auf und schlenderte auf ihn zu. Wie stets trug er eine grüne Latzhose und Sturmfrisur.

„Unser Trecker ist verreckt.“ Emil hielt ihm einen Jutebeutel hin. „Frisch geernteter Honig. Dürfen wir deinen Traktor leihen?“

„Natürlich“, brummelte Oliver. „Aber das kostet zwei Gläser.“ In dem Beutel befand sich nur eines. Er liebte das Zeug. Sein Vater meinte immer, an ihm wäre ein Honig-Bär verlorengegangen.

„Das andere kriegst du später.“ Emil, der Mads Ohren kraulte, betrachtete die Schweine. „Ganz schöner Sauhaufen.“

Schweinewitze hingen ihm zum Hals raus. „Ich hol den Schlüssel.“

Bei seiner Rückkehr hockte Emil im Pferch und streichelte eines der Ferkel. Die kleinen Racker waren aber auch süß. Vorsichtshalber gab Oliver ihnen keine Namen, sonst würde er sich nie von ihnen trennen können.

Mads schmiegte sich an seine Beine und warf ihm einen herzerweichenden Blick zu. Der Arme fühlte sich vernachlässigt. „Du kannst nicht immer im Mittelpunkt stehen“, klärte er den Hund auf.

„Darf ich eins mitnehmen?“, fragte Emil. „Die sind so knuddelig.“

„Schaff dir eigene an.“

„Frederik will das nicht.“ Emil seufzte, verließ das Gehege und folgte ihm zum Traktor. „Er ist eher ein Katzentyp.“

Davon hatten die beiden eine ganze Kompanie.

„Übrigens: Neulich, im Kro, hat Noah deinen Gast gebissen“, berichtete Emil. „Der Kleine sollte mal eine Anti-Aggressions-Therapie machen.“

Ganz seine Meinung. Noah wurde zu sehr verwöhnt. „Sag das seinen Eltern.“

„Als ob sie darauf hören würden.“ Emil stieg auf den Traktor und streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus.

Nachdem Emil das Fahrzeug aus der Scheune manövriert hatte, begab sich Oliver in die Werkstatt, die sich im hinteren Bereich des Gebäudes befand. Eine angefangene Tierfigur lag auf der Werkbank. Kritisch beäugte er sie von allen Seiten. Schnitzen war ein anspruchsvolles Hobby. Man musste höllisch aufpassen, weil ein Fehler die ganze Arbeit zunichtemachen konnte. Mads ließ sich zu seinen Füßen nieder, gähnte und parkte die Schnauze auf den Pfoten.

Was Noahs Biss betraf, machte er sich keine Sorgen. Das Wandlergen wurde nur durch oralen Kontakt übertragen. Das hatte Mutter Natur geschickt eingefädelt, denn sonst würden sie jedes Beutetier infizieren. Frage war, ob sich das Tier dann in einen Menschen wandelte, aber da sowas nicht passierte, brauchte er sich damit nicht beschäftigen.


Abends ging er in den Kro, weil ihm nach Gesellschaft zumute war. Normalerweise bevorzugte er seine eigene, doch ab und zu brauchte er soziale Kontakte.

Am Tresen saßen die üblichen Verdächtigen: Ulv, Tjure und Svend. So mancher nannten sie auch die Kro-Drillinge, da sie stets zu dritt aufkreuzten. Ansonsten waren noch drei Tische belegt.

Er gesellte sich zu den Drillingen und bestellte ein Bier.

„Wir reden gerade über das Grillfest am Wochenende“, sprach Ulv ihn an. „Es haben sich drei weitere Gäste angekündigt. Ist bei dir noch Platz?“

„Meine Scheune ist groß.“ Er nickte Paul, dem Wirt, zu, als der einen Humpen vor ihm abstellte.

„Du willst sie zu den Schweinen stecken?“, erkundigte sich Tjure entsetzt.

„Wenn es wieder solche Wildschweine sind wie letztes Mal, dann passt es doch.“ Er nippte an seinem Bier.

Größere Zusammenkünfte fanden alle paar Monate statt. Dann reisten aus allen Teilen des Landes Wandler an. Das Gute daran war, dass diese Leute Wildbret mitbrachten, denn in den umliegenden Wäldern gab es kaum noch Rotwild. Sie beschafften ihre Beute daher beim Schlachter. Für die Kinder wurden kleine, lebende Nager besorgt, um ihnen ein Gefühl für die Jagd zu geben. Bei den letzten Malen waren ihnen allerdings welche entwischt, was zu einer Mäusepopulation im Wald geführt hatte. Bevor die nicht alle erlegt waren, gab es keine neuen.

Ulv lachte. „Stimmt. Das waren ganz schöne Säue.“

„Trotzdem bringt man Gäste nicht in der Scheune unter“, meldete sich Tjure erneut zu Wort.

„Ich finde das ziemlich romantisch“, mischte sich Svend ein. „Im Stroh liegen und in den Sternenhimmel gucken …“

„Meine Scheune hat keine Dachfenster.“

„Das könnte man schnell ändern“, erwiderte Svend.

Oliver winkte ab. „Wer sind denn die drei Gäste?“

„Märta, Volk und ihr Kind“, antwortete Ulv.

„Die können mein Gästezimmer haben.“ Gegen eine Familie hatte er nichts, nur gegen Jugendliche, die nach dem Fest noch Party machen wollten.

„Wunderbar. Da wird sich Randy freuen“, entgegnete Ulv.

Randy gehörte stets zum Orga-Team für solche Feiern. Auch deshalb hielt Oliver sie für den besseren Alpha. Sie besaß alle Talente, die man dafür brauchte. Dagegen sprachen nur ihre Titten-Schrägstrich-Muschi und fehlende blaublütige Abstammung.

Wie immer hatte sich Oliver zum Wach-Team gemeldet. Wenn das ganze Dorf in Tiergestalt im Wald rumrannte, mussten Leute Patrouille gehen. Es wäre eine Katastrophe, wenn jemand ihre wahre Natur entdeckte. Eigentlich fuhr nachts niemand durch die abgelegene Gegend, doch am Beispiel Lasse sah man, dass es durchaus passieren konnte.


Ab Samstagmittag begannen die Gäste einzutrudeln. Oliver fühlte sich, als würde er an der Autobahn wohnen. Natürlich war das übertrieben, doch im Vergleich zum sonstigen mageren Verkehr nicht ganz abwegig.

Sein Übernachtungsbesuch traf gegen fünf ein. Märta und Volk waren jung, schätzungsweise Mitte zwanzig. Ihr Nachwuchs, Emma, dürfte ungefähr vier sein. Oliver kannte sich damit nicht sonderlich gut aus.

Während sich das Kind auf Mads stürzte, zeigte er den Eltern das Gästezimmer unterm Dach. Märta blieb oben, um auszupacken. Volk heftete sich an seine Fersen, als er in die Küche ging.

„Möchtest du einen Kaffee?“, bot er pflichtschuldig an. Man konnte vieles über ihn sagen, aber ein mieser Gastgeber war er nicht, zumindest bei den wichtigsten Dingen, also Essen und Schlafkomfort.

„Bitte, ja.“ Volk ließ sich am Tisch nieder. „Gehört dir der ganze Hof?“

„Mads ist mein Teilhaber.“

„Mads?“

„Mein Hund“, erklärte Oliver, damit beschäftigt, die Kaffeemaschine in Betrieb zu setzen.

„Ach so.“ Volk lachte. „Ich schaue wohl besser mal nach Emma.“

Gemeinhin konnten sich kleine Wandler gut gegen Hunde wehren. Eher sollte sich Mads vor Emma in Acht nehmen. Wolfswelpen besaßen spitze Krallen, Zähne und null Hemmungen, sie zu benutzen.

Vom Fenster aus beobachtete er, wie sich Volk zu Emma und Mads gesellte. Sein Hund lag auf dem Rücken und genoss es sichtlich, am Bauch gekrault zu werden. Der alte Genießer. Oliver würde sich auch gern den Bauch kraulen lassen, allerdings nicht von einem Kleinkind. Es war mal wieder Zeit für einen Ausflug nach Esbjerg.

Volk streichelte Mads ebenfalls, woraufhin sein Hund vor Wonne die Augen verdrehte. Gab er dem Tier etwa zu wenig Liebe? Ach, nein. Mads war eben streichelsüchtig. Man könnte ihn den ganzen Tag kraulen und es wäre noch nicht genug.

Schritte auf den Stufen kündigten Märta an. Sie kam in die Küche. „Tut mir leid, dass wir dir Umstände bereiten.“

Er winkte ab. „Nicht der Rede wert.“ Ein Glück, dass seine Gäste morgen wieder abreisten. Besuch war wie Fisch: Er fing nach einem Tag an zu stinken. Eigentlich hieß es nach drei Tagen, aber seine Toleranzschwelle war extrem niedrig.

Das Fest verlief wie alle davor: Sobald sich die Familien mit Kindern zurückgezogen hatten, wurde es unanständig. In einem Gebüsch unweit der Stelle, an der er sich niedergelassen hatte, um die Straße zu bewachen, kam es zum Akt. Das Grunzen und Stöhnen war nicht zu überhören. Genauso hörten sich die Säue und Eber an, wenn er auf seinem Hof eine Begattung durchführen ließ.

Apropos: Emma hatte darauf bestanden, bei den Ferkeln zu übernachten. Glücklicherweise konnten ihre Eltern ihr das ausreden. Nicht nur wegen des Gestanks, den das Mädchen unweigerlich ins Haus getragen hätte, sondern auch, weil er sich Sorgen um die Ferkel machte.

Randy tauchte neben ihm auf. „Soll ich dich ablösen?“

Er schüttelte den Kopf. „Danke. Ich komm klar.“

„Man könnte meinen, du meidest das Rudel.“

„Wie kommst du denn darauf?“, erkundigte er sich mit gespieltem Erstaunen.

Sie zuckte mit den Schultern, tätschelte seine Wange und ging zurück zu den anderen.

Um drei Uhr morgens war das Spektakel vorbei. Oliver half, die gröbsten Spuren zu beseitigen, bevor er sich auf den Heimweg machte. Zu Hause gönnte er sich ein Gläschen von dem Whisky, den Lasse ihm geschenkt hatte, dann begab er sich ins Bett.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos / Kaipurgay
Bildmaterialien: Shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Achure Dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 24.11.2022

Alle Rechte vorbehalten

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