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Der seltsame Fall des Doktor Sharif Bittermann



Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.


Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Fotos: Cover: Shutterstock 124098307, Pillen: Depositphotos_116280192_L

Cover-Design: Lars Rogmann

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

https://www.sissikaipurgay.de/


Der seltsame Fall des Doktor Sharif Bittermann

Sharif leidet unter extremer Scheu. Therapiestunden bei Doktor Krüger helfen ihm nicht, setzen ihn aber unter Druck. Um zu verhindern, dass Krüger ihm Maßnahmen aufzwingt, unternimmt er einen gewagten Schritt: Er geht in einen einschlägigen Club. Dadurch ändert sich nichts an seinen Hemmungen, setzt aber etwas in Gang, womit er niemals gerechnet hätte.

1.

„Sie laufen Gefahr, in Depressionen zu versinken“, warnte Doktor Krüger. „Sie müssen unbedingt soziale Kontakte knüpfen.“

Leichter gesagt als getan. Sharif war nun mal menschenscheu.

„Ich verschreibe Ihnen ein leichtes Schlafmittel. Dann sind Sie tagsüber entspannter.“ Der Doktor, der Sharif in einem Bürosessel gegenübersaß, drehte sich zum Schreibtisch und begann, auf die Tastatur des Computers einzuhacken.

Vielleicht sollte er einfach eine Überdosis von dem Zeug schlucken. Dann hätte sein Elend ein Ende.

„Es ist rein pflanzlich. Es ist also nicht schlimm, wenn Sie es mal überdosieren“, sprach Krüger weiter.

Soweit zu seinem Plan. Nicht mal ein sanfter Tod war ihm vergönnt.

Mit dem Rezept in der Hand verließ er kurz darauf Krügers Praxis. Nachdem er sich in seinen Wagen gesetzt hatte, stellte er sein Handy - während der Sitzungen schaltete er es stets aus - wieder an. Zwei verpasste Anrufe seiner Mutter. Seufzend tippte er auf die Rückruf-Taste und hielt sich das Gerät ans Ohr.

„Hi Mama“, meldete er sich, als sie abnahm.

Sie wollte wissen, ob er am Samstag zum Kaffee kommen würde. Seine Geschwister wären auch alle da.

„Dann fällt es doch gar nicht auf, wenn ich fehle“, witzelte er.

Mir fällt es auf.“

„Natürlich werde ich da sein“, beruhigte er sie. „Wie geht’s Papa?“

„Wie immer. Er hat Rücken.“

Sein Vater schuftete häufig im Garten und jammerte hinterher stets über Rückenschmerzen. „Gib ihm einen Cognac. Dann wird er schnell wieder gesund.“

Sie kicherte. „Das mache ich. Bis Samstag, mein Schatz.“

Er schickte ihr einen Luftkuss, bevor er die Verbindung beendete.

Seine Mutter besaß ägyptische Wurzeln. Sie war mit ihrer Familie vor ungefähr sechzig Jahren, also mit sieben, nach Deutschland gekommen. Von ihr hatte er den dunklen Teint, die schwarzen Haare und tiefbraunen Augen geerbt. Seine Schwester Amany teilte sein Schicksal. Seine zweite Schwester, Yanara, und sein Bruder Essam kamen nach seinem Vater, mit braunen Haaren und blauen Augen.

Eines hatten sie alle gemein: Die schmale Statur ihrer Mutter; sehr zu Sharifs Leidwesen. Vielleicht wäre er mutiger, wenn er die breite Gestalt seines Vaters hätte. Andererseits war Essam auch klein und schmächtig und trotzdem selbstbewusst.

Beruflichen Erfolg – und obendrein einen Doktortitel - konnte Sharif schon vorweisen. Er arbeitete bei einem großen Pharmakonzern in der Forschungsabteilung. Angebote, die Karriereleiter zu erklimmen, hatte er aber immer abgelehnt, weil er dann Untergebene führen müsste. Ein Problem, das Essam nicht kannte. Sein Bruder war bei einem Zeitarbeitsunternehmen angestellt, rekrutierte Mitarbeiter und das mit Begeisterung. Sharif schauderte schon bei dem Gedanken daran.

Er hatte Mikrobiologie studiert. Bereits in der Schule war Bio sein Lieblingsfach gewesen, daher ein logischer Schritt. Zudem musste er mit den Mikroorganismen nicht kommunizieren. In sozialer Hinsicht war er echt ein totaler Versager.

Viele Jahre hatte er sich eingeredet, mit seinem Einsiedlerdasein zufrieden zu sein. Vor einigen Monaten war ihm jedoch klargeworden, dass es so nicht weitergehen konnte. Hinzukam der Druck seiner Familie. Insbesondere seine Mutter und Schwestern drängten darauf, dass er einen Therapeuten aufsuchte. Dabei ging es nicht um seine Liebe zum eigenen Geschlecht, denn das akzeptierten sie, sondern um ihre Sorge, dass er vereinsamte.

Doktor Arnold Krüger hatte er sich aufgrund der positiven Bewertungen im Internet ausgesucht. Natürlich war ihm bewusst, dass diese vielleicht gefakt waren, aber wonach sollte er sich sonst richten? Zugegeben: Krügers Praxis lag in der Nähe seines Arbeitgebers, was ihn zusätzlich beeinflusst hatte. So konnte er seine Termine gleich nach Feierabend wahrnehmen, ohne sich Sorgen um Verspätungen durch den Berufsverkehr zu machen.

Was die Sitzungen bei Doktor Krüger bringen sollten, war ihm ein Rätsel. Der Mann erzählte ihm nichts, das er nicht bereits wusste. Überwiegend hörte Krüger ihm nur zu, wenn er über seine Arbeit laberte. Worüber sollte er sonst reden? Derzeit forschte er an einem Medikament gegen Demenz und wähnte sich vor einem Durchbruch. Für ihn war das spannend und Krüger tat zumindest so, als wäre es interessant.

Der Doktor hatte vorgeschlagen, ihm einen Coach zur Seite zu stellen, um erste Schritte in der Öffentlichkeit zu wagen. „Manchmal muss man sich kopfüber ins Abenteuer stürzen“, lauteten Krügers Worte. „Packen wir den Stier bei den Hörnern? Soll ich jemanden für Sie engagieren?“

Sharif hatte den Kopf geschüttelt. Er brauchte doch kein Kindermädchen! „Das schaffe ich allein“, hatte er behauptet.

Große Töne spucken, nichts dahinter, nannte seine Mutter solche Anwandlungen. Er zitterte nämlich wie Espenlaub, wenn er bloß daran dachte, sich allein in eine Disco, einen Club oder ähnliches zu begeben. Das meinte Krüger mit Abenteuer-Schrägstrich-soziale Kontakte knüpfen. Als ob man in solchen Etablissements Freunde finden würde.

Sich einem Sportverein oder irgendeiner Interessengemeinschaft anzuschließen, hatte Sharif von vornherein ausgeschlossen. Die Erinnerung an den Sportunterricht in der Schule, verursachte ihm immer noch Magenschmerzen. In den ersten Jahren hatten ihn seine Klassenkameraden, wenn er eine Übung nicht hinbekam, ausgelacht. Später blieb das zwar aus, aber die mitleidigen Blicke der anderen Kinder taten genauso weh. Was Interessengemeinschaften betraf: Da käme höchstens ein Schachclub infrage. Aus eigener Erfahrung wusste er jedoch, dass Schachspieler einzig aufs Spiel fixiert waren. Er konnte es sich also schenken, solchem Verein beizutreten, denn im Internet fand er genug Gleichgesinnte.

Nachdem er seinen Wagen in der Tiefgarage abgestellt hatte, begab er sich zur nächsten Apotheke, um Krügers Rezept einzulösen. Danach stockte er seine Lebensmittelvorräte in dem danebenliegenden Supermarkt auf, bevor er nach Hause ging.

Seine Eigentumswohnung lag im Erdgeschoss eines Neubaus. Drei große Zimmer mit Terrasse und Garagenstellplatz in Winterhude. Er liebte diesen Stadtteil, weshalb er den horrenden Kaufpreis akzeptiert hatte. Es gab vielseitige Nahversorgung und in den Straßen pulsierte das Leben. Inmitten des bunten Treibens zu wohnen, vermittelte ihm das Gefühl, weniger einsam zu sein. Manchmal war das Gegenteil der Fall, aber nur in schlechten Phasen.

Aufgewachsen war Sharif in Kayhude, einem Dorf einige Kilometer nördlich von Hamburg. Seine Eltern lebten noch dort. Sich dort eine Wohnung zu suchen, war nie eine Option gewesen. Zum einen wegen des langen Arbeitsweges, der zudem hohe Staugefahren barg, zum anderen wollte er der dörflichen Enge entfliehen. Zu vieles erinnerte ihn an schmachvolle Situationen aus seiner Kindheit und Jugend.

Zum Abendessen stand heute Chinesisch auf dem Plan. Kochen entwickelte sich zu seiner dritten Leidenschaft. Anfangs aus der Not geboren, weil er Fertiggerichte satthatte, verbrachte er mittlerweile gern Zeit am Herd. Es war ein bisschen wie bei seiner Forschung: Dinge zusammenschütten und gucken, wie sie miteinander reagierten. Kochbücher bewahrten ihn davor, toxische Kombinationen auszuprobieren. Also, nicht toxisch in dem Sinne von giftig, sondern in dem von Beleidigung für den Gaumen.

Während er den Garvorgang des Reises bewachte, dachte er über das Gespräch mit Krüger nach. Er befürchtete, dass der Doktor, wenn er nicht aktiv wurde, Maßnahmen ergriff; Maßnahmen in der Form, ihm einen Babysitter zu beschaffen. Ihm war nämlich wohl aufgefallen, dass Krüger zunehmend die Geduld mit ihm verlor. Sehr unprofessionell. Andererseits brachte er dafür Verständnis auf. Er ging sich ja selbst mit seiner zögerlichen Art auf die Nerven.

Als er etwas später vor seinem Teller Chop Suey saß, beschloss er, am Wochenende ins No. Six zu gehen. Von dem Club schwärmten die Leute in einschlägigen Magazinen in den höchsten Tönen. Zweimal hatte er sich dem Etablissement bereits bis auf wenige Meter genähert und war wieder umgekehrt. Diesmal würde er ein bisschen vorglühen, bevor er loszog. Vielleicht fand er alkoholisiert den Mut, einen Fuß in den Laden zu setzen. Ihm war bewusst, dass er beim nächsten Termin mit Krüger besser Ergebnisse präsentierte, um drohendes Unheil abzuwenden.


Am folgenden Morgen widmete er sich auf der Arbeit seiner privaten Forschung. Da sein aktuelles Projekt 48 Stunden ruhen musste, bevor er weitere Schritte einleitete, fand er das völlig legitim.

Aus diversen Antidepressiva stellte Sharif eine Mischung her, von der er sich erhoffte, dass sie gegen Scheu wirkte. Mittags nutzte er die Gelegenheit, als sämtliche Arbeitsplätze wegen der Pause verwaist waren, einem der Versuchskaninchen eine geringe Dosis zu verabreichen. Nach vollbrachter Tat richtete er eine der Kameras auf den Käfig und programmierte sie so, dass die Bilder nur auf seinen Monitor übertragen wurden.

Anschließend kehrte er in sein Büro zurück, setzte sich an seinen Schreibtisch und verfolgte, wobei er seine mitgebrachte Käsestulle verspeiste, das Geschehen. Einige Zeit passierte gar nichts. Das Kaninchen mümmelte ein bisschen Heu und hockte ansonsten reglos da. Dann – es waren neun Minuten vergangen – begann es, interessiert an dem Gitter, das es vom Nachbarkarnickel trennte, zu schnuppern. Ob diese Reaktion vom Medikament hervorgerufen oder durch etwas anderes verursacht wurde, war unklar. Vielleicht spürte das Kaninchen bloß ein dringendes Bedürfnis nach Kontakt. Dennoch wertete Sharif den Testlauf als Erfolg, denn zumindest zeigte der Nager keinerlei Vergiftungserscheinungen.

Offiziell wurden im Unternehmen keine Tierversuche durchgeführt. Um den Schein zu wahren, suchte man regelmäßig Testpersonen, denen man aber lediglich Placebos verabreichte. Mal im Ernst: Würde bei solchen Versuchen jemand sterben, könnte sein Arbeitgeber den Laden dichtmachen.

Natürlich taten Sharif die Versuchskaninchen und Laborratten leid. Bei anderen Produkten, beispielsweise Cremes und Seifen, die maximal Hautirritationen hervorriefen, war er auch dagegen, damit Tiere zu malträtieren. Medikamente mussten jedoch an lebenden Probanden ausprobiert werden.

Bis zum Feierabend tat sich im Käfig nichts Neues. Das Kaninchen wechselte ab und zu die Seite, um mal den linken, mal den rechten Nachbarn näher zu beäugen. Auffällig war nur das mangelnde Interesse an dem Futter, das ein Kollegin zwischendurch verteilte.

2.

„Und? Wie läuft deine Therapie?“, fragte Amany, als sie am Samstagnachmittag in trauter Runde an der Kaffeetafel ihrer Eltern saßen.

Sharif zuckte mit den Achseln. „Ich rede, der Doktor hört zu.“

„Sollte er dich nicht analysieren?“, erkundigte sich Yanara.

„Das haben wir schon hinter uns.“ Doktor Krüger hatte weder in seiner Kindheit noch Jugend Anhaltspunkte für ein Trauma gefunden, mit Ausnahme des Mobbings in der Schule.

„Hauptsache, dir bringt der Kram was“, brummelte Essam.

„Auf jeden Fall ein leeres Bankkonto.“ Sharif seufzte übertrieben.

Im Kreis seiner Familie konnte er sich frei entfalten. Seine Scheu gegenüber Fremden schien daraus zu resultieren, dass er Angst davor hatte, abgelehnt zu werden.

„Warum stellst du keinen Antrag auf Kostenübernahme bei deiner Krankenkasse?“, wollte sein Vater wissen.

„Dafür müsste ich krank sein.“

„Die zahlen doch nur, wenn man schon im Arsch ist“, meinte Essam.

Essam! Böses Wort!“, schimpfte ihre Mutter.

Sharifs Bruder grinste bloß.

„Es kann sein, dass ich mich bald verlobe“, verkündete Yanara, womit das Thema glücklicherweise vom Tisch war.

Ihre Mutter freute sich stets, wenn eines ihrer Kinder sowas erzählte. Essam war schon zweimal verlobt gewesen, Yanara einmal und Amany sogar verheiratet. Bisher hatte keine dieser Verbindungen gehalten, dennoch glaubte sie immer, dass es diesmal gutgehen würde.

Auf dem Heimweg breitete sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend aus. Bisher hatte er seinen Plan verdrängt, doch nun wurde dieser ihm wieder bewusst. Am liebsten würde er sein Vorhaben aufs folgende Wochenende vertagen oder auf eines nach seinem Tod, aber das war keine Option. Dienstag stand der nächste Termin mit Doktor Krüger an. Bis dahin musste irgendwas geschehen.

Seinen Recherchen zufolge, öffnete das No. Six um neun. Als er zu Hause eintraf, war es erst halb sieben. Was sollte er bloß mit der ganzen Zeit anfangen?

Eine Stunde verbrachte er damit, Runden durch seine Wohnung zu drehen, eine weitere damit, in seinem Kleiderschrank nach einem passenden Outfit zu fahnden. Viermal zog er sich um, bis er einigermaßen zufrieden war. Schwarze Jeans, dazu ein graues T-Shirt und schwarze Sneakers. Nicht spektakulär, aber er wollte ja auch gar nicht auffallen.

Im Bad kümmerte er sich um seine Frisur. Viel gab es daran nicht zu tun. Seine dicken, schwarzen Haare unterlagen der Schwerkraft, egal, was er damit anfing. Anschließend mixte er sich einen Wodka-Orange, mit dem er sich im Wohnzimmer auf der Couch niederließ. Wenig erfolgreich versuchte er, mögliche Horrorszenarien aus seinem Kopf zu verbannen. Was war schlimmer: Gar nicht erst in den Club gelassen zu werden (weil seine Kleidung/sein Gesicht/was auch immer nicht akzeptabel war) oder rein zu dürfen und von allen angegafft zu werden? Wenn er bereits an der Tür scheiterte, würde Doktor Krüger ihm bestimmt einen Babysitter zur Seite stellen. Im anderen Fall hätte er den nächsten Therapietermin bitter nötig.

Der Inhalt seines Glases verflüchtigte sich im Nu. Er besorgte Nachschub und kehrte auf die Couch zurück. Inzwischen war es fast neun. Rasch lenzte er seinen Drink, rülpste und zückte sein Handy, um ein Taxi zu rufen. Nachdem das erledigt war, guckte er einige Momente ins Leere. Der Alkohol hatte ihn entspannt … vielleicht ein bisschen zu sehr. Plötzlich fühlte er sich total müde. Das war doch nicht gut, wenn man weggehen wollte, nicht wahr? Er sollte sein Vorhaben verschieben und lieber ins Bett gehen. Kommt nicht infrage!, pflaumte ihn sein Verstand an. Du ziehst das jetzt durch!

Schicksalergeben begab er sich in den Flur, stopfte einige Geldscheine, sein Schlüsselbund und ein Paket Papiertaschentücher (ohne die er nie das Haus verließ) in seine Hosentasche. Nach einem letzten Blick in den Garderobenspiegel begab er sich vor die Tür, wo bereits das Taxi wartete.

Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten. Schon hielt der Wagen, obwohl Sharif noch gar nicht bereit war, sich seinen Ängsten zu stellen. Er entlohnte den Taxifahrer, stieg aus und atmete tief durch, wobei er drei Leute, die vor dem Club standen, betrachtete. Kleidungstechnisch schien er nicht völlig danebengegriffen zu haben, denn die Männer trugen ebenfalls causal Look, nur wesentlich figurbetonter.

Abermals versuchte er, seinen ängstlich rasenden Puls mittels Atemtechnik zu beruhigen. Da es dumm ausgesehen hätte, allzu lange wie angewurzelt am Bordstein rumzustehen, näherte er sich dem Eingang zur Hölle. Als die Tür aufsprang und jemand nach draußen trat, warf er einen Blick ins Innere. Anscheinend gab es keinen Türsteher. Somit war Horrorszenario eins schon mal ausgeschlossen.

Todesmutig folgte er den Typen, die vor dem Club rumgelungert hatten, und nun in dessen Eingeweide zurückkehrten. Die laute Musik erschlug ihn förmlich. Lichtblitze blendeten ihn. Er hielt sich in der Nähe der Wand, als er auf die Bar an der rechten Seite des Raumes zusteuerte; dabei setzte er eine coole Miene auf, wie es sich für einen Clubgänger gehörte. Zumindest nahm er an, dass es so üblich war, denn die anderen guckten genauso.

Ein Hocker zwischen einem knutschenden Pärchen und einem finster dreinblickenden Mann war frei. Sharif versuchte, sich möglichst lässig darauf niederzulassen. Fast wäre die Aktion misslungen, weil er von dem glatten Polster rutschte. Im letzten Moment konnte er sich, indem er sich am Tresen festhielt, vor einem Absturz bewahren.

Seine Handflächen waren schweißnass. Verstohlen wischte er sie an seiner Jeans ab und hielt nach dem Barkeeper Ausschau. Der befand sich am anderen Ende der Theke. Durch Winken oder sonst irgendwie auf sich aufmerksam zu machen, traute er sich nicht.

„Hi, Kleiner. Ich geb dir einen Drink aus“, quatschte ihn unvermittelt - erschrocken zuckte er zusammen - jemand von der Seite an.

Es handelte sich um einen Riesen mit Vollbart und haariger Brust. Selbige starrte er an, als er den Kopf schüttelte.

Achselzuckend trollte sich der Typ. Einerseits erleichtert, den Angreifer so schnell losgeworden zu sein, andererseits enttäuscht, dass jener so schnell aufgegeben hatte, wandte er sich wieder seinem vordringlichen Problem zu: Etwas zu trinken zu beschaffen. Seine Kehle war wie ausgedörrt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schlenderte der Barkeeper in seine Richtung, sah ihn an und hob fragend die Augenbrauen.

Sharif lehnte sich über den Tresen. „Kann ich … kann ich bitte einen Wodka-Orange haben?“

Der Typ grinste, als hätte er etwas Lustiges gesagt. Verunsichert kaute Sharif auf seiner Unterlippe. Was war falsch an seiner Art zu bestellen?

Zwei Bier!“, brüllte jemand rechts von ihm.

Aha! Man beschränkte sich hier aufs Wesentliche. Damit konnte er als Wissenschaftler sehr gut umgehen.

„Elf Euro.“ Der Barkeeper stellte den Drink vor ihm ab.

Gab man hier Trinkgeld? Stumm legte Sharif einen Zwanziger neben das Glas und erhielt neun Euro zurück. Der Typ wirkte nicht beleidigt oder so, demnach schien es in Ordnung zu sein.

Einer Eingebung zufolge – wer wusste schon, wann, und ob überhaupt, der Mann ihn das nächste Mal erhörte? – bat er: „Kann ich … kann ich bitte noch einen haben?“

Mist! Er hatte schon wieder gegen die Bestell-Regel verstoßen.

„Gleich“, vertröstete ihn der Barkeeper, holte zwei Bier hervor und reichte sie dem Typen, der danach verlangt hatte.

Im Anschluss erhielt er seinen zweiten Drink. Leider hatte er nicht darüber nachgedacht, wie dämlich es aussah, mit zwei Gläsern in den Händen rumzusitzen. Stehenlassen mochte er keines von beiden, denn man las ja ständig von Leuten, denen heimlich Drogen verabreicht wurden. Sharif wollte nicht in einer dunklen Seitengasse, missbraucht von diversen Kerlen und vielleicht sogar Hunden, wieder zu Bewusstsein kommen.

Die beste Lösung war, einen Glasinhalt schnell runterzukippen, was er auch unverzüglich tat. Mit dem anderen Glas in der Hand wandte er sich um und stützte seinen Ellbogen auf dem Tresen ab, um das Gleichgewicht zu halten. Der ungewohnte Alkohol verursachte ihm Schwindel.

Unter gesenkten Wimpern – Blickkontakt vermied er, um niemanden zu provozieren – guckte er sich um. Etliche Gäste standen am Rand der Tanzfläche, auf der sich teilweise halbnackte Typen verausgabten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein weiterer Tresen, an dem alle Hocker besetzt waren. Ein steter Strom bewegte sich an diesen Leuten vorbei in Richtung eines Torbogens, hinter dem Sharif die Toiletten vermutete.

Kaum war der Gedanken zu Ende gedacht, spürte er ein dringendes Bedürfnis. Dabei war er vor seinem Aufbruch mindestens fünfmal auf Klo gewesen, um genau das zu vermeiden. Behutsam, weil seine Sinne ziemlich benebelt waren, rutschte er vom Hocker und begann, sich zur anderen Seite vorzuarbeiten.

Auf der Hälfte der Strecke rempelte ihn jemand an, so dass er ein wenig Wodka-Orange verschüttete. Obwohl er keine Schuld trug, murmelte er: „Tschuldigung“, und setzte seinen Weg fort.

Hinter dem Torbogen erwartete ihn blaues Licht. Ein Paar lehnte an der Wand und knutschte. Aus einem Raum, an dem er vorbeikam, drangen Stöhnlaute. War das der berühmt-berüchtigte Darkroom?

Neugier überwog das Bedürfnis, seine Blase zu leeren. Er schaute sich nach allen Seiten um, bevor er zurückging und einen Blick riskierte. Tatsache! Diverse Männer vergnügten sich in der Räumlichkeit, die Sharif entfernt an einen Waschraum erinnerte. Alles war gefliest, allerdings in schwarz anstelle weiß. In der Mitte stand eine halbhohe Mauer. Fast jeder Wandplatz war mit Pärchen in verschiedenen Stadien sexueller Begegnungen belegt.

Sharif merkte, dass ihm Hitze in die Wangen stieg. Natürlich hatte er schon Pornos gesehen, doch live war das etwas ganz anderes. Außerdem sah nicht jedes Paar appetitlich aus. Ehrlich gesagt gab es nur eines, das seinem Ästhetikempfinden entsprach.

Zwei Typen, die sich an ihm vorbeidrängelten, veranlassten ihn, seinen Platz zu räumen und sein eigentliches Ziel anzusteuern. Es erwartete ihn eine unangenehme Überraschung: Zwei Klokabinen, beide besetzt und vier Urinale, von denen eines belegt war. Zu allem Überfluss war da noch sein Drink, der ihn behinderte.

Jemand betrat hinter ihm den Raum. „Du hast was verloren.“

Als er sich umdrehte, sah er sich dem attraktivsten Typen des Universums gegenüber. Groß, schlank, blond, blaue Augen, hohe Wangenknochen, ein hübscher Mund über einem energischen Kinn.

„Oder gehört dir das nicht?“ Der Mann wedelte mit einem Päckchen Taschentücher vor seinem Gesicht herum.

„Öhm … doch“, flüsterte er.

Der Typ lüpfte spöttisch eine Augenbraue, woraufhin er das Päckchen entgegennahm. Der Mann stellte sich an eines der Pissoirs und kehrte ihm den Rücken zu. Einen Moment starrte Sharif noch, ehe er sich dessen bewusst wurde. Rasch schaute er woanders hin und steckte die Taschentücher in seine Gesäßtasche.

„Kann ich mal vorbei?“, fragte der Typ, der bei seinem Eintreffen gepinkelt und sich inzwischen die Hände gewaschen hatte.

Er wich an die Wand zurück und setzte sein Glas an die Lippen, um es zu leeren. Zwar fühlte er sich ausreichend alkoholisiert, aber wegkippen wollte er es nicht. Gerade als er es auf dem Handtuchspender abstellte, schwang eine der Kabinentüren auf und ein Typ kam heraus. Sofort belegte er die Zelle mit Beschlag, auch wenn deren Zustand zu wünschen übrigließ.

Während er sich erleichterte, analysierte er seine Lage. Sein Alkoholpegel hatte die Marke Mut-antrinken überschritten und näherte sich dem Stadium Lallen-und-Rumtorkeln. Wenn er morgen nicht mit einem Filmriss und Kater aufwachen wollte, sollte er schleunigst nach Hause fahren. Im Prinzip hatte er sein Ziel doch schon erreicht. Er besaß genug Stoff, um Doktor Krüger davon zu überzeugen, dass er allein soziale Kontakte knüpfen konnte. Schließlich hatte er mit zwei Männern gesprochen – dreien, wenn man den Barkeeper dazuzählte.

Er verließ die Kabine, wusch sich die Hände und marschierte zurück in den Gastraum. Den Blick gesenkt schlängelte er sich durch die Menge zum Ausgang. Als die Tür hinter ihm zu fiel, polterte eine Last von seinen Schultern. Er hatte es lebend überstanden!

3.

„Glückwunsch!“ Doktor Krüger lächelte ihm zu. „Sie haben den ersten Schritt gewagt. Nun sollten Sie am Ball bleiben.“

Nochmal in den Club? Nur über seine Leiche! „Ich werde Ihren Rat beherzigen.“

„Wunderbar!“ Krüger rieb sich die Hände. „Ich bin schon gespannt darauf, was Sie mir dann berichten. Und nun erzählen Sie mal: Wie war es?“

„Eigentlich gar nicht so übel.“ Abgesehen von der beschissenen Toilette. „Moderate Preise, nette Leute, gute Musik.“

„Haben Sie jemanden angesprochen?“

Sharif nickte.

„Und? Wurden Sie akzeptiert?“

Erneut nickte er. Schließlich hatte der Barkeeper sowohl seine Bestellung ausgeführt, als auch sein Geld angenommen.

„Haben Sie auch getanzt?“

Sharif schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Tänzer.“

Krüger lachte. „Das kann ich verstehen. Meine Frau muss mich auch immer auf die Tanzfläche zwingen. Wenn ich erstmal dabei bin, geht es aber wunderbar.“

„Ich hab kein Taktgefühl. Es würde in einer Katastrophe enden.“

Der Doktor winkte ab. „Fühlen Sie sich nicht unter Druck gesetzt. Tun Sie nur, wonach Ihnen ist. Kommen Sie mit den Schlaftabletten zurecht?“

Er nickte. „Ich glaube, dass ich dadurch schneller zur Ruhe komme.“

„Sehr schön“, freute sich Krüger. „Wenn es Ihnen recht ist, können wir heute eher Schluss machen. Es ist ja soweit alles besprochen.“

„Gern.“

Als er sich hinters Lenkrad seines Wagens setzte, fragte er sich, warum er einen weiteren Termin mit dem Doktor vereinbart hatte. War er masochistisch veranlagt? Die Therapiestunden brachten ihm nichts, im Gegenteil: Inzwischen belasteten sie ihn sogar, weil er den Eindruck hatte, Krüger etwas beweisen zu müssen. Musste er sich einen zweiten Therapeuten suchen, um die Sache mit Doktor Krüger aufzuarbeiten? Eine ziemlich kranke Idee.

Leider hatte er die ganze Woche keine Gelegenheit, seine privaten Experimente fortzuführen. Nur ein paarmal beobachtete er das Kaninchen, dem er am vergangenen Freitag eine Dosis verabreicht hatte. Anscheinend war das Interesse an den Insassen der Nachbarkäfige erloschen. Jedenfalls sah er es nie an einem der beiden Gitter schnüffeln.

Am Freitag schmuggelte er einige Dosen seines Experimentierstoffes aus dem Labor. Das könnte ihn seinen Job kosten, wenn man ihn erwischte. Aus diesem Grund hatte er die Packung des Schlafmittels, das Krüger ihm verschrieben hatte, mitgenommen und verwahrte die Proben darin. Um die Glaubhaftigkeit der Tarnung zu erhöhen, hatte er das Medikament zu Pillen gedreht. Vielleicht war das ein wenig paranoid, aber er liebte seinen Arbeitsplatz und wollte diesen keinesfalls verlieren.

Daheim warf er die Schachtel in die Schublade, in der auch die echten Schlaftabletten lagerten. Der am folgenden Tag anstehende Clubbesuch – diesbezüglich konnte er Krüger nicht belügen, nur bei Kleinigkeiten - lag ihm schwer auf dem Magen, so dass er keinerlei Appetit verspürte. Mit einer Kanne Pfefferminztee verzog er sich auf die Couch und guckte fern.

Gegen elf raffte er sich auf, – vor der Glotze war er in eine Art Delirium verfallen – um sich bettfertig zu machen. Anschließend spülte er in der Küche mit einem Glas Wasser die übliche Schlaftablette runter. Kaum hatte er sie geschluckt, fiel ihm siedend heiß ein, dass sich die verkehrten Pillen in der Packung befanden. Schockstarr stand er da und überlegte, ob er ein Erbrechen erzwingen sollte. Andererseits lebte das Kaninchen noch. Tödlich dürfte das Medikament also nicht sein.

Dreißig Minuten tigerte er durch die Wohnung, wobei er regelmäßig einen Zwischenstopp vorm Garderobenspiegel einlegte und prüfend sein Gesicht betrachtete. Als keine Wirkung eintrat, atmete er auf. Zugleich war er ein bisschen enttäuscht, weil er einen positiven Effekt erhofft hatte.

Nachdem er die richtige Tablette eingenommen hatte, begab er sich ins Bett. Wie gewohnt las er noch ein wenig, bevor er das Licht ausknipste. Dann lag er da und starrte in die Dunkelheit. Sah so der Rest seines Lebens aus? Schreckliche Vorstellung, aber wie konnte er etwas daran ändern? Eine Partnervermittlung einschalten? Verklemmter Wissenschaftler, noch jungfräulich, sucht liebevollen Mann zwecks Ehe? Das klang selbst in seinen Ohren grausig.

Plötzlich ging ein Ruck durch seine Gliedmaßen. Es fühlte sich an, als ob jemand daran reißen würde. Sharif krümmte sich und versuchte, durch gleichmäßiges Atmen die Phantomschmerzen – um solche musste es sich handeln, denn es war ja niemand da, der an ihm ziehen konnte – zu vertreiben. Vergeblich, außerdem begann sein Kopf, wie verrückt zu pochen.

Nach einer Ewigkeit hörte die Qual endlich auf. Sharif wartete einige Momente, ob sich sein Nervensystem wirklich beruhigt hatte. Zumindest war das sein Plan, doch stattdessen stand sein Körper auf, bewegte sich in den Flur und stellte sich vor den Garderobenspiegel. Ein Fremder schaute ihm entgegen. Also, er war es schon, aber irgendwie auch nicht. Total abgefahren war, dass er nicht mehr in seinem Pyjama, sondern in anderen Klamotten steckte: Hautenge Jeans, ein figurbetontes T-Shirt und darüber eine Lederjacke. Zusammen mit der Frisur a la James Dean sah er aus wie ein Kleinstadtkrimineller. War das etwa Schminke in seinem Gesicht?

„Boah! So viel Schönheit muss unter die Leute. Alter, wo ist die nächste Disco?“, fragte sein Spiegelbild. „Ich will abhotten.“

Nein, nicht das Spiegelbild sagte das, sondern es kam aus seinem Mund, ohne dass er etwas dazu tat. War er schizophren geworden und traf gerade sein Alter Ego? Wenn ja, wirkte es verdammt real.

Sein Körper begab sich in die Küche. Sharif kam sich vor, als ob er sich selbst von oben beobachtete. Nacheinander öffnete er sämtliche Schranktüren, bis ihm eine Flasche Whisky in die Finger fiel. Er setzte sie an seine Lippen und kippte den Inhalt, ungefähr ein Wasserglas voll, in einem Zug runter.

„Puh!“ Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Nun geht’s mir schon besser. Also: Was ist mit Disco?“

Erwartete sein zweites Ich von ihm eine Antwort? Scheinbar, denn er klopfte sich gegen die Stirn.

„Ich … wir wollten gerade schlafen gehen“, erwiderte er.

„Nix schlafen! Party!“ Abermals schlug er sich gegen die Stirn.

Bestimmt träumte er. Sowas wie das hier passierte niemals in echt. In Träumen konnte man ja alles tun, ohne Konsequenzen zu befürchten, also erwiderte er: „Geh doch ins No. Six.“

Prompt zückte er sein Handy und rief ein Taxi. Börse und Schlüsselbund lagen auf der Garderobe. Beides steckte er ein, bevor er die Wohnung verließ.

Während er am Bordstein wartete, kam Herr Petermann aus dem 1. Stock mit Hund vorbei. Sein Nachbar beäugte ihn bloß, anstatt wie sonst zu grüßen und Kalinka, der Rehpinscher, der ihn sonst freudig beschnüffelte, hielt großen Abstand. Hatte er je einen derart wirklichkeitsgetreuen Traum erlebt? Er konnte sich nicht erinnern.

Wenig später stieg er am Ziel aus dem Taxi und ging mit federnden Schritten aufs No. Six zu. Zwei Typen, die davorstanden, starrten ihn an. Das war ihm ziemlich peinlich. Normalerweise hätte er den Kopf eingezogen. Stattdessen schenkte er den Typen ein breites Lächeln.

Im Club hielt er schnurstracks auf die Bar zu. Lässig auf die Theke gelehnt brüllte er in Richtung Barkeeper: „Whisky on the rocks!

Innerlich krümmte sich Sharif für sein Verhalten. Da half es auch nicht sich vorzusagen, dass er bloß träumte.

Der Barkeeper eilte herbei und bereitete den gewünschten Drink zu. Nach dem Erlebnis in seiner Küche wunderte es ihn nicht, dass der Whisky in einem Zug in seiner Kehle landete. Eigentlich müsste er mittlerweile angetrunken sein, doch er fühlte sich total nüchtern.

Er knallte das leere Glas auf den Tresen und stürzte sich ins Getümmel auf der Tanzfläche. Vor Scham lief er rot an, als er einige Tänzer rücksichtslos beiseitedrängte, um dann wie irrgeworden los zu zappeln. Gequält schloss er kurz die Augen. Hoffentlich wachte er bald auf.

Plötzlich griff ihm jemand an den Hintern. Er drehte sich um, um den unverschämten Grabscher zurechtzuweisen. Tja, denkste. Sein Alter Ego beugte sich vor und flötete dem Typen ins Ohr: „Wer A sagt, muss auch B – wie blasen – sagen.“

Aua! Abermals kniff Sharif die Augen zu. Wahrscheinlich würde er die ganze Woche mit roter Birne rumlaufen, wenn das so peinlich weiterging.

Der Grabscher grinste, schnappte sich seine Hand und zog ihn durchs Gedränge hinter sich her. Sie passierten den Torbogen, hinter dem der Gang zu den Toiletten und dem berüchtigten Raum lag. Jetzt sollte er echt aufwachen, weil er den Typen a) nicht sonderlich attraktiv fand und b) keinesfalls vor fremden Augen seinen Schwanz entblößte.

Sein Alter Ego sah das lockerer. Kaum hatten sie an einem freien Wandplatz Stellung bezogen, öffnete er seine Hose. Der Typ begab sich auf die Knie, befreite seinen Ständer – wo kam der denn bitteschön her? Sharif war null erregt – aus der Unterhose und nahm ihn in den Mund. Zu allem Überfluss vergrub er seine Finger im Schopf des Typen und fing an, dessen Mundhöhle zu vögeln.

Sharif fühlte sich schweißgebadet, – im übertragenen Sinne – als die Sache vorbei und er zurück im Gastraum war. Wieder gesellte er sich zu den Tanzenden.

Vier Whisky und zwei weitere Blowjobs später torkelte er vom Darkroom direkt zum Ausgang. Dass sein Körper überhaupt noch laufen konnte, erachtete er als Wunder; auch, dass ein Taxi vor der Tür stand.

„Nch Hse“, nuschelte er, als er sich auf die Rückbank plumpsen ließ.

„Könnten Sie bitte deutlicher sprechen?“, entgegnete der Fahrer.

Seine Zunge verknotete sich fast, als er seine Adresse nannte. Der Wagen fuhr los.

Entgegen seinem Alter Ego war Sharif weiterhin nüchtern. Zumindest glaubte er das. Jedenfalls nüchtern genug, um von seinem Verhalten mehr als peinlich berührt zu sein. Alle drei Bläser hatte er grob behandelt und hinterher nicht mal danke gesagt; ganz zu schweigen von den vielen Personen, denen er beim Tanzen auf die Zehen getreten hatte. Ein paar waren auch in Kontakt mit seinen Ellbogen gekommen. Im Ganzen konnte man den Clubbesuch als Katastrophe bezeichnen.

Das Taxi hielt am Bordstein. Er reichte dem Fahrer einen Zwanziger, stieg aus und taumelte auf die Haustür zu. Mit Mühe und Not bekam er den Schlüssel ins Schloss. An seiner Wohnungstür das Gleiche. Im Flur warf er das Schlüsselbund auf die Garderobe, beziehungsweise blieb es bei dem Versuch, denn es landete auf dem Boden. Anschließend übte er sich im Bad im Stehpinkeln, etwas, das er total verabscheute und sein Alter Ego nicht beherrschte. Die Klobrille bekam ziemlich viel ab. Ohne sich die Zähne zu putzen oder auszuziehen fiel er danach ins Bett.

4.

Helles Sonnenlicht weckte ihn irgendwann. Stöhnend wälzte sich Sharif auf die andere Seite. Im nächsten Moment war er hellwach, weil er sich an seinen Traum erinnerte. Ein prüfender Blick unter die Decke ließ ihn erleichtert seufzen. Er trug seinen Pyjama. Also war es wirklich nur ein Alptraum gewesen. Zudem spürte er keine Kopfschmerzen, ein weiteres Indiz. Hatte sein Test-Medikament die Fantasie hervorgerufen? Einige der verwendeten Substanzen besaßen halluzinogene Wirkung, daher war das gar nicht so abwegig.

Gähnend schälte er sich aus dem Bett und trottete ins Bad, wobei er versehentlich auf sein Schlüsselbund trat. Wieso befand es sich auf dem Boden? Er warf es auf die Garderobe und bemerkte das Fehlen seiner Brieftasche. Oder hatte er sie woanders deponiert? Eine Suchaktion ergab: Sie lag im Schlafzimmer auf dem Boden. Der Inhalt war stark dezimiert. Wie konnte das sein? War jemand eingebrochen, hatte sie geplündert, in sein Schlafzimmer geschmissen und war wieder abgezogen? Sehr unwahrscheinlich.

Während er duschte, grübelte er über das merkwürdige Geschehen. War er letzte Nacht schlafgewandelt und hatte dabei sein Geld zum Fenster rausgeworfen? Und auf die Klobrille gepinkelt? Die war nämlich voller Urinspitzer. Beides konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen; ebenfalls nicht, dass jemand bei ihm einbrach, um sein Klo zu beschmutzen. Eigentlich ließ das alles nur einen Schluss zu.

Als er mit seinem ersten Kaffee auf der Terrasse saß, hatte er eine Idee, wie er die unglaubliche Theorie bestätigen lassen konnte. Zwar fürchtete er sich davor, aber es ließ ihm keine Ruhe.

Er holte sein Handy, das ebenfalls auf dem Schlafzimmerboden rumlag, und scrollte durch die Liste seiner Anrufe. Zuletzt hatte er mit dem Gerät seine Mutter angerufen. Nun stand die Nummer des Taxiunternehmens an erster Stelle. Sharif tippte auf Wiederwahl, hielt sich das Smartphone ans Ohr, ließ es wieder sinken und beendete die Verbindung. Was sollte er für einen Grund für seinen Anruf nennen? Gedächtnisverlust? Nein, das war zu peinlich. Man würde denken, er hätte zu viel getrunken. Verlust seiner Börse? Ja, das klang besser.

Wenig später hatte er Gewissheit. Jemand, vermutlich er, hatte am letzten Abend mit seinem Handy ein Taxi bestellt. Und nein, seine Börse war nicht in dem Wagen gefunden worden.

Also hatten Teile seines Traumes wirklich stattgefunden. Vielleicht war er schlafwandelnd ins Taxi gestiegen, eine Weile durch die Gegend chauffiert und dann wieder nach Hause gebracht worden. Hör auf, dir solchen hanebüchenen Mist auszudenken!, schimpfte sein Verstand. Die Alternative, nämlich, dass sein Traum kein Traum gewesen war, hörte sich allerdings nicht besser an.

Sharif versuchte, weil er sonst Kopfschmerzen bekommen würde, an etwas anderes zu denken, beispielsweise, was er heute Abend kochen wollte. Außerdem musste er ins No. Six fahren, um für den nächsten Termin mit Doktor Krüger Gesprächsstoff zu sammeln. Obwohl … die vergangene Nacht bot eigentlich genug Material, also verbannte er diese Pflichtveranstaltung von seiner To-do-Liste.

Nach dem Frühstück machte er sich auf den Weg zum Einkaufen. Vor der Haustür traf er Herrn Petermann nebst Kalinka.

„Morgen, Herr Doktor“, grüßte sein Nachbar. „Sagen Sie, waren Sie das gestern Abend? Hab Sie gar nicht erkannt. Bin erst im Nachhinein darauf gekommen, dass Sie das sein könnten.“

Wenn er noch einen Beweis benötigt hätte, wäre dieser nun erbracht. „Das war ein entfernter Verwandter von mir.“

„Ah! Das erklärt alles.“ Herr Petermann beugte sich vor und flüsterte: „Ehrlich gesagt wirkte der Bursche auf mich ein wenig suspekt, wenn Sie wissen, was ich meine.“

Was genau mit suspekt gemeint war, würde er zwar gern wissen, hakte aber nicht nach. „Ich bin froh, dass ich ihn nur selten sehe.“

„Schönes Wochenende“, wünschte sein Nachbar und an Kalinka gewandt: „Komm, mein Schatz.“

Sharif guckte den beiden einen Moment hinterher, bevor er weiterging. James Bond, – mit diesem lächerlichen Namen hatte sich sein Alter Ego einem der Blowjob-Typen vorgestellt – existierte also wirklich. Handelte es sich um einen Geist, der für einige Stunden die Kontrolle über seinen Körper übernommen hatte? An Spuk glaubte er nicht, war jedoch bereit, alles in Erwägung zu ziehen, um das Phänomen zu erklären.

Im Supermarkt gerieten seine Überlegungen in den Hintergrund, da er sich auf den Einkauf konzentrierte. Preise zu vergleichen gehörte zu seinen Hobbys, weshalb er jeden Artikel genauer unter die Lupe nahm. Der Reis, beispielsweise, der auf den ersten Blick günstig erschien, erwies sich als Mogelpackung. Das Paket beinhaltete nämlich nur 180 Gramm für 1,99, das um zwanzig Cent teurere hingegen 200 Gramm. Somit sparte er zwei Cent, wenn er sich fürs zweite Produkt entschied.

In der Gemüseabteilung erinnerte er sich beim Anblick der haarigen Kiwis daran, dass er neue Rasierklingen benötigte. Er steuerte also als nächstes die Regale mit Pflegeprodukten an. Duschgel und Zahnpasta wanderten, neben den Klingen, in seinen Einkaufswagen.

Gerade wollte er weiterziehen, da fiel sein Blick auf ein Werbeplakat, das in der Mitte des Ganges stand. Ein lächelnder Mann mit einem Deodorant in der Hand war darauf zu sehen, mit der Überschrift: Bruce Hornsby benutzt Axe Sommerwind, für langanhaltende Frische.

Das war doch der Taschentuch-Typ! Bruce Hornsby? Sharif zückte sein Handy und recherchierte rasch, dass es sich um einen Entertainer handelte. Hornsbys Late-Night-Show lief zu einer Zeit, in der er unter der Woche bereits im Bett lag.

Ein Fernsehstar trieb sich im No. Six rum? Das hätte er niemals vermutet. Trotz der öffentlichen Toleranz-Predigten gab es doch nur wenige im Showbusiness, die sich outeten. Neulich hatte er über eine Schauspielerin gelesen, dass sie keine Rollenangebote mehr bekam, nachdem sie sich öffentlich zu ihrer Lebensgefährtin bekannt hatte. Das war aber in den USA passiert, wo man Heuchelei ja groß schrieb. In einem Land, in dem Vollpfosten als Präsidenten gewählt wurden, würde er sich auch nicht outen.

Hornsby beschäftigte ihn so sehr, dass er sich in der Konservenabteilung zweimal beim Preisvergleich verrechnete. Er erwog sogar, nachher ins No. Six zu gehen, um den Mann wiederzusehen. Dämliche Idee, denn er würde in Hornsbys Nähe garantiert kein Wort rausbekommen. Dann schick doch James Bond hin, flüsterte es in seinem Kopf.

 

Obwohl es natürlich nicht infrage kam, einen erneuten Selbstversuch zu wagen, ließ sich der Gedanke nicht mehr vertreiben. Abends, als er seinen selbstgemachten Glasnudelsalat verspeist hatte, fasste er einen Entschluss: Da er den ersten Test schadlos – abgesehen vom finanziellen Verlust, der ihn schon ziemlich schmerzte – überstanden hatte, war ein weiterer vertretbar.

Er setzte sich an sein Notebook, öffnete ein neues Dokument und tippte Datum sowie Uhrzeit in die Kopfzeile. Dann schrieb er: „Erster Testlauf mit dem Medikament ergab: Es spaltet einen Menschen in zwei Hälften, wobei die kontaktfreudigere dominiert. Die Wirkung hält geschätzt acht Stunden an. Ein weiterer Testlauf ist für heute, 22 Uhr, geplant. Sollte es dabei wider Erwarten zum Exitus kommen: Ich möchte eingeäschert und auf dem Waldfriedhof in Bergstedt beigesetzt werden. Eine entsprechende Sterbeversicherung existiert. Die Unterlagen darüber befinden sich im Sideboard, unten links. Mein Vermögen erhalten meine Geschwister zu je gleichen Teilen.“

Sharif überlegte, ob er auch seinen Eltern etwas zukommen lassen sollte. Ach, das würde seine Familie schon untereinander regeln. „Auf meiner Beerdigung bitte ich, dark side of the moon von Pink Floyd zu spielen. Und bitte keine weißen Lilien auf meinen Sarg. Ich mag Margeriten lieber.“

Nachdem er das Dokument auf dem Desktop unter dem Dateinamen letzter Wille gespeichert hatte, klappte er das Notebook zu und klebte einen Zettel mit dem Passwort auf den Deckel.

In der Küche legte er eine seiner Versuchspillen auf die Arbeitsfläche und stellte ein Glas Wasser daneben. Nun, wo es soweit war, bekam er Bauchweh, weil er sich an die erlittenen Schmerzen erinnerte. Würde es wieder so wehtun? Was bist du doch für ein Waschlappen!, höhnte sein Verstand. Im Namen der Wissenschaft haben Leute schon ganz andere Dinge auf sich genommen.

Er atmete tief durch, schluckte die Tablette, begab sich ins Schlafzimmer und setzte sich aufs Bett. Für den Fall, dass ihn erneut Krämpfe flachlegten, wollte er gewappnet sein.

Sharif beobachtete den Sekundenzeiger seines altmodischen Weckers. Träge flossen die Minuten dahin. Wie lange hatte es beim letzten Mal gedauert? Eine halbe Stunde in jedem Fall.

Als sechzig ereignislose Minuten vergangen waren, überfiel ihm der Verdacht, dass die Pille nur in Zusammenwirkung mit dem Schlafmittel funktionierte. Das musste er unbedingt dokumentieren.

Er ergänzte das Dokument, warf eine Schlaftablette ein und nahm wieder auf der Bettkante Platz. Nach sechs Minuten und drei Sekunden spürte er ein unangenehmes Kribbeln in seinen Fingern und Zehen. Es fühlte sich an, als ob sie eingeschlafen wären. Im nächsten Moment überrollte ihn eine Welle Übelkeit. Gequält schloss er die Augen und wartete darauf, von Schmerzen übermannt zu werden, doch sie blieben aus. Er merkte bloß, wie er die Kontrolle über seinen Körper verlor, so, als ob er abgenabelt wurde.

„Endlich“, brummelte sein Alter Ego, stand auf und marschierte in die Küche.

Da er keinen Alkohol-Nachschub besorgt hatte, war die Suche danach von keinem Erfolg gekrönt.

Scheiße! Wieso gibt’s hier keinen Stoff?“

„Du hast gestern genug gesoffen“, klärte er sein Alter Ego auf.

„Das entscheide ich, nicht du!“ Die Worte wurden durch einen Schlag gegen seine Stirn begleitet.

War James Bond ein Teil seines Wesens, das durch die Medikamente Macht über ihn bekam? Schrecklicher Gedanke, solche dunkle Seite zu besitzen. Sharif hatte sich immer als friedfertigen, zurückhaltenden Menschen eingeschätzt. Sein Alter Ego wirkte wie das krasse Gegenteil von ihm, vor allem in sexueller Hinsicht. Er könnte nie mit jemandem intim werden, den er nicht liebte. Aus diesem Grund war er ja noch Jungfrau.

Im Flur steckte er Schlüssel und Börse ein, verließ das Haus und stellte sich an den Bordstein. Ein Taxi fuhr vorbei. Das nächste hielt auf sein herrisches Winken hin. Dieses, in seinen Augen anmaßende, Verhalten, löste bei ihm Fremdschämen aus. Oder hieß es Eigenschämen, wenn man sowas über sich selbst dachte?

Er stieg ein und bellte: „Esplanade, No. Six!

Offenbar hatte James wegen des Alkoholmangels schlechte Laune. Vorm nächsten Experiment sollte er seinen Vorrat wohl besser aufstocken. Schließlich wollte er nicht riskieren, dass James randalierte. Etwas, das er seinem Alter Ego durchaus zutraute.

Der Taxifahrer brummelte: „Höflichkeit wird überbewertet“, und fuhr los.

Im No. Six steuerte er schnurstracks auf die Bar zu. „Ein doppelter Whisky on the rocks.”

Der Barkeeper, wohl beflügelt von dem fürstlichen Trinkgeld, das er am letzten Abend gegeben hatte, beeilte sich, ihm den Drink zu servieren.

Er warf einen Zwanziger auf den Tresen. „Stimmt so.“

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2022

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