Cover

Käufliche Liebe Vol. 27


Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos


Fotos: Cover: Shutterstock 1111899827, Einkaufswagen: Shutterstock 707831452


Cover-Design: Lars Rogmann


Korrektur: Aschure, dankeschön!


Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

https://www.sissikaipurgay.de/


Unmoralisches Angebot

Seit einigen Monaten arbeitet Benjamin bei der Firma Transflex, die Büromaterial- und Möbel anbietet, im Lager. Mit seinen Kollegen kommt er gut klar, mit dem Abteilungsleiter Schäfer einigermaßen. Als Schäfer ihm den Auftrag erteilt, mit altem Kram im Verwaltungstrakt hausieren zu gehen, kommt es zu einer schicksalhaften Begegnung mit dem Chef des Unternehmens.

1.

Benjamin guckte auf die große Bahnhofsuhr, die über dem Bürofenster des Lagerleiters hing. Seit er das letzte Mal hingeschaut hatte, waren erst zwei Minuten vergangen. Ihm kam’s viel länger vor. Noch eine halbe Stunde bis zum Feierabend.

„Ben! Komm mal rüber!“, brüllte Manfred Schäfer, sein Chef von der anderen Seite der Halle.

Er eilte zwischen den meterhohen Regalen hindurch. Obwohl es momentan wenig zu tun gab, hatte man zu springen, wenn der Chef es befahl. Das hatte er gleich in den ersten Tagen erfahren. Die schriftliche Ermahnung wegen Befehlsverweigerung steckte in seiner Personalakte. Natürlich stand da nicht dieses Wort, doch im Großen und Ganzen lief es darauf hinaus. Er hatte nämlich die Frechheit besessen, Schäfer zu sagen, dass das Lager nicht gefegt werden brauchte, weil es bereits sauber war.

„Räum das mal auf“, forderte sein Chef und zeigte auf ein Regal, in dem sich Krimskrams türmte.

Benjamin beäugte den Haufen. Nach seiner Meinung konnte der gesamte Kram weg. Eingestaubte Rechenmaschinen, dutzende Farbbänder für Schreibmaschinen, zerknickte Prospekthüllen.

„Mach die Rechenmaschinen sauber und verteil sie in den Büros. Den Rest kannst du den Damen auch anbieten.“ Schäfer zwinkerte ihm zu – hatte er einen Witz verpasst? – und marschierte davon.

Bestimmt wollte sein Vorgesetzter, dass er den Scheiß noch vor Feierabend erledigte. Was für ein Riesen-Bullshit! Den Mist wollte doch niemand mehr haben!

So schnell wie möglich befreite er die Rechenmaschinen vom gröbsten Schmutz, legte sie in einen Karton und stellte diesen auf einen Rollwagen. Mit dem Rest verfuhr er genauso. Anschließend schob er das Wägelchen in Richtung Aufzug.

Er begann seine Tour im Empfang. Helga und Marianne waren seine liebsten Kolleginnen. Beide lachten herzlich, als er ihnen den Gammel anpries.

„Versuch mal dein Glück in der Buchhaltung. Die alten Drachen, die da sitzen, können vielleicht was von deinen Schätzen gebrauchen“, schlug Helga vor.

Fehlanzeige. Hartmut, Evelin und Gundula reagierten sogar empört.

„Sehen wir aus wie Müllverwerter?“, echauffierte sich Evelin.

Ähnliches bekam er im Einkauf, im Vertrieb, der Personal- und Marketingabteilung zu hören. Als letztes steuerte er das Chefsekretariat an. Bestimmt würde sein Vorgesetzter stichprobenmäßig nachhaken, ob er wirklich sämtliche Abteilungen aufgesucht hatte. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als alle abzuklappern.

„Ist nicht dein Ernst, oder?“, fragte Carola, Assistentin des Chefs. Mit spitzen Fingern zog sie eine der Prospekthüllen aus dem Stapel. Jemand hatte etwas mit Kuli darauf gekritzelt. „Unglaublich! Die stammt noch aus meiner Ausbildung, ist also dreißig Jahre alt.“

„Möchtest du sie als Andenken behalten?“

Carola schüttelte den Kopf. „An die Zeit denke ich lieber nicht mehr.“ Sie legte die Hülle zurück auf seinen Wagen.

Plötzlich wurde die Tür, die zum Büro des Chefs führte, geöffnet. Ansgar Schöne erschien, betrachtete stirnrunzelnd erst den Rollwagen, dann ihn und wandte sich an Carola. „Haben Sie die Unterlagen für Chemtech fertig?“

„Natürlich.“ Sie reichte dem Chef eine Mappe, in der dieser zu blättern begann.

In den drei Monaten, die Benjamin bei Transflex arbeitete, hatte er den Mann erst zweimal gesehen. Einmal aus der Ferne, als er im Personalbüro seine Unterlagen abgegeben hatte und einmal, als er über den Parkplatz zur Bushaltestelle ging. Schöne strahlte Autorität aus. Der garantiert maßgeschneiderte graue Zweireiher unterstrich das noch. Die braunen Haare waren akkurat gescheitelt, der Blick der blauen Augen kühl, um nicht zu sagen frostig.

Davon mal abgesehen war Schöne sehr attraktiv. Das erkannte Benjamin neidlos an. Wenn man auf blasierte, alte Arschlöcher – der Typ war schätzungsweise dreißig bis vierzig - stand, war man mit Schöne gut bedient.

Er manövrierte den Wagen aus dem Raum und zum Fahrstuhl. Während ihn die Kabine ins Erdgeschoss transportierte, zückte er sein Handy. Halb fünf. Seit einer Viertelstunde hatte er Feierabend. Na super! Natürlich bekam er die Überminuten nicht bezahlt. Die waren mit seinem fürstlichen Gehalt abgeglichen.

Während der Probezeit, also noch drei Monate, erhielt er den gesetzlichen Mindestlohn. Danach stieg sein Gehalt auf zwölf Euro pro Stunde. Das würde ihm ein bisschen Luft verschaffen. Dank der Schulden, die er mit seiner Spielsucht angehäuft hatte, blieb ihm im Monat gerade genug, um Lebensmittel zu kaufen. Eigentlich bliebe ihm mehr, doch da war die Spielkonsole, die er unbedingt haben musste. Die hatte er per Ratenkauf erworben.

Im Lager schob er den Wagen zu dem Fenster, durch das Schäfer die Untergebenen beobachten konnte. Dahinter war es dunkel. Der alte Sack hatte sich bereits aus dem Staub gemacht.

Erbost überlegte Benjamin, den Rollwagen quer vor die Bürotür zu stellen. Das würde mächtig Ärger geben, lohnte daher nicht, also bugsierte er ihn in eine Ecke. Im Personalraum tauschte er die Sicherheitsschuhe gegen seine Sneakers, schnappte sich Jacke und Rucksack und verließ das Gebäude.

Die Bushaltestelle lag nur wenige Minuten zu Fuß entfernt. Bis er sie erreichte, war sein Zorn verraucht. Er hatte schon früh gelernt, dass man sich über Unabänderliches besser nicht aufregte. Davon bekam man bloß Magenschmerzen.

Benjamin, mit fünf Vollwaise geworden, als seine Eltern bei einem Autounfall tödlich verunglückten, war von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht worden. Eine Verkettung unglücklicher Umstände. Seine ersten Pflegeeltern hatten sich scheiden lassen. Keiner von beiden konnte oder wollte ihn weiter betreuen. In der nächsten kam er mit den anderen Kindern nicht zurecht und bei der folgenden nicht mit den Eltern. Darüber wurde er fünfzehn und damit reif für eine Jugendwohngruppe. Dort lernte er Leo kennen, mit dem er vor sechs Jahren einen WG gegründet hatte.

Nach seiner Meinung hatte er keine bleibenden Schäden davongetragen. Weder suchte er nach einer Vaterfigur, noch litt er unter Alpträumen oder mangelndem Selbstwertgefühl. Er fand sich total normal, abgesehen von der Sache mit dem Spielen. Zum Glück war diese Phase inzwischen vorbei. Ihm reichte es, mit seiner Playstation zu zocken.

Während der Fahrt las er stets, aktuell eine Science-Fiction. Ausnahmsweise hatte er mal einen Glücksgriff gelandet. Das Buch gefiel ihm sehr. Seine Lektüre kaufte er auf Flohmärkten oder bei anderen Gelegenheiten, bei denen er sich für wenig Geld mit viel Lesestoff versorgen konnte. Sein Vorrat bestand aus einem Sammelsurium unterschiedlichster Genres. Lediglich um Liebesromane machte er einen großen Bogen. Schmalz war echt nicht sein Ding.

Bevor er den Heimweg von der Zielhaltestelle antrat, besuchte er einen Supermarkt. Nudeln, Reis, Tomaten und Zwiebeln landeten in seinem Einkaufskorb. Leo und er ernährten sich überwiegend vegetarisch, allerdings nicht aus ideellen, sondern finanziellen Gründen. Genau wie er verdiente Leo wenig. Dafür hatte sein Mitbewohner einen Job, der ihm Spaß machte. Leo saß in der Funkzentrale eines Kurierunternehmens und ging mit Leib und Seele darin auf. Nachvollziehen konnte Benjamin das nicht. Ihm wäre das viel zu stressig.

Ihre Wohnung lag, zu Fuß fünf Minuten von Wandsbek Markt entfernt, in einem hässlichen Gelbklinkerbau; 3. Stock ohne Fahrstuhl. Zwei Zimmer, Küche, Bad und ein Balkon. Die Miete war, gemessen an dem allgemeinen Preisniveau, okay.

Im Briefkasten fand er wie üblich Werbung und ein Schreiben ihres Stromanbieters. Ersteres landete gleich in dem Karton, in dem die Hausbewohner Altpapier sammelten. Letzteres riss er auf, während er die Treppe hochstieg. Leider sehen wir uns gezwungen, den Preis pro Kilowattstunde den aktuellen Gegebenheiten anzupassen … blablabla. Was sollte dieses Gelaber? Warum schrieben die nicht einfach: Wir wollen mehr Geld?

Leo war noch nicht zuhause. Sein Mitbewohner hatte wochenweise wechselnd Spät- oder Frühdienst. Vor halb acht war also nicht mit ihm zu rechnen.

Bis Viertel vor sieben zockte Benjamin, dann machte er sich an die Essensvorbereitungen. Ihre Küche war so winzig, dass nur knapp ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen hineinpasste. Man lief ständig Gefahr, sich an etwas zu stoßen, wenn man in dem Raum herumwerkelte. Ihn störte das nicht. Wenigstens gab es ein Fenster, auf dessen Bank er seine Kräuter züchtete.

Um kurz nach halb acht vernahm er das Geräusch eines Schlüssels im Schloss der Wohnungstür. Die Nudeln waren inzwischen gar, genau wie die aus geschmorten Zwiebeln und Tomaten bestehende Sauce.

„Was riecht hier so lecker?“, rief Leo.

Als ob es nicht jeden zweiten Tag bei ihnen Nudeln mit Tomatensauce geben würde. „Ich hab ein halbes Schwein in den Ofen geschoben.“

Leo tauchte im Türrahmen auf. „Geil! Ich hab Mordshunger.“

Beim Essen unterhielt ihn sein Mitbewohner mit Neuigkeiten aus der Funkzentrale. Unter den Kunden befanden sich einige Psychos. Da war der, der immer den gleichen Kurier haben wollte, egal, wie lange es dauerte, bis die Ware befördert wurde. Oder der, der ständig versuchte den Preis zu drücken, weil die Sendung angeblich einige Minuten zu spät am Zielort eingetroffen war.

„Stell dir vor: Da ruft heute einer an und fragt, ob einer unserer Fahrradkuriere etwas dazuverdienen möchte. Ich frage den Kunden, was er genau damit meint. Da sagt der doch glatt, dass er die Jungs hammerscharf fände und zu gern mal so einen vernaschen würde.“ Leo schnaubte empört. „Wir sind doch kein Puff!“

„Hast du ihm einen Kollegen vermittelt?“

„Natürlich nicht! Der soll seine perversen Gelüste woanders befriedigen.“

„Vielleicht hätte er gut bezahlt.“

„Würdest du sowas machen? Dich für Geld vögeln lassen?“

Benjamin schüttelte den Kopf. „Es gibt Dinge, die selbst ich nicht tue.“

Eigentlich ganz schön scheinheilig. Schließlich ließ er sich in regelmäßigen Abständen von irgendwelchen Typen abschleppen, die ihn bloß bumsen wollten. Manchmal warfen sie ihn gleich danach raus, manchmal durfte er bis zum nächsten Morgen bleiben. Einziger Unterschied: Er suchte sich die Kerle aus … sofern er zu dem Zeitpunkt noch einigermaßen nüchtern war.

„Siehst du!“ Mit der Gabel stach Leo in seine Richtung. „Man muss sich seinen Stolz bewahren. Ich könnte nach sowas nicht mehr in den Spiegel gucken.“

Sein Mitbewohner war auch kein Heiliger, aber wesentlich wählerischer bei Sexpartnern. Dass Leo trotzdem häufig in die Scheiße griff, stand auf einem anderen Blatt.

Die Erkenntnis, gleich zu ticken, hatte damals ihre Freundschaft gefestigt. Benny und Leo gegen den Rest der Welt, nannten sie oft ihr Bündnis. Von Vorteil war, dass es zwischen ihnen keine körperliche Anziehung gab. Als Paar würden sie nämlich nicht taugen, davon war er überzeugt.

„Wie war’s heute bei dir?“, erkundigte sich Leo.

„Der olle Schäfer hat mich kurz vor Feierabend mit Schrott durchs Gebäude geschickt.“

Schrott?

„Na, halt so’n Kram, den niemand mehr braucht. Antike Rechenmaschinen und so.“

„Und wozu solltest du das durchs Haus schippern? Brauchte das Zeug Auslauf?“

„Der hatte wohl gehofft, dass ich den Kram irgendwelchen Leuten unterjubele, damit er es nicht auf den Recyclinghof schaffen muss.“

Leo schüttelte den Kopf. „Idioten gibt’s.“

„Das kannst du wohl sagen. Am schlimmsten war’s im Chefbüro. Der hat mich angeguckt, als würde ich versuchen, ihm Drogen anzudrehen.“

„Beim Chef warst du auch?“, staunte Leo.

„Nö. Der kam nur gerade rein, als ich seiner Sekretärin den Scheiß angeboten habe.“

Leo grinste breit. „Vielleicht hast du den Grundstein für deine Karriere gelegt, weil ihm dein aufopferungsvoller Einsatz gefällt.“

Er zeigte Leo einen Vogel.

2.

Als Benjamin am nächsten Morgen das Lager betrat, traf er auf Schäfer, der stirnrunzelnd den beladenen Rollwagen betrachtete.

„Moin“, grüßte er.

„Niemand wollte etwas davon?“, fragte sein Chef mit deutlichem Unglauben.

„Ich hab alle gefragt.“

„Auch die Damen und Herren in der Buchhaltung?“

War ja klar, dass Schäfer das anzweifelte. „Natürlich. Ich war auch im Chefsekretariat.“

„So’n Mist. Dann pack den Kram in den Caddy. Ich bringe den nachher weg.“

Fahrten zum Recyclinghof übernahm Schäfer stets selbst. Obwohl der Platz in der Nähe lag, dauerten solche Ausflüge mindestens zwei Stunden. Benjamin nahm an, dass Schäfer die Gelegenheit nutzte, um irgendwo ein Käffchen zu trinken oder was Privates zu erledigen. Vielleicht ein Schäferstündchen mit der holden Gattin?

„Und dann hilf Omar und Jamal mit der Lieferung, die eben gekommen ist.“ Sein Chef marschierte davon.

Seine Kollegen stammten aus Anatolien beziehungsweise Serbien und arbeiteten seit über einem Jahrzehnt in dem Laden. Beide besaßen das Privileg, schon um sechs anfangen zu dürfen und entsprechend um halb drei zu gehen. Schäfer kam immer erst um halb acht. Somit hatten die zwei einige Zeit zur Verfügung, um sich zu entspannen, bevor die Maloche losging. Das war zumindest Benjamins Eindruck. Er hätte keine Lust, derart früh im Lager aufzuschlagen, obwohl er dadurch eher Schäfers Klauen entkommen würde. Es stand eh nicht zur Debatte. Einer der drei Mitarbeiter musste sowieso bis vier bleiben.

Er schob den Rollwagen zum Caddy und lud den Müll in den Kofferraum, bevor er sich seinen Kollegen anschloss.

Omar, gerade dabei, mit dem Hubwagen eine Palette Papier weg zu transportieren, winkte ihm zu. „Hi Benny!“

Benjamin grüßte zurück und wandte sich an Jamal: „Was darf ich tun?“

Sein Kollege drückte ihm einen Stapel Kommissionsaufträge in die Hand. „Die Sachen für uns kannste gleich im Haus verteilen.“

Na, super! Die Leute würden sich bestimmt ein Loch in den Bauch freuen, wenn er schon wieder aufkreuzte. „Hast du nicht Lust, eine Runde durch die Stockwerke zu drehen?“, versuchte er sein Glück.

Jamal schüttelte den Kopf. „Nö. Da ist es mir zu stickig.“

Was genau damit gemeint war, entzog sich seiner Kenntnis. Er wollte es auch nicht ergründen, frei nach dem Motto: Jedem sein Problem, mir bitte keines.

Er begann damit, die Aufträge für Kunden zu kommissionieren. Als letztes packte er die Artikel, die von den Büroangestellten geordert worden waren, zusammen.

Gerade wollte er sie auf einen Rollwagen stapeln, da tauchte Schäfer auf, Gewitterwolken über der Stirn. „Der Chef fragt nach den Ordnern für seine Assistentin.“

„Die bringe ich gleich hoch.“

„Zu spät. Er ist auf dem Weg hierher.“ Schäfer stemmte beide Hände in die Seiten. „Das Material für Herrn Schöne geht immer vor. Schreib dir das hinter die Ohren!“

„Ja-ja“, brummelte Benjamin.

Schäfer schnaubte, drehte sich um und verschwand zwischen den Regalen.

„Saftarsch“, murmelte Benjamin, schnappte sich einen Karton Ordner und knallte ihn auf den Rollwagen. Mit dem Rest verfuhr er genauso rabiat. Selbst jemand, dem vieles am Arsch vorbeiging, brauchte mal ein Ventil.

Schritte, die sich näherten, ließen ihn innehalten. Im Lager trugen alle Schuhe mit Gummisohlen, deshalb war der Klang von harten Sohlen befremdlich. Schöne bog um die Ecke der Regalreihe und steuerte auf ihn zu. Der grimmigen Miene nach zu urteilen, erwartete ihn ein zweiter Anschiss.

Schöne blieb vor ihm stehen. „Meine Assistentin wartet dringend auf die bestellten Ordner.“

„Ich mache mich sofort auf den Weg. Der Wagen ist schon halb beladen.“

Schöne musterte erst den Rollwagen, dann ihn, und das ausführlich. Je länger diese Beschau andauerte, desto mehr kam sich Benjamin vor wie ein Stück Vieh.

„Geben Sie mir vier Ordner. Das dürfte erstmal reichen“, beendete der Chef schließlich das Schweigen.

Das Wort bitte kam in Schönes Wortschatz offenbar nicht vor. Er öffnete einen Karton, holte das Gewünschte heraus und reichte es Schöne. „Ich komme in wenigen Minuten mit dem Rest hinterher.“

Schöne winkte ab. „Das hat Zeit. Meine Assistentin ist ja erstmal beschäftigt.“ Sprach’s, klemmte sich die Aktenordner unter den Arm, machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihn stehen.

Irritiert guckte er Schöne hinterher. Was zur Hölle war das eben? Hatte Schöne ihn tatsächlich abgecheckt? Bestimmt nur Einbildung. Und wieso hatte es keinen Anschiss gegeben? Steckte hinter der coolen Fassade etwa ein Mensch?

Gemächlich packte er den Rest Büromaterial aufs Wägelchen, mit dem er zum Fahrstuhl zuckelte. Schäfers scharfer Blick folgte ihm. Der Typ trug seinen Namen zurecht. Ständig wachte Schäfer über die Herde – na ja, abgesehen von den frühen Morgenstunden.

Trotz Schönes Aussage, steuerte er zuerst das Chefsekretariat an. Carolas Schreibtisch war verwaist. Wahrscheinlich hatte sie sich in die Mittagspause begeben. Er stapelte ihre Artikel auf einen Stuhl und setzte seine Runde durchs Haus fort.



Zwei Tage später empfing ihn im Lager Musik. Erstaunt begab er sich auf die Suche nach der Lärmquelle. Er fand seine Kollegen in der Ecke, in der die beiden gern ein Päuschen einlegten. Der Platz war weder von Schäfers Büro noch vom Aufzug her einsehbar. Die Musik stammte aus einem Radio. Jamal lehnte, eine Zeitung in der Hand, an einer Regalstrebe. Omar saß auf einem Palettenstapel.

„Hab ich was verpasst? Hat Schäfer Urlaub?“, erkundigte sich Benjamin.

„Chef ist krank“, verkündete Jamal mit unverhohlener Freude.

„Der Arme“, heuchelte Benjamin Mitleid. „Können wir bei der lauten Mucke sein Telefon hören?“

Omar schüttelte den Kopf. „Ruft doch eh niemand an.“

Krasse Einstellung. Falls Schöne anrief, dürfte es Ärger geben, wenn keiner ranging. „Was gibt’s für mich zu tun?“

„Das übliche.“ Mit dem Kinn wies Omar auf einen Stapel Kommissionsaufträge, die neben ihm auf der Palette lagen.

Er schnappte sich die Papiere und begann, die Aufträge zusammenzustellen. Ohne Schäfer war die Stimmung wunderbar entspannt. Benjamin ertappte sich sogar dabei, zu der Radiomusik zu summen, obwohl sie gar nicht seinem Geschmack entsprach.

Die Frühstückspause fiel diesmal wesentlich länger aus als sonst. Seine Kollegen waren nicht sonderlich gesprächig, was ihm ausnehmend gut gefiel. Laberköpfe nervten ihn total.

Gen Mittag tauchte unversehens Schöne neben ihm auf. Weil Benjamin den Chef nicht kommen hören hatte, erschrak er sich zu Tode. Eine Hand auf sein wild schlagendes Herz gepresst wandte er sich Schöne zu und grüßte: „Guten Tag.“

„Wieso geht niemand ans Telefon?“, wollte Schöne, heute in einen hellbraunen Anzug gekleidet, wissen.

„Herr Schäfer ist krank. Wir haben das Läuten bestimmt überhört.“

„Kommen Sie in zehn Minuten in mein Büro.“ Schöne drehte sich um und marschierte davon.

Hatte sein Herz eben noch wie blöde geklopft, blieb es nun fast stehen. Bekam er nun seine Kündigung? Was für eine Scheiße! Und wieso er? Jamal und Omar hatten das Telefon doch auch nicht gehört! Das war voll unfair!

Innerlich redete er sich immer mehr in Rage. Entsprechend war er auf Krawall gebürstet, als er acht Minuten später die Aufzugkabine betrat. Am liebsten würde er Schöne seine Kündigung auf den Tisch knallen. Das würde dem Arschloch den Wind aus den Segeln nehmen.

Carolas Platz war leer. Wohl wieder wegen der Mittagspause. Er klopfte an Schönes Bürotür. Weil er so zornig war, fiel das Klopfen ziemlich laut aus.

„Herein!“, vernahm er Schönes Stimme.

Benjamin atmete einmal tief durch, bevor er die Tür aufriss und in den Raum trat. Natürlich gab es darin einen riesigen Schreibtisch und eine Fensterfront, die eine ganze Seite einnahm. So musste Chefbüros aussehen. Das wusste man ja aus dem Fernsehen.

„Setzen Sie sich“, forderte Schöne ihn auf.

„Ich stehe lieber“, gab er kühl zurück, stolz, dass er äußerlich gelassen blieb.

„Wie viel zahle ich Ihnen?“

Verwirrt runzelte er die Stirn. Wusste der Typ nicht mal, was seine Angestellten verdienten? „Äh … Mindestlohn.“

„Ist das wenig?“

„Das sagt ja wohl schon die Bezeichnung. Das Gegenteil ist Höchstlohn.“ Entdeckte er da die Andeutung eines Lächelns?

„Ich habe einen lukrativen Vorschlag für Sie.“

Was sollte das werden? Wollte Schöne ihn befördern statt rauswerfen?

Setzen Sie sich!“, donnerte Schöne aus heiterem Himmel, woraufhin er so verdattert war, dass er auf dem Stuhl vorm Schreibtisch Platz nahm. „Schon besser. Also …“ Schöne lehnte sich zurück, die Fingerspitzen aneinandergelegt. „Ich zahle Ihnen 200 Euro für jeden Besuch in meiner Wohnung.“

Hatte er sich verhört? „Bitte?

„Sie wären zuständig für meine Entspannung. Natürlich darf davon kein Wort nach außen dringen.“

Ent-span-nung? Meinte Schöne etwa …? „Reden Sie über Sex?“

Sein Gegenüber verdrehte die Augen. „Das hab ich doch klar zum Ausdruck gebracht.“

In Rhetorik sollte Schöne echt Nachhilfe nehmen. „Was muss ich genau für die 200 tun?“

„Sie stehen mir zwei Stunden zur Verfügung.“

Diskutierte er hier wirklich mit Schöne darüber, ob er sich prostituieren wollte? Benjamin sprang auf. „Kommt nicht infrage. Ich bin nicht käuflich.“

Stumm guckte Schöne ihn an, eine Augenbraue arrogant gelüpft.

„Schönen Tag noch.“ Er flüchtete aus dem Büro und verschanzte sich in einer Kabine des nächstgelegenen Herren-WCs.

Das konnte nie und nimmer Schönes Ernst sein! Sah er aus wie eine Nutte? Oder machte er einen bedürftigen Eindruck? Benjamin sah an sich runter. Seine Jeans war fadenscheinig, das T-Shirt alt. Das Zeug zog er nur noch für den Lagerjob an.

Während der restlichen Arbeitszeit grübelte er, wodurch er Schönes unmoralisches Angebot provoziert haben könnte. Er fühlte sich einerseits beleidigt, andererseits geschmeichelt. Eine merkwürdige Mischung.

Benjamin brannte darauf, Leo von dem Scheiß zu erzählen. Unruhig tigerte er in der Wohnung umher und war froh, als es endlich Zeit wurde, das Abendessen zu kochen.

Um Punkt halb acht traf Leo ein, rumorte im Flur und rief: „Was riecht denn hier so lecker?“

Es gab – Überraschung! – Nudeln mit Tomatensauce. „Ich hab einen halben Storch gebraten“, gab er zurück.

Leo kam in die Küche und guckte in die Töpfe. „Irgendwann bekommen wir Monotonie.“

„Morgen gibt es Reis mit Tomatensauce.“

„Super! Das nenne ich Abwechslung.“ Grinsend tätschelte Leo seine Wange. „Warum guckst du so grimmig?“

„Erzähl ich dir gleich.“ Er holte Teller aus dem Schrank und gab sie seinem Mitbewohner.

Beim Essen berichtete er haarklein von dem Vorfall.

„Ist ja nicht wahr!“, staunte Leo. „Der Typ hat echt Eier in der Hose, dir sowas vorzuschlagen.“

„Der Typ hat voll einen an der Waffel. Sehe ich aus wie ein Flittchen?“ Als Leo nicht gleich darauf antwortete, schimpfte er: „Hallo?“

„Natürlich nicht. Ich denke nur gerade nach.“

„Worüber?“

„Darüber, dass 200 ein ganz schöner Batzen Kohle ist.“

Ehrlich gesagt hatte er das auch schon überlegt.

„Wenn du fünfmal mit ihm vögelst, hast du einen Tausender in der Tasche“, rechnete Leo vor. „Wenn die letzten fünf Idioten, die dich nach dem Poppen rausgeworfen haben, die Hälfte davon bezahlt hätten, wäre das immer noch zu wenig.“

Über diesen Satz musste er einige Momente grübeln. „Du meinst, es macht keinen Unterschied, ob ich fürs Vögeln Geld nehme oder mich von Idioten bumsen lasse?“

„Von der einen Variante hast du jedenfalls mehr als nur einen Orgasmus.“

„Aber ich mag Schöne nicht.“

„Wie sieht er denn aus?“

Benjamin zückte sein Smartphone, ging auf die Firmenhomepage und schob das Gerät rüber zu Leo.

„Wow! Also, ich würde den nicht von der Bettkante stoßen“, meinte Leo.

„Das ist nur das Äußere. Der Typ hat einen miesen Charakter.“

„Du musst ja nicht mit seinem Charakter vögeln.“

Da hatte Leo recht, trotzdem … Es war das eine, mit Arschlöchern zu ficken, das andere, sich an ein Arschloch zu verkaufen. „Also meinst du, ich sollte es tun?“

Leo zuckte mit den Schultern. „Das musst du selbst entscheiden. Auf jeden Fall würdest du deine Schulden schneller loswerden.“

Ein Aspekt, der ihm auch im Kopf rumgeisterte. „Es wäre unmoralisch.“

„Hast du denn noch nie etwas Unmoralisches getan?“

Benjamin schüttelte den Kopf. „Abgesehen von kleinen Ladendiebstählen.“

„Lügen ist auch unmoralisch, genau wie Spinnen zu töten.“

Das war nun aber etwas weit hergeholt. Er hatte nun mal eine Spinnen-Phobie. Wenn sich ein Exemplar in seinem Zimmer einnistete, musste er es entfernen, weil er sonst keine Ruhe fand.

„Also, ich würde es nicht tun. Ich hab aber auch keine Schulden“, resümierte Leo. „Fragt sich außerdem, ob der Typ irgendwelche Kinks hat. Wenn der dir aufs Gesicht scheißen oder dich anpissen will … das ist kein Geld der Welt wert.“

Allein die Vorstellung reichte, um Benjamins Appetit den Garaus zu machen. Er legte sein Besteck weg und trank einen großen Schluck Wasser. „Danach sieht er nicht aus.“

„Solche Typen tragen keine Schilder auf der Stirn. Denk doch nur an den Knallknopf, der dich fesseln und spanken wollte.“

Lieber nicht daran denken. Mit knapper Not war er dem Wahnsinnigen entkommen. Dabei sah der Typ total harmlos aus, mit dem Bauchansatz und süßen Lächeln. Im Rückblick war es eher ein Raubfischlächeln gewesen. „Ich schlaf mal drüber.“

„Gute Idee. Übrigens hat heute der Möchtegern-Fahrradkurier-Ficker wieder angerufen.“

„Und? Was wollte er diesmal?“

„Er wollte nur wissen, ob sich echt kein Kollege ein paar Euros dazuverdienen möchte.“

„Hast du gefragt, wie viel er zahlen möchte?“

„Lieber nicht, sonst wäre ich bestimmt sauer geworden. Solche Typen denken bestimmt, sie kriegen einen Fick für fünf Euro.“

„Hast du eine Ahnung, wie die Preise auf dem Strich sind?“

„Guck im Internet nach. Da findet man doch alles.“

Bedauerlicherweise gab es im WWW keine Infos. Dazu, sich auf entsprechenden Datingplattformen anzumelden, hatte Benjamin keine Lust. Er ging einfach mal davon aus, dass 200 Euro ein guter Tarif war, sofern es bei Blümchensex blieb. Sollte Schöne auf härtere Sachen stehen, wäre selbst tausend zu wenig. Nein, dann würde er es gar nicht machen. Schließlich wollte er – zumindest ein bisschen – auf seine Kosten kommen.



Er brauchte mehr als einmal drüber schlafen, um zu einer Entscheidung zu kommen. Erst am Wochenende entschloss er sich, Schönes Angebot anzunehmen. Auslöser unter anderem, dass sein Konto mal wieder kaum Guthaben aufwies. Er haushaltete zwar sparsam, doch immer ging das nicht. Ab und zu wollte er auf die Piste oder mal etwas anderes als Reis/Nudeln mit Sauce essen.

Am Montagvormittag lauerte er auf eine Gelegenheit, mit Schöne zu reden. Da es diskret geschehen musste, konnte er ja schlecht ohne einen Vorwand ins Chefbüro latschen.

Bis zur Mittagspause hatte sich keine Chance ergeben. In der Gesellschaft seiner Kollegen verspeiste Benjamin die mitgebrachte Stulle, wobei er überlegte, wie er ein Treffen herbeiführen konnte. Die Unterhaltung zwischen Jamal und Omar – sie laberten über ihren anstehenden Urlaub – blendete er dafür aus.

„Will einer von euch was aus dem Snackautomaten?“, erkundigte er sich, nachdem sein Brot vernichtet war.

Beide Kollegen schüttelten den Kopf. Die zwei waren noch sparsamer als er, weil sie monatliche Geld in die Heimat schickten.

Der Automat befand sich im Pausenraum im 1. Stock. Als er einen Schokoriegel aus dem Gerät zog, checkte er die Anwesenden. Carola befand sich darunter. Also war der Weg durch ihre Machtzentrale frei.

Vor der Bürotür des Chefs atmete er mehrmals tief durch, bevor er klopfte.

„Ja?“, ertönte Schönes Stimme.

Ihm schlug das Herz bis zum Hals, als er die Tür öffnete und in den Raum trat. Bei seinem Anblick guckte Schöne erstaunt.

„Ich würde gern auf unser Gespräch von letzter Woche zurückkommen“, kam er gleich zur Sache. „Ich hab’s mir überlegt.“

Den Anflug eines Lächelns auf den Lippen lehnte sich Schöne zurück. „Was veranlasst Sie zu der Annahme, dass das Angebot noch besteht?“

Meinte das Arschloch das ernst? „Tja … dann hat sich die Sache wohl erledigt.“ Er kehrte Schöne den Rücken zu und streckte die Hand nach der Türklinke aus.

Moment! Setzen Sie sich!“, hielt der Chef ihn auf.

Auf Befehlston reagierte Benjamin normalerweise allergisch. In diesem Fall machte er eine Ausnahme und ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder.

„Woher der plötzliche Sinneswandel?“, wollte Schöne wissen.

Er zuckte mit den Achseln.

Schweigend starrte Schöne ihn an. Schließlich, als die Stille unangenehm wurde, sagte er: „Ich bin weiterhin interessiert.“

„Damit eines klar ist: Keine Kinks, wie Natursekt und sowas und immer mit Kondom.“

„Heute Abend um acht. Seien Sie pünktlich.“

„Und ich verlange Vorkasse. Wo soll ich überhaupt hinkommen?“

Schöne holte eine Visitenkarte aus der Schreibtischschublade und schob sie in seine Richtung.

Er schnappte sich das Kärtchen. „Soll ich in Tarnkleidung erscheinen? Sie wissen schon … wegen der Diskretion.“

Abermals geisterte der Anschein eines Lächelns über Schönes Gesicht. „Lieber nicht. Das wäre zu auffällig.“

Benjamin stand auf. „Ich möchte anmerken, dass ich sowas noch nie getan habe.“

Schönes Augenbrauen flogen hoch, bis fast zum Haaransatz. „Sie sind noch Jungfrau?“

„Ich meine, für Geld … und so.“

„Einmal ist immer das erste Mal, nicht wahr?“ Demonstrativ schaute Schöne auf eine Armbanduhr, die bestimmt sein Jahresgehalt kostete.

„Dann bis heute Abend“, verabschiedete er sich.

Glücklicherweise war Carola noch nicht zurückgekehrt. Er hätte nicht gewusst, womit er ihr gegenüber seinen Besuch bei Schöne begründen sollte.

Im Fahrstuhl beäugte er die Visitenkarte. Wenn ihn nicht alles täuschte, lag Schönes Adresse in der Nähe der Alster. Sein Smartphone bestätigte diese Annahme. Der Chef wohnte in Harvestehude, einer Gegend, in der sich nur Reiche eine Immobilie leisten konnten.

3.

Um Punkt eine Minute vor acht drückte Benjamin den Klingelknopf neben dem Namensschild A. Schöne. Wenn die Knöpfe entsprechend den Stockwerken angeordnet waren, was nach seiner Erfahrung meistens der Fall war, wohnte Schöne in der obersten Etage.

„6. Stock. Nehmen Sie den Fahrstuhl“, drang Schönes Stimme aus der Gegensprechanlage, gefolgt vom Summen des Öffners.

Drinnen bestand alles aus edlem Material, oder es handelte sich um geschickte Imitate. Damit kannte sich Benjamin nicht sonderlich aus. Benutzte man heutzutage noch Marmor als Bodenbelag?

Die Liftkabine besaß zwei verspiegelte Wände. Prüfend betrachtete er seine Erscheinung. Leo hatte darauf bestanden, dass er ein Hemd und sein einziges Jackett anzog. Dann siehst du weniger wie ein Callboy aus, behauptete sein Mitbewohner. Woher Leo das wusste, entzog sich Benjamins Kenntnis. Er kam sich in dem billigen Jackett, das er für Vorstellungsgespräche gekauft hatte, fremd vor. Das passte zu seiner Mission: Die war ihm genauso suspekt.

Im 6. Stock gab es zwei Wohnungstüren. Die linke stand offen. Eigentlich hatte er damit gerechnet, via Aufzug direkt in Schönes Imperium zu landen, wie man es häufig in Filmen sah.

Schöne tauchte im Türrahmen auf. Anstatt des üblichen Anzugs trug sein Chef Jeans und ein T-Shirt. Der Anblick war dermaßen überraschend, dass Benjamin die Worte fehlten.

„Möchten Sie im Treppenhaus übernachten?“, erkundigte sich Schöne spöttisch.

Wie hieß der Typ überhaupt mit Vornamen? A wie Arschloch? Nein, irgendwas mit An … Andreas? Anton? Ansgar! Oder blieben sie den ganzen Abend beim Sie? Beim Sex würde sich das überaus merkwürdig anfühlen. Na ja, noch merkwürdiger, weil es eh schon unvorstellbar war, mit Schöne zu poppen.

Schönes Wohnung besaß keinen Flur. Man trat direkt ins Wohnzimmer, beziehungsweise Wohnhalle, denn solche Ausmaße hatte der Raum. Auf einer Seite gab es einen Kamin, vor dem zwei Couchen und einige Sessel um einen Tisch standen. Vor der Fensterfront: Ein Esstisch mit keine-Ahnung-wieviel Stühlen. Benjamins Zählfähigkeit war stark eingeschränkt, weil plötzlich seine Nerven zitterten. Leos Sorge, er könnte einem Mörder auf den Leim gegangen sein, trug dazu bei. Er hatte ihre Wohnung nicht verlassen dürfen, ohne Schönes Anschrift zu hinterlegen.

„Ich bin Benjamin“, ergriff er das Wort und schob seine nervös bebenden Hände in die Hosentaschen.

„Ansgar.“

„Bestehen Sie auf das Sie oder duzen wir uns?“

„In der Firma bleibt es beim Siezen.“

„Okay. Wie geht’s jetzt weiter?“

Schöne – daran, ihn in Gedanken Ansgar zu nennen, musste er sich erst gewöhnen – zog zwei grüne Scheine aus der Gesäßtasche und hielt sie ihm hin. „Ich zeige dir das Bad und Schlafzimmer.“

Bei ersterem handelte es sich um einen riesigen Raum, in dem sich eine Dusche, in der eine Fußballmannschaft Platz hätte, einen Whirlpool, zwei Waschbecken und ein Klo befanden. Die Armaturen waren zu Benjamins Erstaunen nicht aus Gold, sondern chromfarben und schlicht.

Das Schlafzimmer war verhältnismäßig klein. Darin stand lediglich ein Doppelbett, zwei Nachtschränke und Stühle. Ein offener Durchgang dürfte zum begehbaren Kleiderschrank führen, denn der fehlte in dem Raum.

„Mach’s dir gemütlich. Ich besorge uns was zu trinken.“ Schöne ließ ihn allein.

War gemütlich machen gleichbedeutend mit zieh dich aus? Eigentlich war Benjamin nicht prüde, empfand aber Unbehagen bei der Vorstellung, sich Schöne nackt zu zeigen. Super! Und wie willst du dann mit ihm bumsen?, spottete sein Verstand. Vielleicht sollte ja gar nicht gevögelt werden, sondern bloß geblasen. Dafür brauchte man sich nicht nackig machen. 200 Kröten für einen Blowjob! Wovon träumst du nachts?, meldete sich erneut die Stimme in seinem Kopf.

Schöne kehrte zurück, zwei Sektgläser in der einen, eine Flasche in der anderen Hand. „Es freut mich, dass du meine Einladung angenommen hast.“

Verwirrt runzelte Benjamin die Stirn. Wurde das hier eine Art Rollenspiel? Wieso eigentlich nicht? Das war ihm lieber, als wie ein Prostituierter behandelt zu werden.

Ansgar – es wurde Zeit, geistig auf den Vornamen umzuschwenken – stellte die Gläser ab, füllte sie und reichte ihm eines. „Auf einen netten Abend.“

Stumm prostete er Ansgar zu und nippte an dem Getränk. Es schmeckte trocken und arschteuer. Ein Blick aufs Flaschenetikett untermauerte seine Vermutung: Moet & Chandon, also Champagner.

Ansgar nahm auf der Bettkante Platz. „Vorschlag: Wir machen es uns ein bisschen bequemer, bevor wir weiterplaudern.“

Nach der netten Einleitung fiel es Benjamin leichter, alle Hüllen fallenzulassen. Lediglich seine Pants – Leo hatte ihm ein rotes Exemplar aufgeschwatzt – behielt er an. Ansgar verfuhr genauso. Was unter den Klamotten zutage trat, war überaus ansehnlich. Gebräunte Haut spannte sich über wenig definierten Muskeln. Ansgars Brust war haarlos und von zwei entzückenden Nippeln gekrönt. Lediglich an den Armen und Beinen befand sich heller Flaum, passend zu den braunen Haaren.

Dem anerkennenden Blick zufolge gefiel er Ansgar. Das war für Benjamin kein Novum. Mit den himmelblauen Augen, blondem Schopf und zierlichem Körperbau war er das beliebte Ziel etlicher Twink-Jäger. Insofern mangelte es ihm nie an willigen Sexpartnern, leider aber an solchen mit Herz und Verstand.

Er war nicht auf der Suche nach dem Mann fürs Leben. Wenn dieser existierte, würde man sich schon irgendwann über den Weg laufen. Generell war er mit seinem Single-Dasein ziemlich zufrieden. Natürlich gab es Momente, in denen er sich nach einem Vertrauten sehnte, doch seine Freundschaft mit Leo glich das aus.

Ansgar rutschte zum Kopfende des Bettes und machte es sich, ein Kissen in den Rücken gestopft, gemütlich. Benjamin gesellte sich dazu. Ohne etwas von dem teuren Gesöff zu verschütten, war das eine Herausforderung. Er fand, er meisterte sie recht elegant.

Von Nahem wirkten Ansgars gletscherblaue Augen gar nicht so kühl. Vielleicht eine Folge der steigenden Lust, die sich in Form einer Ausbuchtung in Ansgars Designer-Pants abzeichnete. Hinter dem Stoff schien sich, passend zu dem großen Mann, ein ordentliches Kaliber zu verbergen.

„Hast du öfter solche Gäste wie mich?“, erkundigte sich Benjamin.

Ansgar trank einen winzigen Schluck. „Gelegentlich.“

„Aber mit dem Schäfer hast du bitte noch nie geschäfert. Das würde mich schwer schockieren.“

Ansgars Mundwinkel bogen sich hoch. Das sah unglaublich attraktiv aus. „Keine Sorge. Er ist nicht mein Typ. Außerdem rekrutiere ich normalerweise woanders.“

War woanders eine Escort-Agentur? Vermutlich. Wenn man Geld wie Heu besaß, konnte man sich auch einen Edel-Callboy leisten. Frage war, wieso Ansgar ihn herbestellt hatte, anstatt einen Professionellen zu ordern.

Abermals setzte Ansgar das Glas an die Lippen, leerte es und stellte es auf den Nachtschrank. Das wertete Benjamin als Aufforderung, seines ebenfalls auszutrinken und wegzustellen.

Ansgar rückte näher, fasste ihn am Kinn und küsste ihn sanft auf den Mund. Die Berührung war angenehm. Der nächste Lippenkontakt wurde intensiver. Ansgar rückte ihm ganz auf den Pelz. Finger strichen über seinen Rücken und schlossen sich um eine seiner Arschbacken. Interessiert merkte sein Schwanz auf. Etwas störend empfand Benjamin den starken Parfumgeruch. Ansgar schien sich vor Kurzem mit reichlich Duftwasser eingedieselt zu haben. In Anbetracht des schönen Vorspiels konnte er damit aber leben.

Als seine Erektion voll erblüht war, ging es plötzlich schnell. Im Nu wurde er seine Shorts los. Ein mit Gel beschmierter Finger eroberte seinen Hintern. Aus dem einen wurden zwei, dann drei. Zugleich verteilte Ansgar Küsschen auf seiner Brust und knabberte an seinen Nippeln. Die Dinger waren hypersensitiv; so, als ob sie seinen direkten Draht zu seinem Unterleib besäßen.

„Auf alle Viere“, brummelte Ansgar schließlich.

Mittlerweile war Benjamin so geil, dass er gar nicht rasch genug gehorchen konnte. Es folgte ein perfekter Fick. Ein bisschen zu perfekt und sehr geräuscharm. Vielleicht übertönte das Rauschen des Blutes in seinen Ohren jeglichen Laut oder Ansgar stöhnte wirklich nicht. Nur beim Orgasmus war ein Ächzen zu vernehmen.

Anschließend zog sich Ansgar aus ihm zurück und ließ sich neben ihm aufs Laken fallen. Unsicher, ob er sich selbst anfassen durfte, spähte Benjamin an sich runter. Sein Ständer war schmerzhaft geschwollen, die Eichel purpurn angelaufen.

„Mach’s dir“, verlangte Ansgar, damit beschäftigt, sich das Kondom vom erschlafften Schwanz zu ziehen. „Ich will zugucken.“

Das bedeutete bestimmt, dass er eine kleine Show liefern sollte. Benjamin drehte sich also auf die Seite, stellte ein Bein auf und begann, an sich rumzuspielen. Mit einer Hand massierte er seine Eier, mit der anderen seine Latte. Merkwürdigerweise turnte es ihn an, - von dem Fetisch hatte er gar nichts gewusst, - dabei beobachtet zu werden. Entsprechend rapide erreichte er den Höhepunkt. Warmes Sperma kleckerte auf seinen Bauch und rann über seine Finger.

Seine Vorstellung schien Ansgar gefallen zu haben, denn es zeichnete sich eine neue Erektion ab. Erstaunlich bei einem so alten Typen.

Ansgar gewährte ihm eine kurze Verschnaufpause, bevor er seine Blowjob-Fertigkeiten unter Beweis stellen durfte. Dank der Feuchttücher, die sie verwendet hatten, um sich zu reinigen, war das Geschmackserlebnis nicht durch eine Gumminote getrübt.

Danach gab Ansgar eine weitere Runde Champagner aus.

„Den bewahrst du dir fürs nächste Mal auf“, meinte Ansgar und wies mit dem Glas auf Benjamins Ständer.

Enttäuscht, ohne zweiten Orgasmus nach Hause fahren zu müssen, nippte er an seinem Schampus. Natürlich hatte er beim Blasen wieder einen hochbekommen. Schließlich befand er sich in der Blüte seiner Jugend. „Nächstes Mal?“

„Mir schwebt ein Abonnement vor. Ich möchte, dass du in den nächsten Wochen montags und donnerstags herkommst.“

Im Geiste rechnete Benjamin, wie viel er innerhalb eines Monats auf diese Weise dazuverdiente. Wow! Ein ganz schöner Batzen! Wenn ihr Arrangement ein halbes Jahr dauerte, wäre er einen Großteil seiner Schulden los und könnte sich sogar noch was gönnen. „Okay. Wieder um acht?“

Ansgar nickte.

„Möchtest du noch einen Blowjob oder reicht es dir für heute?“

„Den darfst du dir auch für Donnerstag aufbewahren.“

„Ähm … muss ich das so verstehen, dass ich bis dahin keinen Sex haben darf? Auch nicht mit meiner Hand?“

„Stehst du auf solche Spielchen?“

Tat er das? Die Vorstellung, auf seine gewohnte, abendliche Einhandeinlage vorm Einschlafen zu verzichten, war ätzend, also schüttelte er den Kopf.

Da sein Job offenbar für heute erledigt war, leerte er sein Glas, stand auf und zog sich an. Unterdessen verschwand Ansgar ins angrenzende Bad, um in einen Morgenmantel gekleidet wieder zu erscheinen. Selbstverständlich handelte es sich um ein edles Exemplar aus Seide oder so.

Ansgar geleitete ihn zur Tür und verabschiedete sich mit den Worten: „Bis Donnerstag.“

In der Aufzugkabine beäugte Benjamin sein Spiegelbild. Er sah genauso aus wie bei seiner Ankunft, nur etwas derangierter. Was hatte er auch erwartet? Das auf seiner Stirn ein Euro-Zeichen leuchtete, weil er käuflich war? Letztendlich hatte sich der Termin mit Ansgar mehr wie ein Date als eine geschäftliche Nummer angefühlt.

Kaum hatte er die Wohnungstür aufgeschlossen, tauchte Leo auf. „Wie war’s?“

„Ganz okay. Schöne ist gar nicht so schlimm wie er aussieht.“

„Schlimm? Der Typ ist höllisch sexy.“

„Nur, wenn man auf finstere Mienen steht.“ Benjamin schälte sich aus dem Jackett und schüttelte sich die Sneakers von den Füßen. „Bitte ist für Schöne ein Fremdwort und zum Lächeln geht er in den Keller.“

„Kann er wenigstens gut vögeln?“

Schmunzelnd zuckte Benjamin mit den Achseln. „Ein Gentleman genießt und schweigt.“

„Boah! So gut ist er?“, staunte Leo.

Weiterhin grinsend zwinkerte er seinem Mitbewohner zu und verzog sich ins Bad. Während er duschte, ließ er die letzten Stunden Revue passieren. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er stellte die Brause ab und brüllte: „Und weißt du was? Ich bin nächsten Donnerstag wieder bei ihm.

Darf ich mitkommen?“, rief Leo.

Ein Dreier? Nein, auf keinen Fall. Auf sowas hatte er keine Lust, schon gar nicht mit Leo. „Keine Chance.

Egoist!

Feixend schaltete er das Wasser wieder an. Er hatte eine Glückssträhne erwischt. Hoffentlich dauerte sie möglichst lange.

4.

„Morgen“, grüßte Ansgar, als er Carolas Büro betrat. „Ich brauche eine Übersicht über die Gehaltsstruktur.“

„Wie schnell?“

„Gestern.“ Er durchschritt den Raum und hielt an der Tür zu seinem Refugium inne. „Hab ich irgendwas vergessen?“ Mit dem Kinn wies er auf den Blumenstrauß, der auf ihrem Tisch stand

„Kein besonderer Anlass. Die hab ich aus einer Laune heraus besorgt.“

Ansgar atmete auf. Den Geburtstag seiner Assistentin hatte er vor einigen Jahren vergessen, woraufhin Carola ihm wochenlang die kalte Schulter gezeigt hatte. Eine Erfahrung, die er nicht noch einmal machen wollte.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch, klappte das Notebook auf und loggte sich ein. Sein E-Mail-Postfach quoll über, wie jeden Morgen. Manchmal hatte er den Eindruck, seine Geschäftspartner arbeiteten ausschließlich nachts. Wie konnte es sonst angehen, dass so viele Nachrichten nach Feierabend eintrafen? Oder nutzten sie einen Service, der die Mails zeitversetzt schickte? Er nahm sich vor, diesbezüglich die EDV-Abteilung zu konsultieren, um sowas für sein Konto einzurichten. Es sah wichtig aus, wenn man außerhalb der regulären Arbeitszeit Nachrichten sendete.

Nach kurzem Klopfen kam Carola herein und stellte, wie jeden Morgen, eine Tasse Kaffee vor ihm ab. „Die Personalabteilung schickt dir gleich die Liste.“

Sie war die einzige in der Firma, mit der er sich duzte und das auch erst seit der letzten Weihnachtsfeier. Wäre er nicht angetrunken gewesen, wäre das nie passiert. Tja … dumm gelaufen. Andererseits hatte sie es noch nie ausgenutzt, mit ihm auf dieser persönlichen Ebene zu verkehren.

„Wunderbar“, murmelte er, auf seinen Monitor konzentriert.

„Du siehst heute sehr entspannt aus.“

Stirnrunzelnd schaute er hoch. „Ist das ungewöhnlich?“

Sie lächelte bloß, drehte sich um und verließ sein Büro. Nachdenklich betrachtete er die Tür, die sie hinter sich geschlossen hatte. Er fühlte sich tatsächlich ziemlich wohl in seiner Haut. Das war aber immer so, wenn er am Vorabend Sex hatte. Warum war es Carola ausgerechnet heute aufgefallen? Das würde er zu gern wissen, aber er konnte sie ja schlecht fragen, ob er vor vier Wochen, nach seinem letzten Termin mit einem professionellen Callboy, weniger entspannt gewirkt hatte.

Von seiner Vorliebe für Männer wusste niemand, ausgenommen seine wechselnden Sexpartner. Seine Eltern würden tot umfallen, wenn er sich outete. Die beiden waren so konservativ, dass der Papst neben ihnen verblasste. Inzwischen hatten sich die beiden zwar aus dem aktiven Geschäftsleben zurückgezogen, dennoch … es könnte ihnen zu Ohren kommen, weil sie noch Kontakt zu dem einen oder anderen älteren Kollegen pflegten.

Eigentlich störte es Ansgar nicht sonderlich, seine Neigung zu verbergen. Bislang war ihm nämlich noch kein Mann begegnet, für den sich ein Outing lohnte und Sex bekam er in ausreichender Menge.

Seine Gedanken wanderten zu Benjamin. Der Bursche war ein Glücksgriff. Irgendwie hatte er gewusst, dass die Chemie zwischen ihnen stimmte. Finanziell lohnte sich das Arrangement auch. Da er stets jemanden aus dem Luxus-Callboy-Segment bestellte, kosteten solche Männer ein Vermögen. Für Benjamin zahlte er nur einen Bruchteil davon. Hinzukam, dass der Bursche weder eitel noch cool war. Beides hatte ihn bei seinem letzten geschäftlichen Sextermin sehr gestört.

Er wandte seine Aufmerksamkeit auf den Monitor. Was wollte er noch gleich? Ach ja, die EDV-Abteilung anrufen, wegen des zeitversetzten Sendens von E-Mails.

Er streckte die Hand nach dem Telefonhörer aus, zögerte und lehnte sich zurück. In seinem Kopf waren Bilder des vergangenen Abends aufgetaucht. Benjamin entsprach genau seinem Typ, mit dem schmalen Körperbau und blonden Haaren. Auch das zugleich freche und unsichere Lächeln gefiel ihm sehr, ganz zu schweigen von den Blaskünsten. Denen fehlte es an der Professionalität seines letzten Sexpartners, was gerade den Reiz ausmachte.

Eine E-Mail der Personalabteilung tauchte in seinem Posteingang auf. Er öffnete den Anhang und vertiefte sich in die Tabelle. Zwar unterschrieb er jeden Arbeitsvertrag, aber Details, wie Entlohnung, Urlaub und so weiter, guckte er sich nicht an. Dafür war die Leiterin der Abteilung zuständig.

Bei dem Anblick der Gehälter langjähriger Mitarbeiter brannten ihm die Augen. Sie standen in starker Diskrepanz zu denen neu eingestiegener Arbeitnehmer. Angesichts Benjamins Gehalt seufzte er. Natürlich musste das Unternehmen an allen Enden und Ecken sparen, um mit der Konkurrenz mitzuhalten, dennoch … es schmerzte förmlich, die Zahl anzugucken.

Zwei weitere Mails tauchten auf. Es wurde Zeit, dass er mit dem Sortieren anfing. Dafür hatte er einige Unterordner eingerichtet, wie unwichtig, dringend und Carola. Sie besaß Zugang zu seinem Account und würde sich dieses Ordners unverzüglich annehmen.

Nachdem er alle Nachrichten verteilt hatte, leerte er seine Kaffeetasse und begab sich in die Teeküche, um Nachschub zu besorgen. Sowas erledigt er selbst, da Carola nicht sein Laufbursche war – oder hieß es Laufmädel?

„Hallo Chef“, grüßte ihn eine Mitarbeiterin, deren Namen ihm entfallen war.

„Morgen.“ Er bediente sich aus einer der Thermoskannen, die neben der Kaffeemaschine standen.

„Ich würde den anderen nehmen. Der ist frischer.“ Sie zwinkerte ihm zu und schlängelte sich an ihm vorbei aus dem schmalen Raum.

Er beäugte das Gebräu in seiner Tasse. Auf der Oberfläche schillerte ein Ölfilm. Igitt! Nachdem er das Zeug ausgekippt hatte, nahm er sich von dem empfohlenen Kaffee und kehrte in sein Büro zurück.

Bis halb eins hatte er alle E-Mails abgearbeitet, einschließlich derer, die im Laufe des Vormittags eingetroffen waren. Einerseits war dieser elektronische Schriftverkehr praktisch. Oft brauchte man bloß mit ein oder zwei Zeilen antworten. Auf der anderen Seite verursachte das Verfahren Mehraufwand bei Angelegenheiten, die man schnell mündlich klären könnte. Egal. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Apropos …

In der EDV-Abteilung erreichte er niemanden, weil alle bestimmt in der Mittagspause waren. Er beschloss, im Lager nachzuschauen, ob sich die Mitarbeiter dort rumtrieben. Moment! Wieso im Lager? Ansgar, bereits halb aufgestanden, ließ sich zurück in den Sessel plumpsen. Suchte er etwa einen Vorwand, um Benjamin zu sehen? Sinnend guckte er in die Ferne. Tatsächlich hatte er das Bedürfnis, einen Blick auf den Burschen zu werfen. Das war ja nicht verboten. Er wollte sich lediglich ein bisschen Appetit holen, um die Vorfreude auf ihr nächstes Treffen zu erhöhen.

Ansgar begab sich durch Carolas verwaistes Büro auf den Gang. Dort herrschte Totenstille, so, als ob die gesamte Belegschaft ausgestorben wäre. Mit dem Lift fuhr er ins Erdgeschoss und schlenderte, beide Hände in den Hosentaschen, ins Lager.

Als erstes spähte er durch das Fenster in Schäfers Büro. Leer. Als nächstes ging er an den Regalreihen vorbei, wobei er nach Benjamin Ausschau hielt. In der vorletzten Reihe entdeckte er die beiden anderen Lagermitarbeiter, Jamal und Omar. Die zwei kannte er, weil er sie schon lange im Unternehmen waren.

Bei seinem Anblick unterbrachen die beiden, die auf einem Stapel Paletten saßen, ihre Unterhaltung.

„Hallo Chef“, grüßte Jamal. „Können wir was für Sie tun?“

„Ähm … nein … ich laufe nur ein bisschen rum.“

„Die Beine vertreten.“ Omar nickte verständnisvoll.

Wie blöde hörte sich das denn bitteschön an? Egal. „Ist der Neue gar nicht da?“

„Sie meinen Benny? Der ist los, um sich einen Schokoriegel oder so zu besorgen“, erwiderte Jamal.

„Na, dann will ich Sie nicht länger stören.“ Ansgar tippte sich an einen imaginären Mützenschirm und spazierte gemächlich zurück zum Fahrstuhl, in der Hoffnung, Benjamin über den Weg zu laufen. Vergeblich. Da er nicht dumm rumstehen wollte, fuhr er mit dem Aufzug zurück in seine Etage.


Abends war er mit Freunden, Friedhelm, Max, Sharif und Daniel, zum Essen verabredet. Es handelte sich um ehemalige Kommilitonen, mit denen er sich regelmäßig traf. Von den Vieren hatten zwei Karriere gemacht, einer war auch ins Familienunternehmen eingestiegen und einer studierte weiterhin – Ende ungewiss. Friedhelm war eine Nummer für sich. Nach BWL und Altgriechisch hatte sich jener für Latein und Geschichte auf Lehramt eingeschrieben. Als nächstes wollte Friedhelm ein Jahr in Indien nach seinen Wurzeln suchen.

Eines hatten sie alle weiterhin gemein: Keinen festen Partner. Friedhelm wechselte die Frauen so häufig wie andere ihre Unterwäsche. Max, Sharif und Daniel hatten es immerhin mal auf zwei Jahre Beziehung gebracht.

„Stellt euch vor: Da ruft mein Lieferant aus Vietnam an und sagt, er will den doppelten Preis haben, sonst verlässt das Schiff mit meiner Ware den Hafen von Hanoi nicht“, erzählte Max.

Dessen Eltern hatten einen Großhandel für Friseurbedarf gegründet. Die Artikel kamen überwiegend aus China und Vietnam.

„Ob du nun ein oder zwei Cent bezahlst, ist doch egal. Du machst doch trotzdem 1000 Prozent Gewinn“, meinte Friedhelm geringschätzig.

„Nun übertreib mal nicht. Schließlich muss ich die ganzen Verwaltungskosten und so weiter tragen“, erwiderte Max.

„Du Armer.“ Friedhelm feixte.

„Und wie läuft’s so bei dir?“, wandte sich Max an Ansgar.

Er zuckte mit den Achseln. „Wie immer.“

„Und? Immer noch unbeweibt?“, mischte sich Daniel ein.

Abermals zuckte er mit den Schultern. Schon oft hatte er überlegt, sich seinen Freunden gegenüber zu outen, doch wozu? Er würde sich bloß dumme Sprüche einfangen.

„Hattest du überhaupt je eine Freundin?“, fragte Sharif.

Trug er ein Mal auf der Stirn, dass sich seine Kumpel plötzlich dermaßen für sein Liebesleben interessierten? „Natürlich.“ Im Kindergarten hatte er mit einem Mädchen Händchen gehalten.

„Und was ist mit dir?“, wandte sich Daniel an Sharif.

„Ach … immer das gleiche. Die Mädels sind nur hinter meinem Geld her.“ Sharif seufzte.

„Dann lass uns tauschen“, schlug Friedhelm, stets knapp bei Kasse, vor.

„Lieber nicht. Ich will nicht nach Indien.“

Wie sein berühmter Namensvetter stammte Sharif aus Ägypten und bevorzugte nördliche Reiseziele, um nicht an seine Kindheit erinnert zu werden. Die hatte Sharif auf der Straße verbracht. Ansgar schauderte jedes Mal bei dem Gedanken.

„Wieso nicht? Haufenweise hübsche Weiber und immer gutes Wetter.“ Friedhelm grinste breit.

„Herrscht in Indien nicht Frauenmangel? Man hört doch laufend von Vergewaltigungen wegen akuter Notgeilheit.“

Davon hatte Ansgar auch gehört. Manchmal glaubte er, dass im Osten noch Mittelalter war. Die Menschen benahmen sich dort teilweise wie die Vandalen – oder schlimmer, siehe den Despoten in Moskau.

„Ich fahre ja nicht wegen der Frauen da hin“, erwiderte Friedhelm.

Den Rest des Abends redeten sie über die allgemeine politische Lage. Das war einerseits ein frustrierendes Thema, andererseits besser, als Ansgars Privatleben weiter zu erörtern.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos / Kaipurgay
Bildmaterialien: Shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 19.08.2022

Alle Rechte vorbehalten

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