Cover

Sommersplitter - Sylt-Liebe

Der falsche Hark

Justus macht allein Urlaub auf Sylt. Die Scheidung von Gunnar hat ein Loch in sein Leben gerissen, von dem er noch nicht weiß, wie er es füllen soll. Er erinnert sich an eine Klassenreise, die ihn damals das erste Mal auf die Insel führte. Insbesondere erinnert er sich an den Surflehrer Hark, mit dem er seinen ersten Kuss getauscht hat. Er kommt auf die Idee, nach Hark zu suchen.



1.

Ein paar Möwen lauerten in der Luft, die Schwingen ausgebreitet, um bei der Aussicht auf Beute sogleich hinabzustoßen. Ihr Kreischen gesellte sich zum Rauschen der Wellen und Kindergeschrei. Die Sonne brannte vom Himmel, nur selten von einer Wolke verdeckt. Am Horizont bewegte sich ein dunkelblauer Schatten. Vermutlich ein Containerriese.

Justus ließ sich wieder auf den Rücken sinken und schloss die Augen. Im Liegen war es am Strand gut auszuhalten, während man im Sitzen das Bedürfnis verspürte, ein T-Shirt überzuziehen. Genau das mochte er an Sylt: Eine Brise sorgte stets dafür, dass die Temperatur im angenehmen Bereich blieb. Tropisches Klima war nichts für ihn.

Gunnar, sein Ex, mochte Sylt ebenfalls. Mit ihm hatte er einige verlängerte Wochenenden hier verbracht. Wegen der Wettergarantie waren sie in den großen Ferien aber stets in den Süden gereist. Mit zwei quengeligen Kindern bei Regen an der Nordsee zu sitzen, war für Gunnar eine Horrorvorstellung. Okay, für ihn auch.

Vor ungefähr anderthalb Jahren hatte sich Gunnar von ihm getrennt, um zu seinem langjährigen Verhältnis, gleichzeitig sein Chef, zu ziehen. Ihre Kinder, Gigi, 17 und Anton, 15, hatte er mitgenommen. Die Scheidung war vor einigen Monaten ausgesprochen worden.

Inzwischen hatte sich Justus, anfangs bis aufs Mark gekränkt, damit abgefunden. Im Rückblick war ihre Ehe nicht ruhig, sondern langweilig verlaufen. Vielleicht hatte es an ihm gelegen, vielleicht hatte generell etwas gefehlt. Ihm war das gar nicht aufgefallen, bis Gunnar von Trennung sprach.

Nun hatte er mit einundvierzig plötzlich seine Freiheit zurück. Fragte sich bloß, was er damit anfangen sollte. Noch hatte er keinen Plan und hoffte, dass die frische Nordseeluft half, einen zu finden.

Seine Gedanken wanderten zurück, zu seinem ersten Besuch auf der Insel, einer Klassenreise. Damals war er sechzehn, dürr wie ein Streichholz und hatte sich gerade eingestanden, aufs eigene Geschlecht zu stehen. Glücklicherweise war er nicht der einzige Freak unter seinen Klassenkameraden. Darunter befand sich ein Punk, zwei tendierten zu Gothic und eines der Mädchen befand sich auf dem Esoterik-Trip. Insofern fühlte er sich weniger wie ein Außenseiter, doch ein Outing kam dennoch nicht infrage. Insgeheim hatte er gehofft, dass sich seine Erkenntnis doch noch als Trugschluss herausstellte.

Am zweiten Tag ihres Aufenthalts tauchten Leute von einer Surfschule auf und seine Hoffnung zerstob, denn er verknallte sich auf den ersten Blick in einen der Typen. Der Junge hieß Hark Martinen. Blond, blaue Augen, hübsches Gesicht. Am dritten Abend, als sie ein Lagerfeuer veranstalteten, kamen sich Justus und Hark näher. Hinter einer Düne knutschten sie und fummelten herum. Am nächsten und übernächsten Tag fanden sie eine Gelegenheit, sich erneut abzusondern, während die anderen Surfunterricht erhielten. Wieder tauschten sie Küsse und fassten sich gegenseitig an. Am folgenden Tag ging es nach Hause. Vor Liebeskummer hatte Justus Bauchschmerzen.

Seine Eltern erlaubten ihm nicht, am kommenden Wochenende nach Sylt zu reisen. Als rauskam, dass es wegen eines Jungen war, gab es richtig Stress. Seine Mutter war entsetzt und sprach tagelang nicht mit ihm. Erst auf Intervention seines Vaters, der liberalere Ansichten vertrat, entwickelte sich zwischen ihnen ein erträgliches Verhältnis. Es wurde aber nie wieder so wie vorher und nach Sylt durfte er trotzdem nicht.

Einige Jahre später lernte er Gunnar, verwitwet, zwei Kinder, kennen. Es funkte. Sie wurden ein Paar. Im Rückblick fragte er sich allerdings, ob der Wunsch seiner Eltern nach Enkeln nicht auch eine Rolle gespielt hatte. Zwischen Gunnar und ihm war es nämlich nie die große Liebe und Leidenschaft gewesen. Böswillig könnte man seine Ehe als halbgar bezeichnen. Sobald das erste Feuer abgeklungen war, dümpelten sie nebeneinander her.

Trotz solcher Gedanken hatte sich Justus mit Gunnar wohlgefühlt. Er war nie der Typ für wechselnde Sexpartner gewesen. Für ihn zählten Vertrautheit und gemeinsame Interessen. Letztere bestanden hauptsächlich aus den Kindern, was ihm auch erst klargeworden war, als Gunnar ihn verließ.

Er schob die Erinnerungen an seine Ehe beiseite und wandte sich wieder Hark zu. War es möglich, denn Mann wiederzufinden? Martinen dürfte allerdings ein sehr häufiger Name im Norden sein, genau wie Jessen oder Pedersen. Justus wollte es dennoch versuchen, weil ihm sonst nichts einfiel, womit er seinen Urlaub sinnvoll verbringen könnte.

Zurück in seinem Appartement checkte er sein Handy, das nicht zum Strand mitgenommen hatte. Es waren zwei Nachrichten seiner Kinder eingegangen.

Gigi: „Hi Paps. Wie geht’s dir?“

Anton: „Kann ich am Wochenende zu dir kommen?“

Gerührt tippte er eine Antwort an Gigi: „Alles Roger bei mir. Und was ist bei dir los?“, und eine an Anton: „Klar, komm her, mein Schatz.“

Mehr als Gunnars Weggang hatte ihn geschmerzt, dass die Kinder mit ihm ausgezogen waren. Die Bindung zu ihrem leiblichen Vater war stärker als zu ihm, das wusste er sehr wohl, aber Ratio siegte selten über Gefühle.

Die Erwiderung seines Sohnes traf prompt ein: „Cool! Ich sag dir Bescheid, wann ich ankomme.“

Gigi war nur geringfügig langsamer als ihr Bruder: „Ich hab mich von Görkan getrennt. Er ist ein Arschloch!“

Ganz seine Meinung, nur hatte sie davon nie etwas hören wollen. „Alle guten Männer sind besetzt oder schwul.“

Diesmal antwortete sie sofort: „Ha-ha! Rätst du mir etwa zu einer Geschlechtsumwandlung?“

„Um Gotteswillen! Du bleibst bitte meine wunderschöne Prinzessin.“

Sie schickte ihm eine ganze Reihe Smileys, unter anderem einen, der kotzte.

Nach einer kurzen Dusche, um den Sand abzuwaschen, – das Zeug kroch echt in jede Ritze – setzte er sich vors Notebook. Für H. Martinen, Sylt, gab es im örtlichen Telefonbuch etliche Treffer. Nur bei einem war der Vorname ausgeschrieben. Als Justus den Mann via Google suchte, fand er einen alten Herrn, der friesische Gedichte sammelte. Bei den restlichen waren Adressen und Gewerbebezeichnungen vermerkt, wie beispielsweise Pension oder Fahrradverleih. Er kopierte die Liste in ein Dokument und beschloss, die im Umkreis wohnenden Martinen am nächsten Tag abzuklappern.

Sein Abendessen nahm er in einem Restaurant, das nur wenige Schritte entfernt lag, ein. Damit er sich nicht so einsam fühlte, hatte er sein Handy dabei und las aktuelle Nachrichten, bis sein Essen auf dem Tisch stand. Anschließend drehte er eine Runde durch Westerlands Innenstadt, bevor er sich in sein Appartement zurückzog.

Während er sich von einer Krimiserie berieseln ließ überlegte er, ob er nächstes Mal eine Gruppenreise buchen sollte. Vielleicht gab es welche speziell für Mitglieder der LGBT-Community. Vermutlich nahmen an solchen Touren aber nur junge, feierwütige Leute teil. Im Gegensatz dazu dürften bei den üblichen Reisen dieser Art nur Senioren an Bord sein. Beides keine schönen Aussichten.



Am nächsten Morgen brach er nach dem Frühstück auf, um die H. Martinens abzuklappern. Seine erste Anlaufstelle: Ein Souvenirladen. Ein Blick ins Schaufenster verursachte bei Justus ein Schaudern. Wer kaufte denn bitteschön solchen hässlichen Kram?

Er betrat das Geschäft und betrachtete die darin ausgestellte Ware. Eine Scheußlichkeit reihte sich an die nächste. Lediglich eine kleine Schneekugel mit dem Leuchtturm von Hörnum fand vor seinen Augen Gnade.

Hinter der Kasse stand ein wettergegerbter Typ, geschätzt Ende fünfzig. Wahrscheinlich handelte es sich um den Inhaber, denn der Mann schenkte Justus weder ein Lächeln, noch verhielt er sich sonderlich freundlich. Es könnte sich natürlich auch um einen schlechtbezahlten Angestellten handeln, aber erfahrungsgemäß gaben die sich dennoch Mühe, ein bisschen Kundenorientierung zu zeigen. Ausnahmen bestätigten natürlich die Regel.

„Schöner Laden“, lobte Justus. „Laufen die Geschäfte gut?“

Der Mann zuckte mit den Achseln. „Es könnte besser sein. Nächstes Jahr mache ich den Laden dicht und gehe in Rente.“

Somit war seine Vermutung bestätigt.

Bei der zweiten Anlaufstelle, einer Pension, stand auf dem Klingelschild Holger Martinen. Bei der dritten – einer Privatadresse – prangte neben dem Klingelknopf der Name Hinnerk Martinen. Die vierte, abermals eine private Anschrift, wies leider nur den abgekürzten Vornamen auf der Klingeltafel aus.

Die fünfte Anlaufstelle war ein Fahrradverleih. In großen Lettern stand Harks Zweiradcenter an einem Gartenhäuschen, das von Bikes umgeben war. Justus näherte sich dem Häuschen, an dessen geschlossener Tür ein Schild ‚Komme gleich wieder‘ verkündete. Was war mit gleich gemeint? Zehn Minuten? Eine Stunde?

Da er keine Lust hatte, wie Falschgeld vor der Hütte rumzustehen, begab er sich in das Café, an dem er gerade vorbeigekommen war. Bei einem Milchkaffee entlockte er seinem Smartphone nähere Informationen zu Harks Zweiradcenter. Am Vortag waren ihm via Google wohl keine Ergebnisse angezeigt worden, weil der Besitzer Martin Martinen hieß. Neben den Fahrrädern wurden Ferienwohnungen vermietet. Sowohl von den Bikes als auch Wohnungen gab es Bilder, aber leider nicht von den Angestellten oder dem Eigentümer.

Während er seinen Becher leerte, rief er sich nochmal die Bilder der Klassenreise in Erinnerung. Hark, das blonde Haar vom Wind zerzaust. Der Geschmack ihrer Küsse. Die Geräusche, die Hark von sich gab, als sie sich gegenseitig zum Höhepunkt brachten. Er spürte sogar eine Anwandlung des damaligen Kribbelns. Seine erste Liebe vergaß man nie, hieß es doch so schön. Da schien etwas Wahres dran zu sein.

Nachdem er seine Zeche beglichen hatte, begab er sich erneut zum Fahrradverleih. Nun stand die Tür des Häuschens offen. Gerade wollte er darauf zusteuern, als ein Mann aus der Hütte trat. Blondes, verstrubbeltes Haar, genau wie der Hark von einst. Justus versuchte, weitere Parallelen festzustellen. Ganz schön schwierig, nach über zwanzig Jahre. Damals war Hark achtzehn gewesen, die Gesichtszüge also noch nicht ausgereift.

„Kann ich etwas für Sie tun?“, sprach der Mann ihn an.

„Sind Sie Hark?“

Der Typ nickte.

„Surfen Sie?“

„Nicht mehr. Wieso fragen Sie?“

Ein Pärchen gesellte sich zu ihnen. Touristen, wie Justus unschwer an den bunten Jogginganzügen erkannte.

„Bedienen Sie doch erstmal die Herrschaften. Ich kann warten“, bat er und zog sich auf die Bank, die an der Längsseite der Hütte stand, zurück.

Es dauerte ein Weilchen, bis Hark die beiden mit Fahrrädern ausgestattet hatte. Das gab Justus Gelegenheit, weitere Betrachtungen anzustellen. Hark war schlaksig gewesen. Von dem Fahrradverleih-Hark konnte man das nicht behaupten. Der Mann besaß breite Schultern und deutlich hervortretende Bizepse. Hark hatte eine Stupsnase und schmale Lippen. Beides stimmte nicht mit dem Mann überein. Dessen Nase war ein richtiger Zinken und der Mund wohlgeformt, wie der eines Latinlovers. Trotzdem war Justus mehr und mehr überzeugt, den richtigen Hark gefunden zu haben.

Als die Touristen mit ihren Rädern davongeradelt waren, stand er auf und steckte beide Hände in die Hosentaschen. „Ich glaube, ich würde auch gern ein Rad leihen.“

„Glauben oder möchten Sie?“, erkundigte sich Hark.

„Ich möchte eines leihen.“

„Besondere Wünsche?“

„Etwas Robustes, bitte.“

Hark zeigte auf ein Reihe Mountainbikes. „Suchen Sie sich eines aus.“

Justus wählte ein Modell mit rotem Rahmen. Der Sattel musste höher eingestellt werden, ansonsten passte alles. Als sich Hark darum gekümmert hatte, erledigten sie die Formalitäten. Justus wusste nicht, wie er die Sprache auf ihre damalige Bekanntschaft bringen sollte. Vielleicht fiel ihm etwas ein, bis er das Fahrrad abends wieder abgeben musste.

In seinem Appartement rüstete er sich für eine längere Tour, bevor er in Richtung Hörnum aufbrach. Über zwei Stunden war er unterwegs, weil er zwischendurch Stopps einlegte, um die Aussicht zu genießen. In Hörnum genehmigte er sich einen Imbiss, bestehend aus Fischbrötchen und Alsterwasser und wanderte ein bissen im Ort umher.

Auch für den Rückweg ließ er sich viel Zeit. Noch immer hatte er keine Ahnung, wie er Hark am besten auf ihre Vergangenheit ansprach. Oder sollte er die Sache auf sich beruhen lassen? Feigling!, flüsterte eine Stimme in sein Kopf. Zugegeben: Er machte sich Sorgen, dass er sich irrte und Hark ungehalten darauf reagierte, für schwul gehalten zu werden. Das musst du ihm ja nicht auf die Nase binden, meldete sich erneut die Stimme zu Wort. Sie hatte recht, trotzdem … Frag ihn doch einfach, ob ihr euch schon mal gesehen habt, weil er dir bekannt vorkommt, schlug sie vor. Keine schlechte Idee. So würde er es machen.



2.

Mittags, als im Verleih Flaute herrschte und der Gästewechsel vollzogen war, dachte Hark über den komischen Kauz nach, der ihn gefragt hatte, ob er surfte. Auf den ersten Blick hatte er erkannt, dass der Mann wie er tickte. Na gut, auf den zweiten, als der Typ ihn ausführlich musterte. Sein Gaydar trog ihn selten.

Er war gespannt, ob der Mann nachher, bei der Fahrrad-Rückgabe, einen zweiten Anbagger-Versuch startete. Als ersten wertete er die Surf-Frage. Leider – gefallen würde der Typ ihm schon - musste er dann einen Korb austeilen. Mit Touris fing er nämlich nie etwas an.

Früher hatte er anders gedacht. In der Saison war er stets voll auf seine Kosten gekommen. Mittlerweile hatte In-der-Gegend-rumficken seinen Reiz verloren. Er bevorzugte einen festen Partner, den es bedauerlicherweise nicht gab. Seine letzte Beziehung war vor zwei Jahren zerbrochen. Karel, wie er ein Insulaner, hatte sich nach Hamburg verpisst.

„Ich muss mal hier raus“, lauteten Karels Worte. „Es liegt nicht an dir, sondern an dieser Scheißinsel.“

Anfangs hatte er gehofft, dass Karel bald – müde des Großstadtlebens – zurückkehrte. Tja, falsch gedacht. Inzwischen war er darüber hinweg. Sie hatten eh nicht sonderlich gut harmoniert.

Mit einem Becher Kaffee begab er sich nach draußen, um sich in die Sonne zu setzen. Nachher musste er unbedingt bei seinen Eltern vorbeischauen. Die beiden lebten seit einigen Jahren in einer Seniorenresidenz. Sein Vater konnte kaum noch laufen und seine Mutter wurde zunehmend dement. Manchmal wusste sie seinen Namen nicht mehr. Das war schwer zu ertragen, weshalb er in der Saison oft die Ausrede viel Arbeit benutzte, um Besuche zu umgehen.

Er verdankte den beiden so viel. Eine wundervolle Kindheit und das Haus. Dafür zahlte er gern jeden Monat etwas für ihren Unterhalt dazu. Geld war jedoch kein ausreichender Dank. Seine Mutter pflegte zu sagen, dass Zeit das wertvollste war, was Kinder einem im Alter schenken konnten.

Echt schade, dass er keine Geschwister hatte. Die könnten ihm einen Teil Verantwortung abnehmen. Andererseits hätte er dann das Haus nicht bekommen oder einen Kredit aufnehmen müssen, um seine Geschwister auszuzahlen. Insofern war es okay, ein Einzelkind zu sein. Er hatte keine Lust, bis an sein Lebensende Schulden zu tilgen. Bei den hiesigen Immobilienpreisen wäre das der Fall gewesen. Es gab wohl kaum ein teureres Pflaster als Sylt, insbesondere Kampen.

Eine Familie mit drei Kindern näherte sich. Er leerte seinen Becher und stand auf, um sie zu bedienen.



Ab fünf trudelten die für einen Tag geliehenen Räder ein. Hark hatte alle Hände voll zu tun. Als letztes, um kurz vor sechs, tauchte der Surf-Frage-Typ auf. Die braunen Haare waren zerzaust, die Nase gerötet. In den Augenwinkeln nisteten attraktive Lachfältchen, als der Typ ihm ein Lächeln schenkte. Der Mann dürfte ungefähr in seinem Alter sein.

Nachdem er das Rad einer kurzen Musterung, ob irgendwelche Schäden erkennbar waren, unterzogen hatte, stellte er es zu den anderen. „Hatten Sie einen schönen Tag?“, erkundigte er sich höflich.

„Danke, ja. Sagen Sie …“ Der Typ vergrub beide Händen in den Hosentaschen. „Kennen wir uns? Sie kommen mir bekannt vor.“

Hark zuckte mit den Achseln.

„Ich war 1997 auf Klassenreise hier. Könnte es sein, dass Sie uns damals Surfunterricht gegeben haben?“

Er sollte sich an etwas erinnern, das so lange zurücklag?

„Ich bin Justus“, fuhr der Typ fort. „Wir … wir sind uns damals nähergekommen.“

Plötzlich ritt ihn der Teufel. „Haben wir in den Dünen rumgemacht?“

Justus nickte und die Wangen färbten sich in dem gleichen Rot wie die Nase. Das war total niedlich.

„Meine Erinnerung ist etwas verschwommen“, log er. „Gehen wir zusammen essen, damit du sie auffrischen kannst?“

„Sehr gern.“

„Bist du mit Pizza einverstanden?“

Justus nickte abermals.

„Um sieben in der Pizzeria Rialto? Das ist gleich hier um die Ecke.“ Er wies in die entsprechende Richtung.

„Ich werde da sein. Bis nachher.“ Justus drehte sich um, marschierte los, stolperte, fing sich wieder und eilte weiter.

Schmunzelnd sah Hark ihm hinterher. Justus‘ Tollpatschigkeit machte ihn noch sympathischer.

Sein Gaydar hatte sich also mal wieder nicht geirrt. Wie alt war Justus damals gewesen? Wohl ungefähr siebzehn. Hatten sie richtig rumgemacht? Nun, nicht er und Justus, sondern der andere Hark. Ihm war kein etwa gleichaltriger Namensvetter bekannt. Entweder hatte dieser Hark Justus damals einen falschen Namen genannt oder er stammte nicht von hier. Es kam ja viel Personal vom Festland, daher war es gut vorstellbar, dass die Surfschule solche Leute beschäftigt hatte.

Er beeilte sich, sämtliche Bikes in den Schuppen zu bringen. Anschließend duschte er und unterzog sich der nötigen Schönheitspflege. Seit er solo war, ließ er das oft etwas schleifen. Wozu der Aufwand, wenn es eh niemand sah? Für Justus wollte er jedoch gut aussehen. Schließlich war er, beziehungsweise sein Doppelgänger, dessen Jugendliebe, wenn er das richtig verstanden hatte.

Um fünf vor sieben betrat er das Rialto. Mit dem Besitzer, Malte Andresen, war er zur Schule gegangen. Das hatte den großen Vorteil, immer einen Tisch zu bekommen.

Malte platzierte ihn an einem Zweiertisch. „Möchtest du einen Kurzen?“

Er schüttelte den Kopf. Schließlich wollte er nicht nach Schnaps stinken. „Bring mir lieber ein Viertel von deinem Roten.“

Punkt sieben kreuzte Justus auf, guckte sich suchend um, entdeckte ihn und steuerte auf ihn zu. Da hatte sich noch jemand ausgehfein gemacht. Zu dunklen Jeans trug Justus ein weißes Hemd. Ein graues Jackett hing über seinem Arm. Die Mühe, sich die Haare zu kämmen, konnte man sich aus Sylt schenken. Der Wind machte jegliche Frisur zunichte, außer man benutzte eine Tonne Haarspray. Das hatte Justus offensichtlich nicht getan.

„Hi.“ Justus hängte das Jackett über die Stuhllehne und nahm ihm gegenüber Platz. „Nettes Lokal.“

„Das Ambiente finde ich fragwürdig, aber das Essen ist super.“

Stirnrunzelnd schaute Justus sich um. „Fragwürdig? Ist doch typisch für diese Art Restaurant.“

„Eben. Genau das meine ich.“ Abfällig betrachtete Hark das kitschige Bild, das sich hinter Justus an der weißgekalkten Wand befand. Darauf war eine Gondel im Kanal vor dem Marcusplatz dargestellt. Rund um den verschnörkelten Rahmen rankten Plastikrosen. Der ganze Raum war mit derartiger Kunst verunstaltet.

„Ich find’s gemütlich“, meinte Justus.

Malte erschien mit dem Rotwein, vorausschauend zwei Gläser in der Hand. „Guten Abend der Herr. Darf’s auch Wein sein oder lieber etwas anderes?“

„Ist der trocken?“

„Der ist so trocken, dass man davon Durst bekommt“, entgegnete Malte, stellte die Weingläser sowie Karaffe ab und reichte ihnen Speisekarten. „Wasser dazu?“

„Ja, bitte“, erwiderte Hark, schlug die Karte auf und überflog das Angebot. „Die Calzone ist spitze.“

„Dann nehme ich die.“ Justus klappte die Speisekarte zu.

„Teilen wir uns als Vorspeise Antipasti?“

„Gerne.“

Malte kehrte mit einer Flasche Wasser zurück. „Haben die Herren sich schon entschieden?“

Hark bestellte, füllte ihre Gläser und hob seines. „Auf einen schönen Abend.“

Stumm prostete Justus ihm zu.

Sollte er den Irrtum schon aufklären oder noch ein bisschen warten? Es könnte peinlich für Justus werden, wenn er die Scharade weiterspielte. „Ich muss dir was gestehen.“

„Du bist nicht der Hark“, kam Justus ihm zuvor. „Das hab ich mir irgendwie schon gedacht. Abgesehen von Haar- und Augenfarbe siehst du ihm gar nicht ähnlich.“

„Wir können trotzdem so tun, als wäre ich der Hark.“

„Wie soll das funktionieren?“

„Wir bringen uns erstmal gegenseitig auf den neuesten Stand, was seit damals geschehen ist und dann schwärmen wir von unserer gemeinsamen Zeit“, schlug Hark vor.

„Damals wollte ich gleich wieder herfahren, durfte aber nicht. Meine Eltern haben mir die Hölle heißgemacht.“

„Weil du einen Mann datest?“

Justus nickte.

„Deshalb bist du nie wieder hergekommen. Ich hab gedacht, du hättest mich vergessen.“

„Hab ich nicht. Wenn ich älter gewesen wäre … ich war aber erst sechzehn und hatte Angst, dass meine Eltern mich rauswerfen.“

„Du hättest wenigstens anrufen können.“

„Ich hatte deine Nummer nicht.“

„Echt? Warum hab ich sie dir nicht gegeben?“

„Wieso fragst du mich das?“

Malte, der die Vorspeise servierte, unterbrach ihr Geplänkel. Als er wieder fort war, ergriff Hark das Wort: „Ich glaube, ich hatte damals noch kein Handy.“

„Ich wusste nicht mal, wo du wohnst.“

„Kann es sein, dass ich in dir nur ein Abenteuer gesehen habe?“

„Womöglich.“ Justus seufzte, griff nach einer Gabel und beäugte die Antipasti.

Ein Weilchen, während sie von der Vorspeise naschten, herrschte Schweigen. Schließlich redete Justus weiter: „Ich hab damals mein Abi gemacht und BWL studiert. Zu mehr als einer Anstellung in einer Bank hat es aber nicht gereicht. Dann kam Gunnar.“

„Wer ist Gunnar?“

„Mein Exmann.“

„Du warst verheiratet?“

Justus nickte. „Fast vierzehn Jahre.“

„Darf ich fragen, was der Trennungsgrund war?“

„Er hat einen anderen.“

„Einen jüngeren?“

„Nein. Einen älteren. Seinen Chef.“

„Also jemand mit Geld.“

„Gunnar verdient selbst genug. Es muss also Liebe sein.“

Hark spießte eine Zucchinischeibe auf. „Wie geht es dir damit?“

„Inzwischen ziemlich gut. Mir fehlen nur meine Kinder.“

Überrascht ließ er die Gabel sinken. „Kinder?“

„Gunnar hat sie mit in die Ehe gebracht“, erklärte Justus. „Damals war Anton noch ein Baby und Gigi zwei.“

„Wo hat er die denn her? Ist er beidseitig orientiert?“

„Zumindest empfindet er keinen Ekel davor, mit einer Frau zu schlafen. Er meinte, es würde ihn nur weniger reizen.“

„Und wo ist die Mutter der Kinder?“

„Kurz nach der zweiten Geburt ist sie gestorben. Herzstillstand. Einfach so.“

„Puh! Das ist hart.“

„Gunnar und ich haben die Kinder mit Liebe überschüttet, um den Verlust auszugleichen. Es scheint uns ganz gut gelungen zu sein. Die beiden sind tolle Menschen.“ Justus, sichtlich stolz, schob sich ein Stück Karotte in den Mund.

„Und wo sind sie jetzt?“

„Bei ihrem Vater. Sie wollten mit ihm gehen.“

„Wie alt sind sie?“

„Fünfzehn und siebzehn.“

„Dann sind sie ja fast erwachsen.“ Er erinnerte sich an seine Gabel, von der inzwischen die Zucchini gefallen war. Erneut spießte er sie auf und stopfte sie sich in den Mund.

„Anton besucht mich am Wochenende.“ Bei diesen Worten strahlte Justus.

„Allein oder mit seinem Vater?“

„Allein. Und wie ist es dir so ergangen?“

Hark musste sich kurz besinnen, um wieder in seine Rolle zu schlüpfen. „Nachdem du mich verlassen hast, hab ich mir die Welt ein bisschen angeguckt. Mit dem Rucksack quer durch Europa und einmal durch die USA. Danach hab ich angefangen, Informatik in Kiel zu studieren. Das war aber nichts für mich. Nach drei Semestern hab ich hingeschmissen und bin hierher zurückgekehrt.“

„Und was hast du hier gemacht?“

„In der Saison hab ich meinen Eltern geholfen und zwischendurch woanders gejobbt. Zugegeben: Ich hab’s mir ziemlich gutgehen lassen.“ Das war eine glatte Untertreibung. Er hatte gesoffen und gehurt, was das Zeug hielt.

„Ist doch völlig okay.“

Malte materialisierte sich vorm Tisch und wies auf die leere Vorspeisenplatte. „Kann ich die mitnehmen?“

Sie nickten unisono. Malte huschte mit dem Teller davon, um mit der Hauptspeise wiederaufzutauchen. Hark hatte Tortellini bestellt. Maltes Koch war ein begnadeter Künstler, der die Teigwaren selbst herstellte. Egal, was man aß: Alles war ein Gedicht.

Stille trat ein. Justus schloss bei jedem Bissen genüsslich die Augen. Normalerweise tat Hark das auch, aber er wollte keinen Moment den Anblick verpassen. Mit jeder vergehenden Minute gefiel Justus ihm besser. Wie mochte er als fünfzehnjähriger ausgesehen haben? Er konnte sich das nur schwer vorstellen. Was besagten Hark betraf: Er würde mal seine Fühler ausstrecken, ob über den etwas rauszukriegen war.

„Wenn ich es recht überlege, war ich damals ziemlich blauäugig. Ich dachte, ich fahre her und treffe Hark in der Surfschule“, beendete Justus das Schweigen. „Vielleicht hätte ich eine Enttäuschung erlebt, ihn dort nicht angetroffen oder mit einem anderen erwischt.“

„Manchmal ist es wirklich besser, wenn man Dinge ruhen lässt. Hast du Hark denn damals deine Adresse gegeben?“

Justus schüttelte den Kopf. „Mehr als unsere Namen haben wir nicht ausgetauscht.“

Von so manchem One-Night-Stand hatte Hark schon am nächsten Morgen nicht mal mehr den Vornamen gewusst. Na gut, es waren häufig Drogen im Spiel gewesen. Das ergab mildernde Umstände.

„Hättest du mir denn geschrieben, wenn ich dir meine Anschrift gegeben hätte?“, wollte Justus wissen.

„Briefe schreiben ist nicht mein Ding. Vielleicht hätte ich dir eine Ansichtskarte mit meinem Autogramm geschickt.“

„Die hätte ich unter meinem Kopfkissen aufbewahrt und jedes Mal vorm Schlafengehen an mein Herz gedrückt.“

Eine niedliche Vorstellung. „Wie schnell hast du mich vergessen?“

Justus hielt inne, ein Stück Pizza abzuschneiden und guckte sinnend ins Leere. „Ich glaube, das hat fast zwei Jahre gedauert.“

„Wow! So nachhaltig hab ich dich beeindruckt?“

„Es war mein erster Kuss.“ Justus fuhr fort, an der Calzone rumzusäbeln. „Den vergisst man nie.“

Da war was dran. Hark erinnerte sich auch noch an seinen ersten, richtigen Kuss. Der Typ hieß Mark. Es war anlässlich einer Schuldisco auf dem Jungenklo geschehen. Die Erinnerung wäre schöner, wenn sie nicht durch den Gestank von Kotze getrübt wäre. In der Kabine neben der, in der er mit Mark knutschte, hatte nämlich jemand in die Kloschüssel gereihert.

„Wie haben deine Eltern denn deine Heirat mit einem Mann aufgenommen?“, erkundigte er sich.

„Die beiden Enkelkinder haben sie damit ausgesöhnt. Kurz bevor sich Gunnar von mir getrennt hat, ist meine Mutter gestorben. Sie war der Hardliner in der Familie. Mein Vater findet unsere Scheidung zwar auch nicht gut, macht mir aber keine Vorwürfe, wie sie es getan hätte.“

„Hattest du zwischen mir und Gunnar Liebhaber?“

Justus, dessen Teller inzwischen leer war, griff nach dem Weinglas. „Nur ein paar One-Night-Stands.“

„Was machst du beruflich?“

„Ich arbeite in der Kreditabteilung einer Bank. Langweiliger Papierkram.“

„Warum wechselst du nicht?“

„Das Gehalt ist gut und woanders wird auch nur mit Wasser gekocht.“

Das mochte sein, aber Hark konnte sich nicht vorstellen, den ganzen Tag in solcher Tretmühle gefangen zu sein. Sein Job bot zumindest Abwechslung in Form von sozialen Kontakten. Okay, nicht alle waren erfreulich, doch der überwiegende Teil schon. „Wo kommst du eigentlich her?“

„Aus Hamburg. Hört man das nicht?“

Auf Norddeutschland hatte er bereits getippt. Die Touris, die südlich der Elbe wohnten, redeten teilweise sehr eigenartig. „Nicht direkt. Bisher hast du keine typischen Slang-Ausdrücke benutzt.“

Justus grinste. „Slang-Ausdrücke?“

Ebenfalls schmunzelnd zuckte er mit den Achseln und legte sein Besteck beiseite. Mit seinem Glas prostete er Justus zu. „Auf unser Wiedersehen nach all den Jahren.“

Justus stieß mit ihm an. „Auf das Schicksal, das uns wieder zusammengeführt hat.“

Die Scharade machte Spaß. Noch schöner wäre, wenn er derjenige welcher wäre. Dann könnten sie in echten Erinnerungen schwelgen.



3.

Um halb elf verließen sie, auf Harks Betreiben hin, das Lokal. Wenn’s nach Justus ginge, hätten sie noch länger bleiben können. Er sah aber ein, dass sein Begleiter früh aufstehen musste.

Gemeinsam schlenderten sie bis zum Fahrradverleih. Mittlerweile war die Luft stark abgekühlt. Justus schlüpfte in sein Jackett.

„Danke für den schönen Abend“, wandte er sich an Hark.

„Ich habe zu danken.“

Im Licht der Straßenlaternen wirkte der Kontrast von gebräunter Haut zu den blauen Augen noch stärker. Hark war unglaublich attraktiv. Wäre das bei dem anderen Hark auch der Fall? „Tja … dann wünsche ich dir eine Gute Nacht.“

„Gleichfalls. Vielleicht sieht man sich ja in zwanzig Jahren mal wieder.“ Hark zwinkerte ihm zu und entfernte sich in Richtung Haustür.

Justus wartete, bis Hark ins Gebäude verschwunden war, bevor er seinen Weg fortsetzte. Insgeheim hatte er gehofft, einen Kuss zu bekommen. Er hätte auch nichts dagegen gehabt, in Harks Bett zu landen. Das letzte Mal, dass er mit Gunnar geschlafen hatte, war ewig her. Schon vor der offiziellen Trennung war zwischen ihnen kaum noch was gelaufen.

Er beschloss, einen Umweg über den Strand zu machen. Zum Schlafengehen war er noch zu aufgekratzt.

Die Promenade war menschenleer. Lediglich am Meeressaum sah er ein Pärchen entlangwandern. In einiger Entfernung glomm ein Feuer, was Erinnerungen an damals weckte. Er und Hark in den Dünen. Die Furcht, entdeckt zu werden. Ein hastiger Handjob. Hinterher hatten sie sich notdürftig mit Taschentüchern gesäubert, selbige im Sand vergraben und waren zu den anderen zurückgekehrt.

Der kühle Wind trieb ihn bald zurück in den Ort. In seinem Appartement war es hingegen warm und stickig. Die Abendsonne hatte die Wohnung aufgeheizt. Er öffnete sämtliche Fenster und checkte seine Getränkevorräte. Eine angebrochene Flasche Wein – allerdings weißer – befand sich darunter. Justus hatte sie bei seiner Ankunft vor vier Tagen geöffnet, um seinen Urlaubsbeginn zu feiern.

Mit einem gefüllten Glas setzte er sich auf den Balkon. Der Ausblick war nicht sonderlich berauschend. Gegenüber lag der Supermarkt, über dem sich ein vierstöckiges Gebäude erhob. Links und rechts davon: Weitere Hochhäuser. Nein, Westerland war wirklich nichts fürs Auge.

Seine Gedanken wanderten zu Hark. Einerseits fand er es bedauerlich, dass es sich nicht um den Hark handelte, andererseits war er darüber froh. Wer weiß, ob ihr Wiedersehen auch so entspannt verlaufen wäre? Vielleicht war der Hark von damals inzwischen ein braver Familienvater, der leugnete, jemals einen Mann geküsst zu haben.

Musste er Harks Abschiedsworte so verstehen, dass er sich erst in zwanzig Jahren wieder blicken lassen sollte? Leg nicht alles auf die Waagschale, mahnte ihn sein Verstand. Das war bestimmt nur ein Scherz. Hoffentlich. Er hatte nämlich vor, am nächsten Tag abermals ein Fahrrad zu leihen und bei der Gelegenheit Hark um ein weiteres Treffen zu bitten. Das Fahrrad war nicht nur ein Vorwand. Der Ausflug hatte ihm sehr gefallen, außerdem tat ihm die Bewegung gut. Er wollte daher wieder eine Tour machen, diesmal in Richtung List.


Um halb zehn brach er am folgenden Morgen auf. Der Verleih öffnete um acht. Mit etwas Glück war also der erste Ansturm vorbei, wenn er dort auftauchte.

Falsch gedacht. Bei seiner Ankunft warteten drei Leute vor dem Gartenhäuschen. Hark bediente gerade ein älteres Pärchen. Justus nahm auf der Bank Platz. Geduldig, denn er war ja nicht in Eile, wartete er, bis Hark alle Kunden abgefertigt hatte.

„Na? Möchtest du wieder das rote Mountainbike oder bist du nur zu Besuch?“, sprach Hark ihn an.

Justus stand auf. „Das rote, bitte.“

Er folgte Hark zu den Mountainbikes. „Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen?“

„So lange du dabei keine Hintergedanken hast, ja.“ Hark zog das rote Bike aus der Reihe. „Der Sattel ist noch so eingestellt wie gestern.“

„Hintergedanken?“

„Na, du weißt schon.“ Hark grinste dreckig.

„An sowas denke ich nicht mal nachts.“ Er folgte Hark in die Hütte, um den Mietvertrag zu unterschreiben.

Kurz darauf war er unterwegs. Mit Hark hatte er verabredet, dass sie sich wieder um sieben beim Italiener trafen.

Auf der Hälfte der Strecke verdunkelte sich der Himmel. Justus maß dem keine große Bedeutung bei. Laut Wetterbericht sollte es heute trocken bleiben. Eine Weile später suchte er Schutz in einem Bushäuschen, weil der Meteorologe Mist erzählt hatte: Es regnete wie aus Eimern. Genauso schnell, wie der Spuk begonnen hatte, hörte es auch wieder auf. Vorsichtshalber blieb er noch ein bisschen sitzen, ehe er sich wieder auf den Sattel schwang.

Während der restlichen Tour war es trocken. Durch den Regen hatte sich die Luft allerdings ziemlich abgekühlt, so dass er die ganze Zeit seine hässliche Windjacke – ein Urlaubs-Notkauf vor einigen Jahren – tragen musste.

Zurück in seinem Appartement stellte er sich unter die Dusche. Obenrum hatte er in der doofen Nylonjacke geschwitzt, untenrum gefroren. In kurzer Hose los zu radeln, war definitiv eine beschissene Idee gewesen. Dem dämlichen Wetterfrosch würde er, wenn er den Kerl in die Finger bekam, die Ohren langziehen.

Mit einem Kaffee setzte er sich auf den Balkon. Gegenüber, beim Supermarkt, herrschte reger Betrieb. Überhaupt war die Fußgängerzone stark frequentiert. Offenbar hatte der bewölkte Himmel viele Sonnenhungrige vom Strand verjagt. Justus hoffte sehr, dass es am nächsten Tag wieder schönes Sommerwetter war. Allein zu verreisen war schon doof, bei Regen noch doofer. Was sollte er tun, wenn es während Antons Besuch die ganze Zeit schiffte? Am besten plante er schon mal ein Notprogramm, mit Kino und so.

Bis er aufbrechen musste, beschäftigte er sich mit Recherche. Einen Vorteil hatte es, dass Westerland derart städtisch war: Es gab für die Jugend etliche Freizeitangebote. Vielleicht hatte Anton Lust, an dem Tischtennisturnier teilzunehmen. Bei dem Stichpunkt Surfunterricht dachte er natürlich sofort an Hark. Also, den Hark von damals. Bestimmt arbeitete der inzwischen nicht mehr als Surflehrer. Sowas tat man doch nur interimsweise.

Zurück zu Anton: Sein Sohn war eher ein nerdiger Typ. Während Gigi von Ballett bis zu Turmspringen alles mitnahm, was die Sportwelt bot, saß Anton lieber vorm PC. Fußball war nur in ganz jungen Jahren interessant gewesen. Das einzige, was Anton bewegungstechnisch gern tat, war skaten. Bestimmt tauchte sein Sohn mit mindestens zwei Skateboards im Gepäck auf, um auch ja keinen unnötigen Meter zu Fuß zurückzulegen.

Justus war so vertieft in sein Tun, dass er erschrak, als er auf die Uhr guckte. Fünf vor sechs und er musste noch das Rad zurückbringen. Hastig schloss er Balkontür und Fenster, schlüpfte in Sneakers, schnappte sich Börse und Schlüsselbund und verließ das Appartement.

Um zehn nach sechs erreichte er den Fahrradverleih. Sämtliche Räder waren bereits verschwunden. Er lehnte sein Bike an die Hütte, ging zur Haustür und betrachtete die Klingeltafel. Links unten stand M. Martinen. Die anderen Schilder waren beschriftet mit Fewo 1 bis Fewo 5. Wohnten Harks Eltern noch in diesem Haus? Er war stillschweigend davon ausgegangen, dass sie entweder gestorben waren oder in einem Altenheim lebten.

Bevor er dazu kam, den Klingelknopf zu drücken, wurde die Tür von innen geöffnet. Hark grinste ihn an. „Ich dachte schon, du wärest mit meinem kostbaren Rad ans Festland durchgebrannt.“

„Die Versuchung war groß, aber ich hab ihr widerstanden“, ging er auf den Scherz ein. „Sorry, dass ich es zu spät zurückbringe.“

Hark winkte ab. „Alles okay. Es ist ja nicht so, dass ich es dringend gebraucht hätte.“

„Dann hau ich wieder ab. Wir sind ja erst in einer Stunde verabredet.“

Moment!“, hielt Hark ihn auf, als er sich zum Gehen wandte. „Warum bleibst du nicht gleich hier?“

Zögernd drehte er sich um. „Wenn dich das nicht stört.“

„Ich würde es kaum anbieten, wenn dem so wäre.“ Hark knuffte ihn gegen die Schulter.

Nachdem das Bike bei den anderen Fahrrädern untergebracht war, begaben sie sich ins Haus. Im Erdgeschoss gab es zwei Türen. Eine Treppe führte nach oben.

Hark steuerte die linke Wohnungstür an, ließ ihn eintreten und schloss sie hinter sich. „Ich bin gerade am Krabben puhlen. Die waren eigentlich für mein Abendessen gedacht.“

„Wir können auch ein anderes Mal …“

„Quatsch!“, unterbrach ihn Hark und dirigierte ihn in die Küche, in der ein runder Tisch mit vier Stühlen stand. „Wenn du nicht auf Italienisch bestehst, kann ich für uns kochen.“

„Ich will dir aber keine Umstände machen.“

Hark verdrehte die Augen. „Ob ich Krabbenrührei auf Toast für eine oder zwei Nasen zubereite, macht doch echt keinen Unterschied. Du musst mir allerdings beim Puhlen helfen.“

Wenig später saßen sie sich am Tisch gegenüber. Justus Puhl-Geschwindigkeit konnte nicht mit Harks konkurrieren. Er schaffte es gerade mal, eine Krabbe aus ihrem Pelz zu hauen, während Hark drei davon befreite. Am Ende war der Haufen Schalen viermal so groß wie die Ausbeute. Außerdem hatten sie einen winzigen Krebs zwischen den Tierchen gefunden.

„Möchtest du ein Bier?“, erkundigte sich Hark.

„Gern.“

Hark entsorgte die Schalen in den Mülleimer, holte zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank, reichte ihm eine und ließ den Verschluss der anderen aufplöppen. „Prost!“

Nach einem Schluck stellte sein Gastgeber die Flasche beiseite und begann, das Rührei zuzubereiten. Gemütlich zurückgelehnt, die Beine ausgestreckt, schaute sich Justus um.

Die Küchenmöbeln schienen älteren Datums zu sein. Weiße Fronten, dazu ein Fliesenschild aus orange-grün-gemusterten Kacheln. Dieses 70er Jahre Design war heute ja wieder modern. Er fand’s trotzdem scheußlich. Der Boden bestand aus Holzdielen. An den weißen Wänden hingen zwei Bilder mit Blumenmotiven, vor dem Fenster bunte Gardinen. War das altbackene Ambiente Harks Geschmack oder das Erbe von dessen Eltern? Apropos …

„Was ist überhaupt mit deinen Eltern?“, fragte er.

„Vor ungefähr vier Jahren sind sie in die örtliche Seniorenwohnanlage umgezogen.“

„Sind sie denn pflegebedürftig?“

„Geht so. Mein Vater kann sich nur mit Rollator fortbewegen und meine Mutter ist dement.“

„Wie schlimm ist es denn mit ihr?“

Hark seufzte. „Manchmal weiß sie meinen Namen nicht mehr. Ätzend ist, dass man nichts gegen diesen geistigen Verfall tun kann. Es ist, als ob meine Mutter innerlich stirbt.“

Zwar hatte Justus damit keine persönliche Erfahrung, konnte sich aber vorstellen, dass es schrecklich war. „Fühlen sie sich in dem Heim denn einigermaßen wohl?“

„Sie konnten viele Möbel mitnehmen, daher war es für sie keine totale Umstellung. Für meinen Vater war es dennoch hart, sein Lebenswerk nicht weiterführen zu können.“

„Zum Glück haben sie einen fähigen Sohn.“

Hark warf ihm über die Schulter ein Lächeln zu. „Süßholzraspler.“

„Rumschleimen gehört zu meinen Stärken.“ Justus feixte.

Mittlerweile war die Rühreimischung fertig. Hark stellte eine Pfanne auf den Herd, holte Butter aus dem Kühlschrank und reichte ihm eine Packung Toast. „Du darfst schon mal zwei Scheiben in den Toaster stecken.“

„Welch verantwortungsvolle Aufgabe.“ Amüsiert schmunzelnd erledigte er den Auftrag.

Die Abzugshaube begann zu röhren. Das Ding sollte man wirklich gegen ein modernes Modell austauschen. Der Lärm verhinderte jegliche weitere Unterhaltung. Da Hark ihm wieder den Rücken zukehrte und geschäftig in der Pfanne rührte, nutzte er die Gelegenheit, den kernigen Hintern in der fadenscheinigen Jeans anzuglotzen. Hark war ein Bild von einem Mann, mit den schmalen Hüften und breiten Schultern. Dagegen kam sich Justus wie eine Bohnenstange vor; eine Bohnenstange mit Speckröllchen.

Hatte Gunnar ihn deswegen verlassen? Sein Ex behauptete, dass sie sich in verschiedene Richtungen entwickelt hatten und deshalb nicht mehr zusammenleben konnten. Vielleicht war zwischen den Zeilen seine körperliche Entwicklung gemeint gewesen. Mach dir darüber keine Gedanken! Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern!, mahnte ihn sein Verstand. Das stimmte, dennoch wurmte es ihn, auf seine äußerlichen Makel reduziert zu werden. Betrachte deine Spekulationen nicht als Tatsachen, meldete sich erneut sein Verstand.

„Magst du den Tisch decken?“, riss ihn Hark aus seinen Grübeleien.

Er sprang auf und ließ sich Teller und Besteck geben. Nach einem Blick in die Pfanne entschied er, dass er den Toaster in Betrieb setzen konnte.

Als nächstes reichte ihm Hark Servietten. „Falte daraus bitte Schwäne.“

Justus prustete. „Natürlich. Oder soll ich lieber Fahrräder daraus falten?“

„Das wäre auch schön.“ Hark zwinkerte ihm zu.

Das einzige, was er an Falttechnik kannte, waren Schiffe. Sollte er mal einen Abendkurs für Origami belegen? War er in dem Alter, in dem man anfing, solchen Freizeitaktivitäten nachzugehen, um die Leere in seinem Leben zu füllen? Schrecklicher Gedanke.

„Das riecht schon sehr lecker“, erzählte er Harks Rücken und faltete das erste Segelschiff.

Der Toaster spuckte die Brotscheiben aus. Flink fertigte er das zweite Schiff, bevor er die gerösteten Scheiben gegen zwei neue austauschte. Kaum lagen sie auf den Tellern, wandte sich Hark mit der Pfanne in der Hand um und begann, das Rührei zu verteilen.

Beim Essen – das hervorragend schmeckte - berichtete Justus von seinem Ausflug. „Es wird Zeit, dass man Fahrräder mit Dächern erfindet“, lautete sein Resümee.

„Damit würdest du hier wegfliegen.“

„Stimmt. Daran hab ich gar nicht gedacht.“

„Du brauchst vernünftige Regenklamotten.“

„So selten, wie ich Fahrrad fahre, lohnt sich das nicht.“

„Wieso? Hast du zu Hause keins?“, wunderte sich Hark.

„Doch, schon, aber seit die Kinder groß sind, rottet es im Keller vor sich hin.“

„Übrigens hab ich mich vorhin mal ein bisschen wegen deinem Surfer-Hark umgehört“, wechselte Hark das Thema. „Jesse, der seit Jahrzehnten die Surfschule in Hörnum betreibt, erinnert sich vage an meinen Namensvetter. Hark hat für zwei oder drei Saisons bei ihm gearbeitet und stammt vom Festland.“

Womit die Aussicht, ihn wiederzufinden, gen Null sank. Justus hatte das ohnehin nicht mehr vor. Ihm gefiel der Hark, der ihm gegenübersaß, wesentlich besser als seine Jugendliebe. „Da hat er ja ein Gedächtnis wie ein Elefant.“

„Jesse vergisst nie etwas. Ich hab mal im besoffenen Zustand gegen seine Hauswand gepinkelt. Das ist mindestens fünfundzwanzig Jahre her und er trägt es mir immer noch nach.“

„Hat er Kinder?“

Hark schüttelte den Kopf. „Zum Glück nicht. Die hätten nichts zu lachen.“

„Manchmal werden solche Menschen durch Nachwuchs ausgeglichener.“

„Möchtest du Nachschlag?“

Justus spähte zum Herd und nickte, woraufhin Hark den Rest zwischen ihnen aufteilte. Nachdem er auch diese Portion verspeist hatte, wäre beim besten Willen kein Bissen mehr in ihn reingegangen. Wohlig seufzend lehnte er sich zurück. „Lob an den Koch. Das war ausgezeichnet.“

Hark grinste verlegen. „Das war doch nichts Besonderes.“

„Fand ich schon.“ Er guckte auf die Uhr, die über der Tür hing. „Ich will dich mal nicht länger stören.“

„Wieso störst du?“

„Ich bin einfach in deinen Feierabend reingeplatzt.“

„Wir wollten doch eh essen gehen.“

„Das ist was anderes. Dann hättest du dich vorher ein bisschen entspannen können.“

„Ich entspanne mich den ganzen Tag.“ Hark stand auf und sammelte das Geschirr ein. „Noch ein Bier?“

Weil er nicht untätig rumsitzen wollte, sprang Justus ebenfalls auf. „Lass mich wenigstens abwaschen.“

„Das erledigt Minna.“ Hark wies mit dem Kinn auf die Geschirrspülmaschine, die ihm vorher nicht aufgefallen war und stellte die benutzten Teller ins Spülbecken. „Was ist nun mit dem Bier?“

„Wenn ich echt nicht störe.“

„Ich sag schon Bescheid, wenn ich meine Ruhe haben will“, entgegnete Hark und ging an ihm vorbei zum Kühlschrank.

Unsicher, ob er sich wieder setzen sollte, blieb Justus stehen. Als sich Hark mit zwei Flaschen in der Hand zu ihm umdrehte, standen sie sich plötzlich Auge in Auge gegenüber. In dem einen Moment sahen sie sich an, im nächsten klebten ihre Lippen aufeinander. Er hatte keine Ahnung, ob es von Hark oder ihm ausgegangen war. Unwichtig. Wichtig war nur, dass sie sich küssten.

„Ms d Flschn lswrdn“, nuschelte Hark an seinem Mund.

„Hm?“

Hark unterbrach den Kuss, stellte die Bierflaschen beiseite, zog ihn in eine Umarmung und verband erneut ihre Lippen. Vor Erleichterung, dass es weiterging, seufzte Justus. Er hatte befürchtet, von Hark zurückgewiesen zu werden.

Finger gruben sich in sein Haar. Eine Zungenspitze schmuggelte sich zwischen seine Lippen und wurde von ihm freudig begrüßt. Blut rauschte gen Süden. Zum Glück trug er eine gemütliche Jeans, sonst wäre es unangenehm geworden.

Atemluft wurde knapp. Sie trennten sich, um ihre Lungen mit Sauerstoff zu füllen.

Hark grinste frech. „Du schmeckst noch genauso wie damals.“

Es dauerte einige Augenblick, bis bei Justus der Groschen fiel. Er kicherte unmännlich. „Du überhaupt nicht. Damals hast du nach dem Korn geschmeckt, den du ans Lagerfeuer geschmuggelt hast.“

„Daran erinnere ich mich gar nicht“, murmelte Hark und zog ihn im Nacken für den nächsten Kuss heran.

Allmählich wurde es doch ziemlich eng untenrum. Für eine Semierektion reichte der Platz, für eine vollständig erblühte leider nicht. Bestimmt bildete sich bereits ein feuchter Fleck, wo seine Eichel gegen den Stoff drückte.

„Möchtest du mein Schlafzimmer sehen?“, flüsterte Hark in der folgenden Kusspause.

„Gibt es da denn was zu sehen?“, erwiderte er, wobei er eine der dicken, blonden Strähnen um seinen Finger wickelte. Harks Mähne fand er unheimlich sexy.

„Ja. Uns. Aber nur, wenn wir rübergehen“ Sachte strich Hark mit den Lippen über seinen Mund.

„Dann sollten wir das tun.“

Hark schnappte sich seine Hand und führte ihn über den Flur. Im Schlafzimmer knipste er die Nachttischleuchte an und schloss die Vorhänge, während sich Justus umschaute. Ein Innenarchitekt war an Hark nicht verlorengegangen. Der Schrank aus Kiefernimitat biss sich mit dem Bett aus dunklem Holz. Auf dem Boden lag grauer Teppich. Weiße Vorhänge und Wände, an denen lediglich ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Bild hing. Das Motiv: Ein Schwanz.

„Guck dich nicht so genau um“, bat Hark, der eilig das zerwühlte Bettzeug aufschüttelte.

Es handelte sich um ein Doppelbett, beidseitig flankiert von Nachtschränken. Eine Seite war offensichtlich unbenutzt. Dort lag die Decke so akkurat, als hätte Hark sie mit dem Lineal ausgerichtet.

Tadaa!“ Hark breitete die Arme aus. „Ich wäre dann soweit. Können wir weitermachen oder hast du kalte Füße bekommen?“

Zugegeben: Ein bisschen beklommen war ihm zumute. Er war, nach so vielen Jahren Sex mit dem gleichen Mann, total aus der Übung. „Weitermachen.“

Hark trat auf ihn zu, umarmte ihn und verwickelte ihn in einen leidenschaftlichen Kuss. Seine Beklommenheit schwand in dem Maße, in dem seine Erregung wieder zunahm.

Nach einem Weilchen verließ Hark seinen Mund, um an seinem Hals zu knabbern. Vor Wonne stöhnte Justus auf. Es gab da eine empfindliche Stelle, genau in seiner Halsbeuge … von dort schien ein direkter Draht zu seinem Schwanz zu führen.

„Was hältst du davon, ein paar Klamotten loszuwerden?“, fragte Hark in einem rauen Timbre, das ihm einen erregten Schauer über den Rücken jagte.

In Windeseile streiften sie ihre Sachen ab. Justus‘ Libido wurde durch den Anblick der breiten, behaarten Brust noch mehr angeheizt. Das krause Haar war etwas dunkler als auf Harks Kopf und verjüngte sich ab Nabel zu einem Glückspfad, der in einem gestutzten Schamdelta mündete. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen

Anscheinend gefiel er Hark auch, dem lüsternen Funkeln in den blauen Augen zufolge. Das bestärkte sein Selbstbewusstsein, das nach Gunnars Weggang etwas gelitten hatte. Als er seine Shorts abstreifte, wippte seine Erektion ins Freie. Hark starrte sie an und leckte sich über die Lippen. Schon lagen sie sich wieder in den Armen und fielen unter Küssen ins Bett.

Eine Zeitlang rollten sie hin und her, wobei ihre Streicheleien immer grober wurden. Schließlich ergriff Justus die Initiative, begab sich auf alle Viere und verlangte: „Nun mach schon!“

Im Nu hielt Hark Gleitcreme in der einen und ein Kondom in der anderen Hand. Justus war ein geübter Bottom, der sich schnell entspannte. Entsprechend brauchte es kaum Vorbereitung. Hark bezog hinter ihm Aufstellung, umfasste seine Hüften, setzte an und versenkte sich mit einem Stoß. Das war des Guten, bei dem ordentlichen Kaliber, nun doch ein bisschen viel. Zum Glück legte Hark nicht gleich los, sondern wartete, bis er sich an die Dehnung gewöhnt hatte.

Anfangs zahme, wohlgezielte Stöße brachten Justus rasch auf das vorherige Erregungslevel zurück. Als Hark das Tempo anzog, begrüßte er das mit einem hervorgestoßenen: „Oh ja!

Ab dem Punkt verabschiedete sich sein Verstand. Der kehrte erst wieder, als er bäuchlings in seinem Ejakulat lag. Vielleicht wäre er allein von der inneren Stimulation gekommen, wenn Hark nicht manuell eingegriffen hätte. Er schien ganz schön ausgehungert gewesen zu sein.

„Geht’s dir gut? Hark streichelte seine Schulter.

„Mhmja.“ Er drehte sich auf die Seite. „Sorry für die Sauerei.“

Hark schmunzelte. „Ich mag das. Du darfst gern noch eine Ladung ins Bettzeug spritzen.“

„Ist das dein Fetisch?“

Weiterhin grinsend zuckte Hark mit den Achseln. „Hast du auch Durst?“

War das ein Signal, dass er gehen sollte?

„Ich hole mal eben unser Bier. Lauf nicht weg.“ Hark schwang die Beine aus dem Bett und verließ den Raum.


4.

Obwohl er gegen seine Prinzipien verstoßen hatte, bereute Hark nichts. Mit den beiden Flaschen ging er zurück zu Justus, der sich inzwischen aufgesetzt hatte, die Decke bis zum Bauchnabel hochgezogen.

Im Schein der Nachttischlampe wirkten die braunen Augen wie geschmolzene Schokolade. Die Haare standen wild von Justus‘ Kopf ab, was ihn um Jahre jünger wirken ließ. Auch das durchgenommene Grinsen trug dazu bei.

Hark kletterte ins Bett, reichte Justus eine der Flaschen und stieß mit ihm an. „Auf ein gelungenes Wiedersehen.“

Justus trank einen großen Schluck. „Hätte ich damals schon gewusst, wie gut du vögelst, hätte ich mich von dir in den Dünen entjungfern lassen.“

„Glücklicherweise wusstest du das nicht, sonst hättest du eine böse Erfahrung mit Schmirgelpapier gemacht. Sex im Sand ist nicht zu empfehlen.“

Justus senkte den Blick und knibbelte am Flaschenetikett herum. „Sag mal … machst du sowas oft?“

„Was? Mit meiner Jugendliebe poppen?“

„Touristen abschleppen.“

„Ich hab dich nicht abgeschleppt.“

„‘tschuldige. Ich meine, ob du häufig was mit Touris anfängst.“

„Eigentlich mache ich das gar nicht mehr. Du bist eine Ausnahme, weil du mir so gut gefällst.“

Justus schaute hoch. „Du mir gefällst mir auch.“

Hark beugte sich rüber, um ihn zu küssen. „Also spricht nichts gegen eine Wiederholung?“

„Von meiner Seite nicht.“

„Wie lange bleibst du noch?“

Justus runzelte die Stirn.

„Ich meine nicht hier, in meinem Bett, sondern auf Sylt.“

Das Stirnrunzeln verschwand. „Eine Woche.“

„Holen wir morgen das Abendessen im Rialto nach?“

„Oh! Ich hab ganz vergessen, dass mein Sohn morgen herkommt.“

Hark bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. „Das ist doch schön. Wie lange bleibt der Bursche?“

„Bis Sonntag. Montag ist Schule.“

Ein Lichtblick. Er leerte seine Flasche zur Hälfte, stellte sie auf den Nachtschrank und drehte sich zu Justus. „Wie sieht’s aus? Bereit für die nächste Runde?“

Nach dem dritten Orgasmus brach Justus auf. Hark war dermaßen erledigt, dass er sich am liebsten sofort wieder ins Bett verkrochen hätte. Stattdessen räumte er die Küche auf, putzte Zähne und unterzog sich einer Katzenwäsche, bevor‘s in die Waagerechte ging. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er ein.

 

Am nächsten Morgen galt sein erster Gedanke Justus. Daran war wohl sein noch immer tiefenentspannter Körper schuld. Er hatte ewig nicht dreimal hintereinander Sex gehabt. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, sich unter der Dusche einen runterzuholen, spürte er kein Bedürfnis danach.

Im Laufe des Tages ertappte er sich mehrfach dabei, nach einer Möglichkeit zu suchen, Justus trotz des Sohn-Besuches zu treffen. Der Bengel wollte abends doch bestimmt feiern gehen. Dann könnten sie … Moment! Der Junge war doch erst – wie alt nochmal? Vierzehn? Partys dürften in dem Alter noch nicht drin sein. Vielleicht konnten sie dem Jungen Geld fürs Kino geben. Das hatten die Eltern eines Klassenkameraden häufig gemacht. Timo war am folgenden Tag stets, trotz des cineastischen Erlebnisses, schlecht gelaunt gewesen.

„Eltern dürfen nicht rummachen“, lautete Timos Meinung. „Das ist widerwärtig!“

Hark fand die Vorstellung, dass seine Eltern es trieben, auch ekelhaft. Zum Glück hatte er sie nie dabei erwischt oder gehört. Es hätte bei ihm bestimmt ein Trauma erzeugt.

Abends, gegen acht, rief der Justus an. Sie hatten am Vortag ihre Handynummern ausgetauscht. Justus ging sofort ran: „Hi.“

„Und? Ist dein Sohnemann schon da?“

„Ich gehe gleich zum Bahnhof, um ihn abzuholen.“

„Und? Unternehmt ihr noch was?“

„Heute nicht mehr.“

„Dann wünsche ich dir einen schönen Abend.“

„Gleichfalls. Bis bald.“ Justus legte auf.

Enttäuscht seufzend warf Hark sein Smartphone auf den Couchtisch. Das war doch echt ätzend! Da traf man mal einen interessanten Mann und schon raubte ein Kind einem die Chance, Zeit mit ihm zu verbringen.

Kurzentschlossen schlüpfte er in Sneakers und ging rüber ins Rialto, um ein schönes Gezapftes zu trinken. Alle Tische waren belegt, aber am Tresen war noch ein Hocker frei. Im Scherz hatte Malte mal vorgeschlagen, einen der Barhocker mit seinem Konterfei zu bestücken und darüber ‚reserviert für‘ zu schreiben. Sooo häufig war er nun auch wieder nicht im Rialto. Es zog ihn höchstens ein bis zweimal pro Woche dorthin.

Fiete, der wesentlich öfter in dem Lokal rumlungerte, sprach ihn von der Seite an: „Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“

„Ach, das übliche.“

„Hm-hm“, machte Fiete, ebenfalls in der Touristikbranche tätig, verständnisvoll.

In der Saison kamen täglich auf jeden der rund 18.000 Einwohner neun Touristen. Ein ungesundes Verhältnis. Den meisten Insulanern ging dieses überrannt werden mächtig auf den Sack, obwohl sie davon lebten. Im Dienstleistungssektor befand man sich nun mal am untersten Ende der Nahrungskette. Die dicken Profite strichen nur die ein, die Immobilien besaßen. Selbige waren für die meisten Einheimischen wiederum unerschwinglich, weil Investoren vom Festland die Preise in die Höhe trieben.

„Gestern Abend um halb zehn klopft es bei mir“, erzählte Fiete. „Bei dem Pärchen, das das Appartement über mir hat, war der Kühlschrank kaputtgegangen. Ein echter Notfall!“ Fiete verdrehte die Augen gen Himmel. „Ich bin also hoch und hab mir das angeguckt. Von wegen kaputt! Einer der beiden Hirnis hat den Stecker gezogen, um ein Ladegerät fürs Handy anzuschließen und hat vergessen, den Kühlschrank wieder einzustöpseln.“

„Lieber Gott, lass es Hirn regnen“, murmelte Hark.

„Das hab ich auch gedacht. Heute haben mir die beiden als Entschuldigung eine Schachtel Pralinen gebracht. Was soll ich denn damit? Eine Schachtel Pils wäre mir lieber gewesen.“

„Gestern hat ein Touri ein Rad mit Rahmenbruch zurückgebracht. Angeblich ist es einfach so passiert. Ich denke eher, dass der Blödmann irgendwelche Stunts damit gemacht hat.“

Zwei Pils später verabschiedete sich Hark. Auf dem Rückweg überlegte er, was Justus gerade trieb. Spielten Vater und Sohn Playstation? Er besaß eine, die er nur selten aus dem Schrank holte. Konsolen hatten ihren Reiz schon lange verloren. Oder gingen die beiden spazieren? Denk nicht ständig an ihn, ermahnte er sich im Geiste. In einer Woche ist er eh weg.

 

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure - dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 15.07.2022

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /