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Arztromane Vol. 17

Der Ruf des Blutes 2




Der Ruf des Blutes 2



Das Schicksal meint es nicht gut mit Flavius. Ausgerechnet ein verheirateter Familienvater zieht ihn magisch an. Er lässt sich aber nicht so schnell entmutigen und versucht alles, um sich seiner Zielperson zu nähern.





1.

Gelangweilt schaute sich Flavius im Saal um. Er hatte gehofft, beim Medizinerball auf einen Haufen heißer Doktoren zu treffen, doch die waren eindeutig in der Minderzahl. Von den fünf, die in Betracht kamen, hatten drei eine Partnerin mitgebracht. Die zwei verbliebenen – ein Silberfuchs und ein Jungspund – schieden aus, weil er weder auf das eine noch das andere stand.

Er trank sein x-tes Glas Wein. Nach dem fünften hatte er aufgehört zu zählen. Sein Blick wanderte zu Stanislaus und Nazar, sein bester Freund und dessen Lover, die auf der Tanzfläche herumstolperten. Ann beiden war kein Tänzer verlorengegangen. Angesichts der Häufigkeit, mit der Stanislaus Nazar auf die Zehen trat, empfand er Mitleid mit dem Kleinen. Andererseits war Nazar eine zähe Natur. Wenn man ein paar Jahre auf der Straße gelebt hatte, wurde man wohl zwangsläufig dazu.

Amüsiert beobachtete er, wie eine Dame Stanislaus ablöste. Mit deutlichem Widerstreben überließ sein Kumpel Nazar der Frau und kehrte an den Tisch zurück, um sich neben Flavius niederzulassen. Daran, dass sein Freund nach über 200 Jahren keinen Bart mehr trug, hatte er sich immer noch nicht gewöhnt. Wahrscheinlich wurde er alt und damit unflexibel.

Vor einigen Monaten hatte sich Stanislaus vom Vampir zum Menschen gewandelt; angeblich durch einen Liebeskuss von Nazar. Flavius vermutete, dass es die romantische Umschreibung für einen Blowjob war, denn ein Kuss, selbst mit vollem Zungeneinsatz, konnte solches Wunder doch nicht vollbringen. Stanislaus beharrte aber auf dieser Version. Sein Freund war mittlerweile total weichgespült. Ständig grinste Stanislaus dämlich, wie ein Vollidiot. Möge ihm dieser Zustand erspart bleiben, denn mit so einem dümmlichen Grinsen wollte er echt nicht durch die Gegend rennen.

Jedenfalls fühlte er sich seit Stanislaus‘ Wandlung ziemlich einsam. Keine Kumpelabende mehr, keine gemeinsamen Ausflüge zum Vampirtreffen. Er traute sich nicht mal mehr, unangemeldet bei Stanislaus aufzutauchen, um die Turteltauben nicht in flagranti zu ertappen. Also, er guckte anderen schon gern beim Sex zu, aber die beiden verursachten ihm Karies mit ihrer Süßholzraspelei … wenn er denn welchen bekommen könnte.

„Ganz schön lahmer Haufen“, brummelte er.

„Es war deine Idee mitzukommen“, entgegnete Stanislaus und hatte damit leider recht.

Neben der Hoffnung, ein heißes Stück Fleisch abzuschleppen, hatte ihn die Aussicht auf einen einsamen Abend dazu getrieben, sich den beiden anzuschließen.

„Blöde Idee.“ Er trank einen Schluck, wobei ihm ein seltsamer Duft in die Nase stieg. Vom Wein stammte der nicht, denn als er das Glas sinken ließ, wurde der Geruch noch intensiver. „Sag mal, riechst du das auch?“

„Was denn genau?“

„Irgendwas riecht hier nach … keine Ahnung.“ Er stürzte den Rest Wein runter und stand auf. „Ich gucke mal, ob ich die Ursache finde.“

Vielleicht hatte eine der Damen ein aufdringliches Parfum aufgelegt. Dagegen sprach, dass sich der Duft auf seine Libido auswirkte. Sein Schwanz sprang voll darauf an. Sein Sakko verbarg die Ausbuchtung in seiner Hose, wobei es Flavius nichts ausgemacht hätte, mit seiner Manneskraft rum zu prahlen.

Auf der Suche nach dem Ursprung des Duftes flanierte er einmal durch den Raum. In der Nähe der Tanzfläche lokalisierte er die Quelle: Ein blonder Typ, der mit einer Brünetten tanzte, verströmte den Geruch.

Er postierte sich an der Bar, um Getränkenachschub zu besorgen und den Mann zu observieren. Handelte es sich bei dem Duft um den Lockstoff, dem Stanislaus erlegen war? Hoffentlich nicht, doch leider wusste er keine andere Erklärung dafür, warum das Aroma ihn derart anzog.

Laut Tjure, einem Artgenossen, mit dem er auf einem der Vampirmeetings gesprochen hatte, sandte ein Seelengefährte solchen Lockduft aus. So war das mit Stanislaus und Nazar passiert. Kamen die Gefährten nicht zusammen, starb einer von ihnen oder sogar beide. Stanislaus hatte, bevor das mit Nazar klappte, wie ein wandelndes Gerippe ausgesehen. Darauf, bei unlebendigem Leib zu verhungern, hatte Flavius echt keinen Bock. Darauf, seinen Seelengefährten zu umwerben, allerdings auch nicht.

Stanislaus stellte sich neben ihn. „Hast du die Geruchsquelle gefunden?“

„Ich bin am Arsch.“ Flavius seufzte abgrundtief.

„Wieso?“

„Weil der Gestank von dem Blonden da drüben ausgeht.“ Mit dem Kinn wies er auf die Zielperson.

„Vielleicht reagierst du bloß allergisch auf sein Rasierwasser.“

„Allergien verursachen keinen Ständer.“

„Dann ist es sexueller Notstand.“

„Das kann nicht sein. Ich hatte vorhin eine Verabredung mit meiner Faust.“ Warum auch immer, hatte ihn auf der Toilette starke Erregung heimgesucht. In einer der Kabinen war er der Angelegenheit zu Leibe gerückt.

„Und wann wurdest du das letzte Mal flachgelegt?“

„Ist schon zwei Wochen her.“

„Siehst du? Du bist untervögelt und siehst deshalb Gespenster.“

Er wollte etwas erwidern, doch das Läuten eines Gongs hinderte ihn daran. Sämtliche Gäste eilten zu ihren Plätzen und der Typ, der den Tanz eröffnet hatte, erschien am Rednerpult. Auch der Blonde nebst Tanzpartnerin setzte sich an einen der Tische. Obwohl es Flavius magisch zu dem Typen hinzog, gesellte er sich zu Stanislaus und Nazar.

„Liebe Anwesende“, sprach der Redner ins Mikro. „Wie jedes Jahr habt ihr nun die Möglichkeit, etwas zu gewinnen und gleichzeitig Gutes zu tun. Ein Los kostet dreißig Euro, wovon siebzig Prozent an die Kinderkrebsstation des Klinikums St. Georg gehen.“

Noch während der Mann redete, tauchte einer der Kellner mit einer Schüssel, in der sich Zettel mit Nummern befanden, an ihrem Tisch auf. Stanislaus erwarb fünf Lose. Um nicht geizig zu wirken, hielt Flavius mit, obwohl ihn keiner der Preise, die auf einer Tafel hinter dem Redner standen, interessierte. Wer brauchte schon eine Kaffeemaschine oder ein Kochtopf-Set? Eine Mini-Destille würde ihm gefallen, doch die war nicht darunter.

Nachdem alle Lose verkauft waren, legte der Redner mit der Verteilung der Gewinne los. Unglaublich, wie kindisch sich manche Erwachsene aufführten. Ein Grauhaariger freute sich dermaßen über einen Edelstahl-Thermoskanne, dass es wirkte, als würde er sich gleich vor Euphorie in die Hose pissen. Desgleichen die Frau, die das Kochtopf-Set ergatterte.

Flavius wurde stolzer Besitzer einer elektrischen Zahnbürste. Er war ziemlich zufrieden mit seinem Fang und lächelte Stanislaus, der ein Gesichtsmassagegerät zur Faltenentfernung gewonnen hatte, mit gespieltem Mitleid an. „Das ist wohl göttliche Fügung. Nun kannst du endlich deine zerknitterte Visage reparieren.“

„Ich denke, wir werden das Gerät einer anderen Nutzung zuführen“, mischte sich Nazar frech grinsend ein.

„Du meinst, um Schniedelfalten zu glätten?“, riet Flavius.

Die Frau, die ihnen gegenübersaß, prustete leise.

„Darauf bin ich noch gar nicht gekommen. Danke für den Tipp.“ Nazar feixte. „Und was gedenkst du mit deiner Zahnbürste zu tun? Vielleicht deiner Prostata auf den Zahn fühlen?“

Eins zu Null für Nazar. Das gab Flavius neidlos zu. „Gute Idee.“

Während der Losverteilung war es ihm gelungen, aus Stanislaus den Namen des Mannes raus zu kitzeln. Marcus Hartmann, Anästhesist am Klinikum St. Georg. Damit konnte er was anfangen. Dank seiner umfangreichen Kontakte besaß er Zugriff auf sensible Daten. Es war also ein Leichtes, mehr über den Mann rauszubekommen.

Gleich nach Ende der Gewinnverteilung begann die Versammlung, sich aufzulösen.

„Viel Spaß mit euren Geräten“, wünschte die Frau, deren Name ihm entfallen war. „Ich hau ab.“

„Schöne Grüße an Walter“, rief Stanislaus ihr hinterher und erhob sich ebenfalls. „Lasst uns auch verschwinden.“

Während der Taxifahrt knutschten Nazar und Stanislaus auf der Rückbank. Ekelhaft! Flavius hätte niemals geglaubt, dass sein Kumpel so tief sinken konnte. War es echt zu viel verlangt, mal fünf Minuten die Finger von Nazar zu lassen?

„Junge Liebe“, meinte der Taxifahrer – vermutlich ein Mann mit indischen Wurzeln – nachsichtig lächelnd.

„Die kennen sich schon einige Monate.“

„Sag ich doch: Junge Liebe.“

Wie lange galt sowas als jung? Eigentlich sollten doch ein paar Wochen reichen.

An Stanislaus‘ Adresse setzten sie die Turteltauben ab und fuhren gleich weiter. Der Fahrer summte fortwährend zu dem Gedudel des Radios. Flavius driftete gedanklich ab. Er sollte zum nächsten Vampirtreffen fliegen und mit Tjure reden. Vielleicht wusste der einen Rat, wie man sich gegen die Anziehung durch diesen Scheißgestank wehrte. Zwar hatte Tjure bislang behauptet, dass man seinem Schicksal nicht entfliehen konnte, aber es musste einfach eine Möglichkeit geben.

Die Sache mit Stanislaus hatte in der Community für Aufruhr gesorgt. Stimmen waren laut geworden, dass man einen Nachrücker bräuchte. Da sie sich nicht auf natürliche Art vermehrten, war jeder Verlust schmerzhaft. Flavius fand es auch sehr schade, Stanislaus an ein menschliches Dasein verloren zu haben. Es gab unter seinen Artgenossen nämlich nur wenige, die mit gesundem Vampirverstand ausgestattet waren. Etliche lebten gedanklich noch im Mittelalter, genau wie viele Menschen. Eigentlich merkwürdig, da letztere diese Zeit doch gar nicht aus persönlicher Erfahrung kannten.

Das Taxi, inzwischen am Ziel angelangt, hielt am Bordstein. Er entlohnte den Fahrer mit einem fürstlichen Trinkgeld und begab sich in seine Wohnung. Obwohl er müde war, und zugegeben ein bisschen betrunken, ließ ihm die Duft-Sache keine Ruhe. Er setzte sich vors Notebook und schrieb seinem Kontakt bei der Bullerei eine E-Mail mit der Bitte, ihm alles über Marcus Hartmann zu schicken. Anschließend suchte er nach öffentlich zugänglichen Daten über den Mann. Auf Anhieb fand er Adresse und Telefonnummer.

Eh er sich’s versah, gewann seine tierische Seite die Oberhand. Auf der Suche nach einem Schlupfloch flatterte er durch die Wohnung, bis er einsah, dass er sich zurück wandeln musste, um ein Fenster zu öffnen.

Als er draußen in die Lüfte stieg, merkte er deutlich, dass der kleine Fledermauskörper die konsumierten Promille schlecht vertrug: Er flog Schlangenlinien. Einmal stieß er fast mit einer Straßenlaterne zusammen. Im letzten Moment wich er aus und fluchte wie ein Rohrspatz, allerdings nur im Geiste, denn in Tiergestalt war sein verbaler Ausdruck stark begrenzt.

Hartmann wohnte in unmittelbarer Nähe von Santa Fu, wie Hanseaten das Fuhlsbüttler Gefängnis nannten. Das Haus lag in einer ruhigen Anliegerstraße und war von einem großzügigen Grundstück umgeben. Im Obergeschoss brannte Licht in drei Fenstern. Eines davon bestand aus Milchglas und dürfte somit zum Bad gehören.

Als erstes spähte er in das rechts daneben. Der Außenrollladen war nur halb herabgelassen, was ihm eine schöne Möglichkeit bot, sich daran festzuklammern. Durch einen Spalt in den Vorhängen sah er die Brünette, die im Bett lag und las. Das andere Fenster stand auf Kipp. Kopfüber hängte sich Flavius an den Rahmen und guckte ins Zimmer – hier waren nicht mal die Gardinen geschlossen. Der Raum war leer.

Nach einem Weilchen kam Hartmann herein, schloss die Tür und begann sich auszuziehen. Anstandshalber hätte Flavius wegsehen müssen, aber er war nun mal kein anständiger Vampir. Das Schicksal meinte es gut mit ihm, denn Hartmann war ziemlich attraktiv. Ein sehniger Körper mit wenig Behaarung. Wie’s im Schritt aussah, konnte er leider nicht feststellen, denn Hartmann behielt die Shorts an und kletterte ins Bett.

Flavius hielt noch einige Zeit die Stellung, doch nichts geschah. Enttäuscht, da er auf eine Wichsvorführung gehofft hatte, verließ er seinen Aussichtsplatz. Auf der anderen Seite des Hauses gab es zwei Fenster. Im linken entdeckte er schwachen Lichtschein. Selbiger entpuppte sich als Nachtlicht und der Raum als Kinderzimmer, in dem zwei Kleine schliefen. In dem Zimmer daneben: Noch ein Kind. Hartmann schien ziemlich fruchtbar zu sein.

Er trat den Heimflug an, auf dem er großräumig sämtlichen Straßenlaternen auswich.



2.

Zum x-ten Mal wälzte sich Marcus auf die andere Seite. Obwohl er hundemüde war, fand er keine Ruhe. Dabei war der Abend sehr schön verlaufen. Es hatte Spaß gemacht, mit Nathalie zu tanzen und sie schien es auch genossen zu haben.

Seufzend kuschelte er seine Wange tiefer ins Kissen. Das Haus war fast abbezahlt, die Kinder gediehen prächtig und auf der Arbeit lief es harmonisch. Lediglich Nathalie machte ihm Sorgen, aber sie wirkte momentan ziemlich ausgeglichen. Nur eine Phase, das wusste er aus Erfahrung, doch die Hoffnung, dass sie für immer anhielt, war dennoch vorhanden. Es gab also keinen Grund, sich die Nacht um die Ohren zu hauen.



Irgendwann musste es mit dem Einschlafen geklappt haben, denn am nächsten Morgen weckte ihn helles Sonnenlicht. Gähnend reckte er beide Arme über den Kopf. Die Kinder waren bereits wach. Bengts Geschrei drang bis in sein Schlafzimmer. Wahrscheinlich hatte sich der Bursche mal wieder mit seiner Zwillingsschwester angelegt. Nora konnte dann ziemlich handgreiflich werden. Madita, vor Kurzem zehn geworden, ging bei solchen Gelegenheiten auf Tauchstation. Klug von ihr, denn Nora schlug, wenn sie zornig war, wahllos zu.

Nach einem Kurztrip ins Bad zog er sich an und gesellte sich zu seiner Familie. Die drei waren dabei, den Frühstückstisch zu decken. Genauer gesagt Madita und seine Frau, während die Zwillinge zuguckten.

„Morgen“, grüßte er in die Runde.

„Hallo Schatz“, erwiderte Nathalie, zugleich sagte Madita: „Hi Papa.“

Nora und Bengt sangen im Chor: „Guten Morgen.“

Wie zwei kleine Engel strahlten sie ihn an. Bei dem Anblick wurde sein Herz ganz weit. „Na, ihr Süßen? Gut geschlafen?“

Beide nickten.

Am vergangenen Abend waren Marcus‘ Eltern als Babysitter eingesprungen. Das Mädchen, das sie sonst beschäftigen, war leider anderweitig gebucht gewesen. Laut Oma und Opa hatten sich die Kinder vorbildlich verhalten. Er vermutete, dass die Kleinen länger als sonst Fernsehen durften. Natürlich waren sie dann friedlich.

„Papa soll neben mir sitzen!“, verlangte Nora.

„Ich setze mich zwischen dich und Bengt.“ Das war eine hervorragende Lösung, um in Ruhe zu frühstücken, denn so konnten sie sich nicht ständig in die Haare kriegen.

Eine Tasse Kaffee und zwei Scheiben Toast später wurde seine Annahme bestätigt. Nora konnte ihr Plappermäulchen nicht halten. Sie platzte damit raus, eine Sendung gesehen zu haben, die erst nach normaler Schlafengehzeit lief. Beeindruckend fand er den Blick, mit dem Madita versuchte, ihre kleine Schwester dafür zu töten.

Nach dem Frühstück scheuchte er die Kinder in den Garten. Zusammen mit Nathalie sorgte er in der Küche für Ordnung. Sie bot zwar an, das allein zu erledigen, aber er wollte seinen Beitrag zum Haushalt leisten. Schließlich war sie nicht seine Angestellte.

Gerade räumte er den Geschirrspüler ein, da läutete die Türglocke.

„Ich geh schon“, verkündete Nathalie und verließ die Küche.

Neugierig, wer sie zu so früher Stunde auf einem Samstag störte, hielt er in seinem Tun inne und lauschte. Eine männliche Stimme: „Guten Morgen. Mein Name ist Flavius Großenschmied, Rechtsanwalt. Bestimmt haben Sie schon davon gehört, dass unsereiner immer schwerer über die Runden kommt. Viele Kollegen fahren nebenher Taxi oder üben andere Jobs aus. Ich bin daher gezwungen, offensiv für meine Kanzlei zu werben.“

Ein Rechtsanwalt als Klinkenputzer? Unglaublich!

„Ich denke nicht, dass wir Ihre Dienste benötigen“, erwiderte Nathalie kühl.

„Trotzdem lasse ich Ihnen meine Visitenkarte mal da. Wer weiß? Vielleicht gibt’s demnächst Ärger mit den Nachbarn oder eine Scheidung steht ins Haus.“

Marcus stellte den Rest schmutzigen Geschirrs auf die Arbeitsfläche und ging in den Flur. Der Typ, der vor der Tür stand, kam ihm bekannt vor.

„Wie meine Frau schon sagte: Wir haben keinen Bedarf“, sprang er Nathalie zur Seite.

„Falls doch ein Fall eintritt: Rufen Sie mich bitte an. Schönes Wochenende.“ Der Mann schenkte erst ihm, dann Nathalie ein Lächeln, drehte sich um und spazierte davon.

Seine Frau schloss die Haustür und drehte sich zu ihm um, die Visitenkarte in der Hand. „Das war ja äußerst merkwürdig. Hast du bemerkt, wie der Typ geschnüffelt hat? Stinkt es bei uns?"

Probeweise schnupperte Marcus, roch aber nur die gewohnte Note: Reinigungsmittel und den Muff, den die Regenkleidung der Kinder verströmte. „Jedenfalls nicht mehr als sonst. Rechtsanwälten scheint es wirklich sehr schlecht zu gehen. Ich hab mal irgendwo gelesen, dass sich deren Anzahl vor einige Jahren verzehnfacht hat.“

„Trotzdem rennt man doch nicht durch die Gegend und versucht, Leute zum Klagen zu bewegen“, entgegnete Nathalie, warf das Kärtchen auf die Garderobe und kehrte in die Küche zurück.

Marcus schnappte sich die Visitenkarte, um Vorder- und Rückseite zu studieren. Eine Adresse in der Hafencity? Dann ging es Großenschmied wohl doch nicht so schlecht. Wer sich dort ein Büro leistete, zahlte garantiert horrende Miete. Oder musste der Typ deshalb betteln gehen?

Er begab sich wieder an die Arbeit. Als er mit dem Einräumen des Geschirrspülers fast fertig war, fiel ihm ein, woher er Großenschmied kannte. Den Mann hatte er gestern auf dem Medizinerball gesehen. Was für ein Zufall, dass ausgerechnet der Typ heute bei ihnen klingelte.

„Ich kümmere mich um die Schwimmsachen. Guckst du nach den Kindern?“, meldete sich Nathalie zu Wort.

Marcus nickte, in Gedanken noch bei Großenschmied. War es wirklich Zufall, oder hatte Stanislaus den Mann hergeschickt? Andererseits: Warum sollte sein Kollege das tun?

Lautes Geplärre beendete seine Grübelei. Er eilte in den Garten, wo ihn ein heulender Bengt empfing.

„No-ho-hora ha-ha-hat mi-hich von der Schau-haukel geschubst!“, beschwerte sich sein Sohn, unterbrochen von Schluchzern.

Er liebte die Früchte seiner Lenden, aber manchmal würde er den Kindern gern ein leichtes Sedativum verabreichen, damit sie entspannter miteinander umgingen. „Nora! Hör auf, deinen Bruder zu ärgern!“, wandte er sich an selbige.

„Wollte auch mal schaukeln“, erwiderte sie mit trotzig vorgeschobener Unterlippe.

Madita, die auf dem zweiten Schaukelbrett saß, verfolgte stumm den Vorgang.

„Könnt ihr euch bitte abwechseln?“ Er wollte schon längst ein Gestell mit drei Schaukeln anschaffen, aber Nathalie war dagegen. „Die Kinder müssen lernen zu teilen“, pflegte sie als Begründung anzugeben.

Der Wagen seiner Eltern rollte in die Einfahrt. Sofort war der Streit vergessen. Nora und Bengt stürmten davon. Wesentlich langsamer folgte Madita ihren Geschwistern. Sie war in einem Alter, in dem man sich in erster Coolness übte.

Einige Minuten später war seine Familie verschwunden. Nathalie hatte in Null-Komma-Nix sämtliches Gepäck aus dem Haus geschleppt und sein Vater es im Kofferraum verstaut. Von den Kindern gab es kein Abschiedsküsschen, nur ein Winken. Sobald Oma und Opa auftauchten, wurde Papi zur Nebensache.

Alle paar Wochenenden verschleppten seine Eltern Nathalie und die Kinder ins Schwimmbad/in den Tierpark/sonst wohin, damit ihr Sohn sich mal ausruhen konnte. Marcus fand das klasse, da er echt selten viel Zeit für sich hatte.

Er machte es sich auf der Terrasse gemütlich. In der Sonne ließ es sich bereits gut aushalten, zumal der Freisitz Windschutz bot. Auf einer Seite stand eine hölzerne Flechtwand, auf der anderen dichte Büsche. Im Liegestuhl, die Augen geschlossen, genoss er die Ruhe und ließ seine Gedanken wandern.

Nathalie hatte er vor elf Jahren auf einem Faschingsfest getroffen. In jener Nacht war Madita entstanden, obwohl seine Frau behauptet hatte, die Pille zu nehmen. Ihre Hochzeit folgte drei Monate später. Nach weiteren sechs Monaten erblickte Madita das Licht der Welt. Ein schrumpeliges, brüllendes, wunderschönes Baby. Für Marcus war es Liebe auf den ersten Blick.

In den Wochen nach Maditas Geburt war Nathalie kaum ansprechbar. Postnatale Depression. Als sich ihr Zustand gerade besserte, starben kurz hintereinander ihre Eltern. Bei den beiden handelte es sich um bigotte Leute, die gern einen über den Durst tranken. Insgeheim war Marcus erleichtert, denn sie hatten ihm das Leben, wegen dem Fauxpas in der Faschingsnacht, ganz schön schwer gemacht. Sex durfte man nämlich erst nach der Eheschließung haben.

Jedenfalls warf dieses Ereignis Nathalie erneut um. Es dauerte fast zwei Jahre, bis sie sich einigermaßen erholte. Zu dem Zeitpunkt lag ihre Liebesleben brach. Selbstverständlich ließ er seine Gattin in Ruhe, anstatt auf die Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten zu pochen. Vor ihrer Krankheit war es die Schwangerschaft gewesen, die ihn auf Abstand gehalten hatte.

Seine Versuche, sich Nathalie wieder körperlich zu nähern, wurden jedes Mal abgeblockt. Mal waren es Kopfschmerzen, mal akute Unlust. Der Frust wuchs. Er fühlte sich mehr und mehr unattraktiv. Das Ganze mündete in einem handfesten Streit, bei dem ans Licht kam, dass Nathalie asexuell war. Ein Schock, der seine Minderwertigkeitskomplexe befeuerte.

Es waren viele Gespräche nötig, bis sie zu einem Konsens kamen. Nathalie gestand ihm Freiraum zu, um seine sexuellen Gelüste zu befriedigen. Einzige Bedingung: Madita durfte nichts davon mitbekommen. Außerdem wollte sie ein zweites Kind, möglichst durch künstliche Befruchtung.

Ein Therapeut half Marcus, die Situation zu verstehen und zu verarbeiten. Nathalie konnte nichts dafür, keinerlei Lust zu empfinden. Das in der Faschingsnacht war ein verzweifelter Test gewesen, ob es unter Alkoholeinfluss nicht doch klappte. Vermutlich spielten auch Nathalies frömmelnde Eltern eine Rolle, dass ihre Tochter kein gesundes Verhältnis zu ihrem Körper fand.

Nora und Bengt waren das Ergebnis einer In-vitro-Fertilisation. Marcus hätte es nicht über sich gebracht, Nathalie nur zum Zweck der Zeugung zu besteigen.

Mittlerweile hatte er sich mit dem Zustand abgefunden. Natürlich fehlte ihm etwas, doch die Kinder machten das wett. Er hatte sich schon immer welche gewünscht. Das war auch der Grund gewesen, - generell mochte er beide Geschlechter - weshalb er überwiegend Frauen datete.

Nathalie hatte weiterhin schlechte Phasen. Sie bemühte sich, es zu verbergen, doch er bemerkte es. Ihr Lächeln wirkte dann gezwungen und ihre Geduld war schnell am Ende. Marcus versuchte, sie in solchen Zeiten nach Kräften zu unterstützen. So lange er keine Noteinsätze machen musste, gelang ihm das auch ziemlich gut. Zum Glück kam es nur selten vor, dass er außer der Reihe angefordert wurde.

Was den Freibrief anging: Den nutzte er nicht aus. Zum einen mangelte es an Gelegenheiten, zum anderen kam es ihm falsch vor. Auch wenn Nathalie es ausdrücklich erlaubt hatte, wäre es dennoch Fremdgehen. Zwar hatte er keine katholische Erziehung, so wie sie, genossen, trotzdem besaß er gewisse Moralvorstellungen. Ach ja: Als er Nathalie kennenlernte, hatte sie – auf Wunsch ihrer Eltern – Theologie studiert. Ihre Schwangerschaft war ein Willkommener Anlass, das ungeliebte Studium aufzugeben.

Nachdem er von ihrer Asexualität erfahren hatte, war er in Gedanken die besagte Nacht wieder und wieder durchgegangen. Hatte er sie vergewaltigt? Ganz nüchtern war er auch nicht gewesen. Soweit er sich erinnerte, hatte sie freiwillig mitgemacht. Dennoch blieb ein bitterer Nachgeschmack, weil er sich dessen nicht sicher war. Dank Dr. Watzlaw, seinem Therapeuten, war er inzwischen von dieser Sorge geheilt. Die vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, trugen auch dazu bei.

Plötzlich berührte etwas Kaltes seine Hand. Erschrocken riss er die Augen auf und entdeckte einen riesigen Hund, – oder Wolf? – der an seinen Fingern schnüffelte. Große, braune Augen richteten sich treuherzig auf ihn. So guckte doch kein tollwütiges Tier, oder?

„Wer bist du denn?“, sprach er den Hund an.

Das Tier setzte sich und schleckte sich übers Maul.

„Hast du Hunger?“, redete er weiter. „Und wieso hast du kein Halsband?“ Erwartest du allen Ernstes eine Antwort?, höhnte es in seinem Kopf.

Erneut fuhr sich der Hund mit der langen, rosa Zunge ums Maul.

„Magst du ein Leberwurstbrot?“, erkundigte er sich, stand vorsichtig – vor dem großen Tier hatte er Ehrfurcht – auf und ging, den Hund an den Fersen, ins Haus.

Während er eine Scheibe Schwarzbrot mit Leberwurst bestrich, beobachtete ihn der Hund; so, als ob er sichergehen müsste, dass Marcus das Brot ja nicht selbst verspeiste. Als er es schließlich auf den Boden legte, schnupperte das Tier daran und – schwupps! – war es verschwunden. Begehrlich glotzte der Hund die auf der Arbeitsfläche liegende Leberwurst an.

„Ich glaube nicht, dass du mehr davon essen solltest. Das ist viel zu fett für dich. Dann wird dir schlecht.“ Marcus legte die Wurst zurück in den Kühlschrank, füllte Wasser in einen Plastikschüssel und trug sie nach draußen, erneut den Hund an den Hacken.

Wie halb verdurstet fiel das Tier über das Nass her. Als die Schüssel leer war, holte er am Wasserhahn, der sich seitlich am Haus befand, Nachschub. Abermals schlabberte der Hund eine große Menge Wasser, bevor er sich neben dem Liegestuhl, in den sich Marcus gesetzt hatte, niederließ; die Schnauze auf den ausgestreckten Vorderläufen geparkt.

Marcus machte es sich ebenfalls wieder bequem. Zu wem gehörte der Hund? Soweit ihm bekannt, gab es in der Nachbarschaft nur zwei kleine, weiße Kläffer. Handelte es sich bei dem Tier um einen Wachhund aus dem gegenüber liegenden Knast? Dann würde der Hund jedoch ein Halsband tragen.



3.

Flavius hatte sich ewig nicht in einen Wolf verwandelt. Warum eigentlich nicht? In dieser Gestalt konnte er wenigstens humane Nahrung zu sich nehmen. Glücklicherweise hielt Marcus ihn für einen Hund. Na ja, gewisse Ähnlichkeit bestand schon. Außerdem wusste heutzutage doch niemand mehr, wie ein echter Wolf überhaupt aussah.

Es war herrlich, in Marcus‘ Duftwolke zu verweilen. Seine Idee, in dieser Gestalt aufzutauchen, war seine beste seit langem. Weniger gut fand er, eine gewisse Abhängigkeit festgestellt zu haben. Als seinem Kumpel Stanislaus das passiert war, hatte er insgeheim darüber gelächelt und es als Einbildung abgetan. Zum Schluss hin, als sein Freund beinahe abgekratzt wäre, allerdings nicht mehr. Nun war er genauso dran. Was hatte er verbrochen, dass ihn das Schicksal derart hart bestrafte?

Finger, die seinen Nacken kraulten, vertrieben den Gedanken. Vor Genuss verdrehte er die Augen. Geil! Würde Marcus seine Eier kraulen, wenn er sich auf den Rücken drehte? Eine verführerische Vorstellung, doch erstmal war er auch mit Kleinigkeiten zufrieden.

„Du schnurrst ja“, staunte Marcus. „Bist du ein Kater im Wolfspelz?“

Nö, ein Vampir im Schafspelz. Flavius feixte.

Eine ganze Weile döste er vor sich hin, bis sich ein dringendes Bedürfnis meldete. Er erhob sich und steuerte auf die Terassentür zu, als ihm einfiel, in welcher Gestalt er sich befand. Als Wolf konnte er ja schlecht das Klo benutzen. Er drehte also ab und trabte zum nächsten Baum, an dem er sein Bein hob.

Hey!“, erschreckte ihn Marcus‘ Stimme, woraufhin er zusammenzuckte und sich auf die Pfote pinkelte. „Nicht in meinem Garten!

Schuldbewusst ließ er die Ohren hängen.

„Meine Schuld“, beruhigte ihn Marcus, stand auf und lächelte ihn an. „Ich hätte mit dir schon lange eine Gassi-Runde drehen müssen.“

Au ja! Freudig wedelte Flavius mit dem Schwanz.

„Aber ohne Leine geht das nicht. Du hast ja nicht mal ein Halsband“, fuhr Marcus fort.

Erneut sanken seine Ohren herab.

„Ich gucke mal, ob ich ein Seil finde“, beschloss Marcus und ging ins Haus.

Ach du Scheiße! Marcus wollte ihn doch nicht allen Ernstes an der Leine führen? Flavius wischte seine beschmutzte Pfote im Gras ab, bevor er Marcus folgte.

Kurz darauf verließen sie das Grundstück. Marcus hatte ein Springseil zweckentfremdet. An beiden Enden befanden sich hölzerne Handgriffe, von denen einer zwangsläufig, weil das Seil um Flavius‘ Hals geschlungen war, an seiner Vorderseite baumelte. Zum Glück war er nicht eitel, sonst hätte ihn das arg gestört. Na gut, ein bisschen schon, aber in Wolfsgestalt konnte er damit leben.

Es war erstaunlich, wie viele interessante Duftnoten es neben Marcus‘ gab. Immer wieder stoppte er, um hier und da zu schnüffeln. Man konnte ganze Romane aus dem Stoff, den er dabei inhalierte, schreiben.

Unversehens gellte ein Kläffen in seinen Ohren. Vor Schreck machte er einen Satz weg von dem fürchterlichen Lärm, womit er beinahe Marcus zu Fall brachte.

„Das ist nur Wanda“, beruhigte ihn selbiger. „Die bellt, beißt aber nicht.“

Das wäre ihm allerdings lieber, denn dann hätte er einfach zurückgebissen. Für das helle Gebell wusste er hingegen kein Gegenmittel. Mit angelegten Ohren zerrte er Marcus fort von dem schauerlichen Vieh.

Nachdem er erneut seine Blase geleert und einmal ein Häufchen in einem Gebüsch gelassen hatte, ging’s zurück zu Marcus Heim. Glücklicherweise mussten sie nicht wieder an dem scheußlichen Köter vorbei.

Abermals erhielt er eine Scheibe Leberwurstbrot und Wasser, bevor sie es sich auf der Terrasse gemütlich machten. Marcus las, Flavius döste. Gelegentlich schaute er hoch, wenn er das Summen eines Insekts vernahm. Eine dicke Hummel reizte ihn dazu, deren Geschmack auszuprobieren. Vehement rief er seinen Wolf zur Ordnung: Lass die Pfoten von dem Ding. Es könnte stechen.


Stimmen weckten ihn. Wann war er denn eingepennt? Blinzelnd schaute er sich nach Marcus – der Liegestuhl war leer - um. Ach du Schreck! Marcus‘ Familie war zurück. Gerade stiegen die Kinder aus dem Wagen. Zeit, sich vom Acker zu machen.

Zu spät! Eines der Kinder hatte ihn entdeckt.

Ein Hund! Ein Hund!“, jubelte das kleine Mädchen und rannte auf ihn zu.

„Was? Wo kommt der denn her?“, wollte Marcus‘ Gattin wissen.

Flavius verkroch sich unter den Liegestuhl. Wahrscheinlich neigten Kinder dazu, einem am Schwanz oder den Ohren zu ziehen. Auf beides war er nicht scharf.

Nora! Lass ihn in Ruhe!“, vernahm er Marcus‘ Stimme.

Hör auf deinen Vater, beschwor er das Mädchen, das sich hingekniet hatte und unter den Stuhl spähte.

„Ich will ihn doch nur streicheln“, gab sie zurück.

Kleine Finger grabschten ihm an die Nase. Was nun? Sollte er gefährlich knurren? Dann bekäme er garantiert Grundstücksverbot. Er begnügte sich mit einem Schnauben.

Fass das Tier nicht an!“, befahl eine weibliche Stimme, vermutlich die ältere Dame.

„Aber es ist doch ganz lieb.“ Das Mädchen tätschelte seine Schnauze. „Nicht wahr? Du bist ein lieber Hundi.“

Im nächsten Moment tauchten Sneakers in seinem Sichtfeld auf. Das Mädel wurde weggezogen. „Du darfst nicht einfach fremde Tiere anfassen“, schimpfte Marcus.

„Aber … aber er ist soooo süß!“, jammerte das Mädchen.

Süß? Die Kleine brauchte dringend eine Brille.

„Wo hast du den Hund überhaupt her?“, fragte eine jüngere, weibliche Stimme.

„Der war plötzlich da. Vielleicht ist er seinem Herrchen weggelaufen.“

Mit einem Mal hob jemand den Liegestuhl hoch. Flavius war sieben Paar Augen ausgesetzt. Er versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Nichts gegen Aufmerksamkeit, doch bevorzugt in seiner menschlichen Gestalt und dann bitte ausschließlich von attraktiven Männern.

„Der sieht ganz schön räudig aus“, stellte der ältere Herr, vermutlich Marcus‘ Vater, fest.

Räudig? Also bitte!

„Was für eine Rasse ist das?“, wollte das große Mädchen wissen.

„Sieht nach einem Wolfshund aus“, fand Marcus‘ Gattin.

Inzwischen hatte sein Kontaktmann alle möglichen Daten über Marcus geliefert. Unter anderem, dass Marcus seit über zehn Jahren mit Nathalie verheiratet war. Seine Chancen standen also mehr als schlecht.

„Der hat ja gar kein Halsband.“ Marcus‘ Mutter klang entsetzt. „Vielleicht ist er ein wildes Tier und hat Tollwut.“

Wenn man ihn noch länger beleidigte, konnte das durchaus passieren. Er wurde nämlich langsam wütend.

„Er ist ganz friedlich. Ich war sogar vorhin mit ihm Gassi“, wiegelte Marcus ab.

„Darf ich auch Gassi mit ihm?“, erkundigte sich der Junge.

„Wir sollten den Tierschutzverein anrufen“, fand Marcus‘ Gattin.

Das fehlte noch! Flavius‘ Fluchtreflex meldete sich mit Macht.

„Lasst ihn doch einfach in Ruhe“, bat Marcus. „Er ist von allein hergekommen, also wird er auch allein zu seinem Herrchen zurückfinden.“

Mit deutlichem Widerstreben ließen sich die Kinder zum Wagen scheuchen. Rasch suchte Flavius wieder Deckung unterm Liegestuhl. Als er sicher war, dass niemand guckte, schlich er zu seinem Klamottenversteck hinter der Garage. In Fledermausgestalt hängte er sich in den Flieder, der dort wuchs. Der blühende Busch bot hervorragenden Sichtschutz. Nachteil waren die Schmetterlinge, die den Busch stark frequentierten. Von dem Staub, den die Viecher aufwirbelten, juckte ihm die Nase.

Von seinem Posten aus – der Flieder überragte das Garagendach - sah er, wie Marcus‘ Eltern davonfuhren. Die Kinder winkten, bevor sie anfingen, durch den Garten zu wetzen.

„Hundi! Wo bist du?“, rief die Kleine in einem fort.

Einmal kam der Junge gefährlich nahe an sein Versteck. Entdeckt wurde er aber nicht. Schlussendlich, als die Mutter zum Abendessen rief, gaben die Kinder auf. Das Mädchen ließ den Kopf hängen, als es seinen Geschwistern ins Haus folgte.

Generell hatte Flavius zu Kindern keine spezielle Meinung. Da er nie in die Verlegenheit käme, eigene zu haben, hatte er sich nie damit beschäftigt. Angesichts der traurigen Kleinen spürte er eine ungewohnte Regung: Den Wunsch, ihr Trost zu spenden. Dieser Scheißduft schien ihn zu verweichlichen.

Er verließ sein Versteck, wechselte in Menschengestalt, zog sich an und schlich vom Grundstück. Mit jedem Schritt, den er sich entfernte, wurde seine Stimmung mieser. Das merkte er erst, als sie ihren Tiefpunkt erreichte und er den heftigen Drang verspürte, sich entweder zu besaufen oder umgehend zu Marcus zurückzukehren. Er winkte ein Taxi heran und fuhr zu Stanislaus.

Auf sein Klingeln hin öffnete Nazar. „Hi. Stanislaus ist arbeiten.“

„Wer sagt denn, dass ich ihn besuchen will?“ Er drängelte sich an Nazar vorbei. „Krieg ich einen Scotch?“

Nazar schloss die Tür. „Bedien dich. Du kennst dich ja aus.“

Im Wohnzimmer füllte er ein Glas mit Whisky und marschierte in die Küche, um Eiswürfel hinzuzufügen. Nazar stand am Herd und rührte in einem Topf. Es sah nach Bohnensuppe aus.

Flavius trank einen großen Schluck und lehnte sich gegen den Kühlschrank. „Ich war beim Duft-Quell.“

Stirnrunzelnd warf Nazar ihm einen kurzen Blick zu. „Duft-Quell?“

„Na, dem Typen, der auch solche Lockstoffe aussendet wie du.“

Nazar legte einen Deckel auf den Topf, wandte sich ihm zu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab nie Lockstoffe ausgesandt.“

„Das hast du bloß nicht gemerkt.“

„Und wo kommt dieser Typ plötzlich her?“

„Der war gestern auf der Party. Hat Stanislaus dir das nicht erzählt?“

Nazar winkte ab. „Du kennst ihn doch. Dem muss man jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen.“

Gerade deshalb schätzte er Stanislaus sehr: Wegen der Verschwiegenheit. „Vielleicht bin ich auch bloß untervögelt.“ Erneut setzte er das Glas an seine Lippen. Herrlich brannte der Drink in seiner Kehle. „Hättest du was gegen einen Mitleidsfick?“

Natürlich nur ein Scherz, denn das würde er Stanislaus niemals antun. Amüsiert sah er, wie sich Nazars Miene verfinsterte. „Reg dich ab. Ich hätte noch nicht mal Lust auf einen Dreier mit Stanislaus und dir.“

„Wie beruhigend“, brummelte Nazar.

„Es ist wie verhext. Obwohl ich bei dem Typ niemals landen kann, muss ich immer wieder zu ihm hin.“

„Wer ist es denn?“

„Ein Kollege von deinem Herzblatt.“

„Also auch ein Knochenrichter?“

„Nö. Ein Betäubungsfachmann.“

Nazar prustete. „Da bist du ja goldrichtig. Ab und zu würde ich dich auch gern betäuben.“

„Das erledige ich schon allein.“ Vielsagend hielt Flavius seinen Drink hoch.

„Nun erzähl mal.“ Nazar nahm am Tisch Platz. „Hast du ihn einfach so besucht?“

„Kann man so sagen.“ Er setzte sich ebenfalls hin und berichtete, was er bisher unternommen hatte.

„Konnte sich Stanislaus auch in einen Wolf verwandeln?“, wollte Nazar, als er geendet hatte, wissen.

„Klar.“

„Cool. Vielleicht solltest du ihn wieder wandeln … wobei … nein, lieber nicht. Als Mensch gefällt er mir besser.“

„Ich könnte euch beide wandeln“, schlug Flavius vor.

„Nein danke. Ewiges Leben ist nicht erstrebenswert.“

Insgeheim gab er Nazar recht. Es war auf Dauer echt langweilig. „Was soll ich denn nun machen? Hartmann ist verheiratet, drei Kinder. An den komme ich doch niemals ran.“

„Ist die Ehe denn glücklich?“

Er zuckte mit den Achseln. „Jedenfalls haben sie getrennte Schlafzimmer.“

„Vielleicht schnarcht dein Bestäub… ähm, Betäuber.“

„Kannst du nicht mal hingehen und die Lage sondieren?“

„Ha-ha! Soll ich etwa auch behaupten, ein Rechtsanwalt zu sein?“

„Du bist doch praktisch ein Unterkollege, so als Freund von Stanislaus.“

„Trotzdem sähe es dämlich aus, wenn ich mich selbst bei Hartmann zum Kaffee einlade.“

Flavius seufzte. „Da bleibt nur Alkohol. Prost!“ Sprach’s und kippte sich den Rest Scotch in den Rachen.


Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure - dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2022

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