Cover

Die Homo Schmuddel Nudeln präsentieren:

Zufall oder Schicksal?


Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autoren.


Copyright Texte: die Autoren

 

Fotos: Shutterstock Vektor 705649819 und 71723296

 

Coverdesign: Lars Rogmann

 

Korrektur: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Sissi Kaiserlos

 

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

https://www.sissikaipurgay.de/


Vorwort

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

obwohl sich die Lage in Bezug auf das Virus allmählich normalisiert hat, brauchen weiterhin viele Menschen unsere Hilfe; nicht nur in den Kriegsgebieten, sondern auch hier, wo für manchen das Überleben ebenfalls ein täglicher Kampf ist. Die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz, die sämtliche Erlöse dieses Buches erhalten, lindern Not, indem sie als Streetworker unterwegs sind, Spenden an Organisationen weiterleiten und auf vielen anderen Wegen Hilfe leisten.

Sämtliche Autoren und Helfer haben selbstlos Zeit und Mühe gespendet, um dieses Buch zu erschaffen. Ohne dich wäre all dieser Aufwand zwecklos. An dich also ein ganz großes Danke, dass du den Band erworben hast.

Einen schönen Sommer und hoffentlich bis bald

Sissi Kaiserlos im Nudelkostüm

Hamburg im Juni 2022


Wiedergeburt? – Sissi Kaipurgay

Am Grab seines verstorbenen Freundes hat Dennis eine unerwartete Begegnung.

1.

Dennis parkte seinen Wagen bei Kapelle 11. Der Himmel hing voller Wolken. Garantiert würde es bald zu regnen anfangen. Entsprechend begegnete er nur wenigen Friedhofsbesuchern, als er die Strecke zu Lukas‘ Grab zurücklegte.

Auf den Tag genau war es heute siebzehn Jahre her, dass er sich von seinem Freund verabschieden musste. Mit fünfzehn hatte Lukas Leukämie bekommen. Es war wahnsinnig schnell gegangen. Innerhalb weniger Wochen verwandelte die Seuche seinen lebhaften Kumpel in einen apathischen Menschen. Zum Schluss war Lukas nicht mehr ansprechbar gewesen. Einziger Trost: Die verabreichten Schmerzmittel ermöglichtem seinem Freund einen sanften Übergang vom Leben zum Tod.

Obwohl es so lange her war, hatte Dennis immer noch die ausgemergelte Gestalt vor Augen. Damals kannte seine Trauer keine Grenzen. Er hatte gerade erst rausgefunden, dass er auf Jungs – genauer gesagt auf Lukas – stand. Kaum war die Erkenntnis da, schon wurde ihm sein Liebster entrissen. Vielleicht wäre aus ihnen nie ein Paar geworden. Vielleicht hätte Lukas eine Frau geheiratet und mit ihr Kinder gezeugt. Das wäre ihm trotzdem tausendmal lieber, als das Grab seines Freundes zu besuchen.

Lukas‘ Eltern hatten ihren Sohn in einem Areal mit wunderschönen Trauerweiden beisetzen lassen. Auf dem kleinen, akribisch gepflegten Urnengrab stand bereits ein Strauß roter Rosen. Bestimmt stammten sie von Lukas‘ Eltern. Dennis füllte am nahegelegenen Brunnen Wasser in die Plastikvase, die er hinterm Grabstein lagerte und steckte sie neben der anderen in die Erde.

Auch er hatte rote Rosen besorgt. Seine waren etwas dunkler als die von Lukas‘ Eltern. Siebzehn Stück. Für jedes Jahr eine.

Nachdem er sie in der Vase arrangiert hatte, trat er einen Schritt zurück. „Ich vermisse dich immer noch.“

Auf dem Grabstein stand: Lukas Meier *15.4.1990 – 3.5.2005 – Viel zu früh von uns gegangen. Wahre Worte. Sie hatten so viele Pläne geschmiedet. Wo und was sie studieren wollten, wohin sie, wenn sie endlich allein losdurften, verreisen wollten. Für Lukas war nichts davon eingetreten. Dennis hingegen hatte an der Uni Hamburg Sport und Biologie auf Lehramt studiert und unterrichtete inzwischen an einer Stadtteilschule in Sasel. Die geplanten Reisen waren schon lange abgearbeitet. Mittlerweile zog es ihn nicht mehr in die Ferne. Lieber urlaubte er an der Nord- oder Ostsee.

Er ließ sich auf der Bank, die ungefähr drei Meter entfernt vom Grab am Stamm einer Trauerweide stand, nieder. Wie vorausgesagt, begann es zu regnen. Durch das Blätterdach war Dennis einigermaßen geschützt, spannte aber dennoch seinen mitgebrachten Regenschirm auf.

„Übrigens hat Jens mich vor einigen Wochen verlassen. Er meinte, wir würden nicht zusammenpassen, womit er leider recht hat.“ Dennis seufzte. „Vielleicht gibt es für mich keinen Deckel. Soll ja vorkommen.“

Er war nicht gern allein. Generell mochte er es schon, Zeit mit sich zu verbringen, doch nicht ständig. Er wünschte sich jemanden, mit dem er die gleiche Vertrautheit wie mit Lukas teilte. Vermutlich musste derjenige erst noch geboren werden. Seine zahlreichen Versuche mit Partnern waren nämlich allesamt schiefgelaufen.

Der Regen nahm zu. Er stand auf und stellte sich direkt an den Baumstamm. Es wäre wohl ratsam, so schnell wie möglich zum Wagen zurückzukehren, aber er konnte sich noch nicht von Lukas trennen.

Anfangs war er jeden Tag her gepilgert, dann jede Woche, dann einmal im Monat und schließlich nur noch an hohen Feiertagen, wie Lukas‘ Geburtstag, Todestag, Ostern und Weihnachten. Die Vorstellung, dass irgendwann das Grab aufgelöst wurde, behagte ihm gar nicht. Es war für ihn die letzte Verbindung zu Lukas. Riss sie ab, würde er sich verloren fühlen.

Plötzlich fiel ihm ein Junge ins Auge. Der Bursche, geschätztes Alter zwischen sechzehn und zwanzig, hatte ebenfalls unter einer Trauerweide Schutz gesucht, allerdings ohne Schirm. Die helle Jacke sah bereits ziemlich nass aus.

Besuchte der Junge auch einen Verstorbenen? Dennis hatte ihn noch nie hier gesehen. Es konnte natürlich sein, dass es sich bei dem Toten um einen Neuzugang handelte. Auf dem Feld, auf dem Lukas lag, befanden sich zwei frische Gräber.

Der Junge guckte zu ihm rüber und als sich ihre Blicke kreuzten, schnell wieder weg. Im nächsten Moment schaute ihn der Typ erneut an. Handelte es sich um einen Ausreißer, der auf dem Friedhof campierte? Schräger Gedanke. Andererseits gab es kaum einen ruhigeren Ort und nachts waren die Zugänge geschlossen, so dass man ungestört blieb. Na ja, ausgenommen von den Geistern der Toten.

So schnell, wie der Niederschlag begonnen hatte, hörte er plötzlich auf. Es war, als hätte Gott den Wasserhahn abgedreht. Unter dem Baum war es nun, da beständig Tropfen von den Blättern fielen, nasser als unter freiem Himmel.

Dennis verließ seine Position und trat ans Grab. „Ich komme bald wieder. Mach’s gut.“

Bevor er sich zum Gehen wandte, sah er rüber zu dem Jungen. Der lehnte weiterhin, beide Hände in den Hosentaschen vergraben, am Stamm der Trauerweide.

Auf dem Weg zum Parkplatz überlegte er, ob er dem Jungen Hilfe hätte anbieten sollen. Andererseits hatte er sich mit sowas schon oft Ärger an Land gezogen. Einmal war er sogar beinahe suspendiert worden, weil ein Schüler, dem er helfen wollte, behauptete, er hätte sich ihm unsittlich genähert. Zum Glück hatte sich der Junge besonnen und die Lüge aufgeklärt. Sowas brauchte er nicht noch mal. Der Typ ist nicht einer deiner Schüler, erinnerte ihn sein Gewissen. Trotzdem konnte es ihn seinen Job kosten, wenn er in Verdacht geriet, einen Minderjährigen belästigt zu haben.

Als er seinen Wagen erreicht hatte, zögerte er einzusteigen. Wenn er morgen in der Zeitung las, dass ein junger Obdachloser tot auf dem Friedhof Ohlsdorf gefunden wurde, würde er seines Lebens nicht mehr froh werden. Vielleicht plante der Bursche einen Suizid. In jedem Fall musste er dem Jungen anbieten, ihn irgendwohin zu fahren, wo ihm geholfen werden konnte. Er kehrte also um.

Inzwischen hatte der Junge den Standort gewechselt. Zu Dennis‘ Überraschung fand er ihn vor Lukas‘ Grab, weiterhin beide Hände in den Hosentaschen.

„Hi. Kann ich irgendwas für dich tun?“, sprach er den Jungen an.

Jener warf ihm einen Seitenblick zu. „Sind Sie Dennis?“

Erstaunt hob er die Augenbrauen. „Ähm … ja. Kennen wir uns?“

Der Junge schüttelte den Kopf, dann nickte er. „Indirekt schon.“

„Wie meinst du das?“

„Ich hab Sie in meinen Träumen gesehen.“

Das war ja mal eine raffinierte Anmache! Dennis wich ein Stück zurück. „Sorry, aber für sowas bin ich nicht zu haben.“

Der Junge runzelte die Stirn. „Wofür?“

„Ich stehe nicht für Sex zur Verfügung.“

Das Stirnrunzeln vertiefte sich. „Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich darauf aus bin?“

Anscheinend hatte er gerade falsche Schlussfolgerungen gezogen. Wie peinlich. „Sorry. Da hab ich wohl etwas in den falschen Hals bekommen.“

Der Junge zuckte mit den Achseln. „Kein Problem.“

„Wie meintest du das mit deinen Träumen?“

„Können wir irgendwo einen Kaffee trinken? Mir ist kalt.“ Fröstelnd zog der Junge die Schultern hoch.

„Wie heißt du?“

„Lutz.“

„Und wie alt bist du?“

„Siebzehn. Na ja …“ Lutz grinste schief. „Jedenfalls fast. Morgen hab ich Geburtstag.“

Dennis‘ Blick huschte zum Grabstein. Nicht, weil er Lukas‘ Todestag nicht mehr wusste, – deswegen war er schließlich hier – sondern weil es ein unglaublicher Zufall war, dass Lutz nur einen Tag später geboren wurde.

Angesichts Lutz‘ erneuten Schauderns fasste er einen Entschluss. „Wir fahren zu mir. Dann kann ich dir was Trockenen zum Anziehen leihen.“

„Nice“, murmelte Lutz.

Während sie nebeneinander hergingen, musterte er seinen Begleiter aus dem Augenwinkel. Irgendwie wirkte Lutz vertraut. Ach, bestimmt nur ein Hirngespinst. Ein Besuch an Lukas‘ Grab stimmte ihn stets melancholisch. Da sah man Dinge, wo es keine gab.

Die kurze Fahrt – er wohnte in der Nähe des Haupteinganges des Friedhofes – verbrachten sie schweigend. Lutz schaute aus dem Seitenfenster, die Finger im Schoß verknotet. Den teuren Klamotten zufolge stammte der Junge aus begüterten Verhältnissen. Das beruhigte Dennis ein wenig. Zumindest musste er nicht fürchten, beklaut zu werden. Was die Fähigkeit, Ärger zu verursachen betraf, waren alle Jugendlichen gleich. Manchmal verzapften die, von denen man es am wenigsten erwartete, den größten Bockmist.

Nachdem er seinen Wagen in der Tiefgarage abgestellt hatte, folgte Lutz ihm in den ersten Stock. Er ließ seinem Gast den Vortritt, wobei er überlegte, ob irgendwo etwas Peinliches rumlag. Schlimmstenfalls hatte er seine benutzte Unterwäsche nach dem Duschen im Bad vergessen. Damit konnte Lutz bestimmt leben.

An der Garderobe nahm er seinem Gast die durchweichte Jacke ab. „Die hänge ich zum Trocknen in die Dusche. Zieh bitte deine Schuhe aus und geh schon mal ins Wohnzimmer.“

Im Bad tat er etwas, das gegen seine Prinzipien verstieß: Er holte Lutz‘ Brieftasche aus der Jacke und filzte sie. Lutz Siegmann, wohnhaft in Lüneburg. Das Geburtsdatum stimmte.

In der Küche kümmerte er sich um Kaffee. Im Kühlschrank stand Kuchen, den seine Mutter ihm am Vortag mitgegeben hatte, als er zum Abendessen bei ihnen gewesen war. Er schnitt zwei Stücke ab, legte sie auf Teller und stellte alles auf ein Tablett, das er ins Wohnzimmer trug.

Lutz stand vor dem Sideboard, über dem etliche gerahmte Fotos an der Wand hingen. Einige davon zeigten ihn mit Lukas, der Rest seine Familie. Eine Art Ahnengalerie, da sich auch Bilder seiner Ur-Urgroßeltern darunter befanden.

„Ist er das?“, fragte Lutz und zeigte auf das Foto, auf dem Lukas und er Arm in Arm posierten.

Dennis nickte. „Möchtest du einen Pulli oder Socken haben?“

Lutz schüttelte den Kopf. „Nö, es geht schon.“

„Kaffee ist gleich fertig.“ Er räumte das Tablett ab und begab sich wieder in die Küche.

Warum war Lutz an Lukas‘ Grab gewesen, wenn er den Verstorbenen noch nicht mal kannte? Und woher wusste Lutz seinen Namen? Das mit den Träumen hielt er für Humbug. Darin verarbeitete man doch nur Geschehenes und zwar das, was einem selbst passiert war. Nicht die Erlebnisse eines Fremden.

Der Kaffeeautomat finalisierte. Mit der Kanne kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Inzwischen saß Lutz auf der Couch, kerzengerade und erneut die Finger im Schoß verknotet. Bei diesem Anblick wurde Dennis bewusst, wie angespannt der Junge war. Kein Wunder. Mit einem fremden Mann in dessen Wohnung würde er sich auch unwohl fühlen.

„Ich bin Dennis, wie du ja schon weißt und lass uns zum Du übergehen“, bot er an und ließ sich in einem der beiden Sessel nieder.

„Danke“, murmelte Lutz.

Während er ihre Becher füllte, herrschte Schweigen. Lutz schien nachzudenken. Übrigens war der Junge ziemlich attraktiv. Ein ebenmäßiges Gesicht, volle Lippen, lange Wimpern, ein schlanker Körper. Dennis musste, seit er die dreißig erreicht hatte, ziemlich aufpassen, um nicht zuzunehmen. Früher war das anders gewesen. Lukas und er hatten gefressen wie die Scheunendrescher. Einmal hatten sie bei McDoof gewettet, wer mehr Hamburger vernichten konnte. Beim dreizehnten war Dennis schlecht geworden. Lukas hingegen hatte fünfzehn gegessen, ohne ein Anzeichen von Übelkeit zu zeigen.

„Möchtest du mir etwas zu deinen Träumen erzählen?“, schlug Dennis vor.

„Es fing vor ungefähr fünf Jahren an. Glaub ich zumindest. Davor konnte ich mich nach dem Aufwachen nur bruchstückhaft an meine Träume erinnern, aber mit einem Mal waren sie im Ganzen präsent. Ich hätte sie trotzdem nicht aufschreiben können, weil …“ Lutz zuckte mit den Achseln. „Es hätte sich profan angehört. Zwei Jungen biken zum Baggersee und gehen schwimmen und ähnliches.“

Bei dem Wort Baggersee wallten Erinnerungen hoch. Lukas und er waren oft schwimmen gewesen.

„In letzter Zeit wurden die Träume intensiver. Die Handelnden bekamen, allerdings nur verschwommen, Gesichter. Außerdem redeten sie sich mit Namen an und zwar …“ Lutz atmete vernehmlich durch. „Dennis und Lukas.“

Falls der Junge ihm einen Bären aufband, dann machte er das ziemlich gut.

„Ich hab meinen Eltern davon erzählt. Mein Vater ist Psychiater, meine Mutter Heilpraktikerin. Die beiden haben mir geholfen rauszufinden, ob meine Träume Bezug zur Wirklichkeit haben.“

Ach, deshalb redete Lutz so erwachsen. Bei solchen Eltern durfte man garantiert keine Jugendsprache benutzen.

„Da ich nur die Vornamen der beiden wusste, war das aber unmöglich. Erst als ich vor einigen Wochen im Traum den Grabstein gesehen habe, war die Recherche meines Vaters erfolgreich.“

„Wissen die beiden, dass du hier – ich meine in Hamburg, nicht in meiner Wohnung - bist?“

„Natürlich. Ich bin minderjährig.“ Lutz zückte ein Smartphone und hielt es hoch. „Ich war so frei und hab ihnen deine Adresse geschickt. Falls man meine Leiche findet, kennen sie gleich den Mörder.“

Dennis verdrehte die Augen. „Ich würde dich zersägen und die Einzelteile im Klo runterspülen. Dann findet dich niemand.“

„Hast du das schon mal ausprobiert?“

Er schüttelte den Kopf. „Vermutlich würde das Klo verstopfen. Ich muss noch über eine bessere Möglichkeit der Leichenentsorgung nachdenken.“

Lutz grinste. „Frag Google. Der weiß für alles einen Rat.“

„Zurück zu deinen Träumen: Passieren darin schlimme Dinge?“

„Abgesehen davon, dass sich die beiden mal blaue Flecke verpassen oder versuchen, sich gegenseitig zu ertränken, nein.“

Lukas hatte ihn oft mit seiner Scheu vor Wasser aufgezogen. Dennis hasste es, zu tauchen. Sein Kumpel hingegen befand sich meist mehr unter als über der Wasseroberfläche, als wäre ein Fisch an ihm verlorengegangen.

„Mein Vater glaubt, dass dieser Lukas versucht, über mein Unterbewusstsein Kontrolle über mich zu erlangen. Er befürchtet, dass ich mich einer Schizophrenie nähere. Es war daher sein Vorschlag, dass ich mich der Situation stelle.“

„Soll das heißen, du warst schon öfter an Lukas‘ Grab?“

Lutz schüttelte den Kopf. „Mein Vater meinte, dass sein Todestag der beste Zeitpunkt wäre, um jemanden aus seiner Umgebung anzutreffen.“

„Was erwartest du von mir?“

„Nichts. Ich wollte nur mit eigenen Augen sehen, ob es ihn und dich wirklich gibt – gegeben hat.“ Lutz schnappte sich einen der Becher. „Ähm … hast du Milch?“

„Tschuldige. Natürlich.“ Er sprang auf, holte das Gewünschte und nahm wieder Platz. „Hast du Lukas und mich nur bei typischen Jungen-Sachen gesehen oder auch bei etwas anderem?“ Obwohl in der Realität nie etwas Sexuelles zwischen ihnen passiert war, wäre ihm das unendlich peinlich.

Stirnrunzelnd kippte Lutz Milch in den Kaffee und trank einen Schluck. „Ist dämliche Fernsehserien gucken einen typische Jungs-Sache?“

Entweder hatte er sich nicht deutlich genug ausgedrückt, es war nichts dergleichen geschehen oder Lutz wollte ihn nicht verstehen. „Welche dämlichen Serien?“

„Hannah Montana.” Lutz rümpfte die Nase.

Den Mist hatten sie sich tatsächlich reingezogen, aber nur, weil Lukas heimlich in Miley Cyrus verknallt war.

„Gestern Nacht hatte ich einen besonders schönen Traum. Ihr habt zusammen übernachtet und euch gegenseitig eure Geheimnisse verraten. Das fand ich total niedlich und irgendwie … irgendwie war ich neidisch. Ihr müsst euch sehr gemocht haben.“

„Öhm … was für Geheimnisse?“

„Lukas hat dir verraten, dass er in Hannah verliebt ist und du hast im Gegenzug erzählt, dass du auf Kaya aus eurer Parallelklasse stehst.“

Wie vom Donner gerührt starrte er Lutz an. Bis zu diesem Moment hatte er die Geschichte für ein Märchen gehalten, doch nun gab es einen stichhaltigen Beweis. Von diesem Gespräch wussten nur Lukas und er. Das mit Kaya war gelogen gewesen. Er konnte Lukas ja schlecht sagen, wem wirklich sein Herz gehörte.

„Was noch sehr merkwürdig ist, außer meinen Träumen: Mein Vater sagt, dass ich als Kleinkind oft nach Dennis gefragt habe. Es gab aber gar keinen Dennis in unserer Umgebung, weder im Kindergarten noch sonst wo. Ich hatte das verdrängt“, sprach Lutz weiter.

Dennis glaubte nicht an Reinkarnation, begann jedoch daran zu zweifeln. Wie sonst war es möglich, dass Lutz über derartige Informationen verfügte?

„Ich kann verstehen, dass Lukas dich sehr mochte. Du bist ziemlich cool.“ Lutz schenkte ihm ein Lächeln.

„Sei mir nicht böse, aber ich denke, ich bringe dich jetzt besser nach Hause.“ Er brauchte Freiraum, um das Gehörte zu verdauen.

„Hab ich was Falsches gesagt?“

Dennis schüttelte den Kopf. „Nein, alles okay. Ich muss das nur erstmal verdauen.“

„Also sehen wir uns wieder?“

„Gib mir deine Telefonnummer. Ich melde mich bei dir.“



2.

Zum Glück war Wochenende und es stand keine Verabredung an, denn die Unterhaltung mit Lutz hatte ihn ganz schön aufgewühlt. Den ganzen restlichen Tag konnte er sich auf nichts konzentrieren. Immer wieder ließ er das Gespräch Revue passieren und suchte nach Anhaltspunkten dafür, dass Lutz ihn belogen hatte. Keine Chance. Alles hatte echt geklungen.

Auch den Sonntag verbrachte er grüblerisch. Konnte es sein, dass Lukas in Lutz‘ Gestalt zurückgekehrt war? Oder war das reines Wunschdenken? Doch selbst wenn sich Lukas‘ Seele in Lutz befand, war der doch eine eigene Persönlichkeit. Gut, es gab Übereinstimmungen, wie das schiefe Grinsen und die Art, wie Lutz den Becher gehalten hatte. Allerdings galt beides für viele Menschen. Ein weiteres Indiz war, dass sich Dennis, trotz des Altersunterschieds und der Tatsache, einem Fremden gegenüberzusitzen, in Lutz‘ Gegenwart wohl gefühlt hatte

In der folgenden Woche redete er sowohl mit Kurt, der Theologie unterrichtete, als auch mit Marianne, der Philosophielehrerin. Von seinem Hirngespinst brauchte niemand wissen, daher stellte er seine Fragen auf rein theoretischer Basis. Beide Kollegen äußerten sich vage. Einer wiedergeborenen Seele waren die zwei noch nie begegnet, hielten es aber generell für möglich, dass es sowas gab. Das war wenig hilfreich.

Am Samstag, als er bei seinen Eltern zum Kaffeekränzchen auftauchte, weihte er sie in die Geschehnisse ein. Lukas war praktisch ihr zweiter Sohn gewesen, genau wie Lukas‘ Eltern ihn adoptiert hatten.

„Sieh er denn aus wie Lukas?“, wollte seine Mutter wissen.

„Sie haben die gleiche Augenfarbe und Größe. Ansonsten hab ich kaum Ähnlichkeit entdeckt.“

„Vielleicht hätte Lukas so wie dieser Lutz ausgesehen, wenn er länger gelebt hätte“, meldete sich sein Vater zu Wort.

Gut möglich. Mit fünfzehn war man ja noch in der Entwicklung.

„Wirst du ihn anrufen?“, fragte seine Mutter.

„Ich weiß es nicht.“ Seufzend kratzte er sich am Kinn. „Mit Lutz über Lukas zu reden, hat die Wunde wieder geöffnet.“

„Manchmal muss man alte Wunden aufreißen, damit sie vollständig heilen können“, behauptete seine Mutter.

„Ich hab Lukas‘ Tod schon lange verarbeitet“, widersprach er.

„Schatz …“ Sie tätschelte seine Hand. „Der Verlust eines geliebten Menschen beschäftigt einen ewig. Glaub mir. Das weiß ich aus Erfahrung.“

Ihre beiden Brüder, seine Onkel, waren kurz nacheinander an Krebs gestorben. Insofern durfte er ihren Worten Glauben schenken.

„Wir würden diesen Lutz auch gern kennenlernen“, mischte sich sein Vater erneut ein. „Er scheint ein guter Mensch zu sein.“

Als er wieder daheim war, wählte er Lutz‘ Mobilnummer.

„Ich hatte Angst, dass du dich nie wieder meldest“, sagte Lutz anstelle einer Begrüßung.

Wieso Angst? „Es ist doch erst eine Woche her, dass wir uns gesehen haben?“

„Mir kommt’s länger vor.“

„Wo bist du?“

„Zu Hause.“

„Ich hätte Lust auf einen Ausflug nach Lüneburg. Kann man da irgendwo draußen sitzen und eine Kleinigkeit essen?“

„Klar.“

„Dann mache ich mich auf den Weg.“

Beim letzten Mal, als er Lutz nach Hause chauffiert hatte, war wenig Verkehr gewesen. Wieder hatte er Glück und kam gut durch. Innerhalb einer Stunde erreichte er Lutz‘ Elternhaus. Ein Bungalow in einem Garten, der vermutlich so aussehen sollte, als wäre er nicht gepflegt. Die Anordnung der Stauden war jedoch zu durchdacht, als dass es von Mutter Natur stammen könnte.

Auf sein Läuten hin öffnete ein älterer Herr mit Halbglatze, Brille und Kugelbauch.

„Guten Abend. Ich bin Dennis Wagner und mit Lutz verabredet“, stellte er sich vor.

„Schön, Sie kennenzulernen. Kommen Sie rein.“ Der Mann, sehr wahrscheinlich Lutz‘ Vater, trat beiseite.

Im Flur – helle Holzdielen, weiße Tapete – hingen getrocknete Kräuter und zahlreiche Bilder an den Wänden. Die Garderobe war überladen mit Jacken, Mützen und Schals. Darunter: Ein Haufen Schuhe.

„Auf ein Wort“, bat Lutz‘ Vater, öffnete eine Tür zu ihrer Rechten und geleitete Dennis in einen Raum, der nach dem Sprechzimmer aussah. Am Fenster stand ein Ohrensessel, eine Couch mit buntem Bezug an der Wand. Neben zwei Beistelltischen gab es ein Bücherregal, das die gesamte Frontseite einnahm.

„Lutz wirkt manchmal innerlich total zerrissen. Vielleicht hört das auf, wenn Sie sich regelmäßig mit ihm treffen“, meinte Lutz‘ Vater. „Meinen Segen haben Sie.“

„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich Ihren Sohn häufig sehen möchte – oder kann. Es wühlt einiges bei mir auf.“

„Verständlich. Ich wollte Ihnen auch nur mitteilen, wie wir – meine Frau und ich – dazu stehen.“

Es klopfte an der Tür. Lutz schaute herein. „Mensch, Papa! Lass meinen Besuch in Ruhe!“

„Ich tue ihm doch gar nichts.“

„Hi Dennis.“ Lutz winkte ihn aus dem Zimmer. „Lass uns los. Hier riecht’s nach elterlicher Kontrolle.“

„Viel Spaß!“, rief Lutz‘ Vater ihnen hinterher, als sie die Haustür ansteuerten.

Lutz lotste ihn zu einem Lokal mit Biergarten, das sie zu Fuß erreichen konnten. Dafür, draußen zu sitzen, war es ohne Sonnenschein leider noch zu kühl. Sie ließen sich also im Innenraum an einem freien Tisch nieder.

„Du bist eingeladen“, verkündete Dennis und griff nach der Speisekarte.

„Das ist lieb, aber ich möchte getrennte Rechnungen“, erwiderte Lutz.

„Wieso?“

„Weil es unhöflich wäre, dich auszunutzen.“

„Okay“, brummelte er und bemühte sich zu verbergen, dass ihn die Ablehnung verletzte. Eine unlogische Reaktion. Er hasste Unlogik.

Nachdem sie bestellt hatten, fragte er: „Gehst du noch zur Schule?“

Lutz nickte. „Ich stecke mitten im Abitur. Danach will ich ein Jahr Auszeit nehmen, bevor ich mich an der Uni einschreibe.“

„Welche Fächer?“

„Na, was wohl?“ Lutz verdrehte die Augen. „Natürlich Psychologie. Danach will ich aber in einem Unternehmen einsteigen, nicht wie mein Vater selbst praktizieren. Vielleicht gehe ich sogar in den Strafvollzug.“

Das bot reichlich Gesprächsstoff, während dem ihre Getränke serviert wurden. Dennis war erstaunt über Lutz‘ Zielstrebigkeit. Der Junge wusste sehr genau, was er wollte. Genau wie Lukas, der schon als kleiner Junge Polizist werden wollte und daran bis zum Tod festgehalten hatte. Na gut … es hätte sich in den letzten Schuljahren einiges ändern können. Er hatte auch erst spät eine endgültige Entscheidung getroffen.

Beim Essen drehte sich ihre Unterhaltung um seinen Job. Dennis gab einige Anekdoten aus seinem Berufsalltag zum Besten; beispielsweise von dem Schüler, der behauptete, sein Meerschweinchen hätte die Hausaufgaben gefressen.

„Meerschweinchen?“ Lutz prustete leise. „War die Aufgabe, etwas aus Gräsern zu basteln?“

Dennis schüttelte den Kopf. „Das arme Tier hat angeblich sein Schulheft gefressen. Ich hätte ihn dazu verdonnern sollen, mir den Kot als Beweismaterial zu bringen.“

Als der Kellner ihre leeren Teller abräumte, bat er um einen Espresso. Lutz bestellte ein Mineralwasser und erklärte: „Mit Koffein im Blut kann ich nicht schlafen.“

„Geht mir genauso, aber morgen muss ich ja nicht früh aufstehen.“

Das erste Mal trat eine Gesprächspause ein. Den Blick gesenkt zupfte Lutz an der Tischdecke herum. Lag dem Jungen etwas auf der Seele?

Schließlich schaute Lutz hoch. „Was hat mein Vater vorhin zu dir gesagt?“

War es ein Vertrauensbruch, dessen Worte wiederzugeben? „Das fragst du ihn lieber selbst.“

„Du bist verschwiegen“, stellte Lutz anerkennend fest. „Das finde ich im Moment zwar ätzend, aber generell klasse.“

Er zuckte mit den Achseln. „Oft ist es besser, den Mund zu halten. Man erspart sich viel Ärger.“

Der Ober erschien mit ihren Getränken. Dennis nutzte die Gelegenheit, den Mann um ihre Rechnungen zu bitten. Nachdem der Kellner gegangen war, prostete er Lutz mit seinem Tässchen zu. „Danke für den schönen Abend.“

Stumm erwiderte Lutz seine Geste. Im Kerzenschein wirkte sein Gegenüber älter als siebzehn, die Gesichtszüge kantiger. Von Minute zu Minute gefiel ihm Lutz mehr. Leider war er nicht sicher, ob seine Gefühle etwas mit Lukas zu tun hatten. In vielen kleinen Dingen glaubte er, seinen verstorbenen Freund in Lutz zu erkennen. Oder wollte er unbedingt Ähnlichkeiten finden und verglich die beiden deshalb ständig miteinander? Es war verwirrend.

Die Luft war merklich abgekühlt. Dennis schlug den Kragen seiner Jacke hoch und steckte beide Hände in die Hosentaschen. Er hätte einen Schal mitnehmen sollen.

Schweigend gingen sie nebeneinander her. Ungefähr auf der Hälfte des Weges blieb Lutz stehen. Gezwungenermaßen stoppte er ebenfalls.

„Hat dir mein Vater verraten, dass ich in dich verknallt bin?“, erkundigte sich Lutz leise.

Hätte er mit sowas rechnen müssen? Ihm fehlten die Worte.

Anscheinend guckte er ziemlich geschockt, denn Lutz seufzte. „Da hab ich wohl gerade ein Eigentor geschossen, nicht wahr?“

„Ich … ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.“

Mit flehentlichem Blick flüsterte Lutz: „Magst du mich wenigstens ein bisschen?“

„Natürlich. Du bist sehr liebenswert.“

„Meinst du … meinst du, dass mehr daraus werden könnte?“

Wäre Lutz älter, würde er sofort nicken. Es trennten sie aber fünfzehn Jahre. Außerdem fehlte Lutz Erfahrung. Er wollte nicht zum Meilenstein eines Heranwachsenden und genauso auf dessen Lebensweg zurückgelassen werden.

„Findest du nicht, dass du es erstmal mit Gleichaltrigen versuchen solltest?“

Lutz schüttelte den Kopf. „Die sind mir alle zu kindisch.“

„Darf ich darüber nachdenken, bevor ich antworte?“

„Klar, aber bitte nicht so lange.“

„Was ist für dich lange?“

„Eine Woche.“

Die Ungeduld der Jugend. Dennis musste schmunzeln. „Lass uns morgen im Laufe des Tages telefonieren. Okay?“

„Okay.“ Lutz schenkte ihm ein Lächeln und setzte sich wieder in Bewegung.



7 Jahre später

Obwohl sie etliche Hürden in all den Jahren meistern mussten, hatte Dennis seine Entscheidung keinen Tag bereut. Lutz verlieh seinem Leben Farbe. Selbst wenn er Dennis irgendwann für einen Jüngeren verließ, konnte er auf viele wunderschöne Stunden zurückblicken, wofür sich das Risiko allemal lohnte.

Inzwischen studierte Lutz im letzten Semester Psychologie und würde danach tatsächlich im Strafvollzug anfangen. Sein Schatz war ein engagierter Mensch, was Dennis sehr schätzte. Ach, er schätzte alles an Lutz. Sein Augenstern war einfach wundervoll.

„Was für eine Kacke! Meine Lieblingsjeans ist hinüber“, tönte es aus dem Schlafzimmer.

„Ts“, murmelte Dennis, der am Küchentisch saß und seinen ersten Kaffee schlürfte.

Lutz tauchte im Türrahmen auf, eine Jeans in den Händen. „Oder meinst du, dass ich sie so noch anziehen kann?“

Das Teil war von Anfang an durchlöchert gewesen. Warum Leute für kaputte Klamotten Geld ausgaben, würde Dennis nie verstehen. Vermutlich hatte sich bei der letzten Wäsche der Riss am Oberschenkel erweitert und zog sich nun bis zum Schritt. Wenn Lutz Pech hatte, schmuggelte sich beim Tragen sein Gehänge ins Freie.

„Im Bett darfst du sie gern anziehen. Das sieht bestimmt scharf aus, wenn du nichts drunter hast.“ Grinsend führte Dennis seinen Becher an die Lippen.

„Lustmolch!“ Gespielt empört schüttelte Lutz den Kopf. „Obwohl … das werde ich gleich mal ausprobieren.“

Sprach’s und verschwand aus seinem Blickfeld. Prompt meldete sich Dennis‘ Schwanz. Das Teil verhielt sich manchmal, als wäre es in einen Jungbrunnen gefallen. Es kam ihm vor, als ob seine Lust auf Sex von Jahr zu Jahr wuchs.

Rasch leerte er seinen Kaffeebecher, um Lutz ins Schlafzimmer zu folgen. Jener war gerade dabei, in die kaputte Jeans zu steigen.

Er umarmte Lutz von hinten. „Lass sie aus, sonst muss ich sie dir gleich vom Leib fetzen.“

„Whoa! Wecke ich das Tier in dir?“

„Mhm“, nuschelte er, seine Lippen auf Lutz‘ Nacken gepresst.

Sein Liebster erschauerte. Es war wunderbar zu wissen, welche Knöpfe er drücken musste. Vertrautheit machte Sex erst richtig schön.

„Wirfst du mich jetzt aufs Bett und nagelst mich durch die Matratze?“, fragte Lutz in verruchter Tonlage.

„Eigentlich hatte ich darauf gehofft, dass du deinen Hammer zum Einsatz bringst.“

Lutz drehte sich in seiner Umarmung um. Ihre Lippen trafen sich. Er liebte es, Lutz zu küssen. Er liebte Lutz. Wie könnte er es auch nicht? Sein Schatz war anbetungswürdig.

„Lieb dich so“, flüsterte Lutz, als sie kurz Atem schöpften.

„Ich dich auch“, gab er zurück und verband erneut ihre Münder.

Nach etlichen Minuten, die sie mit schweißtreibendem Bettsport verbracht hatten, lag er in Lutz‘ Armen und seufzte behaglich. Sein Körper summte noch in der Erinnerung des fulminanten Orgasmus.

„Wir sind im verflixten siebten Jahr“, stellte Lutz fest. „Wenn wir das überstehen, musst du mich endlich heiraten.“

Das H-Wort fiel nicht das erste Mal. Lutz hatte ihm mehrfach einen Antrag gemacht und er stets um Bedenkzeit gebeten. Er wollte seinen Liebsten nicht an sich fesseln. Lutz sollte die Möglichkeit haben, sich ohne bürokratische Hürden jederzeit gegen ihn zu entscheiden.

„Wenn wir das überstehen, mache ich dir einen Antrag“, versprach er.

„Warte!“ Lutz sprang aus dem Bett, rannte davon und kehrte mit Smartphone in der Hand zurück. „Das muss ich aufnehmen.“

Vor laufender Kamera wiederholte er sein Versprechen. Strahlend guckte sich Lutz den Clip ein paarmal an. Sein Schatz sah dabei, mit den zerzausten Haaren und breitem Lächeln, zum Auffressen schnuckelig aus.

Anfangs hatte er ständig nach Ähnlichkeiten mit Lukas gesucht. Inzwischen war das Geschichte. Lutz besaß einen ganz eigenen Charakter und er liebte ihn von ganzem Herzen.

Ihm erschien es, als ob Lukas Amor gespielt hätte, denn nachdem Lutz und er zusammengekommen waren, hatten sich die Träume verflüchtigt. Lutz‘ Vater wusste dazu auch keine plausible Erklärung. „Die menschliche Psyche ist unergründlich“, pflegte der alte Herr zu sagen.

Im Grunde war es egal. Hauptsache, Lutz war glücklich. Das stand für Dennis an erster Stelle. So sollte wahre Liebe doch sein, nicht wahr?



ENDE



Schicksal im Gepäck - Karo Stein



1.

Gähnend fahre ich an die Kreuzung heran und halte vorschriftsmäßig vor dem Stoppschild. Dummerweise habe ich meinen Kaffeebecher zu Hause stehengelassen, denn ich bin spät dran. Zum Glück brauche ich mit dem Auto bis zum Büro nur fünfzehn Minuten. Mit dem Fahrrad bin ich allerdings ebenso schnell. Normalerweise bevorzuge ich deshalb, und natürlich aus Umwelt- und Fitnessgründen, das Rad, aber heute hatte sich wohl eine höhere Macht gegen mich verschworen. Zuerst hat der Wecker vergessen zu klingeln, dabei bin ich mir verdammt sicher, dass ich ihn gestern Abend gestellt habe. Kopflos bin ich aus dem Bett gestürmt, nachdem mich ein Poltern bei den Nachbarn aus dem Schlaf gerissen hat. Auf dem Weg zum Bad bin ich über den verdammten Läufer gestolpert und konnte mich gerade noch abfangen, bevor ich auf dem Parkett gelandet wäre.

Es sollte mich kaum verwundern, dass das Vorderrad meines Bikes platt war und ich natürlich die Luftpumpe im Keller nirgendwo gefunden habe. Wenn ein Tag schon so anfängt ...

Ich hätte lieber zurück ins Bett gehen und mir die Decke über den Kopf ziehen sollen. Zumal heute auch keine wichtigen Termine anstehen und ich vermutlich meiner Oma im „Senflädchen“ aushelfe. Kräuter hacken oder Senfkörner mahlen oder am schlimmsten: Gläser auskochen.

Ich drehe den Kopf nach rechts, dann links, wieder rechts und halte in der Bewegung abrupt inne. Stirnrunzelnd begreife ich allmählich, was ich in einiger Entfernung sehe. Jemand rennt auf der Fahrbahn entlang. Er zieht einen beachtlich großen Rollkoffer hinter sich her und trägt einen riesigen Rucksack auf dem Rücken. Einige Autos umfahren ihn mit angemessenem Abstand. Ein Fahrer hupt, was die Person jedoch nicht dazu bringt, auf dem Fußweg weiterzulaufen. Offenbar hat sie es sehr eilig.

Im ersten Moment kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, dann fällt mein Blick auf die Uhr am Bordcomputer des Autos. Ich schaue erneut zu der Person. Sie muss sich tatsächlich verdammt beeilen, wenn sie es auf den nächsten Zug abgesehen hat. In ein paar Minuten schließen die Schranken und dann ist der schnellste Weg dorthin abgeschnitten. Die Unterführung wurde vor ein paar Jahren gesperrt. Es gibt noch einen Weg über den Großraumparkplatz, aber der ist deutlich länger und erst recht nicht zu Fuß und mit dieser Menge an Gepäck zu schaffen.

Es dauert nur den Bruchteil eine Sekunde, bis ich das Lenkrad nach rechts drehe und beschleunige. Ich habe keine Ahnung, warum ich das mache, aber offenbar steckt ein Samariter in mir, der sich die ersten Karmapunkte des Tages verdienen möchte. Da färbt wohl die Gedankenwelt meiner Oma auf mich ab.

Vielleicht bin ich auch ein bisschen neugierig, wer da einen ebenso miesen Start in den Tag hatte wie ich.

Auf Höhe der Person werde ich langsamer und drücke auf den Knopf, der das rechte Fenster herunterfährt.

„Soll ich Sie mitnehmen?“, rufe ich laut.

Erschrocken macht der Angesprochene einen Satz, stolpert und beugt sich leise fluchend vor, um ins Innere meines Autos zu schauen. Er schüttelt energisch den Kopf, die Mütze rutscht ihm ins Gesicht, und richtet sich wieder auf. Es ist auf jeden Fall ein Mann. Der knappe Moment hat jedoch nicht gereicht, um ihn zu erkennen. Allerdings kenne ich natürlich auch nicht jeden Einwohner. Zumal es viele Touristen hierher zieht.

„Ich mache es gern“ biete ich erneut an. „Mit dem Auto stehen die Chancen größer, dass Sie den Zug bekommen.“

Es ist nicht einfach, sein Tempo mit dem Auto zu halten und zugleich den Gegenverkehr im Auge zu haben.

„Willst wohl sichergehen, dass ich auch tatsächlich verschwinde“, keucht er kaum verständlich.

„Ähm? Ich verstehe nicht.“ Irritiert versuche ich, mehr von ihm zu sehen, aber weiter als bis zur Taille reicht mein Blick nicht, denn er rennt genau neben der Beifahrertür.

Verdammt, von hinten kommt ein Wagen angebraust. Ich gebe kurz Gas und fahre vor ihm an den Straßenrand, sodass der Mann abrupt stehenbleiben muss.

„Weshalb sollte ich ... Tobias?“ Ich kneife die Augen zusammen und kann nicht fassen, dass wir uns ausgerechnet hier begegnen. Mit dem vielen Gepäck wirkt er, als wäre er auf der Flucht. Sein Gesicht ist von der Anstrengung puterrot und Schweißperlen tropfen von seiner Stirn. Die Mütze ist bei dem warmen Wetter auch nicht unbedingt von Vorteil.

„Tu doch nicht so, Arne“, faucht er mich an und versucht, mein Auto zu umrunden, indem er den offensichtlich schweren Koffer über die Bordsteinkante zerrt.

„Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht, aber mein Angebot steht. Ich bringe dich zum Bahnhof. Mit etwas Glück schaffen wir es pünktlich.“

„Mit etwas Glück“, wiederholt er ironisch und wischt sich mit dem Arm über die Stirn. „Euer Glück, mein Pech“, murmelt er und seufzt schwer.

Ich weiß nicht, was sein Problem ist, aber ich bekräftige meine Aussage, indem ich mich über den Sitz beuge und die Tür aufstoße. Fluchend verharrt er, dann bugsiert er den Koffer und den Rucksack auf die Rückbank und lässt sich neben mich in den Sitz fallen. Kaum hat er die Tür geschlossen, fahre ich los. Die Räder drehen dabei sogar durch, was ein bisschen peinlich ist.

„Wohin willst du denn?“, frage ich im plauderhaften Tonfall und hoffe, ich klinge nicht so nervös, wie ich mich fühle. Tobias neben mir im Auto zu haben, ist ein ziemlich mieser Streich des Schicksals, wo wir uns doch seit einiger Zeit aus dem Weg gehen. Wobei ich vielmehr den Eindruck habe, dass er jeglichen Kontakt vermeidet, dabei gab es eine kurze Zeit, in der ich dachte, wir könnten uns besser kennenlernen.

„Keine Ahnung“, grummelt er und verscheucht meine Gedanken. „Hauptsache weg. Du musst echt nicht so freundlich tun. Wirst du meiner Mutter berichten, dass ich tatsächlich losgefahren bin? Hat sie dich etwa ...“

„Halt, warte“, unterbreche ich ihn verwirrt. „Ich weiß nicht, wovon du redest. Es war gerade purer Zufall. Ich wollte einfach nur freundlich sein, weil mein Tag beschissen angefangen hat. Karmapunkte und so ...“ Ich schaue kurz zu ihm rüber und versuche es mit einem aufmunternden Lächeln.

„Meiner auch“, flüstert er kaum verständlich und mit verkniffener Miene. „Also ist es tatsächlich ein Zufall?“, erkundigt er sich erneut.

Ich spüre seinen Blick auf mir und nicke heftig.

Wir sind noch einige hundert Meter vom Bahnübergang entfernt, als das rote Licht am Andreaskreuz aufleuchtet.

„Scheiße“, fluchen wir zugleich. Selbst wenn ich schneller fahre, schaffen wir es nicht rechtzeitig. Die Schranken schwanken bereits verdächtig.

Hastig setze ich den Blinker und biege erneut nach rechts, zum Großraumparkplatz. Ich fahre sechzig in der 30er Zone und hoffe, dass nirgendwo ein Blitzer steht. Wir fliegen nahezu auf den Parkplatz, der zum Glück kaum belegt ist. Mit einer rasanten Bremsung landen wir in der Parklücke, hinter der sich der Weg über die Gleise anschließt. Noch ist der Zug nicht eingefahren.

„Du kannst es schaffen“, sage ich und schalte erleichtert die Zündung aus. „Wo willst du überhaupt hin?“

„Irgendwohin ... Vermutlich nach Berlin.“

„Und kennst du jemanden in Berlin?“

„Nein.“

„Wie sieht denn dann der Plan aus?“, frage ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und wünsche, ich könnte ihn aufhalten. „Die Stadt ist riesig. Wo willst du unterkommen?“

„Egal. Ich finde schon was.“

„Hör mal, Tobias. Das klingt nicht nach einer guten Idee. Ich habe keine Ahnung, weshalb du so dringend wegwillst, aber...“

„Geht dich auch nichts an. Ich muss los.“

Er zerrt sein Gepäck von der Rückbank, bedankt sich kaum verständlich und schlägt die Autotüren mit dermaßen viel wütender Energie zu, dass das Auto wackelt. Ehe ich mich versehe, rennt er über die Schienen zum Bahnsteig.

Dumpf höre ich die Ansage, dass der Zug in wenigen Augenblicken einfährt.

Ich sollte losfahren, denn mein Job ist erledigt, aber ich fühle mich wie gelähmt. Erinnerungen steigen in mir auf. Es ist drei Jahre her, als ich ebenso überstürzt abgehauen und hier gelandet bin. Ich bin aus meiner schrecklichen Beziehung mit Emil geflohen. Er hatte mich mal wieder betrogen, obwohl er versprochen hat, dass er treu sein wird. Diesmal lagen sie in unserem Bett. Der Kerl hatte nicht mal den Anstand abzuhauen, sondern hat sich wie zu Hause in unserer Wohnung gefühlt. Nackt ist er an mir vorbei in die Küche gegangen, um sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank zu holen und ihn genüsslich zu verspeisen. Dabei hat er sich lasziv gegen einen Schrank gelehnt. Die muskulösen Beine überkreuzt und mit halbhartem Schwanz, als würde er sich an der beschissenen Situation und meinem Leid aufgeilen. Es war mein Joghurt, sogar meine Lieblingssorte, die ich seitdem nicht mehr essen kann, ohne einen Würgereiz zu verspüren.

Im Nachhinein kann ich mich kaum erinnern, was wir uns alles an den Kopf geworfen haben. Ich weiß nur, dass ich meine Reisetasche vom Schrank gezerrt habe, wahllos Klamotten hineingestopft und die Wohnung verlassen habe. So richtig bewusst wurde mir das Ende erst auf dem Bahnsteig. Als der Zug einfuhr und ich ... ich erkannte, dass mein Leben nur noch ein verdammter Scherbenhaufen war.

Ich bekomme eine Gänsehaut und versuche, die düsteren Gedanken abzuschütteln. Immerhin hatte ich im Gegensatz zu Tobias ein Ziel, einen Heimathafen, von dem ich wusste, dass ich willkommen war.

Es gefällt mir nicht, dass er allein ist. Ich hätte ihn aufhalten sollen, aber er war so wütend. Offensichtlich auch auf mich, dabei habe ich keine Ahnung, weshalb er überstürzt abhaut. Wir kennen uns kaum. Obwohl ich mir schon seit einer Weile wünsche, dass wir mehr Kontakt hätten. Bisher war ich zu feige, aber er ist mir auch aus dem Weg gegangen. Die Sache mit Emil hat mein Vertrauen und Selbstwertgefühl nicht gerade gepusht. Dazu kommt noch die Angst, dass ich erneut von vorn anfangen muss, wenn ich mich wieder auf einen Mann einlasse und es schiefgeht. Möglicherweise bin ich zu langweilig, um jemanden auf Dauer zu faszinieren. Ganz abgesehen davon gibt es einige Gerüchte über Tobias, die mich nicht dazu verführen, einen Versuch zu starten, weil sie mich zu sehr an Emils Verhalten erinnern. Wieso ist es so wichtig, mit möglichst vielen Menschen Sex zu haben, anstatt mit einer Person Vertrauen aufzubauen und gemeinsam verrückte Dinge zu erforschen?

Vor dem Zug herrscht reges Gedränge. Für eine Kleinstadt mit einem Minibahnhof wollen erstaunlich viele Menschen ein- und aussteigen. Immerhin sind wir ein Touristenmagnet, mit all den niedlichen Fachwerkhäusern, den gepflegten Parks und Blumenrabatten. Der erste Eindruck, wenn man aus dem Zug steigt, ist nicht der Beste, denn der Bahnhof sieht ziemlich ramponiert und vergammelt aus. Dahinter erschließt sich jedoch eine Altstadt voller Romantik und verwunschener Gassen. Es ist wie eine Zeitreise. Ich hätte nicht erwartet, dass es mir selbst so gut gefallen würde.

Ich versuche, Tobias aus meinem Auto heraus zu entdecken. Vielleicht sitzt er bereits in einem der Waggons.

Ein schriller Pfiff ertönt. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung und rollt an mir vorbei. Ich recke den Hals, sehe Tobias jedoch nicht. In meiner Brust wird es eng und ein tiefer Seufzer entkommt meiner Kehle.

Erst als die Rücklichter kaum noch zu erkennen sind, schaue ich zum Bahnsteig, der nun leer und besonders trostlos erscheint. Die schmiedeeisernen Pfosten, die das Dach tragen, sind mit blauer Farbe angesprüht. Irgendwelche Zeichen, Buchstaben und Zahlen, die zumindest für mich keinen Sinn ergeben. Ein metallischer Geruch vom Abrieb der Schienen liegt in der Luft. Der Himmel ist viel zu blau für die trübsinnige Stimmung. Für einen Moment überlege ich, einfach zurück nach Hause zu fahren. Verdammt, ich habe ihm nicht mal meine Telefonnummer für den Notfall gegeben.

Ich kann mich viel zu gut an das Gefühl erinnern, als ich aus dem Zug gestiegen bin. Mutlos und voller Schmerz. Noch heute ist mir

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: die Autoren
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure, Bernd Frielingsdorf
Satz: Sissi Kaiserlos
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1523-7

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