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Der Puppenmörder von Altona

Daniel, 27, Finanzbeamter, dünn, rothaarig und Brillenträger, lebt sehr zurückgezogen. Sein Selbstbewusstsein verabschiedet sich immer dann, wenn er es braucht. Entsprechend hat er so gut wie keine sexuelle Erfahrung vorzuweisen. Als es eine männliche Liebes-Puppe im Sonderangebot gibt, schlägt er zu. Dadurch besitzt er zumindest einen künstlichen Partner, mit dem er im Bett seine Fantasien wahr werden lässt. Was er nicht ahnt: Harvey, so nennt er die Puppe, wird zur Schlüsselfigur für seine Zukunft.



1.

„Ich kann nichts dafür, dass die Software für Sie eine Nachzahlung errechnet hat.“ Daniel verdrehte die Augen und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall, obwohl ihn der Typ am anderen Ende der Leitung allmählich mächtig nervte. „Wenn Sie weniger Steuern zahlen möchten, dann bitten Sie doch Ihren Arbeitgeber um einen Gehaltskürzung.“

Sein Kollege Gottlieb, der gegenüber am Schreibtisch saß, mahnte ihn mit einer beschwichtigenden Geste, den Kunden nicht zu verärgern.

„Entschuldigen Sie“, unterbrach er den Anrufer, der ansetzte, ihn weiter voll zu labern. „Ich muss in ein Meeting. Bitte reichen Sie Ihre Beschwerde schriftlich ein. Auf Wiederhören.“

Er knallte den Hörer auf und schnaubte. „Was für ein Idiot!“

„Denk daran: Der Kunde ist König“, erwiderte Gottlieb.

Sein Kollege war seit 35 Jahren dabei und entsprechend abgestumpft. Daniel mochte sich gar nicht ausmalen, wie er nach so langer Zeit drauf sein würde. Er war erst seit sechs Jahren Finanzbeamter, einen Teil davon in der Ausbildung. Davor hatte er eine Lehre als Bestatter abgebrochen, weil er den Geruch der Toten nicht ertrug. Inzwischen kam ihm das wie ein Lappalie vor, gemessen daran, was er sich jeden Tag anhören musste. Leichen waren echt pflegeleichte Kunden. Okay, die Angehörigen weniger, aber das stand auf einem anderen Blatt.

Mit seinem Becher in der Hand begab er sich zur Tür. „Ich hol mir Kaffee. Brauchst du was aus der Teeküche?“

„Wenn da Kekse rumstehen, bring mir bitte ein paar mit.“

Gottlieb sollte lieber über eine Diät nachdenken, aber das behielt Daniel für sich. Das letzte, was er brauchte, war Stress mit seinem Kollegen. Sein Leben war ohnehin schon schwer genug.

In der Teeküche schnatterten zwei Kolleginnen, die sich von seinem Erscheinen nicht stören ließen. Manchmal hatte er das Gefühl, unsichtbar zu sein. Allerdings war er lieber unsichtbar als das Ziel für Spott. Davon hatte er in der Schule genug bekommen; Bleichgesicht, Karotte, Streichholz - um nur ein paar seiner ‚Kosenamen‘ zu nennen. Wenn man rothaarig, blasshäutig und dürr war, - zudem errötete er bei jeder Gelegenheit - bot man reichlich Angriffsfläche.

Kekse gab es keine, dafür frisches Obst. Daniels Arbeitgeber hatte beschlossen, dass die Mitarbeiter eine Motivationsspritze benötigten. Wöchentlich lieferte ein Bio-Bauernhof neue Ware. Gut und schön, aber ihm wär’s lieber gewesen, wenn man die Qualität des Kaffees verbessert hätte. Das Zeug war ungenießbar. Wenn man von den Telefonaten mit Kunden keine Magenbeschwerden bekam, dann auf jeden Fall von der schwarzen Brühe.

Eine Banane unterm Arm (für Gottlieb), einen Apfel in der einen und seinen Becher mit 50:50 Milch/Kaffee in der anderen Hand, trat er den Rückweg an. Die Bürotür öffnete er mit dem Ellbogen, seine Zungenspitze konzentriert zwischen die Lippen geklemmt. Es gelang ihm, ohne etwas zu verschütten, die Klinke runterzudrücken.

„Hab dir Vitamine mitgebracht.“ Er stellte den Becher ab, legte den Apfel daneben und die Banane auf Gottliebs Schreibtisch.

Sein Kollege, der am Telefonieren war, zeigte ihm ein Daumenhoch. „Es tut mir wirklich leid, aber da kann ich nichts machen. Das Programm berechnet die Steuern, nicht ich.“

Vielleicht wäre es sinnvoll, solche Standardantworten auf Band zu sprechen, um seine Stimmbänder zu schonen. Wie oft hatte Daniel diesen Satz schon gesagt? Bestimmt eine Millionen mal.

„Ich gebe Ihnen völlig recht. Die Steuersätze sind viel zu hoch, aber irgendwer muss ja mein exorbitantes Gehalt bezahlen“, redete Gottlieb weiter und wieherte über seinen eigenen Witz.

Hoffentlich besaß der Anrufer Humor. Andernfalls stand morgen in der Zeitung: Überbezahlte Finanzbeamte beuten brave Bürger auf.

Daniel ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Während er an seinem Kaffee nippte, betrachtete er die Steuererklärung auf dem Bildschirm. Irgendjemand sollte den Bürgern mal erklären, dass sie sich zu viel Arbeit machten - und damit auch ihm. Wer die Arbeitnehmer-Pauschale von 1.000 Euro nicht erreichte, konnte sich das Eintragen von Entfernungskilometern, Kontoführung und so weiter echt sparen.

„Wünsche ich Ihnen auch“, kam Gottlieb gegenüber zum Schluss. „Auf Wiederhören.“

Sein Kollege legte auf, schnappte sich die Banane und schälte sie. „Also gab’s keine Kekse?“

Daniel schüttelte den Kopf.

„Schade.“ Gottlieb seufzte. „Früher hat mal jemand Kuchen oder so mitgebracht. Seit die Weiber alle auf Diät sind, muss unsereiner leiden.“

Die Wampe seines Kollegen hatte das nicht geschmälert. Es wird Zeit, dass du dich mal wieder ein bisschen entspannst. Dein giftigen Gedanken sind unerträglich, schimpfte er im Geiste mit sich selbst. Heute Abend würde Harvey mal wieder zum Einsatz kommen.

Eigentlich hieß Harvey laut Hersteller Racy William. Vor ungefähr einem Jahr hatte Daniel die Puppe im Sonderangebot gekauft und nur 1.500 statt 1.800 Euro bezahlt. Seitdem lebte Harvey - wenn man bei Spielzeugen überhaupt davon reden konnte - in seinem Kleiderschrank. Dafür hatte er sich extra ein größeres Modell beschafft, da sie ziemlich viel Platz einnahm. In der Besenkammer konnte er sie nicht aufbewahren, da seine Mutter ab und zu unangemeldet auftauchte, um bei ihm zu putzen; obwohl er ihr tausendmal gesagt hatte, sie möge das lassen. Es ihr zu verbieten, hätte Streit bedeutet. Daniel mochte keinen Streit.

Mit seinen Eltern hatte er großes Glück. Trotz seiner Neigung zu Männern liebten sie ihn nach wie vor. Da er sonst kaum jemanden hatte, eigentlich nur seine Schwester und seinen Neffen, hing er sehr an ihnen. Schon deshalb vermied er alles, was einen Keil zwischen sie treiben könnte. Harvey wäre so ein Keil. Seine Mutter würde niemals verstehen, dass er dermaßen viel Geld für einen Plastikfreund ausgegeben hatte.

„Käthe ist schwanger“, unterbrach Gottlieb seine Gedanken. „Und sie kennt nicht mal den Vater.“

Geschockt schaute er hoch. „Aber sie ist doch erst ...?“

„Siebzehn“, vollendete sein Kollege den Satz. „Wenigstens hat sie die Schule fertig. Das mit der Ausbildung kann sie aber erstmal vergessen.“

Gottliebs Kinder hießen Käthe, Max und Hermann. Wie man seinen Nachkommen so etwas antun konnte, verstand Daniel nicht. Max ging ja noch, aber der Rest ...? Grauenvoll! Mit solchen Namen wurde man doch automatisch zum Außenseiter. Bei den beiden Jungs schien seine Prognose zu stimmen. Käthe hingegen frönte eines abwechslungsreichen Liebeslebens, worüber Gottlieb schon häufig gejammert hatte.

„Wieso? Ist ihr Chef so intolerant?“

Gottlieb guckte ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Sie kann mit dickem Bauch doch nicht mehr arbeiten. Den ganzen Tag stehen, schwere Sachen heben ... das geht nicht!“

Soweit er sich erinnerte, absolvierte Käthe eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. „Schwere Sachen heben?“

„Sie räumt ständig Regale ein oder im Lager rum.“

„Ich dachte, in dem Beruf sitzt man auch viel am Schreibtisch.“

Gottlieb schnaubte. „Das macht nur einen Bruchteil ihrer Tätigkeit aus.“

„Aber sie wird doch noch einen Weile keinen dicken Bauch haben, oder?“

„Käthe ist doch eh etwas übergewichtig. Bestimmt nimmt sie ganz schnell ein paar Kilo zu.“

Auf dem Foto, das Gottlieb ihm irgendwann mal gezeigt hatte, wirkte Käthe zwar pausbäckig, aber nicht unbedingt fett.

„Außerdem hat sie jetzt schon mit Übelkeit zu kämpfen.“ Sein Kollege stöhnte genervt. „Und meine Frau mutiert zur Glucke. Wenn’s nach ihr ginge, müsste Käthe die nächsten neun Monate das Bett hüten.“

Daniel hatte im Biologie-Unterricht zwar aufgepasst, aber bereits vieles vergessen. Schwangerschaften gehörten dazu. Da er damit nie etwas zu tun haben würde, hatte sein Gehirn beschlossen, den Kram nur kurz - bis zur nächsten Klausur - zu speichern. „Das hört sich nicht gut an.“

„Gar nicht gut“, stimmte Gottlieb zu. „Ich hoffe ja noch, dass sie sich für eine Abtreibung entscheidet. Ihr ganzes Leben liegt noch vor ihr. Warum es sich wegen eines Babys versauen?“

Dazu hatte Daniel keine Meinung, daher hielt er den Mund. Stille trat ein, abgesehen von dem Geklapper ihrer Tastaturen.

Laut dem letzten Zielvereinbarungsgespräch sollte er fünf Steuererklärungen mehr als im bisherigen täglichen Durchschnitt abarbeiten. Das war auch so etwas, das ihm gehörig auf den Zeiger ging, dieses MBB - Management by Blödsinn -, wie die Kollegen den Scheiß getauft hatten. Zweimal im Jahr wurden Gespräche mit dem Vorgesetzten geführt, in denen es um Leistung und das, was man erreichen wollte, ging. Welches Ziel sollte man als Finanzbeamter schon haben, als möglichst bald in Rente zu gehen? Trotzdem allen der Schwachsinn dieser Veranstaltungen klar war, wurden sie von der Führungsebene mit großem Ernst zelebriert: Okay, denen war wohl nicht bewusst, welchen Nonsens sie verzapften. Die Untergebenen schwankten zwischen Amüsement und Verärgerung.

Bis halb fünf hatte Daniel sein Soll erfüllt. Wäre das nicht der Fall, würde er dennoch Feierabend machen. Gottlieb war schon um vier gegangen, wie die meisten anderen Kollegen. Wer um fünf das Haus verließ, war praktisch einer der letzten. Unbestätigten Gerüchten zufolge hatte der Schließdienst mal aus Versehen eine Kollegin, die erst um zehn nach fünf das Haus verlassen wollte, eingesperrt. Die Vorstellung, eine ganze Nacht in dieser Bude zu verbringen, war großartiges Alptraummaterial.



2.

Den Heimweg legte Daniel mit seinem Fahrrad zurück. Sobald die Temperatur dauerhaft über zehn Grad stieg, benutzte er den Drahtesel statt des öffentlichen Nahverkehrs. Zum einen ging das schneller, zum anderen diente es dem Stressabbau. Nur wenn das Wetter allzu mies war, nutzte er seine Fahrkarte. Bei Regen zu radeln baute bei ihm nämlich keinen Stress ab, sondern auf, auch weil er dann mit seiner Brille nichts mehr sehen konnte.

Als er sein Bike im Keller verstaute fiel ihm ein, dass er dringend Brot kaufen musste. Er stieg die Treppe ins Erdgeschoss hoch, verließ das Haus und überquerte die Straße.

Praktischerweise lag gegenüber ein Supermarkt, der von einer türkischen Großfamilie betrieben wurde. Von einer Familie mit Migrationshintergrund, korrigierte er sich im Geiste. Political Correctness war wichtig, gerade in seiner Situation, als Angehöriger einer Minderheit.

Außer einer Packung Schwarzbrot erwarb er etwas Wurst und Käse. Eine Frau in ungefähr seinem Alter kassierte. Sie trug stets ein Lächeln auf den Lippen. Die Männer waren auch ziemlich freundlich, doch bei ihr bezahlte er am liebsten.

In seiner Wohnung, die im 1. Stock lag, duftete es nach Zitrone. Also war seine Mutter mal wieder dagewesen. Zum Glück war der Kleiderschrank abschließbar, sonst würde er vor Sorge, dass sie Harvey gefunden haben könnte, Herzklopfen bekommen. Generell respektierte sie die Bitte, seine Klamotten in Ruhe zu lassen, aber gelegentlich setzte sie sich darüber hinweg. Dann sammelte sie seine schmutzige Wäsche ein, brachte sie gewaschen und gebügelt zurück und legte sie ihm aufs Bett.

Er öffnete die Balkontüren in der Küche, um frische Luft reinzulassen. Nichts gegen Zitronenduft, aber zu viel war zu viel. Von dem Freisitz guckte man auf den Supermarkt, was nicht unbedingt ein schöner Anblick war, dafür recht unterhaltsam. Die ganze gegenüberliegende Straßenseite war von Gewerbeimmobilien belegt. An den Wochenenden herrschte daher Ruhe, abgesehen von den Leuten, die auf Parkplatzsuche die Sackgasse rauf und runter fuhren. Das nervte ziemlich, war jedoch der Preis dafür, in Altona - unweit der Reeperbahn - zu wohnen.

Als er seine Einkäufe im Kühlschrank verstaute, entdeckte er eine Plastikdose, auf der ein Zettel lag: ‚Kohlrouladen. Iss sie bitte bald. Küsschen - Mama.‘ Sowas hatte es mittags bereits in der Kantine gegeben, daher beschloss er, den Verzehr auf den nächsten Tag zu verschieben.

Wie immer, wenn er einen Abend mit Harvey plante, stimmte er sich mit einem Ritual darauf ein. Dazu gehörte ausgiebige Körperpflege, ein Glas Wein zum Abendessen und leise Musik im Hintergrund.

Um sieben schloss er die Vorhänge im Schlafzimmer, stellte eine brennende Kerze auf den Nachtschrank und schloss den Kleiderschrank auf. Harvey trug schwarze Pants. Daniel fand es unmoralisch, die Puppe nackt in den Schrank zu stecken. Er holte sie heraus und legte sie aufs Bett. Harvey konnte auch sitzen und stehen. Letzteres allerdings mehr schlecht als recht. Beim leisesten Lufthauch kippte die Puppe um.

Harvey war mit dunklen, kurzen Haaren, Fünftagebart und einem spärlichen Brusttoupet bestückt. Im Schambereich hatte der Hersteller leider gespart oder aus hygienischen Gründen auf Kunsthaar verzichtet. Nach Daniels Empfinden passte das nicht so recht zu der ansonsten sehr maskulinen Puppe. Vielleicht fühlte Harvey das Gleiche und runzelte deshalb dauerhaft die Stirn.

Daniel deponierte seine Brille neben der Kerze und ließ den Bademantel, den er nach dem Duschen angezogen hatte, von den Schultern gleiten. Mit dem Gleitgelspender in der Hand gesellte er sich zu Harvey.

„Ich hab beschlossen, dass du heute mal unten bist“, verkündete er, drückte sich einen Strang Gel in die Hand und verteilte es auf Harveys fünfzehn Zentimetern.

Die Puppe widersprach nicht. Sie hatte eh keine Wahl.

Nach vollzogenem Akt ruhte sich Daniel neben Harvey aus, bis ihm seine orgamusweichen - und vom Reiten beanspruchten - Beine wieder gehorchten. Er schlüpfte in seinen Bademantel, pustete die Kerze aus, setzte seine Brille auf und öffnete die Vorhänge einen Spalt. Inzwischen dämmerte es. Der jüdische Friedhof, auf den man vom Schlafzimmer aus blickte, war bereits in den Schatten der hohen Bäume versunken.

In der Küche schenkte sich Daniel ein zweites Glas Wein ein, mit dem er sich im Wohnzimmer niederließ. Schade, dass Harvey kein Mensch war. Im Grunde handelte es sich bei der Puppe um einen Riesen-Dildo. Genauso gut hätte er sich mit einem Torso mitsamt Schwanz und Eiern begnügen können. Das wäre auch wesentlich günstiger gewesen.

Nachdem er sein Glas geleert hatte, unterzog er sich im Bad einer Katzenwäsche und zog gemütliche Klamotten an. Als nächstes war Harvey dran. Auch Silikon wollte gepflegt werden. Normalerweise reichte es, den Intimbereich mit Feuchttüchern abzuwischen. Diesmal hatte Daniel die Puppe aber ziemlich eingesaut. Im Brusttoupet klebte Sperma und in den Kopfhaaren - wie war das denn da hingekommen? - ebenfalls weißes Zeug. Hatte er in Ekstase an Harveys Schopf gerissen? Er konnte sich nicht erinnern.

Unter der Dusche, wofür er sich dazugesellen musste, wusch er Harvey gründlich. Anschließend kleidete er sich wieder an und trocknete die Puppe ab. Leider schienen die Kunsthaare das Wasser förmlich aufgesogen zu haben. Mit einem Fön wollte er der Pracht nicht zu Leibe rücken. Vielleicht weichte dadurch das Silikon auf. In der Duschkabine durfte Harvey über Nacht nicht bleiben. Er würde sich zu Tode erschrecken, wenn er schlaftrunken auf Klo ging und eine Gestalt hinter dem Milchglas sah. Die Erfahrung hatte Daniel bereits gemacht.

Nachdenklich kratzte er sich am Kinn. Der einzige Ort, um Harvey zum Abtropfen abzustellen, wäre die Besenkammer. Wenn er die Puppe darin vergaß, bestand die Chance, dass seine Mutter sie fand. Küche, Schlaf- und Wohnzimmer schieden wegen seiner Schreckhaftigkeit aus. Blieb also nur der Balkon. Da dieser von links und rechts nicht einsehbar war und von unten auch kaum, wegen der gemauerten Brüstung, erschien ihm das als ideale Lösung.

In ein Handtuch gewickelt schleppte er Harvey auf den Balkon. Der Bursche war ungefähr von seiner Größe und seinem Gewicht, daher kein leichtes Unterfangen. Abgesehen von ein paar leeren Blumentöpfen stand nichts auf dem Freisitz. Erst wenn die Temperaturen dauerhaft über zehn Grad stiegen, würde er den Tisch und zwei Stühle aus dem Keller holen. Auf den Boden, der dringend geschrubbt werden musste, mochte er Harvey nicht legen. Stehen kam auch nicht infrage, da vereinzelt starke Böen durch die Straße fegten. Harvey würde im Nu umkippen.

Die Halterung, an der seine Mutter stets im Sommer eine Blumenampel befestigte, fiel ihm ins Auge. Er holte ein Seil, wand es um Harveys Knöchel, drehte ihn auf den Kopf und hängte ihn an den Haken, wofür er sich auf einen Hocker stellen musste. Für den Fall, dass ein Passant im Vorbeigehen hoch schaute, drehte er die Puppe mit den Genitalien in Richtung Balkontür. So konnte sich niemand sexuell belästigt fühlen.

Sehr zufrieden mit der Bewältigung des Problems kehrte er in seine Wohnung zurück. Mit Apfelschorle und Chips ausgestattet richtete er sich auf der Couch gemütlich ein, um Fernsehen zu gucken.



3.

Übellaunig hieb Mustapha auf den Boxsack ein. Manche Kunden trieben ihn zur Weißglut. Da war es ein Glück, dass er sich in seinem eigenen Fitnessstudio abregen konnte. Erneut verpasste er dem Sack einen kräftigen Linkshaken, wobei er sich vorstellte, es wäre die Fresse des bescheuerten Typen.

Vorhin, kurz vor Ladenschluss, war ein Mann aufgetaucht, um eine halbe Sucuk - türkische Wurst - zurückzugeben. Begründung: Sie würde ihm nicht schmecken. Wert des Artikels: Ungefähr eins fünfzig. Hülya, seine Schwester, war schon drauf und dran gewesen, dem Kunden das Geld zu erstatten, als Mustapha den Vorgang bemerkte.

Es hatte sich ein Streit entsponnen. Der Kunde war allen Ernstes der Meinung, dass man jedwede Ware bei Nichtgefallen zurückgeben dürfte.

„Geben Sie verdautes Essen auch in Kotform zurück, wenn es Ihnen nicht geschmeckt hat?“, hatte Mustapha gefragt.

„Wenn ich es gegessen habe, wird es ja halbwegs genießbar gewesen sein. Diese Wurst ...“ Der Kunde wies auf selbige. „... ist ungenießbar.“

Mustapha hatte sich die aufgerissene Verpackung angesehen. Das Haltbarkeitsdatum lag in der Zukunft. „Lebensmittel sind vom Umtausch ausgeschlossen.“

„Bei Amazon kann ich auch alles zurückgeben, sogar Bücher, die ich gelesen habe und die mir nicht gefallen haben.“

„Womit wir wieder bei der Kotfrage wären“, erwiderte Mustapha süffisant.

Das ist ja wohl eine Frechheit!“ Der Kunde war vor Zorn rot angelaufen. „Sie verdienen sich hier dumm und dämlich und verweigern mir meine paar Cent?“

„Sehe ich dumm und dämlich aus?“

„Mustapha“, hatte sich Hülya begütigend eingeschaltet. „Es sind doch wirklich nur ein paar Cent.“

„Hier geht’s ums Prinzip! Wenn wir Rücknahmen erlauben, tauchen hier jeden Tag Leute mit Kot in Plastikschalen auf. Davon mal abgesehen ...“ Er musterte den gutgekleideten Kunden von oben bis unten. „Ich gehe davon aus, dass Sie doppelt so viel wie ich in der halben Zeit verdienen. Ich stehe von morgens bis abends im Laden, an sechs Tagen in der Woche. Warum also stellen Sie sich wegen ein paar Cent so an?“

„Ich lebe nach dem No-Waste-Grundsatz. Lebensmittel darf ich demzufolge nicht wegwerfen und muss sie wieder in die Nahrungskette eingliedern“, argumentierte der Idiot.

„Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich von Ihnen angebissene Wurst anderen Kunden andrehen werde.“

„Ich habe die Wurst lediglich angeschnitten.“

„Erbsenzählerei.“

Wutschnaubend hatte der Typ die Wurst auf den Boden gepfeffert und den Laden verlassen. Zwei Kunden, Zeugen des Vorgangs, fanden dieses Benehmen unmöglich. Hätten die beiden auch noch rumgemosert, wäre Mustaphas Boxsack inzwischen geplatzt.

Schließlich hatten er sich genug ausgepowert. Er schwitzte wie ein Schwein. Ein Handtuch um den Nacken geschlungen begab er sich in die Küche, wo er sich einen halben Liter Wasser einverleibte. Obwohl er mittags zuletzt etwas gegessen hatte, spürte er keinen Hunger. Zorn war die beste Diät, verursachte aber Magengeschwüre. Außerdem hatte er sowas gar nicht nötig. Den ganzen Tag war er auf den Beinen und trainierte abends die Muskeln, die davon nicht beansprucht wurden.

Seine Wohnung war ein Glücksfall. Als vor einem halben Jahr die Firma Finanzinvest, Mieter der Räume, woanders hinzog, hatte er die Chance beim Schopf gegriffen. Eigentlich durfte man im Gebäude nicht wohnen, doch wen scherte das? Der Mietvertrag lautete auf den Namen seiner Firma, der Öztürk Lebensmittel GmbH. Insofern war es offiziell okay. Das Unternehmen, das die andere Hälfte des Obergeschosses angemietet hatte, schien eine Briefkastenfirma zu sein. Er sah nie jemanden dort ein oder aus gehen. Also drohte auch von dieser Seite keine Gefahr.

Es waren einige Umbauten notwendig gewesen, um aus den ehemaligen Büros - Hamsterkäfige, wie sein Bruder sie genannt hatte - drei große Zimmer zu schaffen. Dank seiner tatkräftigen Familie kein allzu kostspieliges Unterfangen. Eine goldene Nase verdiente er sich mit dem Supermarkt nämlich nicht. Der Sparwahn der Bürger zwang ihn dazu, manche Waren ohne Aufschlag anzubieten, um Kunden zu locken. Discounter machten einem das Leben echt schwer. Da fuhren die Leute lieber einige Kilometer, anstatt im nebenan liegenden Geschäft ein paar Cent mehr auszugeben. Gesunder Menschenverstand sah für ihn anders aus.

Er stellte sich unter die Dusche. Das heiße Wasser entspannte ihn und weckte seinen Magen. Plötzlich hatte er unbändigen Hunger. Das trieb ihn dazu, sich mit dem Waschen zu beeilen.

Barfuß, in Jogginghose und Sweatshirt, inspizierte er den Kühlschrankinhalt. Das Gerät barst, dank etlicher Artikel kurz vorm Verfallsdatum, die er darin bevorratete, aus allen Nähten. Seine Wahl fiel auf Börek mit Schafskäse und Spinat, von Hülya gefertigt. Für das kleine Angebot an fertigen Speisen war seine Schwester zuständig.

Während die Mikrowelle sein Abendbrot erhitzte, lehnte er an der Arbeitsfläche und guckte aus dem Fenster. In dem Backsteinbau gegenüber waren die meisten durch Gardinen oder Rollos verdunkelt. Nur im 3. Stock war eines hell erleuchtet. Dort wohnte die alte Frau Jöllenbek. Er oder seine Brüder lieferten ihr regelmäßig Waren, daher kannte er die Kundin namentlich.

Als sein Blick tiefer wanderte, blieb er am Balkon im 1. Stock haften. Was war das denn? Turnte da ein nackter Mann? Mustapha sah nur Beine, Arsch und Rückenansatz. Moment! Waren die Füße etwa gefesselt? Tatsächlich! Ihn überlief ein eisiger Schauer. Es sah ganz danach aus, als ob gegenüber ein Mörder wohnte; einer, der sein Opfer zum was-auch-immer - ausbluten? - auf den Balkon gehängt hatte.

Ohne den Nackten aus den Augen zu lassen, tastete er nach seinem Handy. Vergeblich. Es steckte in der Jeans, die im Schlafzimmer lag. In Windeseile holte er das Gerät und wählte die 110.

Sobald am anderen Ende jemand abnahm, stammelte er: „Mord! Bleicherstraße 20. Vielleicht lebt das Opfer noch.“

„Bitte nennen Sie mir Ihren Namen“, verlangte der Beamte.

Mustaphas Gehirn war blankgefegt. Er wusste nicht mal mehr seinen Namen. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Als die Mikrowelle mit einem Pling finalisierte, brachte ihm das etwas Erinnerung zurück. „Mustapha Öztürk. Ich betreibe den Supermarkt in der Bleicherstraße.“

„Und wo befindet sich der Täter?“

„Gegenüber. Da hängt eine Leiche auf dem Balkon.“

„Bleiben Sie, wo Sie sind. Die Kollegen sind gleich da.“

Weiterhin die Leiche im Blick legte er auf. Siedend heiß fiel ihm ein, dass er illegal über dem Markt wohnte. Im Schlafzimmer tauschte er seine Klamotten gegen Jeans und T-Shirt und eilte runter in den Laden. Leider waren die Schaufenster derart zugestellt, dass er den Balkon nicht sehen konnte. Hinten, im Büro, war die Sicht besser. Ein Fernglas wäre nützlich, doch er besaß keines.

Eine gefühlte Viertelstunde später - in Wirklichkeit waren bloß drei Minuten vergangen - vernahm er das Heulen eines Martinshorns. Mustapha eilte durch die Hintertür nach draußen. Ein Polizeiwagen raste mit Blaulicht die Straße runter und bremste vor der Nummer 20. Zwei Beamte stiegen aus. Einer erblickte ihn und rief: „Haben Sie angerufen?“

Er nickte und joggte rüber zum Wagen. „Da oben, auf dem Balkon, da hängt jemand.“

Beide Beamte guckten in die Richtung, in die er zeigte und marschierten auf die Haustür zu. Anstatt sie aufzubrechen, wie Mustapha es in solcher Situation erwartet hätte, klingelten sie irgendwo. Gleich darauf verschwanden die zwei ins Gebäude.

Angespannt beobachtete er den Balkon. Würden sich die Beamten mit dem Mörder eine wilde Schießerei liefern? Oder musste er damit rechnen, dass der Täter über die Brüstung in den Tod sprang? In den Tod? Das ergibt höchstens ein paar Knochenbrüche, flüsterte es in seinem Kopf.

Einer der Polizisten tauchte auf dem Balkon auf, begleitet von einem Typen, in dem Mustapha einen Stammkunden erkannte. Bei ihm kauften Mörder ein? Wahnsinn! Das hätte er niemals vermutet und schon gar nicht von dem Burschen mit den feuerroten Haaren. Der wirkte total harmlos.

Inzwischen hatte das Polizeiaufgebot Zuschauer angelockt. Ein alter Herr mit Pudel beobachtete das Schauspiel und Frau Jöllenbek hing aus dem Fenster. Wenn sie sich noch weiter vorlehnte, würde sie die nächste Leiche werden.

Auf dem Balkon im 1. Stock befreite der Beamte die Leiche vom Haken. Zusammen mit dem Toten und dem Stammkunden entschwand der Polizist aus Mustaphas Sichtfeld. Der andere trat aus dem Haus, steuerte den Polizeiwagen an und stieg ein. Da der Beamte die Tür offenstehen ließ hörte er, was der Mann über Funk durchgab: „Falscher Alarm. Es handelt sich bloß um eine Sex-Doll.“

Sex-Doll? Aber da hatte doch eindeutig ein Kerl gehangen! Oder gab’s männliche Sexpuppen? Und wieso setzte der Rothaarige die Puppe auf dem Balkon aus?

Der Polizist stieg wieder aus und wandte sich an Mustapha. „Es ist erfreulich, dass Sie so aufmerksam sind. Gucken Sie aber bitte beim nächsten Mal genauer hin.“

„Das ist wirklich eine Puppe?“, hakt er nach.

Der Beamte nickte.

„Sie sieht verdammt echt aus.“

„Er“, korrigierte der Polizist trocken. „Und ja, es ist wirklich gute Qualität.2

Verbiss sich der Typ ein Grinsen? Erneut schaute Mustapha hoch, zum Balkon. Dort war nichts zu sehen. „Tut mir leid, dass ich Sie umsonst gerufen habe.“

Der Beamte zuckte mit den Achseln. „Lieber umsonst, als zu einem blutigen Tatort.“

„Was ist denn da los?“, rief Frau Jöllenbek.

„Falscher Alarm“, gab der Bulle zurück.

Es erleichterte Mustapha, dass gegenüber nur ein perverser Sexpuppenbesitzer und kein Mörder wohnte. Das hätte ihn arg belastet. „Werde ich noch gebraucht?“, erkundigte er sich.

Der Beamte schüttelte den Kopf. „Schönen Abend noch.“

„Gleichfalls“, entgegnete er und ging zurück in den Laden.

Erst als die Bullen verschwunden waren, begab er sich in seine Wohnung. Sein knurrender Magen erinnerte ihn an das inzwischen erkaltete Börek. In der Küche schaltete er die Mikrowelle ein. Mit einem Glas Wasser setzte er sich an den Tisch und guckte zu, wie sich sein Abendessen drehte. Was für ein verrücktes Erlebnis. Es gab wirklich schräge Typen auf der Welt. Wie kam man auf die Idee, sich einen Bettpartner aus Plastik zuzulegen? Mustapha würde sowas niemals tun.

Vielleicht solltest du doch darüber nachdenken. Dann hättest du endlich wieder ein Sexleben, höhnte eine Stimme in seinem Schädel. Seufzend rieb er sich über die Stirn. Leider steckte da ein Körnchen Wahrheit drin. Um sein Liebesleben war es mehr als schlecht bestellt. Das letzte Mal, dass er mit einer Frau im Bett war, lag einige Jahre zurück. Leider erinnerte er sich noch sehr gut daran. Daran, versagt zu haben. Es hatte Wochen gedauert, sich von dem Erlebnis zu erholen. Sogar nach all der Zeit spürte er Scham, als er daran dachte.

Die Mikrowelle meldete sich mit einem Pling. Er holte sein Abendessen aus dem Gerät und verspeiste es am Küchentisch. Die Erinnerung an den schmachvollen Moment war derart lebendig, dass das Börek wie Pappe schmeckte. Oder war die zweite Runde in der Mikro schuld daran?

Genervt sprang er auf, holte ein Bier aus dem Kühlschrank, entfernte den Kronkorken und stellte sich ans Fenster. Inzwischen waren bei Frau Jöllenbek die Gardinen zugezogen. Tiefer, in der Wohnung des Perverslings, ebenfalls. Vergnügte sich der Typ mit der Puppe? Ekelhafter Gedanke. Noch ekelhafter war, dass sein Schwanz die Vorstellung geil fand.

Mustapha wusste im Grunde seines Herzens, warum er damals bei dem Mädel versagt hatte. Seine homosexuelle Ader gewann an Macht, je älter er wurde. Es war, als ob sich sein Verlangen zu einem gigantischen Stausee aufgebaut hatte, dessen Damm zu brechen drohte. Er war nicht bereit, seinem Verlangen nachzugeben, sonst hätte er sich jahrelang umsonst kasteit. Von klein auf war ihm eingetrichtert worden, dass Männer mit Männern nicht intim werden durften. Taten sie es doch, waren sie auf ewig verdammt. Natürlich wusste er auch, dass es sich dabei um einen Irrglauben handelte, doch wer konnte schon aus seiner Haut?

Selbst wenn es nicht mit seinem Glauben kollidieren würde: Eine Bekenntnis zur dunklen Seite hätte verheerende Folgen. Seine gesamte Familie würde ihm den Rücken zukehren. Seit seine Eltern ihren Lebensabend in der Heimat, der Türkei, genossen, war zwar etwas Druck verschwunden, dennoch ... Seine Brüder, seine Schwester, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen wäre er los. Damit stünde auch sein Geschäft auf der Kippe. Seine Geschwister arbeiteten dort und aushilfsweise auch mal der eine, mal der andere Verwandte.

Plötzlich übermannte ihn eine riesige Woge Zorn auf all die, die ungehemmt ihrem frevelhaften Tun frönten. Speziell war er sauer auf das Arschloch von gegenüber. Der Typ war schuld, dass er sich richtig mies fühlte. Hätte der Sex-Aholic die blöde Puppe nicht auf den Balkon gehängt, wäre er nicht an seine bedrängte Lage erinnert worden.



Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure - dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2022

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