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Arztromane Vol. 15 - Des Widerspenstigen Zähmung


Steffen hat sich, obwohl bereits über dreißig, noch lange nicht ausgetobt. Als er erfährt, dass er einen mit seinem Vater befreundeten Arzt heiraten soll, um das Familienunternehmen - die Brinkmann Klinik - zu übernehmen, ist er schockiert. Luis Warburg entpuppt sich jedoch als umgänglicher, toleranter Typ. Vielleicht braucht er seinen Lebensstil gar nicht so stark ändern, um weiter im gemachten Nest zu sitzen. Tatsächlich behält er fast alle Freiheiten. Womit er nicht gerechnet hat ist, sein Herz zu verlieren.



1.

Einen Drink in der einen Hand, die andere in der Hosentasche vergraben, schaute sich Steffen im um. Es gab einige interessante Kandidaten für einen Besuch des Darkrooms. Noch hatte er sich nicht entschieden. Zwei gefielen ihm ausnehmend gut, schienen aber fest liiert zu sein. Seit er sie erspäht hatte, tanzten sie stets mit dem gleichen Partner. Der dritte in der Rangfolge möglicher Sexgespielen blieb der Tanzfläche fern und guckte finster in die Gegend. Badboys standen bei Steffen hoch im Kurs. Manchmal verbarg sich hinter der rauen Fassade ein leidenschaftlicher Typ. Manchmal griff man allerdings auch voll in die Scheiße und erwischte einen, der genauso brutal war, wie er aussah.

Nachdem er sein Glas geleert hatte, pirschte er sich an den Badboy ran. Der Typ nahm erst vom ihm Notiz, als Steffen direkt vor ihm stand. Mann, was für ein Riese! Mit seinen fast eins achtzig war er nicht gerade winzig, doch der Kerl überragte ihn locker um einen Kopf.

Steffen setzte sein schönstes Verführerlächeln auf. „Hi Großer. Du siehst einsam aus.“

„Und du siehst aus, als müsste dir dringend das Loch gestopft werden“, erwiderte der Riese.

Schade. Offenbar handelte es sich um einen Badboy Kategorie 2. „So dringend ist es auch wieder nicht. Hab noch einen schönen Abend.“

Er drehte sich um, kam aber nicht weit, denn der Typ hielt ihn am Handgelenk fest. „Warte! Hab ich was Falsches gesagt?“

Vielleicht bestand doch noch Hoffnung. Er wandte sich wieder um. „Ich verlange ja keine Liebesschwüre, aber etwas mehr Niveau darf schon sein.“

Ein Mundwinkel des Riesen zuckte zu einem schiefen Grinsen hoch. „Okay. Möchtest du was trinken?“

„Gern. Gin-Tonic bitte.“ Er schwang sich auf einen Barhocker und taxierte sein Gegenüber von oben bis unten. Schätzungsweise zwei Meter trainierte Männlichkeit und anscheinend mit Gehirn ausgestattet. Super! Ein Glücksgriff. Etwas Festes suchte er zwar nicht, aber auch One-Night-Stands durften gern etwas für Auge und Verstand bieten.



Am Montagmorgen spürte er immer noch den Prügel, mit dem Timor, so hieß der Riese, ihm den Arsch versilbert hatte. Sie hätten wohl besser auf die dritte Runde, die, genau wie ihre zweite, in Timos Wohnung stattfand, verzichten sollen. Steffen bereute es trotzdem nicht. Guter Sex wurde immer seltener. Da musste man zuschlagen, wenn welcher im Angebot war.

Glücklicherweise hatte er ein Büro für sich allein. So fiel es keinem auf, dass er seine Arbeit vorwiegend im Stehen verrichtete. Sämtliche Verwaltungsmitarbeiter der Klinik, die seinen Eltern gehörte, verfügten über stufenlos höhenverstellbare Schreibtische. Sein Vater war der Meinung, dass die Gesundheit der Mitarbeiter genauso hohe Priorität besaß wie die der Patienten. Es gab daher auch ausschließlich ergonomische Bürostühle und andere Hilfsmittel, um Rückenleiden vorzubeugen.

Eigentlich sollte Steffen Medizin studieren, um irgendwann die Klinik zu übernehmen. Er hatte sich dagegen gewehrt, weil es überhaupt nicht seiner Neigung entsprach. Ihn interessierten Zahlen mehr als das Innenleben von Menschen. Letztendlich hatten seine Eltern die Entscheidung akzeptiert, genau wie die Tatsache, einen schwulen Sohn zu haben.

Anfangs, als er sich mit zwei Kollegen ein Büro teilte, hatte er sich manchmal, nach einem turbulenten Wochenende wie dem letzten, dumme Sprüche eingefangen. Generell galt zwar ein Diskriminierungsverbot, doch das hinderte einige nicht, spitze Bemerkungen zu machen. Mehmet, der nach seiner Meinung bloß neidisch auf seinen geouteten Status war, tat sich dabei besonders hervor. Mit seinem Aufstieg zum Controller - vorher hatte er in der Buchhaltung gearbeitet und den Posten als Altersnachfolge erhalten - stand ihm endlich ein Einzelbüro zu.

Am späten Nachmittag, gerade rüstete er sich für den Feierabend, rief sein Vater an: „Kannst du kurz rüberkommen, mein Sohn?“

„Bin sofort da.“ Er legte auf, schlüpfte in sein Jackett und begab sich in das Büro am Ende des Flures.

Sein Vater war ein gealtertes Ebenbild von ihm. Die ehemals blonden Haare waren vollständig ergraut und die blauen Augen funkelten nicht mehr unternehmungslustig, wie er es aus früheren Tagen kannte. Im Ganzen hatte sich sein Vater aber sehr gut gehalten. Er würde ihn als Fremder auf Anfang fünfzig statt sechzig schätzen.

„Sonntag bist du zum Mittagessen eingeladen. Wir haben einen Gast, also komm bitte in angemessener Kleidung“, verkündete sein Vater.

„Im vollen Ornat oder reichen Hemd und Sakko?“

„Das reicht. Wir erwarten schließlich nicht den Papst.“

„Wen habt ihr denn eigenladen? Bitte nicht wieder den ollen Peters.“ Bei dem Mann handelte es sich um seinen Vorgänger. Aus Mitleid - kurz nach Renteneintritt war der verwitwet - pflegten seine Eltern verstärkt Kontakt zu Hartmut Peters.

„Keine Sorge. Der ist Samstagmittag bei uns.“ Sein Vater seufzte. „Er ist ziemlich anstrengend, nicht wahr?“

Eine Untertreibung. Peters pflegte ohne Punkt und Komma zu reden. Jede noch so kleine Kleinigkeit beschrieb der Mann bis ins Detail. Ins-Koma-reden nannte Steffen diese Eigenart. „Warum tut ihr euch das an?“

„Er hat doch sonst niemanden. Wenn deine Mutter mal nicht mehr ist, werde ich auch dankbar sein, wenn mich jemand ein bisschen umsorgt.“

Die Hoffnung auf Enkel hatten seine Eltern begraben. Den letzten Worten fehlte daher die Schärfe, die sie vor ihrem Akzeptieren innehatten. „Und wer ist nun euer Gast?“

„Luis Warburg.“

„Wie kommt das denn?“ Mit Warburg hatte sein Vater zwar geschäftlich zu tun, aber noch nie privat.

„Hat sich so ergeben“, brummelte sein alter Herr und begann in den Papieren, die auf dem Schreibtisch lagen, zu wühlen. „Das wär’s dann. Ich hab noch zu tun.“

Merkwürdig. Normalerweise wich sein Vater ihm nie aus. Nachdenklich ging Steffen zurück in sein Büro. Plante sein Vater, an Warburg zu verkaufen? Seine Eltern machten keinen Hehl daraus, sich bald aufs Altenteil zurückziehen zu wollen. In zwei Jahren wurde sein Vater 65, seine Mutter 59. Sie planten, ihren Lebensabend in vollen Zügen zu genießen, was er ihnen von Herzen gönnte. Jahrelang hatten sie sich für die Klink aufgeopfert. Da war es nur allzu verständlich, dass sie endlich kürzertreten wollten.

Während er den kurzen Fußweg nach Hause - die Klinik lag nur rund zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt - zurücklegte, grübelte er über die möglichen Konsequenzen nach einer Übernahme durch Warburg. Bestimmt würde er seinen Posten schnell verlieren. Warburg besaß schließlich eine eigene Verwaltung. Außerdem wäre es schmerzlich, das Familienunternehmen zu verlieren.

Wirklich schade, dass er keine Geschwister hatte, die in die Fußstapfen seiner Eltern treten könnten. Als Einzelkind wog die Verantwortung doppelt schwer. Lange hatte er mit sich gerungen, ob er nicht doch die Medizinerlaufbahn einschlagen wollte. Schlussendlich musste er sich aber der Tatsache stellen, dass ihm dafür das Herzblut fehlte. Das gehörte nun mal zu solchem Beruf, wie eigentlich zu allen. Tat man etwas ohne Enthusiasmus, kam Mist dabei raus.

In den folgenden Tagen entwickelte er verschiedene Verschwörungstheorien bezüglich Warburgs Besuchs. Vielleicht wollte jener erstmal auskundschaften, ob eine Übernahme möglich war oder an vertrauliche Informationen gelangen. Letzteres war allerdings eher unwahrscheinlich, da die Unternehmen in verschiedenen Gebieten praktizierten. Warburg führte ausschließlich Schönheitsoperationen durch, die Brinkmannsche Klinik hingegen nur notwendige Eingriffe. Oder wollte sich seine Mutter unters Messer legen? Sie hatte in letzter Zeit oft - im scherzhaften Tonfall - von einer Gesichtsstraffung gesprochen. Oder strebte Warburg eine Kooperation an, um schiefgelaufene OPs zu vertuschen?

Am Samstagnachmittag recherchierte er im Internet die Quote von verpfuschten Schönheits-OPs in Warburgs Klinik. Nicht alle Patienten waren mit dem Ergebnis zufrieden, aber schwerwiegende Fehler wurden nirgends erwähnt. Übrigens war Warburg auch im Sektor rekonstruktive Chirurgie tätig. Seine Fähigkeiten in diesem Bereich wurden hochgelobt. Das durch einen Unfall entstellte Gesicht einer Frau war von dem Doktor nahezu in den Urzustand versetzt worden, was eine Bildergalerie bewies. Die Dame sah hinterher sogar noch schöner aus als vorher.

Abends traf er sich mit ein paar Kumpels in ihrer Stammkneipe. Da er generell nicht aus dem Nähkästchen plauderte, behielt er seine Sorgen für sich. Völlig ungewohnt für ihn beteiligte er sich nicht an der Unterhaltung, die sich um Sport und Tagespolitik drehte. Als einer der ersten brach er auf, um ein bisschen Vergessen in anonymem Sex zu finden.



Am nächsten Morgen brannte sein Hintern. Timor hatte wieder zugeschlagen, diesmal allerdings nur eine Runde lang, dafür umso heftiger. Ein bisschen Zinksalbe schaffte Abhilfe. Als er sich fürs Mittagsmahl umzog, war das Brennen schon fast Geschichte.

Seine Eltern wohnten nur zwei Häuser entfernt. Sie respektierten gegenseitig ihre Privatsphäre, so dass er nicht mit unangemeldeten Besuchen rechnen brauchte. Andernfalls hätte er sich eine Wohnung am anderen Ende der Stadt gesucht. Nichts gegen Familie, aber bitte nur in geringen Dosen.

Auf sein Läuten hin öffnete seine Mutter und ließ sich auf die Wange küssen, bevor sie zurück in die Küche eilte. Kochen wäre ihr Ausgleich zu dem stressigen Job in der Klinik, behauptete sie stets. So recht konnte Steffen das nicht glauben. Entspannung sah für ihn anders aus, als mit hektisch geröteten Wangen am Herd zu stehen.

Im Wohnzimmer war der Esstisch bereits gedeckt. Seinen Vater fand er im Arbeitszimmer, beziehungsweise der Bibliothek, wie seine Eltern den Raum zu nennen pflegten. Eine Wand war mit Bücherregalen zugestellt, hauptsächlich Fachliteratur. Ansonsten gab es nichts, was diesen Namen rechtfertigte: Nüchterne Büromöbel, weiße Wände und Neonbeleuchtung.

Sein Vater schaute von der Zeitschrift, in der er blätterte, auf und schenkte ihm ein liebevolles Lächeln. „Hallo Sohn. Gut siehst du aus.“

„Danke. Du auch.“ Er zwinkerte seinem Vater zu und strich sich übers glattrasierte Kinn.

„Ach, das Alter nagt an einem.“ Sein Vater klappte das Magazin zu, stand auf und umrundete den Schreibtisch. „Mal gucken, ob Luis mir einen guten Preis für eine Botox-Behandlung macht.“

„Du lässt bitte nicht an dir rumexperimentieren!“ Die Vorstellung seines Vaters mit eingefrorenen Gesichtszügen war entsetzlich.

„Das war nur ein Scherz, mein Schatz.“ Begütigend klopfte sein Vater ihm auf die Schulter. „Lass uns gucken, was deine Mutter treibt.“

Kaum hatten sie das Arbeitszimmer verlassen, da ertönte die Türglocke. Sein Vater steuerte die Haustür an.

Steffen gesellte sich zu seiner Mutter. „Kann ich was helfen?“

„Probier bitte die Sauce“, bat sie und reichte ihm einen Teelöffel.

Er gehorchte. „Lecker!“

„Genug Salz?“

„Auf jeden Fall. Höchstens noch ein bisschen Pfeffer.“

„Ich rufe dich, wenn ich Hilfe brauche. Nun geh und kümmere dich um unseren Gast.“ Sie tätschelte seine Wange.

Als er ins Wohnzimmer trat, richteten sich zwei Paar Augen auf ihn. Von Warburg hatte er sich Fotos im Internet angeschaut, doch sie wurden dem Mann nicht gerecht. In live sah er viel besser aus, was vielleicht an dem charmanten Lächeln lag, das er Steffen zuwarf. Die silbernen Schläfen waren nicht sein Ding, - er hatte keinen Daddy-Komplex - standen Warburg echt gut. Jeans, ein blau-weiß gestreiftes Hemd und farblich passendes Jackett rundeten das Gesamtbild ab.

„Mein Sohn Steffen“, stellte sein Vater ihn vor. „Er leitet das Controlling an unserer Klinik.“

Leiten? Ha-ha! Er war der einzige Mitarbeiter und leitete somit nur sich selbst. „Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

„Lass uns gleich zum Du übergehen“, bat Warburg, reichte ihm die Hand und musterte ihn eindringlich. „Ich bin Luis.“

Irgendwie kam sich Steffen vor wie auf einer Pferdeauktion. Prüfte Warburg als nächstes sein Gebiss? Die Vorstellung entlockte ihm ein Grinsen.

Steffen!“, ertönte die Stimme seiner Mutter. „Kommst du bitte mal?“



2.

Beim Essen erfuhr Steffen, dass Warburg einmal pro Monat bei einer Organisation aushalf, die sich um männliche Prostituierte kümmerte. Sie nannte sich Straßenkids e.V. und das Projekt Doktor St. Georg.

„Eigentlich ist es unverantwortlich die Männer zu behandeln, nur damit sie wieder für osteuropäische Zuhälter Geld anschaffen, aber letztendlich geht es um Menschen“, meinte Luis, gefolgt von einem Seufzer. „Ich will damit nicht sagen, dass die osteuropäische brutaler ist als die westliche Sorte. Schwarze Schafe gibt es überall.“

„Sind Zuhälter nicht generell schwarze Schafe?“, mischte sich Steffen, der bisher bloß zugehört hatte, ein.

„Sind sie nicht lediglich die illegale Variante von Zeitarbeitsfirmen und ähnlichen Unternehmen, die Arbeitskräfte vermieten? Man denke nur an den Skandal um diesen Fleischverarbeitungsbetrieb, der solche Menschen ausgebeutet hat und wahrscheinlich immer noch tut“, meinte sein Vater mit grimmiger Miene.

„Also, dieser Braten ...“ Seine Mutter wies mit der Gabel auf den kümmerlichen Rest Lammkeule. „... stammt von einem Bio-Schlachter.“

„Übrigens: Dein Essen ist vorzüglich, liebe Maria“, lobte Luis.

„Finde ich auch“, stimmte Steffen zu.

„Du hast ausgezeichnet gekocht“, flötete sein Vater, beugte sich zu seiner Mutter und küsste sie auf die Wange.

Die weitere Unterhaltung drehte sich um Lebensmittelpreise und bevorzugte Einkaufsquellen für Biokost. Vermutlich sparte sich sein Vater das geschäftliche Gespräch für nach dem Dessert auf. Gegenüber seiner Mutter, die sich sehr viel Mühe mit dem Mittagsmahl gegeben hatte, sehr höflich, doch ungewöhnlich für seinen Erzeuger. Sonst pflegte sein Vater mit der Tür ins Haus zu fallen.

Zum Nachtisch gab es Schokoladeneis mit Birnenkompott. Als alle ihre Schüsselchen geleert hatten und Steffen Anstalten machte, den Tisch abzuräumen, hielt sein Vater ihn auf: „Lass, das mache ich. Luis möchte sich gern unter vier Augen mit dir unterhalten. Führe ihn doch bitte in die Bibliothek.“

Stand sein Kündigungsgespräch schon bevor? Ihm wurde mulmig zumute. Plötzlich fand er Luis‘ Lächeln nicht mehr charmant, sondern haifischähnlich. Die grinsten doch auch so, bevor sie ihr Opfer verspeisten.

„Dann folge mir bitte“, wandte er sich an Luis, erhob sich und ging voran.

Luis betrat das Arbeitszimmer hinter ihm, schloss die Tür, lehnte sich dagegen und schob beide Hände in die Hosentaschen. „Wie stehst du zu Kindern?“

Was sollte das denn? „Ähm ... keine Ahnung. In meinem Lebensplan sind keine vorgesehen.“ Schon mangels Möglichkeiten, jemals schwanger zu werden oder einen anderen Mann zu schwängern.

„Und generell?“

„Warum fragst du?“

Luis stieß sich von der Tür ab, wanderte zum Fenster, guckte kurz hinaus und drehte sich wieder in seine Richtung. „Ich plane, zwei Kinder zu adoptieren, wofür eine Eheschließung hilfreich wäre. Willst du mich heiraten?“

Luis war schwul? Und wollte ihn heiraten? Oder war nicht schwul und wollte ihn trotzdem heiraten. Bestimmt hatte er sich verhört. „Wie bitte?“

„Sorry, dass ich dich damit so überfalle.“ Luis hockte sich auf die Schreibtischkante. „Ich suche einen Ehepartner, der die Kinder mit mir zusammen großzieht. Du erscheinst mir dafür geeignet.“

Mit seinen Ohren stimmte wohl etwas nicht. Hatte Luis echt Ehe und heiraten gesagt?

„Bewahrt dein Vater hier irgendwo Alkoholisches auf? Du siehst aus, als könntest du einen Drink gebrauchen“, stellte Luis fest und schaute sich suchend um.

Ein Drink würde nicht reichen. Er schüttelte den Kopf und ließ sich auf einem Stuhl nieder. „Hast du mir echt gerade einen Heiratsantrag gemacht?“

Luis nickte.

„Also, nimm’s bitte nicht persönlich, aber das wird nichts. Ich bin für die Ehe nicht geschaffen.“

Genau diesen Moment suchte sich sein Vater aus, um in den Raum zu platzen, ein Tablett in den Händen und singsangte: „Kaffee und harte Getränke.“

Deshalb hatte sein Alter so rumgedruckst! Unglaublich! Seine Eltern versuchten, ihm eine Ehe aufzudrängen! Steffen fehlten die Worte.

„Und? Wie hat er’s aufgenommen?“, richtete sein Vater das Wort an Luis und stellte das Tablett auf den Schreibtisch.

Steffen sprang auf. „Diese Unterhaltung ist beendet. Ich gehe.“

Du bleibst!“, bellte sein Vater, der sonst nie laut wurde, woraufhin er erschrocken zurück auf den Stuhl sank. „Eine Verbindung mit Luis wäre auch zu deinem Vorteil. Mit ihm an deiner Seite könntest du die Klinik leiten. Ohne ihn fehlt dir die Fachkenntnis dafür.“

So sah es also aus: Erpressung. Entweder schluckte er den bitteren Köder, oder die Klinik ging in fremde Hände. „Ich könnte einen Geschäftsführer einstellen.“

„Es braucht einen Mediziner, um das Unternehmen zu führen, keinen Zahlenjongleur“, widersprach sein Vater. „Wer möchte Kaffee?“

„Ich brauche einen Cognac“, brummelte Steffen.

Wortlos reichte sein Vater ihm einen Schwenker, in dem bernsteinfarbene Flüssigkeit schimmerte. Er leerte das Glas in einem Zug. Garantiert handelte es sich um arschteures Gesöff, doch das war ihm scheißegal. Seine Zukunft wurde ihm gerade verbaut. Wie konnte er sich aus der Affäre ziehen?

„Ich glaube, Steffen braucht ein bisschen Bedenkzeit“, beendete Luis das eingetretene Schweigen. „Bräuchte ich an seiner Stelle ja auch. Zu der Ehe möchte ich noch anmerken, dass es sich lediglich um eine Formalie handelt. Daraus ergeben sich keinerlei Verpflichtungen, mit Ausnahme der, nach außen hin den Schein zu wahren. Natürlich auch den Kindern gegenüber. Die sollen ja schließlich in einer heilen Familie aufwachsen.“

„Warum hast du mich nicht vorgewarnt?“, pflaumte Steffen seinen Vater an.

„Weil du Luis unvoreingenommen kennenlernen solltest. Hätte ich dir vorher davon erzählt, wärest du doch gar nicht erst erschienen.“

Allerdings. Er begab sich doch nicht freiwillig zum Schafott. Plötzlich sah er Luis in einem völlig anderen Licht. Mit den grauen Haaren, der Hakennase und den Krähenfüßen wirkte Warburg steinalt, was die Klamotten zusätzlich betonten. Wer trug heutzutage denn noch ein Jackett zu Jeans? Höchstens Lehrer. Sind wir ein kleines bisschen ungerechnet?, flötete eine Stimme in seinem Kopf.

„Bitte, Hans, lass deinen Sohn das erstmal verdauen“, mischte sich Luis ein.

„Also darf ich jetzt gehen?“ Steffen stand auf.

Sein Vater zuckte mit den Achseln. „Von mir aus. Ich möchte aber zeitnah wissen, wie du dich entschieden hast.“

„Ich schlafe eine Nacht drüber“, erwiderte er und fügte im Stillen hinzu: Bevor ich dir die gleiche Antwort gebe: Nein!

Er hatte die Türklinke schon in der Hand, als Luis ihn aufhielt: „Gehst du morgen Abend mit mir essen?“

Am liebsten hätte er ‚Leck mich!‘ erwidert. Stattdessen sagte er: „Ruf mich morgen im Büro an.“

An der Garderobe schlüpfte er in seine Jacke. Da er nicht gehen konnte, ohne sich von seiner Mutter zu verabschieden, betrat er die Küche. „Ich muss leider schon los.“

Sie wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, wobei sie ihn besorgt musterte. „Ich hab deinem Vater gesagt, dass wir vorher mit dir reden sollten, aber er wollte nichts davon hören.“

Steffen winkte ab. „Ist schon gut. Er hat recht: Ich wäre dann weggeblieben.“

Ein zaghaftes Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Also wirst du es dir überlegen?“

„Muss ich ja.“

Ihre Mundwinkel sanken wieder herab. „Schatz, du bist schon zweiunddreißig. Wann willst du denn sesshaft werden?“

Wieso schon? Anfang dreißig war doch kein Alter! „Dann, wenn ich mich dafür reif fühle.“ Und wenn der Richtige aufkreuzte.

Sie seufzte. „Ach, Schatz ... Denk gut darüber nach. Luis ist ein feiner Kerl.“

Eher ein alter Knacker! Immerhin war der Typ fast vierzig! „Werde ich. Danke für das leckere Essen.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und verließ das Haus.

Es regnete. Das Wetter entsprach seiner Stimmung. Seine Wut hatte sich in Niedergeschlagenheit verwandelt. Eigentlich blieb ihm gar keine Wahl. Wenn er die Heirat mit Luis ablehnte, würde sein Vater die Klinik über kurz oder lang verkaufen. Damit wäre auch sein Job, den er über alles liebte, futsch. Die Vorstellung, in irgendeinem Konzern bloß ein kleines Rädchen im Getriebe zu sein, verursachte ihm Bauchschmerzen.

Moment! Er stoppte und rieb sich übers Kinn. Erwartete Luis etwa, dass er daheimblieb und die Kinder hütete? Wahrscheinlich, denn wer sollte das sonst tun? Das konnte Warburg gleich vergessen! Er ließ sich doch nicht zur Hausfrau umpolen! Von neuerlichem Zorn übermannt marschierte er weiter.

Bis zum Abend hatte er mehrfach das Wechselbad zwischen Wut und Entmutigung durchlaufen. Selbst ein Besuch im Fitnessstudio konnte diesen Kreislauf nicht beenden. Er musste mit jemandem reden, also schnappte er sich sein Smartphone und wählte die Nummer seines besten Freundes.

„Hi Alter. Alles fit?“, meldete sich Marvin.

„Geht so. Ich soll verheiratet werden.“

Stille, dann schnaubte Marvin. „Du verarschst mich.“

„Ich wünschte, das wäre der Fall. Meine Eltern haben hinter meinem Rücken einen Heiratskandidaten ausgesucht.“

„Wow! Das klingt ja voll nach Mittelalter. Wer ist es denn?“

„Luis Warburg.“

Wieder trat Stille ein. Vermutlich guckte sich Marvin den Kandidaten im Internet an. Sein Kumpel hockte ständig vorm Computer. „Boah! Der ist ja heiß!“, meldete sich Marvin wieder zu Wort. „Darf ich den haben? Ich steh auf Silberfüchse.“

„Liebend gern. Der Typ will mir zwei Kinder aufs Auge drücken.“

„Ähm ... Du darfst ihn doch behalten.“

„Ich weiß nicht, was ich machen soll. Meine Eltern werden die Klinik wohl verkaufen, wenn ich den Gruftie nicht heirate.“

„Gruftie? Der ist gerade mal sieben Jahre älter als du.“

„Lenk nicht ab!“

„Wieso sollten deine Eltern verkaufen? Du bist doch ihr Erbe.“

„Aber kein Mediziner.“

„Na und? Hamburgs Bürgermeister ist Mediziner. Im Umkehrschluss brauchst du keiner sein, um eine Klinik zu leiten.“

Marvins Logik war manchmal schwer zu verstehen. „Erklär das mal meinen Eltern.“

„Wo sind denn die Nachteile bei Lösung A, der Eheschließung?“

„Was wäre Lösung B?“

„Na, du heiratest den heißen Typen nicht und wartest ab, was passiert.“

„Ha, ha!“, brummelte er. „Dann bin ich garantiert meinen Job los, sobald jemand den Laden übernimmt.“

„Das ist doch nicht sicher.“

„Aber wahrscheinlich. Was die Nachteile angeht: Ich wäre verheiratet.“

„Verlangt er Treue?“

„Nö.“

„Na, dann ist doch alles in Butter. Du machst weiter wie bisher und kannst immer, wenn du keinen Stecher findest, auf den Silberfuchs zurückgreifen.“

„Als ob ich mit Greisen schlafe.“

Marvin prustete. „Wie gesagt: Ich nehme ihn mit Kusshand.“

Steffen bezweifelte, dass Warburg Interesse an einem rothaarigen Nerd mit Bauchansatz hatte. Andererseits ... Geschmäcker waren ja verschieden. „Also meinst du, dass ich es mal mit der Ehe probieren soll?“

„Klar. Warum nicht? Du solltest nur vorher alle Modalitäten klären. Beispielsweise, ob ihr zusammen wohnen müsst und so.“

Davon war wohl auszugehen. „Okay. Ich werde mal intensiv darüber nachdenken.“

„Wann lerne ich deinen Zukünftigen kennen?“

„Wenn er nicht mehr mein Zukünftiger, sondern mein Aktueller ist. Lass uns bald mal zusammen ein Bierchen zischen gehen.“

„Melde dich, wenn’s dir mal passt. Ich bin ja praktisch immer verfügbar.“ Marvin seufzte theatralisch. „Mich will niemand heiraten, noch nicht mal daten.“

„Stubenhocker haben’s eben schwer. Mach’s gut.“ Er legte auf und guckte sinnend ins Leere. Überzeugt war er nicht, aber die dunklen Wolken am Horizont hatten sich verzogen. Vielleicht sollte er das Ganze einfach locker sehen. Genauso schnell, wie man heiratete, war man auch wieder geschieden.


3.

Um halb elf bekam Luis endlich Gelegenheit, ein bisschen zu verschnaufen. Sein erster Termin, die Korrektur einer Nasenkorrektur, hatte länger als veranschlagt gedauert. Die meisten Operationen überließ er inzwischen seinen fähigen Mitarbeitern. Nur bei kompilierten Fällen, wie bei dieser verpfuschten Schönheits-OP, griff er noch zum Skalpell.

Mit einer Tasse Kaffee saß er in seinem Schreibtischsessel und guckte aus dem Fenster. Obwohl sich sein Büro im 4. Stock befand, sah man bloß Hausfronten. Das war ein Nachteil der zentralen Lage: Die dichte Bebauung.

Neulich, als er sich mit Hans Brinkmann zum Mittagessen getroffen hatte, war das Gespräch auf seinen Adoptionswunsch gekommen. Momentan konnte er an kaum etwas anderes denken. Jedenfalls meinte Hans, dass es doch für beide Seiten ein guter Deal wäre, Steffen zum Mann zu nehmen. Eigentlich fand er das auch, zumal es sich um ein sehr attraktives Exemplar der Gattung handelte. Fragte sich allerdings, ob an dem Spruch ‚außen hui, innen pfui‘ etwas dran war.

Aus Erfahrung hegte er gegenüber schönen Menschen gewisses Misstrauen. Manchmal hatten die, außer einer hübschen Fassade, wenig zu bieten. Eitelkeit schien mit Intelligenz oder Empathie selten einherzugehen. Gutaussehende Menschen, die sich dessen nicht bewusst waren, gab es nur sehr wenige.

Die Dame vom Jugendamt hatte ihm erklärt, dass ein Paar bei der Adoption größere Chancen hätte. Es gab bereits eines mit Interesse an den Kindern. Einen Partner zu finden, besaß also hohe Dringlichkeitsstufe. Wenn es mit Steffen nicht klappte, würde er eine Agentur einschalten. Es wäre ihm aber lieber, Hans‘ Sohn zu heiraten, als irgendeinen Fremden. Okay, Steffen war genau genommen auch ein Fremder, aber zumindest kannte er dessen Vater schon einige Jahre. Sie hatten zwar nie engen Kontakt gepflegt, aber gelegentlich zusammen die Mittagspause verbracht.

Bei den Kindern handelte es sich um einen Junge und ein Mädchen, zwei und drei Jahre alt. Ihre Mutter, eine Prostituierte, war vor einem Monat verstorben. Den Vater, Jens Berger, hatte Luis bei einem seiner Einsätze in St. Georg wegen eines nässenden Ekzems behandelt. Ein Blick reichte, um festzustellen, es mit einem Drogenabhängigen zu tun zu haben. Einstichstellen in den Armen lieferten den Beweis.

Berger hatte Kinder bei sich. Der Junge saß in einer schäbigen Karre. Das Mädchen schrubbte mit einem Bobbycar herum. Beide trugen dreckige Klamotten und waren für sein Gefühl zu dünn. Luis hatte sich immer Nachwuchs gewünscht und hasste es, wenn Leute, die damit gesegnet waren, derart schlecht mit den Kleinen umgingen. Bergers Drogenproblem war wohl eine Ursache dafür, doch er hatte zusätzlich den Eindruck, dass dem Mann die Vaterrolle nicht sonderlich gefiel.

Manfred, der die Einsätze koordinierte, erklärte ihm später, dass Berger ein Stammkunde war. Auch die Mutter der Kinder hatte ab und zu Hilfe in Anspruch genommen, bis sie vor einem Monat plötzlich verstarb. Von Manfred wusste er auch, dass Jens Berger kurz darauf inhaftiert wurde und die Kinder zu Pflegeeltern kamen.

Mittlerweile hatte er einen Doktortitel in Sachen Pflegschaft und Adoption erworben, indem er alles verfügbare Material darüber studierte. Für ihn kam nur letzteres infrage. Er wollte die Kinder nicht nur großziehen, sondern als sein eigen Fleisch und Blut anerkennen.

Generell war das Jugendamt seinem Wunsch gegenüber positiv gestimmt, doch es gab eben die Konkurrenz. Paare wurden bei Adoptionen bevorzugt behandelt. Die zuständige Sachbearbeiterin hatte ihm durch die Blume geraten, rasch zu heiraten, damit er seine Chance nicht verspielte.

Apropos ...er drehte den Sessel zum Schreibtisch, griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer der Brinkmannschen Klinik. Die Dame in der Zentrale verband ihn mit Steffen Brinkmann, der sich mit: „Ja, bitte?“, meldete.

„Steht unsere Verabredung zum Abendessen?“

„Wann und wo?“

„In den Colonnaden gibt es ein hervorragendes Fischrestaurant. Ich lasse für sieben einen Tisch reservieren, wenn das für dich in Ordnung ist.“

„Das passt für mich.“

„Wunderbar. Dann bis nachher.“ Luis legte auf, hob die Kaffeetasse an seine Lippen, nippte daran und rümpfte die Nase. Das Zeug war kalt geworden.

Auf dem Weg zur Teeküche überlegte er, dass sich Steffen ziemlich positiv angehört hatte. Es bestand also Hoffnung, sein Problem bald zu lösen. Darüber war er sehr erleichtert. Allerdings blieb abzuwarten, ob mit Steffen ein harmonisches Miteinander möglich war. So verzweifelt, sich einen Stinkstiefel ans Bein zu binden, war er nun doch nicht. Außerdem musste er an die Kinder denken. Die beiden brauchten ein intaktes Zuhause.

 

Um kurz vor sieben betrat er das Lokal. Eine Angestellte führte ihn zum reservierten Tisch. Entgegen seinem letzten Besuch war das Restaurant nur wenig frequentiert. Entsprechend hielt sich der Geräuschpegel in Grenzen.

Kaum hatte er sich gesetzt, tauchte Steffen auf. Damit sicherte sich der Bursche schon mal Pluspunkte. Nichts hasste Luis mehr, als auf jemanden zu warten. Na ja, abgesehen von kaltem Kaffee, Matjes und Käsefüßen.

Diesmal trug Steffen Jeans, dazu eine schwarze Lederjacke. Mit den verstrubbelten blonden Haaren, die sich an den Enden ringelten, sah er umwerfend gut aus, noch besser als mit dem akkuraten Seitenscheitel.

Die Angestellte geleitete Steffen zu ihrem Tisch, wartete, bis er die Jacke ausgezogen und sich gesetzt hatte, bevor sie nach ihren Getränkewünschen fragte. Mit ihrer Bestellung huschte sie wieder davon.

„Warum suchst du eigentlich auf diesem Weg nach einem Ehemann?“, wollte Steffen wissen.

Irritiert runzelte Luis die Stirn. „Wo würdest du denn an meiner Stelle suchen?“

Steffen zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich in meinem Lieblingsclub, aber geeignete Heiratskandidaten dürften da kaum rumhängen. Die sind so gut wie alle wegen etwas anderem dort. Was ist mit einer Agentur?“

„Die hätte ich beauftragt, wenn du dich auf den ersten Blick als ungeeignet herausgestellt hättest.“ Kaum waren die Worte raus, bereute er seine ungeschickte Formulierung. „Ich meine, wenn zwischen uns gleich keinerlei Sympathie vorhanden gewesen wäre.“

„Du findest mich also sympathisch?“

„Sonst hätte ich dich wohl kaum gefragt, mein Mann zu werden.“ Er klappte die Speisekarte auf. „Ich kann die Scholle empfehlen.“

Bis ihre Getränke auf dem Tisch standen und die Bedienung ihre Wünsche entgegengenommen hatte, beschränkte sich ihre Unterhaltung aufs Essen. Dann erkundigte sich Steffen: „Was erwartest du genau von deinem Ehemann?“

„Dass er mich bei der Erziehung der Kinder unterstützt. Die beiden sollen sich angenommen und behütet fühlen. Tagsüber wird sich Jolene, mein ehemaliges Kindermädchen, um die zwei kümmern. Die Nachtschichten übernehme ich.“ In der Anfangszeit plante er außerdem, beruflich ein wenig kürzer zu treten, um mehr Stunden mit den beiden zu verbringen. Sein Stellvertreter war bereits entsprechend vorgewarnt.

„Das heißt, nachts hätte ich frei?“, hakte Steffen nach.

„Richtig. Allerdings müsstest du deine Aktivitäten ein bisschen einschränken, um morgens zur Verfügung zu stehen. Kinder sind meist früh wach.“

Steffen zog eine Grimasse, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen. „Also keine nächtelangen Sauftouren mehr.“

Sollte Steffen aus diesem Alter nicht raus sein? „So sieht’s aus.“

„Das wird schwierig werden.“

„Es ist deine freie Entscheidung. Niemand zwingt dich.“

„Wenn ich dich nicht heirate, wird die Klinik in fremde Hände gehen.“

„Ich glaube nicht, dass dein Vater sie verkaufen würde.“

Steffen winkte ab. „Darüber zu spekulieren ist sinnlos. Also: Was sind das für Kinder, wegen der du unbedingt heiraten musst?“

Er erzählte von seiner ersten Begegnung mit den beiden und zückte das Foto, das ihm die Jugendamtmitarbeiterin überlassen hatte. Es war bei den Pflegeeltern aufgenommen worden. Die zwei guckten mit großen, traurigen Augen in die Kameralinse.

„Niedlich“, kommentierte Steffen. „Warum möchtest du ausgerechnet die beiden adoptieren?“

„Ich hab sie gesehen und da hat es klick gemacht.“ Luis steckte das Foto wieder weg. „Das ist wohl mein Beschützerinstinkt. Ihr Vater ist drogenabhängig, die Mutter tot. Jemand muss sich doch um die Kleinen kümmern.“

„Aber es kümmert sich offensichtlich schon jemand um sie“, wiedersprach Steffen.

„Sie sind in einer Kurzzeitpflege. Auf Dauer werden sie entweder zur Adoption vermittelt - der Vater ist im Gefängnis und damit einverstanden - oder in eine Langzeitpflege gegeben.“

„Ich weiß nicht, ob ich mit Kindern klarkomme.“

„Ach, das ist doch ein Selbstgänger.“ Dankend nickte er der Bedienung, die je einen Teller Salat vor ihnen abstellte, zu. „Die Kleinen werden dir schon zeigen, was sie von dir wollen.“

Dass Steffen zugab, Zweifel in Bezug auf seine erzieherischen Fähigkeiten zu haben, war ein weiterer Pluspunkt. Leute, die sich für omnipotent hielten, waren Luis ein Graus.

„Aber wie soll ich rausfinden, ob es keine Total-Katastrophe wird?“

„Sofern wir uns heute einig werden, vor den Standesbeamten zu treten, telefoniere ich mit dem Jugendamt. Als potentielle Adoptiveltern dürfen wir die Kleinen besuchen. Dann kannst du dir selbst ein Bild von ihnen machen.“

Diese Aussicht schien Steffen zu beruhigen, denn er schenkte Luis ein Lächeln und machte sich über den Salat her.

Beim Hauptgericht, das kurz darauf serviert wurde, plauderten sie über alles Mögliche Erfreulicherweise erwies sich Steffen als vielseitig interessiert sowie informiert. Damit hatte sich die Sorge, es mit einem schönen Teller zu tun zu haben, von dem allein man ja nicht satt wurde, erledigt.

Auf politischer Ebene fanden sie keinen Konsens, außer, dass momentan überwiegend unfähiges Personal an der Macht waren. Steffen nannte das ‚Management bei Jeans‘ - an den entscheidenden Stellen saßen Nieten. Zwar konnte sich Luis an keine Legislaturperiode erinnern, in der es anders gewesen war, doch zurzeit kam es ihm besonders schlimm vor, angefangen beim Kanzler.

Ansonsten stimmten sie ziemlich gut überein. Steffen bevorzugte lustige Filme und mochte, je nach Stimmung, unterschiedliche Musikrichtungen, von Klassik bis hin zu Pop, genau wie Luis. Sie lasen beide gern Fantasy und waren keine begabten Köche. An letzterem arbeitete Luis. Schließlich wollte er demnächst zwei Kinder ernähren. Vieles würde zwar Jolene übernehmen, aber an den Wochenenden und wenn sie frei hatte, war das seine Aufgabe.

Beim Dessert fragte Steffen: „Wirst du mir noch einen offiziellen Heiratsantrag machen?“

Erstaunt ließ er seinen Löffel sinken. „Möchtest du das denn?“

„Das war ein Scherz.“ Steffen zwinkerte ihm zu. „Ich denke, wir können es versuchen. Sollten die Kinder mich aber ablehnen, trete ich von meiner Zusage zurück.“

„In Ordnung. Dann machen wir es von den beiden abhängig. Wenn die zwei dich mögen, können wir dann kurzfristig zum Standesamt?“

Steffen, der sich gerade einen Löffel Tiramisu in den Mund geschoben hatte, nickte.

„Möchtest du einen Ring?“

„Natürlich!“, erwiderte Steffen mit sichtlicher Empörung. „Und zwar einen aus Platin!“

„Ähm ... wirklich?“

„Gold steht mir nicht. Es darf auch Silber sein.“

„Schlicht oder mit Stein?“

„Schlicht.“

„Kennst du deine Ringgröße?“

Steffen schüttelte den Kopf.

„Dann sollten wir zusammen einen aussuchen.“

 

4.

Luis rief am nächsten Tag zur Mittagsstunde an, um Steffen mitzuteilen, dass sie Freitagnachmittag die Kinder besuchen durften und fragte anschließend: „Hast du nachher Zeit, zum Juwelier zu gehen?“

„Wann ist nachher?“

„Um fünf.“

„Das passt.“

„Ausgezeichnet. Ich hol dich ab.“

„Ich dachte, ich komme rüber zu dir. Sind in deiner Nähe keine geeigneten Geschäfte?“

„Doch, schon, aber ich bevorzuge einen Laden in Eppendorf.“

„Okay. Dann warte ich um fünf am Empfang.“

„Bis später.“ Luis legte auf.

Steffen behielt den Hörer gleich in der Hand und wählte die Nummer seines Vaters.

„Na, mein Sohn?“, drang die vertraute Stimme an sein Ohr.

„Ich mach’s.“

Einen Moment herrschte Stille, dann schien der Groschen zu fallen, denn sein Vater atmete vernehmlich auf. „Ich bin sehr froh, dass du dich so entschieden hast.“

„Warten wir’s ab. Vielleicht begehe ich den Fehler meines Lebens.“

„Ach, Unsinn! Mit Luis hast du einen echten Glücksgriff gemacht. Ich bin mir sicher, dass ihr eine gute Ehe führen werdet, genau wie deine Mutter und ich.“

„Hat man euch auch gezwungen zu heiraten?“

„Niemand zwingt dich.“

Anscheinend litten einige Leute an verzerrter Wahrnehmung. Erpressung blieb Erpressung. „Sagst du nachher Mama Bescheid? Dann muss ich sie nicht extra anrufen.“ Und mir nochmal anhören, dass ich es aus freien Stücken tue, fügte er im Geiste hinzu.

„Klar mach ich das. Wird’s eine große Hochzeitsfeier geben?“

„Das glaube ich kaum. Ich frage nachher Luis.“

„Schöne Grüße. Ich bin stolz auf dich, mein Sohn“, beendete sein Vater das Telefonat.

Nachdem Steffen den Hörer zurück auf die Gabel gelegt hatte, starrte er ins Leere. Es gab noch einige Dinge, die er mit Luis klären musste, zum Beispiel die Schlafsituation. Würden sie getrennte Räume haben? Und wurde von ihm erwartet, nach der Hochzeit mit Sack und Pack umzuziehen? Marvin würde ihn auslachen, wenn er sein Versäumnis eingestand und das zu recht. Warum hatte er nicht nach Details gefragt?

Vielleicht, weil du hoffst, dich doch noch aus der Affäre ziehen zu können, flüsterte es in seinem Schädel. Vermutlich. Wenn die Kinder allergisch auf ihn reagierten, durfte Luis den Ring zurückbringen.

Um fünf vor fünf begab er sich in die Lobby. Luis saß in einem der Sessel, die in einer Nische an einem Couchtisch standen. Cordula, die hinterm Empfangstresen saß und zu seinem Zukünftigen rüber schielte, hatte Herzchen in den Augen. Da war jemand eindeutig Luis‘ Charme erlegen.

Luis erhob sich und kam auf ihn zu. „Nettes Ambiente. Da fühlt man sich gleich gut aufgehoben.“

„Das täuscht. So mancher hat das Gebäude mit einem Organ weniger verlassen.“ Steffen feixte.

„Steffen! Mach unser Haus nicht schlecht!“, schimpfte Cordula.

„Luis weiß schon, wie das gemeint ist“, besänftigte er sie. „Bis morgen.“

„Schönen Feierabend!“, rief sie ihm hinterher, als er mit Luis auf den Ausgang zusteuerte.

Auf dem Besucherparkplatz stand ein schwarzer BMW-Kombi mit dem Kennzeichen HH LW XXX. Entweder hatte sich Luis erst kürzlich diese Familienkutsche zugelegt oder war praktisch veranlagt.

Gleich auf der ersten Hauptstraße landeten sie im dichten Berufsverkehr. Einmal mehr war Steffen froh, einen derart kurzen Arbeitsweg zu haben.

„Kannst du mir zu unserem zukünftigen Zusammenleben noch ein bisschen was erzählen?“, wandte er sich an Luis.

„Was genau willst du denn wissen?“

„Schlafen wir zusammen?“

Vehement schüttelte Luis den Kopf. „Ich hab kein sexuelles Interesse.“

Das empfand Steffen als beleidigend. Fand Luis ihn nicht attraktiv? Fast wäre ihm die Frage rausgeflutscht. Im letzten Moment biss er sich auf die Zunge. Er sollte erleichtert statt eingeschnappt sein. Schließlich behielt er damit seine Freiheit, sich nach Herzenslust auszutoben. Das hatte Luis zwar mit der nächtlichen Ausgeherlaubnis zwar schon angedeutet, aber nun bekam er den deutlichen Freifahrschein.

„Das soll nicht heißen, dass ich dich abstoßend finde oder so“, fuhr Luis fort. „Es würde die Sache nur verkomplizieren. Für meine körperlichen Bedürfnisse hab ich eine andere Lösung.“

Und wie sah die aus? Das geht dich nichts an!, flüsterte es eindringlich in seinem Schädel. Wenn du fragst, erlaubst du damit zugleich, dass Luis auch in deinem Intimleben herumwühlt. Etwas, worauf er gut verzichten konnte. „Da bin ich aber beruhigt.“

Luis warf ihm einen Seitenblick zu. „Dafür klingst du ganz schön eingeschnappt.“

„Das täuscht. Erwartest du, dass ich ganz und gar bei dir einziehe?“

Auf eine Antwort musste er einen Moment warten, da sich der Verkehr gerade ein Stück weiter bewegte. Beim nächsten Stopp erwiderte Luis: „Wir sollten schon zusammen wohnen.“

„Aber du willst bestimmt nicht, dass ich meine ganzen Möbel anschleppe, oder?“

Erneut guckte Luis ihn kurz von der Seite an. „Platz wäre vorhanden.“

„Wo wohnst du überhaupt?“

„Das zeige ich dir gleich.“

Kurz darauf überquerten sie die Kennedybrücke. Dahinter bog Luis in den Mittelweg ein, an dessen Ende rechts ab und hielt vor wenige Meter dahinter vor einem Tiefgaragentor. Das dazugehörige Haus war drei Stockwerke hoch, schneeweiß und erstreckte sich über mehrere Hausnummern. Auf den ersten Blick wirkte es wie eine alte Villa. Auf den zweiten erkannte man, dass es sich um einen Neubau handelte.

Nachdem Luis den Wagen in der Garage abgestellt hatte, gingen sie die Treppe ins Erdgeschoss hoch.

„Willst du einen Blick in meine Wohnung werfen oder reicht es dir, sie von außen zu sehen?“, erkundigte sich Luis.

„Wenn wir schon mal da sind, möchte ich sie auch sehen.“

Steffens Haus, rund 150 Quadratmeter groß, wirkte neben der Wohnung über zwei Ebenen bescheiden. Unten gab es vier Räume und ein Gäste-WC mit Dusche. Im 1. Stock befanden sich vier Zimmer und zwei Bäder. Einer der Räume verfügte über einen riesigen Balkon, von dem man die Außenalster sehen konnte. Luis‘ Schlafzimmer besaß Blick in den Garten, genau wie das gegenüberliegende Gästezimmer.

„Meinst du nicht, dass es hier zu viert ein bisschen eng wird?“, fragte Steffen ironisch.

Luis grinste schief. „Tja ... das könnte knapp werden.“

Was den ausgelobten Platz betraf: Zwei der Zimmer standen leer. Eines bekamen die Kinder und in dem anderen könnte er einige Möbel unterbringen. Vielleicht wäre das eine Option. Sein Haus könnte er ja erstmal vermieten. Er schob diese Überlegung nach hinten. Noch waren sie nicht verheiratet. Danach war immer noch Zeit, darüber nachzudenken.

Zurück im Erdgeschoss begutachtete er den Garten, der sich an die Terrasse anschloss, genauer. Zu beiden Seiten wurde das Areal von hohen Hecken abgegrenzt. Die nützten natürlich nichts gegen die Blicke der Bewohner in den oberen Etagen, vermittelten aber das Gefühl von ein wenig Privatsphäre. Abgesehen von ein paar Sträuchern gab es nur Rasen.

„Ich werde ein Schaukelgerüst und eine Sandkiste aufstellen lassen“, verkündete Luis, der neben ihm am Wohnzimmerfenster stand.

„Meinst du nicht, dass deine Nachbarn dagegen protestieren werden?“

„Nebenan gibt es auch Kinder. Die sind es also gewohnt, dass es am lauter wird.“

Zu dem Juwelier waren es fünf Minuten zu Fuß. Steffen hätte den winzigen Laden mit dem klangvollen Namen Silberdrossel garantiert übersehen, wenn er daran vorbeigefahren wäre. Der Besitzer, ein Typ mit Rauschebart, hörte sich ihre Wünsche an und präsentierte eine Auswahl an schlichten Eheringen, die allesamt wunderschön waren. Schlussendlich entschied sich Steffen für ein Exemplar, das halb aus Gold und halb aus Platin bestand. Es war das teuerste im Sortiment. Seine Haut verkaufte er nicht unter Preis, außerdem gefielen sie ihm am besten.

„Wann brauchen Sie die Ringe?“, erkundigte sich der Mann.

„So schnell wie möglich“, antwortete Luis.

„Eine Woche. Darunter schaffe ich es nicht.“

Als sie das Geschäft verließen, hatte sich die Sonne gegen die Wolken durchgesetzt. Ihr warmer Schein war, nach dem langen, düsteren Winter, wohltuend. Vereinzelt sah Steffen auf dem Rückweg an den Sträuchern, an denen sie vorbeikamen, erstes Grün sprießen. Wenn die Knospen aufbrachen, sah die Gegend bestimmt wunderschön aus. Überhaupt mochte er die Lage sehr. Der Weg rund um die Alster war perfekt für seine Joggingrunden und die Einkaufsmöglichkeiten fußläufig zu erreichen. Letzteres galt zwar auch für sein Zuhause, doch die Auswahl war weitaus geringer.

Vor der Tiefgarageneinfahrt blieb Luis stehen. „Möchtest du noch auf einen Kaffee mit reinkommen oder soll ich dich gleich nach Hause bringen?“

Bei jedem anderen hätte er die Frage als Einladung zum Sex aufgefasst. „Ich gehe zu Fuß. Das erspart mir den geplanten Besuch im Fitnesscenter.“

„Apropos: Im Keller befindet sich ein Raum mit ein paar Geräten. Er wird nur wenig genutzt.“

„Gibt’s da auch ein Schwimmbad?“

Luis schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Wir dürfen aber das im Keller von Hausnummer 10 benutzen.“

„Sieht bestimmt lustig aus, wenn ich mal kurz in Badehose da rüber flitze.“ Er zwinkerte Luis zu. „Wann sehen wir uns am Freitag?“

„Die Pflegefamilie erwartet uns um halb sechs. Ich hol dich wieder um fünf ab.“

„Okay. Schönen Abend.“ Zum Abschied schenkte er Luis ein breites Lächeln, wandte sich um und überquerte die Straße.

An der Alster war mächtig viel los. Die Sonne schien sämtliche Hanseaten aus ihren Höhlen gelockt zu haben. Ständig musste Steffen, der zügig ausschritt, anderen Spaziergängern oder Hunden ausweichen. Warum rannte er eigentlich so? Er drosselte sein Tempo.

Nach einem Weilchen fiel ihm auf, dass sein Fokus auf die Kinder, die ihm begegneten, gerichtet war. Stellte er sich innerlich bereits auf seine neue Rolle ein? Das war wohl etwas verfrüht. Bis zur Hochzeit - sofern sie denn stattfand - sollte er sich darauf konzentrieren, seine Freiheit zu genießen. Damit wollte er nachher anfangen, indem er ausnahmsweise unter der Woche in seinen Lieblingsclub ging. Vielleicht war Timor da. Ihm stand der Sinn danach, sich den Verstand rausvögeln zu lasen. Na ja, allzu viel ist damit ja eh nicht los, wenn man bedenkt, dass du eingewilligt hast, Luis zu heiraten, spottete es in seinem Kopf. Seufzend gab er der Stimme recht. Dann musste sich Timor eben damit begnügen, ihm den letzten Rest Verstand rauszuficken.

Er hatte Glück. Timor war in Stimmung, es ihm gründlich zu besorgen. Da er am folgenden Morgen früh aufstehen musste, erledigten sie das noch vor Mitternacht.

 

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Tag der Veröffentlichung: 14.02.2022

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