Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos
Foto: Stockfoto-Nummer: 1782116210 von ThomsonD
Cover-Design: Lars Rogmann
Korrektur: Aschure, dankeschön!
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Sander hat über Weihnachten und Silvester ein Häuschen am Plöner See gebucht. Der Urlaub, den er mit seinem Partner Lothar zu verbringen gedenkt, verläuft jedoch anders als geplant. Dann ist da noch der Nachbar mit dem Hund, der auch auf den Namen Sander hört. Ein lustiger Zufall und merkwürdiger Typ. Außerdem scheint es im See ziemlich große Fische zu geben. Hat sich das Ungeheuer vom Loch Ness eine neue Bleibe gesucht?
Sander parkte seinen Wagen direkt vorm Grundstück. Durchs Seitenfenster betrachtete er das Haus, das halb durch eine Hecke verdeckt wurde. Es entsprach den Bildern im Internet, mit den grünen Fensterläden und strohgedecktem Dach. Auf ihn wirkte es ein bisschen wie ein verwunschenes Hexenhäuschen. Das lag wohl auch an der urigen Umgebung, einem Wäldchen, das einen märchenhaften Eindruck vermittelte.
Er stieg aus und betrat den Garten. Der Rasen war von Moos durchsetzt, bestimmt wegen der Bäume, die das Areal überschatteten. Hinter den Sträuchern auf der rechten Seite sah man das Ziegeldach des Nachbarhauses. Links gab es nur Bäume.
Wie vereinbart lag der Schlüssel unter dem Blumentopf neben der Tür. Kein einfallsreiches Versteck, aber was gab es in Ferienhäusern auch schon groß zu stehlen?
Drinnen roch es ein bisschen muffig. Wahrscheinlich war die Bude seit den letzten Schulferien nicht vermietet gewesen. In der Küche, gleich hinter der Eingangstür, öffnete er das Fenster. Die Einrichtung entsprach nicht dem neuesten Stand der Technik, war aber sauber und gepflegt. Desgleichen im Bad. Angesichts der dunkelgrünen Fliesen schmunzelte Sander. Bestimmt würde Lothar eine Schimpftirade auf die Mode der Achtziger loslassen.
Sein Partner lebte in einer Wohnung, die so mancher als Klinikum bezeichnen würde. Weiß, grau und dunkelgrau dominierten. Lothar weigerte sich, irgendwelchen kurzlebigen Trends nachzueifern und beharrte auf einen puristischen Stil. Behaglich war das nicht, aber Sander konnte damit leben, so lange alles andere stimmte. Außerdem wohnten sie eh nicht zusammen. Insofern gab es kein Krisenpotential bezüglich der Einrichtung.
Lothar musste heute noch arbeiten, daher war er schon mal allein losgefahren. Auch eine Sicherheitsmaßnahme, um den Zustand ihres Feriendomizils zu überprüfen. Im letzten Jahr hatten sie ein Appartement auf Sylt angemietet, in dem die Sauberkeit zu wünschen übrig ließ. Fast wäre Lothar sofort wieder abgereist. Mit Engelszungen hatte Sander seinen Liebsten überredet, einen Kaffee trinken zu gehen und in der Zeit den Schmutz beseitigt. Ehrlich gesagt fand er die Reaktion übertrieben. Ein bisschen Staub war doch kein Weltuntergang.
Neben der Küche gab’s im Erdgeschoss noch Wohnzimmer und Gäste-WC. Im 1. Stock befanden sich ein Bad mit Wanne und das Schlafzimmer. Die Räume waren ebenfalls einwandfrei. Nachdem er auch im Schlafzimmer ein Fenster geöffnet hatte, ging er zurück zum Auto, um sein Gepäck zu holen.
Es dauerte eine Weile alles zu verstauen, weil er einen Haufen Lebensmittel eingepackt hatte. Lothar lästerte stets, dass er Angst hätte zu verhungern. Sander war nur gern gut vorbereitet. Nichts hasste er mehr, als gleich nach der Ankunft nach dem nächsten Supermarkt zu suchen. Na gut, dank Internet war er darüber informiert, trotzdem ...
Bevor er zu einem Rundgang aufbrach, schloss er die Fenster und stellte die Heizkörper an. Hinterm Haus fand er einen Stapel Brennholz für den Kamin. Ein schmaler Weg führte zum rückwärtigen Ende des Grundstücks. Hinter der Pforte wurde aus dem Steinweg ein Trampelpfad und innerhalb des Waldstücks, hinter dem der See lag, ein Bohlenweg. Das Gelände wirkte sumpfig, woraus sich der Sinn dieser Maßnahme erschloss.
Der Steg mündete in einer Plattform, die von einem Geländer eingefasst war. Ein daran festgebundenes Ruderboot dümpelte auf dem Wasser. Beiderseitig Schilf bot einigermaßen Sichtschutz. Im Sommer war es also möglich, ungestört ein FKK-Sonnenbad zu nehmen.
Er schaute hinaus auf den See. Vor seiner Abfahrt hatte er sich das Gewässer via Satellit angeguckt. Unglaublich, wie groß es war. An einigen Stellen war es auch unheimlich tief.
Ein Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit nach links. In einiger Entfernung paddelte ein Hund in den Fluten.
„Sander!“, rief jemand, was ihn veranlasste, sich erstaunt umzuschauen.
„Sander! Komm sofort da raus!“, erklang erneut die Stimme, womit offenbar der Hund gemeint war, denn das Tier drehte um.
Er lehnte sich, so weit er es wagte, übers Geländer. Auf einer Plattform ähnlich der, auf der er sich befand, stand ein grauhaariger Mann. Zwischen ihnen gab es noch eine in dieser Art. Bestimmt die seines direkten Nachbarn.
Der Hund paddelte an dem Typen vorbei und verschwand damit aus seinem Sichtfeld. Auch der Mann tauchte in die Deckung des Schilfes. Lustig, dass der Hund den gleichen Namen wie er trug.
Gemächlich ging er den Weg, den er gekommen war, zurück und verließ das Grundstück auf der anderen Seite. Er wandte sich nach rechts - links lag die Straße - und schlenderte, beide Hände in den Hosentaschen vergraben, am Nachbarshaus vorbei. Im nächsten dürfte der Grauhaarige wohnen. Dichte, immergrüne Büsche behinderten die Sicht. Leider war das Gartentor ebenfalls zu hoch, um darüber zu spähen.
Das Gelände dahinter lag brach. Sander guckte nach links und rechts, ehe er durch hohe Grasbüschel stapfte, um nach einer Lücke in der Hecke zu suchen. Erst am hinteren Ende des Areals wurde er fündig. Dort waren die Büsche niedriger, so dass er - wenn er sich auf seine Zehenspitze stellte - hinüber sehen konnte.
Das Haus besaß ungefähr die Dimensionen wie sein Domizil, mit einem Anbau, der einen großen Teil des rückwärtigen Grundstücks einnahm. Letzterer bestand fast nur aus Fenstern. Die Konstruktion auf dem Dach schien ein Oberlicht zu sein. Handelte es sich um ein Atelier? Oder eine Werkstatt? Hund und Herrchen war weit und breit nicht zu entdecken.
Sander begab sich zurück zum Weg und setzte seine Wanderung fort, wobei er über den Grauhaarigen nachdachte. Für einen Künstler wäre die Umgebung perfekt: Ruhe und inspirierende Ausblicke über den See. Er besaß keine kreative Ader, nahm aber an, dass beides hilfreich war. Ihm wäre es auf Dauer zu einsam. Ständiges Alleinsein lag ihm nicht, weshalb er echt froh über seine Beziehung mit Lothar war.
Vor fünf Jahren - zu dem Zeitpunkt befand er sich in einer schweren Anfang-dreißig-Krise - hatten sie sich auf einer Party kennengelernt. Am selben Abend waren sie zusammen in der Kiste gelandet. Seitdem führten sie eine monogame Partnerschaft, allerdings mit getrennten Wohnungen. Das zu ändern, wäre ziemlich schwer. Niemals käme Lothar mit seinem Einrichtungsstil zurecht und umgekehrt wollte er nicht in einer Klinik leben. Sie müssten schon ein entsprechend großes Haus mieten oder kaufen, damit jeder seinen Bereich behielt.
Nach einer Weile, er war an diversen Ferienhäusern vorbeigegangen, kehrte er um. Als er das Anwesen von Sanders Herrchen passierte, vernahm er Hundegebell. Dieses Anzeichen von Leben in der Siedlung, die ansonsten wie tot dalag, zauberte ein Lächeln auf seine Lippen.
In seinem Domizil legte er alle benötigten Zutaten für den geplanten Grünkernauflauf auf die Arbeitsfläche in der Küche. Er aß entweder vegetarisch oder Geflügel. Das hatte sich im Laufe der Zeit so eingebürgert. Lediglich wenn er seine Eltern besuchte, - die beiden lebten seit Renteneintritt in Görlitz, dem Geburtsort seines Vaters - kam mal Fleisch auf den Tisch.
Normalerweise fuhr er über Weihnachten hin, doch in diesem Jahr hatten seine Eltern beschlossen, die Feiertage im Süden zu verbringen. Ende Januar, wenn sie von dem Urlaub auf den Kanaren zurück waren, wollten sie ihr Treffen nachholen.
Leise vor sich hin summend bereitete er den Grünkernschrot vor. Dieser musste zehn Minuten in Gemüsebrühe köcheln, danach eine Weile quellen. In der Wartezeit widmete er sich auf der Couch der Lektüre des Tagesblattes. Er las es in Papierform, weil er sich ans digitale Format nicht gewöhnen konnte. Es fehlte das Knistern beim Umblättern und überhaupt ... Internet war nicht für alles ein adäquater Ersatz. Beispielsweise konnte man darin keine Gemüseabfälle einwickeln, was mit einer Zeitung jedoch hervorragend klappte.
Nach einer halben Stunde war der Grünkernschrot genug gequollen. Er schälte Kartoffeln und schnitt sie in Scheiben. Während sie in etwas Salzwasser garten, fertigte er aus Zwiebeln, Knoblauch, Petersilie, saurer Sahne, zwei Eiern und Sangrita eine Sauce. Anschließend schichtete er Grünkern und Kartoffeln in eine Auflaufform, übergoss alles mit der Mixtur und verteilte zum Schluss geriebenen Gouda darauf.
Er schob die Form in den Backofen und schaute auf die Uhr. Halb vier. Es begann zu dämmern. Sander hasste diese Zeit, in der es derart früh dunkel wurde. Der Dezember ging noch einigermaßen, weil überall bunte Beleuchtung die Fenster erhellte. Januar und Februar waren jedoch einfach nur trostlos.
Am nächsten Morgen fuhr er nach dem Frühstück in die Plöner Ortsmitte, um frisches Gemüse und Geflügel zu besorgen. Das kleinstädtische Ambiente gefiel ihm sehr. Die Leute schienen mehr Zeit zu haben als Großstädter und es gab sogar das eine oder andere Schaufenster, das sein Interesse weckte. Sowas war in Hamburg ja inzwischen eine Rarität. Es gab auch einen kleinen Weihnachtsmarkt. Imbissstände verströmten den Geruch von Grillwürstchen und Glühwein. Mit Schnee wäre die kleine Zeltstadt rund um die Kirche bestimmt ziemlich romantisch gewesen.
Da Lothar bald eintreffen wollte, trödelte er nicht allzu lange rum. Zurück in seinem Domizil bereitete er einen Imbiss vor. Die Reste des Abendessens, dazu Tomatensalat und Knobibrot. Letzteres liebte Lothar über alles.
Pünktlich um eins, zur ankündigten Zeit, hielt ein silberner Audi vorm Grundstück. Vom Küchenfenster aus beobachtete Sander, wie Lothar aus dem Wagen kletterte und durch die Gartenpforte schritt. Wie immer sah sein Liebster wie aus dem Ei gepellt aus. Perfekt sitzende Jeans, dazu ein Rollkragenpulli und darüber ein Sakko. Manchmal fragte er sich, was der erfolgreiche Personalchef eines Logistikunternehmens an einem kleinen Licht wie ihm, Finanzbeamter mittlere Laufbahn, fand.
Er eilte zur Haustür und begrüßte Lothar mit einem Küsschen auf die Wange. „Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht.“
„Im Moment hab ich keinen. Was hältst du von einem Spaziergang?“
„Willst du dir nicht erst das Haus angucken?“
Lothar schüttelte den Kopf. Ein ungutes Gefühl ergriff von Sander Besitz. Gab es etwas Wichtiges zu besprechen? Gefiel Lothar die Gegend nicht? Hastig schlüpfte er in Schuhe und Jacke, wickelte sich einen Schal um den Hals und trat vors Haus. Lothar stand am Wagen und zog gerade einen Mantel über.
Sie schlugen den Weg ein, den er am Vortag entlanggewandert war. Lothar hatte beide Hände in den Manteltaschen vergraben und den Blick gesenkt. Das sah gar nicht gut aus.
Als sie an dem Haus von Sanders Herrchen vorbeikamen, fing hinter der Hecke der Hund zu bellen an. „Sander! Aus!“, ertönte die Stimme des Mannes.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Lothar stirnrunzelnd in die Richtung guckte, aus der das Organ erklang. Es erfolgte aber kein Kommentar. Noch ein schlechtes Zeichen. Normalerweise hätte Lothar einen dummen Spruch gemacht.
Schweigend gingen sie ein Weilchen nebeneinander her. Schließlich seufzte Lothar und ergriff das Wort: „Zwischen uns läuft es ein bisschen suboptimal.“
Also hatte er richtig vermutet, dass ein Krisengespräch bevorstand. „Was meinst du damit?“
„Wir sind doch nur noch aus Gewohnheit zusammen.“
Sander öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch er schloss ihn wieder, denn diese Feststellung enthielt mehr als ein Körnchen Wahrheit.
Lothar blieb stehen und suchte seinen Blick. „Ich möchte so nicht weitermachen.“
Ihm sackte das Herz in die Hose. Die Aussicht, fortan viel allein zu sein, schnürte ihm die Kehle zu. „Also willst du die Trennung?“, krächzte er.
„Das ist die beste Lösung für uns beide. Du bist doch auch nicht zufrieden mit unserer Beziehung.“
Das war typisch für Lothar: Anderen zu erzählen, was sie empfanden. Er räusperte sich. „Willst du uns denn gar keine Chance geben?“
„Ich denke schon lange über uns nach“, erwiderte Lothar. „Nein, ich sehe da kein Licht am Horizont.“
„Dann erübrigt sich wohl jedes weitere Wort“, stieß Sander hervor, machte kehrt und marschierte los.
Erst am Gartentor schaute er über die Schulter. Lothar folgte ihm in einiger Entfernung. Sollte er seinen Ex einfach ziehen lassen oder sich ordentlich verabschieden? Sie hatten fünf schöne Jahre miteinander verbracht, also wartete er, bis Lothar ihn erreicht hatte.
„Ich wünsch dir alles Gute.“ Er bemühte sich, nicht allzu bitter zu klingen.
„Ich dir auch.“
„Hättest du das nicht vor unserer Abreise sagen können?“
„Mir ist es erst gestern Abend richtig klargeworden.“
Darauf wusste er nichts zu erwidern. Er nickte Lothar zu, schritt durchs Gartentor und am Haus vorbei. Im Moment konnte er keine vier Wände ertragen, daher ging er runter zum See. Auf der Plattform befand sich ein mit einer Plane abgedeckter Stapel Plastikstühle. Er holte einen hervor, setzte sich und starrte übers Wasser.
Das mit Lothar war nicht die große Liebe gewesen. Noch nicht mal am Anfang hatte es sonderlich gekribbelt. Trotzdem fühlte er sich mies und total verloren. War er so ein schwacher Mensch, dass er lieber an einer abgekühlten Beziehung festhielt, anstatt allein klarzukommen? Sieht ganz so aus, höhnte sein Verstand.
Seufzend wischte er sich mit beiden Händen übers Gesicht. Was sollte er nun tun? Den Urlaub abbrechen? Zu Hause würde er auch nur in seiner Bude hocken. Seine Freunde und Bekannten, die paar, die ihm noch geblieben waren, machten alle in Familie. Denen konnte er sich nicht aufdrängen, zumal er sich in den letzten fünf Jahren kaum um sie gekümmert hatte. Lothar hatte ihn ganz und gar vereinnahmt. Oder umgekehrt?
Er saß da, bis er bis auf die Knochen durchgefroren war. Auf dem Rückweg stolperte er ein paarmal, weil seine Beine ihm kaum gehorchten. Bevor er ins Haus ging, lud er sich ein paar Scheite Holz auf den Arm, die er vorm Kamin ablegte. Zum Aufwärmen stellte er sich unter die Dusche. Anschließend schlüpfte er in bequeme Klamotten und kochte sich einen Kaffee, ehe er sich ums Feuer kümmerte.
Er machte es sich in einem der Sessel gemütlich und guckte nachdenklich in die Flammen. Es war echt erbärmlich, dass er sich Lothar her wünschte, nur um einen Menschen in der Nähe zu haben. Sie hatten sich zuletzt kaum noch etwas zu sagen gehabt und im Bett ... im Bett herrschte schon länger tote Hose. Sonderlich aufregend war ihr Sex sowieso nie gewesen. Zudem war Lothar kein kuschliger Typ.
Überhaupt besaß Lothar so manches Manko. Da war die arrogante Ader, der Sauberkeitsfimmel, die Rummäkelei am Essen und außerdem hatte er einen kleinen Schwanz. Beim letzten Gedanken verdrehte Sander über sich selbst die Augen. Nun wurde er auch noch ungerecht. Lothars Schwanz war völlig normal dimensioniert.
Apropos Essen: Das Zeug sollte er entsorgen. Appetit hatte er keinen und bis morgen war der Salat welk, das Brot pappig und der Rest vom Vortag schmeckte zweimal aufgewärmt ebenfalls nicht lecker.
Den restlichen Tag verbrachte er damit, Löcher in die Luft zu gucken und mal mehr, mal weniger zu grübeln. Als er ins Bett ging hatte er entschieden, den Urlaub wie geplant zu verbringen.
Als er am folgenden Morgen aufwachte, verspürte er keinen Drang aufzustehen. Er musste sich dazu zwingen. Appetit hatte er weiterhin nicht, dennoch knabberte er zum Frühstück eine Scheibe gebutterten Toast, wobei er überlegte, was er mit dem Tag anfangen sollte.
Bei seiner zweiten Tasse Kaffee befragte er das Internet nach Freizeitangeboten. Nichts davon konnte sein Interesse wecken. Dennoch guckte er sich ein paar Wanderrouten genauer an. Irgendetwas musste er schließlich tun.
Wenigstens war das Wetter einigermaßen schön. Sonnenschein bei ungefähr acht Grad. Ausgerüstet mit einem Rucksack, der Proviant beinhaltete, verließ er das Haus und schlug den Weg ein, der bei Sanders Herrchen vorbeiführte. Laut der Landkarte lag in dieser Richtung die Prinzeninsel, die sein erstes Ziel war.
Rund eine Dreiviertelstunde dauerte es, bis er dort ankam. Zu sehen gab es, außer Wasser und viel Landschaft, nichts Besonderes. Er trank einen Tee im Café Prinzeninsel, bevor er sich wieder auf Wanderschaft begab. Erneut brauchte er fünfundvierzig Minuten, um das Plöner Schloss zu erreichen. Leider gab es keine Besichtigungen, also begnügte er sich damit, es von außen zu betrachten.
Weiter ging’s in die Plöner Ortsmitte. Auf dem Weihnachtsmarkt war ziemlich viel los. Sander drehte eine Runde um die Kirche, wobei er einen Engel aus Glas erwarb, weil er ihn so hübsch fand.
Auf der Rücktour merkte er, dass er lange Wanderungen nicht gewohnt war. Seine Füße taten weh und seine Beine wurden lahmer und lahmer. Mit letzter Kraft schleppte er sich durchs Gartentor und war so erschöpft, dass ihm der Haustürschlüssel aus der Hand fiel. Ächzend hob er ihn auf, entriegelte die Tür und streifte seine Schuhe ab. Auf Socken trottete er zum nächsten Sessel, ließ sich hineinfallen und streckte die Beine aus. Eines war sicher: Erstmal stand keine längere Tour auf seiner Agenda.
Als er sich ein bisschen erholt hatte, zog er seine Jacke aus und kochte Tee. Sein Magen knurrte und er spürte Appetit. Ein gutes Zeichen. Auch hatte er in den letzten Stunden kaum an Lothar gedacht. Die Wunde war offenbar nicht sonderlich tief. Vielleicht sollte er Lothar dankbar sein, ihn vor einer Zukunft in einer fruchtlosen Beziehung bewahrt zu haben. Momentan war er noch zu sauer über die Art und Weise, ihr Verhältnis zu beenden, um sich dazu in der Lage zu fühlen.
Mit zwei Scheiben Käsebrot - garniert mit Gurken, Tomaten und Schnittlauch - machte er es sich auf der Couch gemütlich. Draußen waren inzwischen Wolken aufgezogen, was die einsetzende Dunkelheit beschleunigte. Nachdem er seinen Imbiss verspeist hatte, holte er Holz herein und feuerte den Kamin an.
Wo bekam er eigentlich Nachschub her, wenn er den Vorrat aufgebraucht hatte? Kaufte man sowas im Supermarkt? Oder musste er im Waldstück Äste einsammeln? Eine nette Beschäftigung wäre das allemal, nur dass er kleidungstechnisch dafür nicht ausgerüstet war. Dazu bräuchte er Gummistiefel, wegen des morastigen Bodens und eine alte Jacke, weil er seine schöne Daunenjacke schonen wollte.
Seine Gedanken wanderten zu Sanders Herrchen. Vielleicht wusste der Rat. Irgendwann ging der Mann mit dem Hund Gassi doch bestimmt Gassi. Er beschloss, in den Abendstunden Ausschau nach den beiden zu halten.
Weder abends noch am nächsten Morgen, als er in Richtung Plöner Ortsmitte aufbrach, bekam er die beiden zu Gesicht. Eigentlich, da er nun Single war, könnte der geplante Festtagsbraten ausfallen, aber aus Trotz kaufte er dennoch eine Putenoberkeule; außerdem Klöße - die mochte Lothar nicht - und grüne Bohnen.
Anschließend bummelte er ein bisschen durch die Läden. Neben Lektüre erwarb er ein Fernglas, das er schon immer haben wollte. Was sollte er eigentlich mit dem Weihnachtsgeschenk für Lothar anfangen? Ihm per Post schicken? Oder es in den See werfen? Das wäre Umweltverschmutzung. Es handelte sich um einen teuren Saugroboter. Was sagte es über ihre Ex-Beziehung aus, dass er für seinen Ex sowas besorgte, anstatt irgendwelcher romantischen Kinkerlitzchen? Es war wirklich besser, dass sie sich getrennt hatten.
Nachdem er die Einkäufe in sein Feriendomizil gebracht hatte, fuhr er kurzentschlossen nach Timmendorf, um sich Fische im SeaLife anzuschauen. Danach aß er in einem Imbiss einen der Meeresbewohner. Natürlich keinen der zuvor besichtigten, sondern nur einen Kumpel derselben.
Die Aussicht, drei Tage nirgendwo shoppen zu können, verleitete ihn, die Einkaufsmeile unsicher zu machen. Er erbeutete Gummistiefel, eine günstige Regenjacke, eine Badehose, ebenfalls im Sonderangebot und Flipflops. Vielleicht hatte er nach den Feiertagen ja Lust, das Schwimmbad auszuprobieren. Er musste unbedingt an seiner Kondition arbeiten, wie ihm die Wanderung am Vortag bewiesen hatte.
Den verregneten Heiligabend verbrachte er nahezu ausschließlich drinnen. Nur einmal, in einer Regenpause, unternahm er einen kurzen Spaziergang, wobei er die Gummistiefel und neue Jacke ausführte. Sein Festmahl verspeiste er mit Hochgenuss. Die laufende Glotze im Hintergrund vermittelte ein Gefühl von Gesellschaft. Ein paar Anflüge von Wehmut, an diesem Tag allein zu sein, vertrieb er rasch, indem er sich mit Fernsehen, Computerspielen oder lesen ablenkte. Es war nicht speziell Lothar, den er vermisste, denn der hätte garantiert etwas zu meckern gefunden. Im Nachhinein begriff er nicht, wieso er es überhaupt so lange mit diesem Perfektionisten ausgehalten hatte.
Am ersten Weihnachtsfeiertag schien wieder die Sonne, dafür waren die Temperaturen erheblich gesunken. Raureif glitzerte auf dem Moos-Rasen. Während er seinen ersten Kaffee schlürfte und aus dem Fenster guckte, sah er Sanders Herrchen vorbeimarschieren. Die grauen Haare waren im Nacken zusammengebunden. Völlig unzureichend bei der Kälte, trug der Typ nur eine leichte Jacke und weder Schal noch Mütze.
Schade, dass Sander ebenfalls unangemessen gekleidet war. In Pants und T-Shirt konnte er schlecht raus rennen, um seinen Nachbarn nach der Holzbeschaffung zu fragen. Er ging ins Schlafzimmer und zog sich an, bevor er erneut vor dem Fenster Stellung bezog.
Vergeblich lauerte er darauf, dass sein Nachbar wieder auftauchte. Hatte Sanders Herrchen einen anderen Rückweg genommen? Schließlich, als er die Warterei satt hatte, verließ er seinen Posten, um zu frühstücken. Danach rüstete er sich für einen längeren Spaziergang. Seine Beine hatten ihm mittlerweile die Beanspruchung verziehen und schienen bereit für neue Strapazen.
Im Sommer, wenn die Tage lang und warm waren, dürfte es in seinem Feriendomizil wundervoll sein. Im Winter, wenn die Sonne schon gegen vier unterging, war man früh dazu verdonnert, drinnen zu sitzen - außer man wollte mit einer Taschenlampe durch die Gegend rumlaufen. Es gab nämlich keine Straßenlaternen in der Urlaubsenklave.
Obwohl Sander von der kilometerlangen Tour, von der er gegen drei zurückgekehrt war, völlig erschöpft sein sollte, spürte er nach dem Abendessen innere Unruhe. Kurzentschlossen füllte er eine Thermosflasche mit Glühwein, zog sich warm an, packte sein Fernglas ein und begab sich nach draußen.
Dank des Vollmonds konnte er die Bohlen, die im kühlen Lichtschein weiß wirkten, gut erkennen. Vorsichtig, denn sie waren stellenweise ziemlich rutschig, legte er die Strecke zum See zurück.
Nachdem er seine Fracht auf einem der Stühle abgestellt hatte, zückte er das Fernglas. Die unberührte, spiegelglatte Wasseroberfläche glitzerte. In einiger Entfernung lag eine Insel. Sander schätzte das Eiland auf zehn Meter Breite. Die Vorstellung, auf einem derart winzigen Stück Land ein Haus zu errichten und dort zu leben, fand er sehr romantisch. Zum Einkaufen müsste er ein Boot benutzen und Besuch könnte er schon sehen, wenn dieser noch weit weg war. Die Wirklichkeit sähe bestimmt weniger verklärt aus.
Er füllte den mitgebrachten Becher, schloss seine Hände darum und trank einen Schluck. Ein Geräusch weckte seine Aufmerksamkeit. Es klang, als ob ein dicker Fisch durch die Wasseroberfläche gebrochen und gleich wieder abgetaucht war. Erneut hielt er sich das Fernglas vor die Augen und suchte die Umgebung ab. Er wollte es gerade sinken lassen, als eine gewaltige Schwanzflosse durch sein Blickfeld huschte. Wow! Was für ein kapitales Tier! Ein Hecht? Wurden die so groß? Sander nahm sich vor nachzuschauen, welche Sorten Fische der See beherbergte.
Eine ganze Weile, in der seine Füße zu frieren begannen, beobachtete er die Seeoberfläche. Weil nichts mehr passierte, trank er den letzten Schluck kalten Glühwein, klemmte sich die Thermosflasche unter den Arm und begab sich auf den Rückweg.
Der Kurztrip hatte sein Bedürfnis nach Outdooraktivitäten gestillt. Er machte Feuer im Kamin und setzte sich auf die Couch, sein Notebook auf dem Schoß. Im Plöner See gab es Zander, Hechte, Aale, Barsche, Maränen, Karpfen, Schleie und Weißfische. Hechte konnten bis zu eins fünfzig lang werden. Ähnliches galt für Zander und Maränen. Nach Sanders Einschätzung gehörte die Schwanzflosse aber einem noch größeren Fisch. Oder hatte seine Wahrnehmung auf die Entfernung getrogen?
Achtundfünfzig Meter war der See teilweise tief. Alle Achtung! Da besaßen die Fische eine Menge Lebensraum. Vielleicht hatte er ein Seeungeheuer gesehen. Im Loch Ness gab schließlich auch eines. Wie würde die Plöner Variante heißen? Plönnie? Lächerlicher Name. Schmunzelnd nippte Sander an seinem Glühwein. Apropos: War der vielleicht schuld, dass er etwas zu sehen glaubte?
Von dem Erlebnis angefixt suchte er nach einem Nessie-Film. Die Angebote sagten ihm nicht zu, weshalb er auf Godzilla umschwenkte. Aus den vielen Treffern suchte er sich ein Machwerk von 1998 aus.
Auch der zweite Weihnachtsfeiertag begann mit Sonnenschein. Wieder guckte Sander, als er seinen ersten Kaffee genoss, aus dem Fenster. Wieso versuchte er eigentlich dem Nachbarn aufzulauern, anstatt einfach rüberzugehen und zu klopfen? Im Geiste schlug er sich selbst gegen den Hinterkopf, dass er noch gar nicht auf diese Idee gekommen war.
Anscheinend wollte der Nachbar keinen Besuch, denn das Gartentor war verschlossen und es gab keine Klingel. Sein Klopfen zeigte keinen Erfolg. Nicht mal der Hund bellte. Er stapfte durch die nebenan liegende Wiese, um einen Blick über die Hecke zu werfen. Kein Lebenszeichen.
Als er zurück zum Weg ging und sich nach rechts wandte, um eine Runde zu drehen, empfand er Enttäuschung. Zum einen war er neugierig auf Sanders Herrchen, zum anderen hätte er gern ein paar Worte gesprochen. Seit der Unterhaltung mit Lothar hatte er mit niemandem geredet.
Ungefähr eine Stunde später, auf dem Rückweg, versuchte er erneut sein Glück, diesmal mit Erfolg. Der Hund kläffte auf der anderen Seite des hohen Tores.
„Hallo Sander“, säuselte er. „Ist dein Herrchen da?“ Na, super. Erwartest du etwa eine Antwort?
Der Hund bellte weiter. Schließlich ertönte die Stimme des Herrchens: „Sander! Aus!“
Das Tor schwang auf. Sanders Herrchen, runtergebeugt, um den Hund am Halsband festzuhalten, erschien in seinem Blickfeld. „Was kann ich für Sie tun?“
„Hi, ich bin Ihr Nachbar. Mein Holzvorrat geht zur Neige. Können Sie mir sagen, wo ich Nachschub herbekomme?“
Ein Grinsen zeichnete sich auf dem Gesicht seines Gegenübers ab. „Im Supermarkt.“
„Echt? Hab ich gar nicht gesehen.“
Sein Nachbar machte Anstalten, das Tor wieder zu schließen.
„Ich bin Sander Kirchner“, stellte er sich vor.
„Sander?“ Die Mundwinkel bogen sich hoch. „Lustiger Zufall.“
„Hätten Sie vielleicht Lust, mit mir eine Tasse Kaffee zu trinken“, fügte er hinzu. „Ist ein bisschen einsam hier draußen.“
„Sorry, aber ich bin beschäftigt.“
In diesem Moment riss sich der Hund los, stürmte auf Sander zu und sprang an ihm hoch. Ein beeindruckendes Tier. Vermutlich eine Mischung aus Boxer und Schäferhund. „Na, du Hübscher?“, flötete Sander, dem das Herz bis zum Hals klopfte, weil er sich etwas bedrängt fühlte.
„Sander! Aus!“, donnerte das Herrchen, woraufhin der Hund von ihm abließ, sich hinsetzte und reumütig guckte. „Ich hab dir tausendmal gesagt, dass du keine Leute anspringen sollst.“
Der Hund zog den Kopf ein.
„Was ist das für eine Rasse?“
„Ein unartiger Boxer-Schäferhund-Pudel-was-weiß-ich-Mischling.“ Sanders Herrchen bedachte das Tier mit einem weiteren strafenden Blick, öffnete das Tor weiter und machte eine einladende Geste. „Fünf Minuten für einen Kaffee kann ich wohl doch erübrigen.“
„Ach ja, frohe Weihnachten“, besann sich Sander auf seine gute Erziehung.
„Dito“, brummelte Sanders Herrchen und schloss hinter ihm und dem Hund das Tor.
„Wie darf ich dich anreden?“
„Ich bin Ole.“ Selbiger ging, das Tier auf den Fersen, aufs Haus zu.
Drinnen erwartete ihn rustikaler Charme. Holzdielen auf dem Fußboden. Die Wände waren bloß verputzt und gemalt. An der Garderobe legte Sander Jacke, Schal, Mütze und Schuhe ab, bevor er dem Hausherrn in die Küche folgte. Auch dort dominierte Naturholz und auf Tapete war verzichtet worden. Die Arbeitsfläche bestand aus Granit, genau wie die Wandabdeckung dahinter. Einziger Schmuck: Zwei Bilder mit Fischmotiven.
„Angelst du?“, erkundigte sich Sander.
Ole, der an der Kaffeemaschine hantierte, schaute ihn derart missbilligend über die Schulter an, als hätte er vorgeschlagen, einen Welpen zu ertränken.
„Vergiss die Frage“, murmelte er und nahm auf einem der beiden Stühle, die an einem kleinen Tisch standen, Platz.
Sein Gastgeber wandte sich wieder dem Kaffeeautomaten zu. „Was möchtest du haben? Cappuccino? Espresso? Latte?“
„Cappuccino.“
Während das Mahlwerk der Maschine zu lärmen begann, näherte sich der Hund und schnüffelte an seinen Hosenbeinen. Offenbar entsprach der Geruch Sanders Gusto, denn plötzlich parkte eine Hundeschnauze auf seinem Knie. Seelenvolle, dunkle Augen guckten ihn mit der unmissverständlichen Bitte um Krauleinheiten an.
„Darf ich ihn streicheln?“, rief er über den Lärm hinweg.
Erneut sah Ole über die Schulter. „Klar. Ich hafte aber nicht für eventuelle Sabberflecken.“
Wie aufs Kommando leckte sich der Hund über die Schnauze und verteilte dabei ein paar Speichelflecken auf seiner Jeans. Amüsiert grinsend kraulte er Sanders Kopf. „Du bist ja ein richtiges Sabbermonster.“
Genau in diesem Moment war das Mahlwerk fertig, so dass sich seine Worte unangemessen laut anhörten.
„Wie kommt es, dass du allein hier Urlaub machst?“, fragte Ole, stellte einen Becher auf den Tisch und nahm gegenüber Platz, ein Glas Wasser in der Hand.
„Eigentlich war das nicht so geplant. Leider hat mein ...“ Er hielt inne, weil ein Outing seinen Gastgeber bestimmt erschrecken würde. Heteros hielten schwul sein oft für ansteckend. „... mein Kumpel im letzten Moment abgesagt.“
Oles Haar war gar nicht grau, sondern silbern und die Augen ungewöhnlich intensiv grün. Die Farbe erinnerte Sander an die des Sees. Der Hund winselte, woran er merkte, dass seine Finger das Kraulen eingestellt hatten. Er setzte sie wieder in Bewegung.
„Und du? Lebst du das ganze Jahr hier?“, erkundigte er sich.
Ole zuckte mit den Achseln. „Wenn ich nicht gerade Urlaub mache, ja.“
„Darf ich fragen, wovon du lebst? Oder ist das zu forsch?“
„Dank meiner Familie hab ich genug Einkünfte, um mir darum keine Gedanken machen zu müssen. Nebenher verkaufe ich Kunst.“
„Kunst?“, staunte Sander.
„Glasgegenstände“, erläuterte Ole. „Wenn du auf dem Weihnachtsmarkt warst, hast du vielleicht welche von mir gesehen.“
„Sind Engel darunter? Wenn ja, hab ich einen gekauft.“
„Engel bieten viele an. Meine sind aber besonders filigran.“
Das traf auf das Exemplar in seinem Besitz zu. „Und was für Figuren fertigst du sonst noch?“
„Meerestiere, Amphibien, Drachen, Fantasiegebilde.“
„Wie machst du das Glas?“ Er führte den Becher an seine Lippen und nippte daran.
„Das kaufe ich als Rohware. Manchmal konstruiere ich größere Werke aus Altglas.“
„Wow! Dafür brauchst du bestimmt einen High-Tech-Ofen, nicht wahr?“
Ole nickte. „Möchtest du meine Werkstatt sehen?“
„Gern.“ Erneut trank er einen Schluck Kaffee und guckte Sander bedauernd an. „Sorry, Kuschelhund. Vielleicht können wir später weitermachen.“
Er folgte Ole in den Anbau, den er schon bei seiner Geheiminspektion gesehen hatte. Darin befanden sich zwei Werkbänke und unter den Fenstern lange Tische, auf denen allerlei Zeug rumlag. Ole zeigte ihm die Öfen und das Rohmaterial, Stäbe in verschiedenen Farben sowie einige halbfertige und fertige Elaborate. Allesamt waren wunderschön.
„Letztendlich ist das aber nur ein Hobby. Wenn ich die Preise verlangen würde, die real wären, würde niemand die Sachen kaufen. Die Konkurrenz aus Billiglohnländern ist einfach zu groß“, erklärte Ole, gefolgt von einem Seufzer. „Ich hoffe, dass irgendwann eine Rückbesinnung stattfindet. Wir müssen den Wert der Dinge wieder erkennen, sonst ist dieser Planet in ein paar Generationen vollkommen ausgebeutet.“
Wahre Worte. Neulich war Sanders Drucker ausgefallen. Nicht wegen eines Defekts, sondern weil die vom Hersteller vorgegebene Lebensdauer erreicht war. Das Gerät hätte garantiert noch ein paar Jahre seinen Dienst getan, aber der Kapitalismus erforderte nun mal regelmäßige Neuanschaffungen. Was für ein Schwachsinn.
„Diese Skulptur besteht aus Altglas und Muscheln.“ Ole zeigte auf ein braun-grünliches Ding. „Sie heißt Poseidons Traum.“
Anscheinend hatte Poseidon feucht geträumt, denn die Form erinnerte ihn an einen Schwanz.
„Sie ist noch nicht fertig“, fuhr Ole fort und streichelte dem Hund, der hinter ihnen herdackelte, über den Kopf. „Wenn Sander weiter so hier rum haart, werde ich sie in Poseidons Achselhöhle umtaufen.“
„Apropos: Brauchst du zufällig einen Saugroboter? Ich hab einen über.“
Oles Augen leuchteten auf. „Sowas wollte ich schon immer haben.“
„Wunderbar! Soll ich ihn schnell holen?“
„Ich muss sowieso noch mit Sander rausgehen. Dann kann ich das Gerät auch gleich abholen.“
„Darf ich vorher noch meinen Kaffee austrinken?“
„Natürlich.“
Ole liebte es allein zu sein, doch selbst ihm wurde das manchmal zu viel. Aus diesem Grund hatte er den Nachbarn hereingebeten. Sander - wie ulkig, dass der Mann den gleichen Namen wie sein Hund trug - erwies sich als angenehmer Gesprächspartner und bot zudem einen erfreulichen Anblick. Ein sympathisches Gesicht, mit Lachfältchen in den Winkeln der braunen Augen.
Sanders Figur, mit dem knackigen Hintern, war auch nicht zu verachten. In diese Richtung zu denken verbot sich Ole jedoch. Er hatte mit Sex abgeschlossen, zumindest mit dem Kapitel, in dem jemand anderes als seine rechte Hand vorkam. Seinen etlichen Enttäuschungen musste er keine weitere zufügen. Zudem lag die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet sein Gast zum gleichen Geschlecht tendierte, eh bei null.
Warum er Sander die Werkstatt, sein Heiligtum, zeigte, war ihm allerdings ein Rätsel. Dort ließ er nie jemanden rein. Wahrscheinlich war ihm das lange Einsiedlertum - seit den Herbstferien hatte niemand in einem der umliegenden Häuser gewohnt - zu Kopf gestiegen.
Zurück in der Küche ließen sie sich wieder am Tisch nieder.
„Wie lange bleibst du noch?“, wollte Ole wissen.
„Bis Neujahr. Am dritten Januar reise ich ab.“
„Solltest du bis dahin mehr Holz brauchen, kann ich dir aushelfen. Ich hab einen ziemlich großen Vorrat.“ Dank des Deals mit dem örtlichen Förster. Beziehungen zu haben, war immer nützlich.
„Das wäre klasse. Ich bezahle auch gern dafür.“
Er winkte ab. „Betrachte es als Gegenleistung für den Saugroboter.“
Sein Hund, der wieder die Schnauze auf Sanders Knie geparkt hatte, ließ sich mit sichtlichem Genuss kraulen. Eigentlich war sein Liebling nicht derart zutraulich. Sander schien etwas an sich zu haben, das sowohl Hund als auch Herrchen anzog.
„Ich hoffe ja, dass das Ding funktioniert.“ Sander leerte den Becher. „Ich hab’s noch nicht ausprobiert.“
„Fährst du immer mit einem Vorrat an Elektrokleingeräten in den Urlaub? Oder bist du ein Staubsaugervertreter?“
Grinsend schüttelte Sander den Kopf. „Knapp daneben. Ich bin Finanzbeamter.“
„Ach du grünen Neune! Ich hab den Feind in mein Haus gelassen.“ Ole feixte.
„Hinterziehst du etwa Steuern?“
Er setzte seine schönste Unschuldsmiene auf. „Wie kommst du denn darauf?“
„Was sagst du dazu?“, wandte sich Sander an den Hund, woraufhin der die Zunge aus dem Maul hängen ließ. Das passierte, wenn er in Kraul-Ekstase geriet.
„Sander möchte raus, Pipi machen“, antwortete Ole anstelle des Hundes. Sein Gast verstand den Wink und erhob sich, was ein protestierendes Jaulen auslöste. Er stand ebenfalls auf und befahl: „Sander, hol deine Leine.“
Sein Hund raste davon. Sie folgten ihm in den Flur und schlüpften in Jacken und Schuhe. Die Leine im Maul schaute Sander ihnen zu und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz. Obwohl sie dreimal täglich eine Runde drehten, führte sich der Bursche jedes Mal auf, als würde es nur einmal jährlich stattfinden.
Den kurzen Weg zu Sanders Feriendomizil legten sie schweigend zurück. Das Haus gehörte einem alten Ehepaar, das stets drei Wochen Sommerferien darin verbrachte. Den Rest der Zeit vermieteten sie das Gebäude. Die Besitzer der nebenan liegenden Hütte hatte Ole noch nie gesehen, obwohl er schon über fünfzehn Jahre hier wohnte. Den überwiegenden Teil des Jahres stand das Haus leer. Lediglich in der Hauptsaison nutzten es Feriengäste.
„Möchtest du kurz reinkommen?“, bot Sander an, nachdem er die Haustür aufgeschlossen hatte.
Ole schüttelte den Kopf. „Danke, aber mein Hündchen würde mir die Hölle heiß machen.“
Während er auf Sanders Rückkehr wartete überlegte er, ob er dessen Aufenthalt ausnutzen sollte. Nur selten verirrten sich Freunde oder Familie in diese Gegend. Was die bucklige Verwandtschaft betraf, war er darüber sehr froh. Jedenfalls würde er gern mal wieder ins Kino oder mit jemandem Essen gehen. Da bot es sich doch an, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen.
Sander tauchte wieder auf, einen Karton in den Händen. Anscheinend handelte es sich um ein wertiges Gerät, nicht irgendwelchen Billigschrott. Dafür schuldete er Sander mehr als nur ein paar Holzscheite.
„Dankeschön.“ Er nahm den Sauger entgegen. „Darf ich dich zum Ausgleich ins Kino einladen?“
„Sehr gern.“
„Wie wäre es mit morgen?“
Sander zuckte mit den Achseln. „Ich hab immer Zeit.“
„Ich guck nachher mal, was an Filmen läuft. Dann können wir Näheres verabreden.“
„Okay. Dann bis später.“
Nachdem er den Karton hinter seiner Gartenpforte deponiert hatte, drehte er eine große Runde mit Sander. Wie üblich wählte er für den Rückweg einen Pfad, der auf der anderen Straßenseite durch ein Waldstück führte. Seine Gedanken kreisten weiter um Sander - also, nicht seinen Hund, sondern den Nachbarn. Wieso war der gutaussehende, sympathische Typ noch solo? Gäbe es eine Freundin/Gattin, wäre die doch bestimmt mitgereist. Er schätzte Sander auf Mitte dreißig. In dem Alter waren viele Menschen bereits verheiratet.
Andererseits erfreuten sich Finanzbeamte keiner großen Beliebtheit. Wohl jeder erinnerte sich sofort an die kleinen Schummeleien bei der Abgabe der Einkommensteuererklärung. Im Vergleich zu den Betrügereien von Großkonzernen waren die natürlich Lappalien, dennoch hatte Ole ein schlechtes Gewissen. Für sein winziges Gewerbe hatte er im vergangenen Jahr einige Rechnungen steuerlich geltend gemacht, die eigentlich privat veranlasst waren.
Sander trabte herbei, einen Ast im Maul. Das Teil war so lang, dass es auf dem Boden schleifte. Was Holz für das Stöckchen-werf-Spiel betraf, besaß sein Hund kein sonderlich gutes Auge.
Sander legte den Ast vor ihm ab und schaute mit hoffnungsvollem Blick zu ihm hoch.
„Schatz, der ist zu groß“, flötete Ole.
Sein Hund winselte.
„Okay-okay, ich versuch mich mal in Speerweitwurf.“ Er nahm den Ast, holte aus und schleuderte ihn so weit weg wie möglich. Sander wetzte hinterher, um ihn erneut vor seinen Füßen abzulegen.
Das wiederholten sie noch ein paarmal, bis sie die Straße erreichten. Er legte das Wurfgerät an den Wegrand, bevor sie auf die andere Seite wechselten. Sofort begab sich Sander ins Unterholz. Manchmal hatte Ole das Gefühl, an seinem Hund war ein Trüffelschwein verlorengegangen. Nach so gut wie jedem Spaziergang sah Sander aus, als hätte er die Erde mit der Schnauze durchpflügt.
Zurück auf seinem Grundstück, unterzog er den Hund einer gründlichen Fellinventur mittels Bürste. Anschließend brachte er den Saugroboter ins Haus. Als er den Karton öffnete, fiel ihm ein Kuvert, auf das ein Herz gemalt war, in die Finger. Gab der Hersteller den Geräten inzwischen persönliche Grüße mit? Wie süß!
Auf der Karte, die im Umschlag steckte, stand folgender Text: Lieber Lothar, damit du dich den wichtigen Dingen des Lebens widmen kannst, wird in Zukunft der Roboter für Sauberkeit sorgen. Ich freue mich auf noch viele gemeinsame Jahre. Dein Sander.
„Heidewitzka!“, murmelte Ole. „Lothar? Wenn das mal nicht der angebliche Kumpel ist.“
Sander, der sich zu seinen Füßen niedergelassen hatte, gähnte.
„Ja, ich weiß. Das geht mich gar nichts an.“ Er schob die Karte zurück ins Kuvert, legte sie beiseite und holte den Saugroboter aus dem Karton.
Kurz darauf tuckerte das Gerät, von Sander misstrauisch beobachtet, durchs Wohnzimmer. Ole ließ die beiden allein, um in der Werkstatt zu arbeiten.
Irgendwann vernahm er Getöse, ließ alles stehen und liegen und schaute nach dem Rechten. Schuldbewusst, den Schwanz eingekniffen, hockte Sander vor einem zerbrochenen Blumentopf. Dahinter lag der Saugroboter auf dem Rücken wie ein gestrandeter Käfer.
„Du Blumenmörder!“, schimpfte Ole, hob die Pflanze auf und begutachtete sie auf eventuelle Schäden. Sie schien den Sturz gut überlebt zu haben. „Na gut. Das Mörder nehme ich zurück.“
Vorsichtig linste Sander zu ihm hoch.
„Oh Mann! Guck mich nicht so an.“ Seufzend strich er dem Hund über den Kopf. „Dein Blick kann Steine schmelzen.“
Als er die Pflanze nach draußen brachte, um sie neu einzutopfen, klebte Sander an seinen Fersen. Auch als er die Scherben und Erde aufkehrte, wich ihm der Hund nicht von der Seite. Schließlich schnappte er sich das Tier und knuddelte es ordentlich durch. Danach war Sander wieder der Alte und machte es sich mit einem zufriedenen Schnaufen unter dem Couchtisch gemütlich. Den Saugroboter ließ Ole erstmal außer Betrieb. Es war wohl besser, das Gerät nur in Sanders Abwesenheit in Gang zu setzen.
Am frühen Nachmittag war die nächste Gassirunde dran. Während ihres Spazierganges fing es an zu dämmern. Ole liebte diese Jahreszeit, wenn es früh dunkel wurde. Bei ihrer Rückkehr sah er - diesmal hatten sie die Runde in umgekehrter Richtung gedreht - Licht in Sanders Fenstern brennen. Er klopfte, um wie versprochen den Kinobesuch genauer zu definieren. Sie verabredeten, am folgenden Tag in die 16-Uhr-Vorstellung zu gehen und danach in ein Restaurant.
„Kannst du Sander mit ins Kino nehmen?“, erkundigte sich sein Nachbar.
„Natürlich nicht. Er wird ein bisschen Sander-allein-zu-Hause spielen.“
„Geht das denn?“
„Der Saugroboter leistet ihm ja Gesellschaft.“ Ole fiel die Grußkarte ein. Sollte er sie erwähnen? Bestimmt wäre Sander das peinlich. „Ich gehe dafür danach mit ihm eine extra große Runde.“
Sie verabschiedeten sich und er setzte seinen Weg fort. Mittlerweile war die Dunkelheit vollständig hereingebrochen. Er durchquerte seinen Garten und verließ das Grundstück durch die rückwärtige Pforte. Ein Holzsteg führte zur Plattform am See. Dort legte er seine Kleidung ab und befahl Sander: „Schön aufpassen!“
Gehorsam setzte sich der Hund neben den Klamottenhaufen. Nachdem er Sander die Ohren gekrault hatte, stieg er ins Wasser. Samtig schmiegten sich die Fluten um seine Unterschenkel. Ihn überkam ein sehnsüchtiges Kribbeln, wie immer bei der Berührung von Seewasser. Früher, bei seinen Ur-ur-ur-urahnen, hatte die Wandlung sofort eingesetzt. Inzwischen war seinesgleichen in der Lage, das zu steuern.
Er watete tiefer ins Wasser und ließ sich vornüber hineinfallen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen vollzog sich die Mutation. Mit kräftigen Schwanzschlägen begann er, sein Revier abzuklappern. Er rauschte an dem Versteck des uralten Hechts vorbei, - irgendwie war es dem Fisch gelungen, sämtlichen Angelködern zu widerstehen - an einer Gruppe Barsche und lieferte sich ein Rennen mit einem Aal.
Am liebsten war Ole die Stelle, an der es fast sechzig Meter in die Tiefe ging. Leider konnte er in der Winterzeit dort unten kaum etwas sehen, obwohl sich seine Augen denen der Seebewohner anpassten. Vermutlich war sein menschlicher Teil daran schuld.
Als er das Ende seines Reviers erreichte, kehrte er um und schwamm gemächlich zurück. Es war nicht so, dass ein Artgenosse andere Teile des Sees beanspruchte. Er hielt sich bloß gern in bekanntem Terrain auf. Seine Eltern hatten ihn deswegen häufig als Weichfisch geneckt. Na und? Er war eben kein wilder Draufgänger. Dafür würde er auch nicht in einer Schiffsschraube enden, so wie es seinem Großvater ergangen war.
Apropos Eltern: Neujahr stand die übliche Party an. Stets luden seine Eltern die gesamte Familie ein, um den Jahresbeginn gebührend zu feiern. Bedauerlicherweise konnte er sich nicht drücken, weil sie ihm sonst die Ohren langziehen würden. Darauf, seine Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen zu treffen, hatte er überhaupt keine Lust.
Beim letzten Mal hatte sein Cousin Kevin damit geprahlt, von einem Kreuzfahrtschiff gesprungen zu sein. Der Typ machte einen auf Influencer - zu Recht wurden Leute als solche bezeichnet, weil sie sich wie ein Grippevirus ausbreiteten - und hatte mit der Aktion seine Follower begeistert. Die Bilder, wie er von der Crew gerettet wurde, - ein Kumpel hatte alles gefilmt - erhielten etliche Likes. Der Blödmann hatte damit die gesamte Community gefährdet, weil der Scheiß in der Nähe von Alaska stattfinden musste. Jeder normale Mensch wäre unterkühlt aus dem Wasser gezogen worden. Sein Cousin natürlich nicht. In den Medien sprach man von einem Wunder. Es war eher ein Wunder, dass der Vollpfosten damit keine Wissenschaftler auf den Plan gerufen hatte.
Ätzend war auch, dass er bei jedem Familientreffen nach einem Partner gefragt wurde. Nahezu alle hatten inzwischen ihre Gefährten gefunden. Allerdings bezweifelte Ole, ob es sich wirklich in allen Fällen um den Gefährten handelte, denn manches Paar ging miteinander um, als würden sie einander abgrundtief hassen.
Mischehen waren nicht gern gesehen. Das Risiko, von einem Ehepartner verraten zu werden, wurde hoch eingeschätzt. Das sah er genauso. Zumindest blieb ihm der Fortpflanzungswahn erspart. Selbst die ärgsten Verfechter desselben begriffen, dass aus rein biologischen Gründen bei Homosexuellen Hopfen und Malz verloren war.
Was Mischehen betraf: Es gab eine Möglichkeit, den Partner zu wandeln. Man nannte die Technik Liebeskuss. Was sich genau dahinter verbarg, entzog sich seiner Kenntnis. Da er nicht plante, sowas je einem Menschen anzutun, interessierte er sich nicht weiter dafür. Zwar liebte er seine zweite Gestalt, doch zugleich war es ein Fluch, sich ständig verstecken zu müssen. Außerdem gab es unter ihnen welche, die an dem Wandlerdasein verzweifelten. Einige hatten sogar Suizid begangen.
Im seichten Wasser vor der Plattform ließ er sich auf dem Rücken treiben, um das nasse Element noch ein wenig zu genießen. Zu dieser Zeit war das ungefährlich. Niemand hielt sich im Winter, dazu noch im Dunkeln, am Seeufer auf. Hinzukam, dass er durch das links und rechts aufragende Schilf einigermaßen vor Blicken geschützt war.
Mit Sander ins Kino zu gehen, war seine beste Idee seit langem. Es machte Riesenspaß, den Actionfilm mit dummen Sprüchen zu kommentieren. Humormäßig lagen sie offenbar auf einer Wellenlinie.
Beim anschließenden Abendessen in einem italienischen Restaurant ließen sie den Streifen Revue passieren.
„Hast du verstanden, wieso das Fahrzeug sofort in Flammen aufgegangen ist?“, fragte Sander.
„Welches?“
„Der Schlitten, der frontal gegen den Brückenpfeiler gefahren ist.“
„Vielleicht war ein Sprengsatz am Pfeiler angebracht.“
Sander, der gerade Spaghetti mit der Gabel aufwickelte, runzelte die Stirn. „An genau der Stelle, an der das Auto auf das Hindernis trifft?“
„Oder bei dem Wagen liegt der Tank vorne. Ich kenne mich damit nicht sonderlich aus.“
„Ich wüsste kein Modell, bei dem das so ist.“
„Oder der Wagen hatte einen Gastank“, mutmaßte Ole weiter, damit beschäftig, ein Stück von seiner Pizza abzusäbeln.
„Würdest du als Fluchtfahrzeug ein Auto mit Gastank wählen?“
Er zuckte mit den Achseln. „Darüber hab ich noch nie nachgedacht, aber jetzt, wo du es sagst ... Bei meinem nächsten Bankraub werde ich das berücksichtigen.“
„Machst du das oft? Banken rausrauben?“
„Klar. Wovon soll ich denn sonst leben?“ Er feixte. Wenn er keine Einkünfte aus der Vermietung von Immobilien erzielen würde, sähe es schlecht um ihn aus. Seine Eltern hatten ihm einige Objekte geschenkt, als er volljährig wurde.
„Von der Hand in den Mund?“, schlug Sander grinsend vor.
„Oder von Luft und Liebe?“ Um letzteres war es schlecht bestellt und Luft ... Wasser war ihm lieber.
Als er später, nachdem sie zurückgekehrt waren, mit Sander Gassi ging, lächelte er immer noch. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so oft gelacht hatte. Auch als er sein übliches, nächtliches Bad im See nahm, waren seine Mundwinkel hochgebogen.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: Shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure Dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2021
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