Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos
Fotos: Cover: Stockfoto-Nummer: 1081842335 von StaceStock, Koffer: Sissis eigene Malkünste
Cover-Design: Lars Rogmann
Korrektur: Aschure, dankeschön!
Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/
https://www.sissikaipurgay.de/
Mit dem Flixbus nach München zu fahren, um seinen Freund zu besuchen, ist nicht Finns beste Idee. Im Nachhinein entpuppt sie sich aber doch noch als die beste, die er je hatte.
Für 93 Euro nonstop von Hamburg nach München. Pünktliche Abfahrt, Toilette an Bord und vielleicht nette Mitreisende. Das hatte Finn bewogen, statt der Bahn den Flixbus zu wählen. Außerdem konnte er während der Fahrt beruhigt ein Nickerchen machen, ohne zu befürchten, dass jemand ihn beklaute. Na gut, es könnte trotzdem passieren, aber die Wahrscheinlichkeit war geringer als in einem Zugabteil.
Der Bus hatte eine halbe Stunde Verspätung. Als sie losgefahren waren, verkündete der Fahrer übers Mikrophon in gebrochenem Deutsch, dass die Bordtoilette defekt wäre. Sie würden deswegen regelmäßig Stopps einlegen. Wenigstens wirkten ein paar Mitreisende ganz sympathisch. Insofern konnte er mit dem kleinen Manko gut leben.
Ein Weilchen quatschte er mit dem Mädel, das den Sitz neben ihm innehatte. Sie war erst achtzehn und wollte in München eine Freundin besuchen. Das Gespräch wurde schnell langweilig, da sie sich für Sachen begeisterte, die ihm bloß ein Gähnen entlockten. Shopping, Popsternchen und dergleichen.
„Ich hau mich ein bisschen aufs Ohr“, beendete er schließlich die Unterhaltung, woraufhin sie sich Ohrstöpsel einsetzte und begann, mit ihrem Smartphone zu spielen.
Er schloss die Augen und dämmerte weg.
Ein Ruckeln weckte ihn. Blinzelnd orientierte er sich. Der Bus hatte auf einer Raststätte gehalten. Erste Passagiere begaben sich zum Ausgang. Er bat das Mädel, ihn durchzulassen, und schloss sich der Karawane in Richtung Toiletten an.
Auf dem Rückweg besorgte er in der Tankstelle etwas zu trinken und einen Müsliriegel. Als er wieder auf seinem Platz saß, leerte er die kleine Flasche zur Hälfte, verspeiste den Riegel und tat anschließend so, als ob er einschlafen würde, damit seine Sitznachbarin ihn nicht anquatschte.
Er war auf dem Weg zu Jon, mit dem er seit einem Monat eine Fernbeziehung hatte. Aus beruflichen Gründen musste sein Freund von Hamburg nach München ziehen und voraussichtlich zwei Jahre dort bleiben. Davor hatten sie ein Vierteljahr auf Wolke sieben geschwebt. Zwischen ihnen war etwas Besonderes. Finn war überzeugt, in Jon den Partner fürs Leben gefunden zu haben. Die temporäre Trennung ertrug er deshalb mit Fassung, auch wenn er vor Sehnsucht fast einging.
Jon war ein ziemlich hohes Tier bei der Kommerziell-Bank. Um die Karriereleiter noch höher zu klettern war es erforderlich, einen Einsatz in einem anderen Bundesland zu absolvieren. Jedenfalls hatte Jon ihm das so erklärt. Verstehen tat Finn es nicht, aber er war ja auch nur ein kleiner Versicherungskaufmann.
Er war schon gespannt auf Jons Gesicht, wenn er am nächsten Morgen überraschend auftauchte. Bestimmt würde sein Liebster Freudensprünge machen. Bei ihren letzten Telefonaten war es Finn schwer gefallen, nichts zu verraten. Die waren sehr kurz ausgefallen, weil Jon beruflich unter Stress stand, sonst hätte er sich bestimmt verplappert.
Er kuschelte sich tiefer in den Sitz und döste ein.
Als er das nächste Mal aufwachte, musste er dringend pissen. In der Apfelschorle schien ein Entwässerungsmedikament gewesen zu sein, anders konnte er sich das nicht erklären. Glücklicherweise stand der Bus, allerdings wusste Finn nicht, wie lange schon. Er drängelte sich an seiner Sitznachbarin vorbei, hastete zum Ausgang und auf das Klohäuschen zu.
Drinnen stank es nach Urin und Scheiße, schlimmer als im Kuhstall. Obwohl seine Blase fast platzte, konnte er unmöglich in solcher Umgebung pinkeln. Raschen Schrittes verließ er das Gebäude und rannte zur Böschung, wo er sich hinter einen Baum stellte und seine Hose öffnete. Vor Erleichterung, als der Druck nachließ, entwich ihm ein Stöhnen. Nach vollendeter Tat packte er seinen Schwanz wieder ein, da vernahm er ein Motorengeräusch. Im nächsten Moment blendeten Scheinwerfer auf und der Bus setzte sich in Bewegung.
Einen Augenblick war Finn starr vor Überraschung, dann rannte er los. Er winkte, schrie: „Halt! Anhalten!“, und verfolgte den Bus bis zur Auffahrt. Das Fahrzeug beschleunigte. Er starrte den Rücklichtern hinterher. Das konnte doch nicht wahr sein! Bestimmt träumte er! Leider fühlte es sich sehr real an.
Zu allem Überfluss begann es zu regnen. Wenigstens trug er eine Jacke, in der auch sein Geldbeutel steckte. Sein Handy, das Geschenk für Jon - ein teures Rasierwasser - sowie Wechselklamotten befanden sich im Rucksack, der vermutlich auf Nimmerwiedersehen mit dem Bus verschwunden war.
Niedergeschlagen trottete er zum Klohäuschen, dessen Dachvorsprung ein wenig Schutz vor dem Regen bot. Zum ersten Mal in seinem Leben bereute er, nicht wie so viele andere Leute mit seinem Smartphone verwachsen zu sein. Hätte er das Gerät bei sich, könnte er zumindest rausfinden, wo er gestrandet war. Er schätzte, irgendwo zwischen Frankfurt und München.
Der Verkehr auf der Autobahn war spärlich. Zeitweise fuhr gar kein Wagen vorbei. Finn betete, dass sich bald ein freundlicher Autofahrer auf diese gottverlassene Raststätte verirrte und ihn mitnahm.
Als der Regen aufhörte fing er an, Runden um das Gebäude zu drehen, damit er nicht fror. Für einen längeren Aufenthalt im Freien war er nämlich, in seiner dünnen Lederjacke und den Sneakers, nicht ausgerüstet.
Irgendwann, er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, näherte sich ein Fahrzeug, ein Kleinlaster mit Hamburger Kennzeichen. Vor dem Klohäuschen hielt der Wagen an. Ein bärtiger Typ stieg aus und steuerte auf das Gebäude zu. Finn streifte der Mann nur mit einem kurzen Blick, bevor er durch die Tür ins Innere verschwand.
Entweder hatte sich der Gestank inzwischen verflüchtigt oder der Typ war hart im Nehmen. Es dauerte so lange, wie man für einmal Pissen brauchte, bis er wieder rauskam und auf den Wagen zuging.
„Ähm ... hallo?“, meldete sich Finn zu Wort. „Könnten Sie mich vielleicht mitnehmen?“
Der Mann stoppte, drehte sich zu ihm um und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Eigentlich nehme ich keine Anhalter mit.“
„Ich bin aus Versehen hier gestrandet. Der Flixbus ist ohne mich abgefahren.“
„Tja. Da hast du wohl am falschen Ende gespart.“ Der Typ wies mit dem Kinn in Richtung Wagen. „Dann steig mal ein.“
Erleichtert ließ sich Finn auf dem Beifahrersitz nieder, während sich sein Retter hinters Lenkrad klemmte.
„Wo willst du überhaupt hin?“, erkundigte sich der Mann.
„München.“
„Du hast Glück. Da muss ich auch hin.“ Der Typ ließ den Motor an. „Ich bin übrigens Moritz.“
„Finn.“ Es war wundervoll, nach der feuchten Kälte im trockenen und warmen Innenraum zu sitzen. Er guckte über die Schulter. Hinter den Sitzen stapelten sich Kartons und Möbel. „Ziehst du um?“
„Ich nicht. Der Krempel gehört einem Kunden.“
„Kunden?“
„Ich hab ein Umzugsunternehmen und mache ab und zu selbst eine Tour, wenn Not am Mann ist.“
Finn guckte auf die Uhr im Armaturenbrett. Halb sechs. „Mitten in der Nacht und dazu noch am Wochenende?“
Moritz zuckte mit den Achseln. „Dann ist auf den Straßen am wenigsten los.“
Um seinen Chauffeur nicht weiter zu nerven, lehnte er sich zurück und schaute aus dem Fenster. In der Dunkelheit erkannte er die Umrisse von hohen Bäumen. Ach ja: Wo befanden sie sich überhaupt? Er spähte rüber zu Moritz, der konzentriert nach vorne sah. Ein hübsches Profil, mit der kleinen Nase und den langen Wimpern. Moritz besaß einen Bauchansatz, wirkte aber ansonsten fit. Das sollte man als Umzugsunternehmer, der mitanpackte, wohl auch sein.
„Wo sind wir eigentlich?“, fragte Finn.
„Kurz hinter Nürnberg. Noch ungefähr zwei Stunden bis München. Wo genau musst du da hin?“
„Ismaning.“
„Das trifft sich. Mein Ziel ist Garching. Das liegt direkt daneben.“
Er war wirklich ein Glückspilz. Insgeheim hatte er sich schon gefragt, wie er zu Jon kommen sollte und wie lange er dafür brauchte. Jede Minute ging ja für ihr gemeinsames Wochenende verloren.
„Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir bin.“ Finn kuschelte sich tiefer in den Sitz. „Nun weiß ich, wie es Haustieren und Rentner geht, die an der Autobahn ausgesetzt werden.“
„Rentnern?“, echote Moritz und warf ihm einen verwunderten Seitenblick zu.
„Ein Scherz, aber ist das nicht vor einiger Zeit tatsächlich passiert?“
Moritz lachte. „Bestimmt nur aus Versehen.“
Schmunzelnd zuckte Finn mit den Achseln. Wieder guckte er aus dem Fenster. Seine Gedanken wanderten zu Jon. Der schlief bestimmt noch. Vielleicht konnte er sich bald zu ihm kuscheln. Eine herrliche Vorstellung. Als erstes musste er sich aber um sein Gepäck kümmern. Große Hoffnung, dass er es zurückerhielt, machte er sich nicht. Bestimmt schnappte sich jemand den herrenlosen Rucksack in dem Glauben, darin etwas Wertvolles zu finden. Abgesehen von dem Rasierwasser gab es da jedoch nichts. Sein Smartphone war ein altes Modell und die Klamotten waren keine Markenware.
Das Radio dudelte leise vor sich hin. Zusammen mit dem Motorengeräusch bildete es eine einschläfernde Geräuschkulisse. Finn fielen die Augen zu.
Er wachte auf, als Moritz an einer Ampel hielt. Verschlafen guckte er sich um. Anscheinend waren sie gerade von der Autobahn abgefahren.
„Wir sind gleich in Garching. Gib mir mal die Adresse, wo du hinmusst. Ich bin gut in der Zeit und kann dich da absetzen“, meldete sich Moritz zu Wort.
„Aschheimerstraße 11.“ Finn rieb sich den Nacken, den er sich beim Schlafen verspannt hatte.
„Alles klar“, brummelte Moritz.
Die Ampel sprang auf grün. Sie bogen nach links ab. Auf beiden Seiten der Straße lagen Felder. Anschließend tauchten sie in ein Waldgebiet ein und überquerten eine Brücke. Dahinter erhoben sich Industriebauten. Moritz bog rechts ab, fuhr an den Straßenrand und begann, das Navi zu programmieren. In Finn regte sich ein schlechtes Gewissen. Andererseits hatte Moritz von sich aus angeboten, ihn zum Ziel zu chauffieren.
Inzwischen war es halb zehn. Dank Moritz würde er sogar noch früher als geplant bei Jon eintreffen.
„Besuchst du deine Freundin?“, erkundigte sich Moritz und fädelte den Wagen wieder in den fließenden Verkehr ein.
Sollte er ehrlich sein? Lieber nicht, sonst flog er noch kurz vorm Ziel raus. „Nein. Nur einen Kumpel.“
„Ich hatte auch mal ein paar Bekannte in München, damals, als ich jung war.“
„Was ist daraus geworden?“
Moritz zuckte mit den Achseln. „Man hat sich ein paarmal besucht, dann ist es eingeschlafen.“
Sowas kannte Finn auch. Urlaubsbekanntschaften, mit denen man sich einmal getroffen und danach nie wieder etwas gehört hatte. „Fährst du heute noch zurück?“
Moritz nickte. „Sobald ich ausgeladen habe.“
„Musst du nicht zwischendurch eine Ruhezeit einlegen?“
„Wenn ich müde bin, halte ich irgendwo und hau mich aufs Ohr.“
Einige Minuten später hielt Moritz vor einem modernen Mehrfamilienhaus. „Das müsste es sein.“
Finn löste seinen Gurt. „Vielen-vielen Dank, dass du mich mitgenommen und hergebracht hast.“
„Kein Problem.“ Moritz fischte etwas aus der Jackeninnentasche und hielt es ihm hin. „Falls du mal umziehen möchtest.“
Es handelte sich um eine Visitenkarte. Moritz Steigenburg, Umzüge aller Art, stand auf der Vorderseite, auf der Rückseite die Firmenanschrift und Telefonnummer.
„Darauf komme ich gern zurück, wenn es soweit ist.“ Er schenkte Moritz ein Lächeln, stieg aus und warf die Beifahrertür zu.
Nachdem der Transporter aus seinem Blickfeld verschwunden war, wandte er sich dem Haus zu und schaute an der Front empor. Eine schmucklose Fassade. Dafür waren viele Balkons mit blühenden Blumen geschmückt.
Laut Klingeltafel wohnte Jon im 5. Stock. Auf Finns Läuten hin dauerte es ein Weilchen, bis aus der Gegensprechanlage „Ja?“ ertönte.
„Ich bin’s, Finn.“
Stille, dann räusperte sich Jon. „Was für eine Überraschung.“
Freudig klang das nicht. „Lässt du mich nicht rein?“
„Du, das passt im Moment ganz schlecht.“
„Was soll das denn heißen?“
„Na ja, ich ... ich bin nicht allein.“
Schockstarr glotzte Finn ins Leere. Jon betrog ihn?
„Okay, komm hoch“, lenkte Jon ein.
Der Öffner summte. Er warf sich gegen die Tür, stolperte ins Treppenhaus und guckte zwischen Fahrstuhl und Stufen hin und her. Um seinen Adrenalinpegel zu senken entschied er sich für letztere.
In der 5. Etage erwartete ihn Jon im weißen Bademantel. Der Bettfrisur zufolge, war sein zukünftiger Ex - Finn wollte mit Fremdgängern nicht zu tun haben - gerade aufgestanden, vermutlich nach einer Runde Sex.
„Schön dich zu sehen“, begrüßte ihn das Arschloch.
Der hatte Nerven! „Wann wolltest du mir denn sagen, dass du einen Neuen hast?“
„Ich ... also, es ist so ...“, druckste Jon herum, den Blick gesenkt und die Finger damit beschäftigt, am Bademantelgürtel zu zupfen.
„Ist das dein Ex-Freund?“, tönte es aus der Wohnung.
Das wurde ja immer besser!
Ein dunkelhaariger Adonis, ebenfalls in einen Bademantel gehüllt, tauchte hinter Jon auf. „Hi. Ich bin Klaus.“
„Dann bin ich wohl überflüssig“, stellte Finn nüchtern fest, obwohl ihm das Herz bis zum Hals klopfte.
„Kann man so sagen“, stimmte Klaus grinsend zu.
„Hör mal“, mischte sich Jon ein. „Wir müssen darüber reden.“
„Schönen Tag noch.“ Finn drehte sich um und joggte die Treppe wieder runter.
Unten angekommen hockte er sich auf die letzte Stufe und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Was für ein mieses Schwein! Bestimmt ging das schon länger so. Deshalb hatte Jon nicht mehr angerufen, wurde ihm im Rückblick klar. Die Initiative war einzig von ihm ausgegangen. Er hatte ein Luftschloss gebaut, das nun mit einem lauten Knall zerplatzt war.
Was für eine Scheiße! Was sollte er denn jetzt tun? Der Platz im Flixbus war erst für Sonntag gebucht. So lange wollte er keinesfalls hier bleiben.
Er verließ das Gebäude und sah unschlüssig nach links und rechts. Schließlich wandte er sich nach links, in die Richtung, aus der er mit Moritz gekommen war. Beide Hände in den Hosentaschen marschierte er an der Straße entlang, wobei er fieberhaft überlegte, wie er am schnellsten wieder nach Hause kam. Die Bahn wäre eine Alternative, würde sein Budget aber bestimmt arg belasten. Per Anhalter? Nein danke. Mit Moritz hatte er unheimliches Glück gehabt. Ein weiteres Mal wollte er das nicht herausfordern. Insgeheim war er nämlich ein ziemlicher Schisshase.
Warum hast du dich auch nicht bei Jon angemeldet?, flüsterte es in seinem Kopf. Dann wäre dir der Scheiß erspart geblieben. Ja-ja! Hinterher ist man immer schlauer, gab er im Geiste zurück. Im Nachhinein wurden ihm einige Anzeichen bewusst, die er geflissentlich ignoriert hatte. Die merkwürdige Erklärung für den Umzug nach München. Jons kurzangebundene Art am Telefon.
Plötzlich brannten Finns Augen. Mühsam blinzelte er die aufsteigenden Tränen weg. Wegen dieser verdammten Arschgeigen würde er keinesfalls losflennen! Das hatte Jon gar nicht verdient!
In einem Kiosk besorgte er sich einen Kaffee to go und eine Tafel Schokolade. Einige Meter weiter setzte er sich auf eine Bank. Ihm war trostlos zumute. Allein in der Fremde, vom Ex betrogen und ohne Gepäck. Ging’s noch schlimmer? Beschwör es nicht herauf!, mahnte ihn die Stimme. Es könnte regnen oder schneien. Damit hatte sie recht. Wenigstens schien die Sonne, so dass er nicht frieren musste.
Als er den Pappbecher geleert und einige Stücke Schokolade gegessen hatte, setzte er seinen ziellosen Weg fort. Nach einer Weile erreichte er das Industriegebiet, das er vorhin mit Moritz passiert hatte. Moritz ... wäre es unverschämt ihn anzurufen und zu fragen, ob für die Rücktour ein Platz frei war?
„Ha-ha! Wie denn, ohne Handy?“, murmelte er halblaut.
Einige Schritte weiter entdeckte er auf der anderen Straßenseite eine Telefonsäule. Das war doch ein Wink des Schicksals, oder?
Da er keine passenden Münzen zur Hand hatte, fütterte er das Gerät mit einem 2-Euro-Stück. Seine Finger zitterten so sehr, dass er sich arg konzentrieren musste, um die Nummer einzutippen. Es ging die Mailbox ran: „Sie sind verbunden mit 0172-XXX. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.“
Vor Enttäuschung wurde ihm speiübel. Vielleicht war Moritz bereits auf dem Heimweg. Gerade wollte er auflegen, da meldete sich jemand mit einem atemlosen: „Hallo?“
„Hi, hier ist ... hier ist Finn.“ Er schluckte schwer an dem Kloß, der vor Aufregung in seiner Kehle gewachsen war. „Sag mal, kannst du mich mit zurücknehmen?“
„Du willst schon wieder abreisen?“
„Ähm, ja.“
„Ich brauche hier noch ungefähr eine halbe Stunde.“
„Ich komme dir entgegen. Momentan bin ich ...“ Finn hielt nach einem Straßenschild Ausschau, doch vergeblich. „... in dem Industriegebiet kurz vor der Brücke.“
„Dann bleib da. Wir verpassen uns sonst.“
„Okay. Und danke. Du bist meine Rettung.“
„Bis später.“ Moritz legte auf.
Es war wohl wirklich besser, wenn er in der Nähe der Telefonsäule blieb. Wenige Meter entfernt gab es eine Bank, die zu einer Bushaltestelle gehörte. Er nahm darauf Platz und guckte trübsinnig in die Gegend. Je länger er da saß, desto klarer wurde ihm, von Jon nach Strich und Faden verarscht worden zu sein. Bestimmt hatte sich das Arschloch köstlich über den verliebten Trottel amüsiert. Der Umzug nach München war garantiert schon vor ihrem Kennenlernen geplant gewesen und er nur ein Zeitvertreib, um die drei Monate bis dahin zu überbrücken.
Trotz dieser Erkenntnis wollte sein Herz nicht loslassen. Es war doch so schön mit ihnen gewesen, nicht nur im Bett. Jon hatte ihn ins Theater ausgeführt, zum Essen, in eine Kunstausstellung. Aber nur, weil der gute Klaus nicht zur Verfügung stand. Klaus! Wer hieß denn heutzutage noch so? Er passt auch viel besser zu Jon. Zwei Adonisse, statt Aschenputtel und der Prinz, meldete sich erneut die hämische Stimme in seinem Kopf.
Dennoch würde er Jon sofort zurücknehmen, sofern sich dieser vor ihm auf die Knie warf und um Entschuldigung bat. Damit war wohl kaum zu rechnen. Vielleicht sollte er froh darüber sein, denn wer einmal fremdging, tat es bestimmt wieder. Leider war er dazu momentan nicht in der Lage. Fremdgehen ... eigentlich war eher er derjenige, mit dem das Arschloch Klaus betrogen hatte.
Es bereitete ihm Kopfschmerzen, über das Ganze nachzudenken, daher versuchte er, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Was sollte er Moritz, falls der fragte, sagen, weshalb sich seine Wochenendpläne geändert hatten? Behaupten, sein Kumpel wäre nicht zu Hause? Dann würde man ja wohl warten, wenn man solche weite Strecke gereist war und versuchen, den Freund telefonisch zu erreichen. Das ging also nicht. Am besten hielt er sich nahe an der Wahrheit.
Mitten in seine Gedanken hinein kreuzte Moritz‘ Transporter auf. Dann musste er eben improvisieren. Erleichtert, den Ort seiner Niederlage zu verlassen, kletterte er auf den Beifahrersitz.
„Du siehst aus, als wärest du einem Gespenst begegnet“, stellte Moritz fest.
„Das trifft den Nagel fast auf den Kopf.“ Er schnallte sich an.
„Hast du eine Ahnung, ob’s in der Nähe genießbaren Kaffee to go zu kaufen gibt?“
Finn wies ihm den Weg zu dem Kiosk, in dem er welchen erstanden hatte.
Als Tobias seinen neuen Arbeitsplatz antritt, findet er nicht nur liebe Kollegen - mit Ausnahme von Mortimer - vor, sondern auch einen charmanten Personalchef. Sie beginnen eine lockere Affäre, die sie im Betrieb geheim halten. Leider kommt ihnen Mortimer auf die Schliche, mit unabsehbaren Folgen.
Tobias betrat das Firmengebäude und ging zum Tresen, hinter dem zwei Damen saßen. „Ich bin der Neue“, stellte er sich vor. „Tobias Meier. Ich fange im Controlling an.“
Es war der zweite Job nach Beendigung seines Studiums. Den ersten hatte er aus der Not heraus angenommen, um überhaupt einen zu haben. Diesen Arbeitsplatz hatte er sich sorgfältig nach gewissen Kriterien ausgesucht. Es sollte eine nachhaltige Branche sein, möglichst in verkehrsgünstiger Lage, damit er den öffentlichen Nahverkehr nutzen konnte. Ein schwieriges Unterfangen, denn die meisten Betriebe, die Mitarbeiter suchten, kamen aus Grund eins oder zwei nicht infrage. Umso glücklicher war er, dass man ihn bei Greeninvest Immobilien genommen hatte. Die Firma erstellte Gebäude nach ökologischen Gesichtspunkten, vorwiegend im Gewerbesektor.
„Ich sage Herrn Wagennagel Bescheid“, erwiderte die Dame, die links saß und griff zum Telefonhörer.
Henri Wagennagel war der Personalchef und beim Vorstellungsgespräch dabei gewesen. Ein sympathischer Mann in den Vierzigern, mit silbernen Schläfen und einem markanten Gesicht. Den würde Tobias keinesfalls von seiner Bettkante stoßen.
Seine sexuelle Orientierung hatte er nicht bekanntgegeben. Es ging niemanden etwas an, ob er mit Weibchen oder Männchen schlief. Out and proud war okay, aber nicht in jeder Lebenslage. Sollte ihn jemand darauf ansprechen, würde er die Wahrheit sagen, ansonsten den Mund halten. Es erzählte ja auch kein Hetero allen, dass er Weiblein bevorzugte.
Bei Henri Wagennagel hatte sein Gaydar voll ausgeschlagen. Tobias‘ Gespür trog ihn selten. Er wusste nicht, woran sein Radar es festmachte, zu welchem Geschlecht ein Mann tendierte. Bestimmt winzige Anzeichen, die er bewusst gar nicht wahrnahm.
„Herr Wagennagel holt Sie gleich ab“, verkündete die Frau und wies auf eine Sitzgruppe an der Fensterfront. „Nehmen Sie doch bitte so lange Platz.“
Genau dort hatte er vor sechs Wochen gesessen, voller Hoffnung, den Arbeitsplatz zu bekommen. Seine Erfahrung bezüglich Vorstellungsgesprächen war begrenzt, weshalb es garantiert etliche Kandidaten gab, die ihm etwas voraushatten. Es kam ja nur darauf an, sich gleich richtig zu verkaufen, von wegen erster Eindruck und so. Anscheinend hatte er das ziemlich gut gemeistert, worauf er stolz war.
Seine Eltern waren auch stolz wie Oskar auf ihn. Als einziger aus der Familie hatte er es zu etwas gebracht. Sein Bruder Rene besaß lediglich einen MSA und war - wie sein Vater - Klempner geworden. Ein einträglicher Beruf, doch Gas-Wasser-Scheiße war eben nicht so anerkannt wie ein Studium.
Kaum hatte sich Tobias hingesetzt, öffneten sich die Lifttüren und Henri Wagennagel erschien. Auch auf den zweiten Blick war der Mann ein Hingucker. Das Grau des Anzugs harmonierte perfekt mit den silbernen Schläfen. Um die Augen hatten sich Lachfältchen eingegraben. Der Händedruck war warm und fest.
„Herzlich willkommen bei Greeninvest Immobilien“, begrüßte ihn Wagennagel. „Wir erledigen erstmal die Formalitäten, bevor ich Ihnen Ihren Arbeitsplatz zeige.“
Wagennagel ging voraus zum Fahrstuhl. Auch von hinten machte der Mann eine überaus gute Figur. Reiß dich mal zusammen!, schimpfte er im Geiste mit sich selbst. Sex ist das Letzte, woran du gerade denken solltest. Sein unterforderter Schwanz war da ganz anderer Meinung. Derzeit war das Teil kaum zufriedenzustellen, warum auch immer. Eigentlich hatte er seine hormongesteuerte Phase lange hinter sich gelassen.
Sie fuhren in den 16. Stock. Dort hatte auch das Gespräch stattgefunden, daher kannte Tobias den Flur bis zum Konferenzraum. Diesmal gingen sie daran vorbei, bis Wagennagel stoppte, eine Tür aufstieß und bat: „Nach Ihnen.“
Das Büro war mit Holzmöbeln eingerichtet, genau wie der ihm bekannte Raum und der Empfang. Hier lebte man die natürliche Philosophie, die auf der Homepage verkündet wurde.
„Nehmen Sie Platz“, forderte Wagennagel ihn auf und begab sich hinter den Schreibtisch.
Tobias ließ sich auf dem Stuhl, der davor stand, nieder.
„Erstmal das Wichtigste: Wir duzen uns hier alle. Ich bin Henri.“
„Angenehm. Tobias.“
„Deine Personalien haben wir ja schon. Nun fehlen nur ein paar Unterschriften.“ Henri schob ihm eine Mappe und einen Füllfederhalter rüber. „Die Verschwiegenheitserklärung und so weiter.“
Während er die Blätter unterschrieb, herrschte Schweigen.
Als er fertig war und sich wieder zurückgelehnt hatte, lächelte Henri ihn an. „Es freut mich, dass du bei uns anfängst. Du machst einen wachen Eindruck und scheinst hinter der Sache zu stehen.“
„Absolut! Wir müssen umdenken, wenn unsere Kinder und Kindeskinder noch etwas von der Welt haben sollen.“
„Ganz meine Meinung, auch wenn ich keine habe.“
„Ich werde wohl auch kinderlos bleiben.“
„Du bist noch jung. Wer weiß? Vielleicht kommt morgen die richtige Frau, um eine Familie zu gründen.“
Worauf lief das Gespräch hinaus? Wollte Henri rausfinden, ob sie am gleichen Ufer fischten? „Ich bin alt genug um zu wissen, dass das nicht passieren wird.“
Forschend betrachtete Henri sein Gesicht, ließ den Blick tiefer wandern und wieder hoch. „Ich würde dich in der Mittagspause gern zum Essen einladen.“
Wow! Was für ein Tempo. „Danke für die Einladung.“
„Dann hole ich dich um eins in deiner Abteilung, die wir uns jetzt mal ansehen werden, ab.“ Henri stand auf, woraufhin sich Tobias ebenfalls erhob.
Sie benutzten die Treppe, um in das nächste Stockwerk zu gelangen. Entgegen dem 16. Stock war diese Etage nicht mit beigem, sondern mit anthrazitfarbenem Teppichboden ausgelegt. Links und rechts vom Flur sah man durch gläserne Wände in Großraumbüros. Henri öffnete die Tür zum ersten und steuerte einen Schreibtisch am Fenster, auf dem eine Vase mit Blumen stand, an.
Tobias folgte ihm, wobei er aus dem Augenwinkel die Kollegen musterte. Drei Frauen und zwei Männer. Zusammen mit ihm bildete das ein ausgewogenes Verhältnis. Kübelpflanzen waren so platziert, dass der Eindruck von etwas Privatsphäre entstand.
„Nochmals herzlich Willkommen bei Greeninvest Immobilien“, ergriff Henri das Wort und wandte sich an die Kollegen. „Ich habe euch Tobias ja schon angekündigt. Er wird die Aufgaben seines Vorgängers übernehmen.“
Eine der Frauen sprang auf und kam zu ihnen rüber. „Hi, ich bin Ariane.“
Sie schüttelten sich die Hände. Ariane wirkte sympathisch.
„Ariane, Chefin dieser Abteilung, wird dir alles erklären und sukzessive die Aufgaben zuteilen.“ Henri tätschelte seine Schulter. „Guten Start. Wir sehen uns um eins.“
Sprach’s und spazierte aus dem Raum.
„Ich schlage vor, dass wir uns erstmal um das Wichtigste kümmern.“ Ariane zwinkerte ihm zu. „Ich zeige dir, wo es Kaffee gibt und die Toiletten sind.“
Gute Idee. Letzteres tat dringend not. Trotz der entspannten Atmosphäre war ihm ein bisschen mulmig zumute, was bei ihm Harndrang auslöste. Es hieß ja nicht umsonst, dass man sich vor Angst in die Hose machte.
Ariane führte ihn auf den Flur und bog nach links ab. Nach einigen Schritten wies sie auf eine Tür. „Dies sind die Herren-Klos.“
„Ich müsste hier kurz mal rein.“
„Die Teeküche ist gleich da vorn, hinter den Damentoiletten. Ich gehe schon mal vor.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln und ging weiter.
Auch in der Keramikabteilung merkte man, dass man sich in einem Unternehmen mit ökologischem Anspruch befand. Klobrillen aus recyceltem Material, Keine Papierhandtücher, sondern welche aus Stoff und biologisch abbaubare Seife.
Nachdem er sich erleichtert und die Hände gewaschen hatte, gesellte er sich zu Ariane. Die Teeküche besaß kein Fenster und bestand im Wesentlichen aus einer Küchenzeile. In einem Regal an der Stirnseite: Etliche Plastikkörbchen, die mit Namen beschriftet waren.
„Hier kannst du deinen Tee und haltbare Lebensmittel aufbewahren“, erklärte Ariane mit einem Blick auf die Körbe. „Der Kühlschrank ist für privaten Gebrauch tabu. Er wäre ohnehin zu klein, wenn alle Kollegen, die auf dieser Etage arbeiten, ihren Kram da rein stopfen würden.“
Sie wandte sich dem Kaffeeautomaten zu, ein modernes Gerät, fast wie in einem Lokal. „Du brauchst nur eine Taste drücken. Becher findest du ...“ Ariane öffnete den Schrank über der Maschine. „... hier in Hülle und Fülle. Freie Auswahl.“
Tobias griff nach einem weißen Exemplar ohne blöden Spruch und betrachtete die Auswahlmöglichkeiten.
„Unsere Kollegen sind alle in Ordnung, sogar Mortimer. Er ist nur ein bisschen introvertiert“, fuhr sie fort.
„Was meinst du damit?“ Er entschied sich für Latte Macchiato, stellte den Becher unter den Ausguss und betätigte den entsprechenden Knopf.
„Er beteiligt sich nie an privaten Gesprächen und geht nie mit uns zum Essen raus. Das ist ja auch sein gutes Recht, aber brauchen wir nicht alle ein paar soziale Kontakte auf der Arbeit? Ich jedenfalls würde mich ohne sehr unwohl fühlen.“
„Apropos: Warum ist eigentlich mein Vorgänger gegangen?“
„Wigald ist nach Paris zu seiner Frau gezogen. Die Fluktuation ist hier unglaublich gering. Die meisten gehen nur, wenn sie sich räumlich verändern.“
Das war schon mal ein sehr gutes Zeichen. Inzwischen hatte der Kaffeeautomat seine Arbeit getan. Tobias nahm den vollen Becher und folgte Ariane zurück ins Büro.
Obwohl er bereits mit SAP gearbeitet hatte, benötigte er ihre Hilfe, um die von ihm benötigten Auswertungen zu bekommen. Offenbar hatte man erhebliche Anpassungen an die firmentechnischen Bedürfnisse vorgenommen. Für die Rentabilitätsberechnungen benutzte man Excel, das er glücklicherweise sehr gut beherrschte.
„Manchmal frage ich mich, ob es ein Leben vor Excel gab“, meinte Ariane mit ironischem Unterton. „Anstatt das Programm entsprechend zu verändern, müssen wir den ganzen Scheiß exportieren und bei jeder Änderung der Zahlen prüfen, ob die Ergebnisse noch mit dem Ursprungsmaterial übereinstimmen.“
Das kannte Tobias schon von seinem letzten Arbeitsplatz. Da bekam die Bezeichnung Controller einen bitteren Beigeschmack a la Kontrolleur.
Um halb eins brachen die Kollegen zur Mittagspause auf. Ariane fragte zwar, ob er sich anschließen wollte, schlug sich aber im nächsten Moment mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Sorry. Du bist ja schon verabredet.“
Einige Minuten, nachdem Ariane, Gerlind, Maja und Ralf losgezogen waren, stand Mortimer auf und verließ grußlos den Raum. Überhaupt hatte der Kollege bisher noch gar nicht mit ihm gesprochen. Er nahm das nicht persönlich, da er ja von Ariane diesbezüglich vorbereitet worden war.
Vielleicht hatte Mortimer ein dunkles Geheimnis, das er mit niemandem teilen wollte. Irgendeine Krankheit, einen Fetisch, was auch immer. Ha-ha! Du hast auch ein dunkles Geheimnis, und zwar das Loch zwischen deinen Arschbacken, spottete es in seinem Schädel. Tobias musste grinsen. Und warum suchte er überhaupt Begründungen für Mortimers Verhalten? Jeder durfte nach seiner Fasson leben.
Pünktlich um eins tauchte Henri auf. Er sperrte den Monitor, schlüpfte in sein Jackett und prüfte, ob sich seine Keycard, die zugleich für die Zeiterfassung diente, in seiner Hosentasche befand.
Als sie im Lift nach unten fuhren, fragte Henri: „Wonach ist dir zumute? Vegan? Pasta? Gutbürgerlich?“
„Mir reicht eigentlich ein halbes Brötchen. Fällt das unter gutbürgerlich?“
Henri schmunzelte. „Das fällt unter Bäckerei, einfach und schnell.“
Zur Auswahl standen zwei Läden, die nebeneinander lagen. In der einen schmeckte es laut Henri besser, in der anderen war’s gemütlicher. Tobias wählte das gemütliche Ambiente. Appetit hatte er sowieso kaum, dazu war er zu aufgeregt. Die Einarbeitung kostete viel Konzentration. In solchen Situationen war Nahrung für ihn Nebensache.
In der Bäckerei entdeckte er seine Kollegen an einem der Tische. Die vier waren in eine Unterhaltung vertieft und schienen Henri und ihn nicht zu bemerken.
Am Tresen versorgten sie sich mit Getränken und Essen und verzogen sich damit an einen Zweiertisch am Fenster. Tobias hatte sich ein Eibrötchen ausgesucht. Mett wäre ihm lieber gewesen, aber sowas aß man besser nicht in Gesellschaft, weil einem meist Sehnen zwischen den Zähnen hängenblieben. Das war ihm mehr als einmal passiert und äußerst peinlich.
„Und? Wie gefällt’s dir bei uns?“, erkundigte sich Henri.
„Sehr gut. Liebe Kollegen, leckerer Kaffee.“
„Und die Arbeit schmeckt dir auch?“
Tobias, der gerade in sein Brötchen gebissen hatte, nickte kauend.
„Wunderbar.“ Henri trank einen Schluck Bionade. „Ich würde dich gern am Freitag zum Abendessen ausführen. Oder spricht irgendetwas dagegen?“
Wow! Der Mann legte ja ein forsches Tempo vor. „So lange es nicht zum Franzosen geht und ich Schnecken oder Austern essen muss, ist das für mich okay.“
„Schade. Genau das hatte ich geplant.“ Henri feixte. „Ich dachte eher an meinen Lieblingsitaliener in Farmsen. Der liegt nur ein paar Straßen von meiner Wohnung entfernt.“
Deutlicher ging’s kaum noch. „Italienisch finde ich gut.“
„Ist es okay, wenn wir uns am Freitag um sieben dort treffen?“
„Wenn du mir die Adresse gibst, werde ich da sein.“
Das Lokal entpuppte sich als winziges, urgemütliches Restaurant. Bei Kerzenschein speisten sie vorzüglich, tranken zum Abschluss einen Espresso und sprangen danach zusammen in die Kiste. Unverblümt hatte Henri zugegeben, lediglich an einer Bettgeschichte interessiert zu sein. Für Tobias war das in Ordnung, da eh der zündende Funke fehlte.
Sie verabredeten, sich nach Bedarf zu treffen, bevor er sich von einem Taxi nach Hause chauffieren ließ. Für die Hintour hatte er den Bus benutzt, der aber zu derart später Stunde nicht mehr fuhr.
Daheim stellte er sich unter die Dusche, um den Sexgeruch abzuwaschen. Ein weiteres Indiz, dass es mit Henri nichts Ernstes war, sonst hätte er den Duft möglichst lange an sich haften lassen.
Mit einem Whisky on the rocks setzte er sich, in einen Bademantel gehüllt, auf die Couch und guckte sinnend ins Leere. Was für eine Woche! Erst der neue Job und nun auch noch ein Gelegenheitslover. Henri war ein zärtlicher und einfühlsamer Liebhaber. Er hatte weiß Gott schon schlechtere gehabt. In Anbetracht von Henris hohem Alter - Mitte vierzig - war es außerdem verständlich, dass alles etwas langsamer ging. Du bist gemein!, schimpfte es in seinem Kopf. Sorry, entschuldigte er sich schmunzelnd.
Seine Gedanken wanderten zu Mortimer. Mit den anderen vier Kollegen hatte er inzwischen die wichtigsten Eckdaten ausgetauscht. Ariane war verlobt und plante, in zwei Jahren mit dem Kinderkriegen anzufangen. Gerlind suchte noch nach dem passenden Mann für solche Zwecke und Maja hatte die Chose schon hinter sich. Ihre beiden Söhne waren erwachsen, ihre Ehe geschieden. Ralf, ein echter Sonnyboy, wechselte die Frauen wie andere ihre Unterwäsche.
Lediglich von Mortimer wusste er gar nichts. Na ja, ein bisschen schon, nämlich, dass der Typ kaum die Zähne auseinander bekam. Davon mal abgesehen sah er ziemlich gut aus. Blond, blaue Augen, ein klassisch schönes Gesicht und eine schlanke Figur. Attraktive Typen waren ja häufig ein wenig verkorkst, jedenfalls nach Tobias‘ Erfahrung. Viele hielten sich für ein Geschenk Gottes, die Reinkarnation Casanovas ... dabei sollte der doch eher mit Charme, statt überwältigendem Äußeren gepunktet haben.
Mortimer hatte einen Stock im Arsch. Wenn alle über einen Witz lachten, rang sich der Typ bloß ein müdes Lächeln ab. Fachlich hingegen konnte ihm keiner das Wasser reichen. Er war eine Excel-Konifere, wie Ariane scherzhaft zu sagen pflegte. Kam jemand mit einer Frage bezüglich dieser Anwendung, blühte Mortimer regelrecht auf.
Glücklicherweise hatte Tobias mit dieser Spaßbremse wenig zu tun. Die meiste Zeit blendete er den Kollegen völlig aus, wobei auch die Kübelpflanze, von denen einige als Sichtschutz im Raum platziert waren, gute Dienste leistete.
Er trank sein Glas und überlegte, ob er sich einen weiteren Whisky gönnen sollte. Ach, nein. Zusammen mit dem zum Essen genossenen Rotwein reichte das an Alkohol für einen Tag.
Am nächsten Morgen war er mit seinem Vater verabredet, um beim Streichen des Wohnzimmers zu helfen. Rene, sein Bruder, war ebenfalls zugegen. Zu dritt schafften sie die Arbeit innerhalb weniger Stunden, unterbrochen von einer Mittagspause. Als Tobias um fünf nach Hause fuhr, war der Raum größtenteils wieder in den Urzustand versetzt. Bloß die Schränke mussten noch an die Wände gerückt werden, sobald die Farbe durchgetrocknet war.
Abends traf er sich mit ein paar Freunden in einer Kneipe. Die Quote der fest liierten in ihrer Runde wurde von Jahr zu Jahr höher, so dass damit zu rechnen war, dass bald der eine oder andere Nachwuchs bekam und immer seltener aufkreuzte. Dirk hatte es bereits erwischt und bei Yannik war es in zwei Monaten soweit. Es blieben dann drei plus Tobias übrig. Ein Grund, Torschlusspanik zu bekommen? Noch ließ er sich davon nicht verrücktmachen. Seine Clique hatte schließlich mehr als ein Jahrzehnt überstanden und würde auch solche Ereignisse überleben.
Im Gegensatz zu manch anderem Schwulen war er in der Schule nie ausgegrenzt worden. Vielleicht, weil er zu den Sportkanonen gezählt hatte. Vielleicht hatten seine Mitschüler gedacht, dass ein Fußballspieler niemals schwul sein konnte. Die Gründe waren ihm damals egal und heutzutage sowieso. Das war der Vorteil am Älterwerden: Die zunehmende Gelassenheit.
„Und? Wie ist dein neuer Job so?“, wollte Martin wissen.
„Bisher klasse. Supernette Kollegen, Stoffhandtücher auf der Toilette und ein genialer Kaffeeautomat in der Teeküche.“
„Stoffhandtücher?“, echote Okko stirnrunzelnd. „Was ist daran so toll?“
„No waste“, erklärte Yannik.
„Wenn man die wäscht, entsteht giftige Lauge“, widersprach Okko.
„Es gibt Bio-Waschmittel. Außerdem: Lieber ein bisschen Wasser, das sich ja aufbereiten lässt, verschmutzen, als noch mehr Müll erzeugen.“ Tobias trank einen Schluck Pils. „Es ist doch Wahnsinn ein Stück Zellstoff, das man bloß zum Händeabtrocknen benutzt hat, wegzuwerfen.“
Die anderen nickten zustimmend.
„Einziger Wermutstropfen ist ein arroganter Kollege“, fuhr er fort. „Der Typ geht zum Lachen wohl in den Keller. Mit dem hab ich aber glücklicherweise wenig zu tun.“
„Ach, solche Miesepeter hast du überall“, entgegnete Yannik. „Meist sind es allerdings Weiber. Ich bin heilfroh, dass in meiner Abteilung nur Männer arbeiten.“
„Wohl wahr. Bei mir sitzt so eine Zicke im Büro.“ Sascha seufzte und verdrehte die Augen. „Die verspritzt mehr Gift als mancher Landwirt Pestizide. Aurelia meint, die wäre vielleicht in den Wechseljahren und daher so biestig.“
Bei Aurelia handelte es sich um Saschas aktuelle Flamme.
„Wenn der Fortpflanzungstrieb weg ist, wird man also zur Giftspritze“, resümierte Martin. „Was dann ja im Umkehrschluss hieße, dass Tobias‘ Kollege impotent ist.“
„Bei Männern hat das andere Auswirkungen. Die neigen dann zu Verschwörungstheorien oder schließen sich seltsamen Gruppierungen an, wie dieser Ausländer-raus-Partei.“ Okko nickte bekräftigend.
„ARP? Die kenne ich gar nicht“, wunderte sich Tobias.
„Na ja, die heißen ein bisschen anders: Asoziale Alternative für Deutschland“, erklärte Okko.
„Hör bloß auf damit, sonst krieg ich schlechte Laune“, maulte Yannik.
„Ich auch“, schloss sich Tobias an. „Lasst uns lieber über die letzte Pleite des HSV reden.“
„Ha-ha! Als ob das ein besseres Thema wäre“, brummelte Martin.
Besser als Politik war es allemal. Wenn sie damit erstmal anfingen, redeten sie sich bloß die Köpfe heiß. Das passierte zwar auch, wenn sie über Sport sprachen, doch es blieb oberflächlicher, denn sie waren alle Fans des gleichen Vereins. Bei den Parteien harmonierten sie weniger. Okko war überzeugter Linker, Sascha Anhänger der liberalen Mitte und Martin Gegner aller etablierten Gruppierungen. Der Rest tendierte mal hierhin, mal dorthin. In jedem Wahlprogramm fand sich mindestens ein Punkt, der einen den Kopf schütteln ließ.
Als sich gegen halb zwölf die Runde auflöste erinnerte Okko daran, dass sie alle mitsamt Partnerin am nächsten Samstag zum Geburtstag eingeladen waren. „Du darfst gern deinen aktuellen Lover mitbringen“, richtete er anschließend das Wort an Tobias.
„Danke. Vielleicht schaffe ich mir bis dahin ja einen an.“
„Was? Bei dir ist Flaute?“, wunderte sich Sascha.
Das klang, als ob er ständig durch irgendwelche Betten hüpfen würde. „Man wird halt ruhiger.“
Sascha tätschelte seine Schulter. „Wenn du über Erektionsprobleme reden möchtest, wende dich bitte nicht an mich.“
„Blödmann“, knurrte Tobias grinsend.
Am folgenden Vormittag fuhr er erneut zu seinen Eltern, um mit seinem Vater Möbel zu rücken. Danach gab’s Mittagessen, wie meist am Sonntag. Da er sich in der Woche mit Fertiggerichten oder Butterbrot begnügte, genoss er es sehr, die gewohnten Speisen seiner Mutter vorgesetzt zu bekommen.
Montagmorgen betrat er entspannter als am vorhergehenden das Firmengebäude. Nachdem er seine Tasche und Jacke am Arbeitsplatz deponiert hatte, begab er sich in die Teeküche. Zwei Kollegen aus dem gegenüberliegenden Büro, der Buchhaltung, standen dort und unterbrachen ihre Unterhaltung, um ihm einen guten Morgen zu wünschen.
„Und? Schon eingelebt?“, fragte die Frau, deren Namen er vergessen hatte.
Tobias nickte, nahm einen Becher aus dem Schrank und stellte ihn in den Kaffeeautomaten. „Vieles ist zwar noch ungewohnt, aber ich fuchse mich bestimmt bald ein.“
Das Geräusch des Mahlwerks sorgte für eine kurze Gesprächspause. Als der Lärm verklungen war, meinte der Mann - wie hieß er noch? Rüdiger? Manfred? Ach, nein, Michael - mit einem Augenzwinkern: „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.“
Ariane, die sich zu ihnen gesellte, fragte: „Von wem redet ihr?“
„Von Menschen mit normalen Schwächen“, erwiderte Tobias, schnappte sich seinen Kaffeebecher und nippte daran.
„Echt? Solche Leute arbeiten hier nicht.“ Ariane spähte in den Schrank und runzelte die Stirn. „Wer hat mein Becherchen geklaut?“
„Welcher ist denn deiner?“, erkundigte er sich.
„Der mit der Aufschrift ‚Ich Chef, du nix‘.“ Sie griff nach einem roten Exemplar. „Der gehört nicht mir, aber ich benutze ihn seit Tagen.“
„Gewohnheitsrecht“, konstatierte Michael mit ernster Miene.
„Mit dem ist vorhin Mortimer rumgelaufen“, wusste die Frau, deren Namen ihm immer noch nicht einfiel.
„Mist! Den gibt er garantiert nicht so schnell wieder her.“ Ariane schnaubte gespielt entrüstet, stellte den Becher in den Kaffeeautomaten und drückte die Taste für Cappuccino. „Was gibt’s Neues?“
Erneut sorgte das rasselnde Mahlwerk für eine Unterbrechung.
„Es geht das Gerücht um, dass die diesjährige Weihnachtsfeier im Hafen stattfindet“, antwortete, sobald der Radau verstummt war, die Frau und fügte, an Tobias gewandt, hinzu: „Es ist immer ein Riesengeheimnis, aber meist sickert trotzdem vorher was durch.“
„Weihnachtsfeier? Wir haben doch erst September.“
„So was muss von langer Hand geplant werden. Schließlich sind wir über 200 Mitarbeiter“, erklärte Ariane
„Und die sind alle dabei?“
Sie nickte. „Bisher hat kaum einer gefehlt.“
Tobias konnte sich Mortimer schwer in fröhlicher Gesellschaft vorstellen, behielt das aber für sich. Nichts hasste er mehr, als hinter dem Rücken anderer schlecht zu reden. „Muss ich mich in eine Liste eintragen?“
Ariane schüttelte den Kopf. „Du bist automatisch drauf. Nur wenn du nicht kommen möchtest, musst du Bescheid sagen.“
Gemeinsam verließen sie die Teeküche und schlenderten über den Flur zu ihrem Büro. Auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz begrüßte Tobias die Kollegen, die vorhin noch nicht da waren. Auch Mortimer bedachte er mit einem freundlichen: „Guten Morgen“, erntete jedoch bloß ein gebrummeltes: „Moin.“
Gegen zwölf klingelte sein Telefon. Henris Name stand auf dem Display. Sie hatten vereinbart, äußerst diskret vorzugehen. Das kam Tobias sehr entgegen. Darauf, zum Gesprächsgegenstand der Belegschaft zu mutieren, legte er keinen Wert.
Er nahm den Hörer ab. „Bei der Arbeit.“
Henri lachte. „Sehr dienstbeflissen. Ich hab Karten für die Elbphilharmonie. Begleitest du mich?“
„Wann? Und was steht auf dem Programm?“
„Freitag.“ Henri nannte den Namen einer Band, die er nicht kannte. „Die spielen Jazz.“
Oper war gar nicht sein Ding. In dem Fall hätte er Henri einen Korb geben müssen. „Dann komme ich gerne mit.“
„Wunderbar. Lass uns vorher eine Kleinigkeit essen. Treffen im Carls, das ist direkt nebenan, um halb sieben. Okay?“
„Okay.“
„Dann bis Freitag.“ Henri legte auf.
Mist! Er hatte vergessen, nach der Kleiderordnung zu fragen. Musste man in den heiligen Hallen einen Anzug tragen? Ach, das Internet wusste bestimmt Rat. Schnell fand er raus, dass es keinen Dresscode gab und entschied, in gepflegter Freizeitkleidung zu erscheinen.
Einige Minuten zu früh traf Tobias am Carls ein. Es handelte sich um ein französisches Lokal, das in Restaurant und Bistro aufgeteilt war. Kurz nach ihm erschien Henri, genau wie er in Jeans, weißem Hemd und Jackett.
Zu seiner Überraschung - mit Intimitäten in der Öffentlichkeit hatte er nicht gerechnet - begrüßte Henri ihn mit einem Kuss auf die Wange. „Schön, dass du mich begleitest.“
„Ich bin eben todesmutig. Gewisse Jazz-Richtungen mag ich gar nicht.“
Henri lachte. „Lassen wir uns überraschen.“
Bei einem Glas Wein plauderten sie über Gott und die Welt, wobei sie feine Spezialitäten, wie Camembert, luftgetrockneten Schinken, Salami, Sauerkirschconfit, Landbrot, Rauchmandeln und Oliven verspeisten.
Ohne auf seinen Protest zu achten, übernahm Henri die Rechnung. Draußen regnete es. Sie schlugen die Kragen ihrer Jacketts hoch und eilten über die Straße. Gegenüber, an der Elbphilharmonie, tauchten sie in die Menschentraube, die auf Einlass wartete, ein.
Während sie dem Eingang näher rückten, schlang Henri einen Arm um seine Taille. Ihm gefiel das, da er in der dünnen Jacke fröstelte. Henri strahlte Körperwärme aus und duftete nach einem herben Rasierwasser. Das Aroma erinnerte ihn an ihr Schäferstündchen vom vergangenen Freitag.
„Kommst du nach dem Konzert noch mit zu mir?“, flüsterte Henri in sein Ohr und streifte mit den Lippen seine Wange.
Just in dem Moment kreuzte Tobias‘ Blick den von Mortimer. Unzweifelhaft hatte der Kollege den Kuss gesehen. War Mortimer ihnen etwa gefolgt? Nun mach dich nicht lächerlich! Warum sollte er sowas tun?, schimpfte eine Stimme in seinem Kopf.
„Was ist denn los?“, erkundigte sich Henri, von dem er instinktiv ein Stück zurückgewichen war.
„Mortimer hat uns gesehen.“
„Mortimer?“, echote Henri mit verständnisloser Miene, dann fiel der Groschen. „Ach, der Mortimer. Stimmt ja. Der mag auch Jazz. Wir haben uns mal darüber unterhalten.“
„Unterhalten?“, hakte Tobias ungläubig nach.
„Was ist daran so merkwürdig?“
„Er spricht mit niemandem.“
„Das war auf der letzten Weihnachtsfeier. Der arme Kerl saß ganz allein in einer Ecke. Ich hab mich ein bisschen um ihn gekümmert.“ Erneut legte Henri einen Arm um seine Taille. „Was ist nun? Kommst du anschließend noch auf einen Kaffee mit zu mir?“
„Gern. Machst du dir keine Sorgen, dass Mortimer was rumerzählt?“
Henri schüttelte den Kopf. „Wenn einer verschwiegen ist, dann er.“
Insgeheim gab er Henri recht. Schön fand er es trotzdem nicht, dass der Kollege nun Bescheid wusste.
Im Konzertsaal schaute er sich vergeblich nach Mortimer um. Hatte er sich vielleicht geirrt? War er von dem bisschen Wein so betrunken, dass er Geister sah? Als das Licht ausging, Scheinwerfer die Bühne in gleißende Helligkeit tauchten und die Band ihren Platz einnahm, verdrängte er Mortimer aus seinen Gedanken. So wichtig war der Kerl nicht, um sich den Abend verderben zu lassen.
Zu Beginn der folgenden Woche beobachtete er Mortimer, ob es irgendeine Veränderung in dessen Verhalten gab. Da sich der Kollege wie gewohnt benahm, atmete er auf.
Mittwoch- und Freitagabend traf er sich mit Henri, um Essen zu gehen und danach ein Schäferstündchen einzulegen. Samstag, auf Okkos Geburtstagsfeier, war er der einzige ohne Partner. Das störte ihn nicht, weil er sich den ganzen Abend gut unterhielt.
Erst als er nach Hause fuhr, überkam ihn ein Anflug von Selbstmitleid. Es wäre schön, sich gleich an einem warmen Körper zu kuscheln. Dabei dachte er nicht unbedingt an Henri. Der war ohnehin kein verschmuster Typ. Viel lieber wäre ihm Jay, mit dem er während seiner Studienzeit eine monogame Beziehung geführt hatte. Leider war Jay dem Ruf der Karriere in die USA gefolgt und inzwischen dort sesshaft geworden. Eine Wiedervereinigung stand also nicht in Aussicht. Vielleicht würden sie nach all der Zeit sowieso nicht mehr zusammenpassen.
Am Dienstagnachmittag erlebte er eine Überraschung: Ariane verkündete, dass zwei aus ihrer Abteilung nach Dresden, in eine Zweigniederlassung, reisen mussten, um dort dem Kollegen beim Einstieg in ein eigenes Controlling zu helfen.
„Ich habe vorgeschlagen, dass Mortimer und Tobias hinfahren“, fuhr sie fort. „Mortimer kennt sich am besten mit den Immobilien im Südosten aus und Tobias hat als Neuling die Arschkarte.“ Sie zwinkerte ihm schelmisch grinsend zu.
„Fällt dann hier eine Stelle weg?“, wollte Ralf mit besorgter Miene wissen.
„Die Arbeit wird weniger“, räumte Ariane ein. „Da ich eh meine Stunden reduzieren möchte, verteilen wir eben ein bisschen um. Mortimer bekommt einige meiner Objekte. Damit ist die bei ihm entstehende Lücke gefüllt.“
Ralf wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn. „Stunden reduzieren? Geht’s los mit dem Kinderkriegen?“
Sie grinste. „Wir arbeiten daran.“
„Wann soll’s denn losgehen?“, fragte Tobias, dem bei der Vorstellung, mit Mortimer zu reisen, unwohl zumute war.
„Donnerstag. Ich weiß, das ist total kurzfristig, aber die Geschäftsleitung ist nun mal sehr spontan.“
„Okay. Von meiner Seite aus ist das kein Problem“, erwiderte er.
„Mit oder ohne Übernachtung?“, meldete sich Mortimer zu Wort.
„Eine Übernachtung.
„Hm ... okay“, brummelte Mortimer.
„Klasse! Dann gebe ich oben Bescheid, dass ihr meinen Vorschlag mit großer Begeisterung angenommen habt.“ Sie begab sich zur Tür.
„Ähm ... Ariane?“, hielt Tobias sie auf, woraufhin sie sich umdrehte und ihn fragend anguckte. „Kannst du bitte große Begeisterung streichen?“
„Soll ich sie durch notgedrungen ersetzen?“
„Das klingt zu negativ. Wie wäre es mit verhaltener Begeisterung?“
Sie zeigte ihm, bevor sie den Raum verließ, ein Daumenhoch. Tobias spähte durchs Geäst der Kübelpflanze, um Mortimers Gesicht zu beobachten. Keine Veränderung zu vorher. Konnte den Typen denn nichts aus der Ruhe bringen?
„Ich geh mir einen Kaffee holen.“ Maja stand auf und guckte in die Runde. „Soll ich jemandem was mitbringen?“
Ralf hob die Hand. „Für mich bitte einen Latte.“
„Ich komme mit“, entgegnete Tobias, sprang auf und folgte ihr auf den Flur.
Auf dem Weg zur Teeküche schenkte sie ihm einen mitleidigen Seitenblick. „Echt Mist, dass es dich getroffen hat.“
Er grinste schief. „Ach, halb so wild. Ich wollte schon immer mal nach Dresden.“
„Die Kollegen dort sollen jedenfalls in Ordnung sein. Das sagt Mona aus der Buchhaltung. Die hat häufig mit denen Kontakt.“
Den Miesepeter an seiner Seite würde das leider nicht ausgleichen. „Das ist doch ein Lichtblick.“
„Ist ja auch nur für eine Übernachtung.“ Sie tätschelte seine Schulter. „Das kriegst du schon hin.“
Donnerstagmorgen, sechs Uhr, Hamburger Hauptbahnhof. Bewölkter Himmel, Nieselregen. Das entsprach Tobias‘ Stimmung. Vor ihm lagen rund fünf Stunden Bahnfahrt mit Mortimer. Zu allem Überfluss hatte die Chefsekretärin für sie zwei nebeneinander liegende Sitzplätze und Hotelzimmer gebucht. Es fühlte sich an, als hätte man ihm die Spaßbremse um den Bauch gebunden. Was hatte er verbrochen, um derartiges zu verdienen?
Er sah Mortimer heraneilen, einen Trolley im Schlepptau. Für den Anreisetag war ein Dresscode vorgeschrieben. Im Anzug sah sein Kollege lächerlich attraktiv aus, wie einer Modezeitschrift entsprungen.
Bei ihm angekommen brummelte Mortimer: „Moin.“
„Guten Morgen“, gab Tobias zurück.
Der mit erstaunlicher Pünktlichkeit eintreffende Zug veranstaltete so viel Lärm, dass das folgende Schweigen nicht unangenehm auffiel. Für die Fahrt hatte Tobias seinen alten IPod reaktiviert. Im letzten Moment war ihm eingefallen, dass er Mortimer damit super ausblenden konnte.
Ihre reservierten Plätze befanden sich in einem Abteil. Nachdem er sein Notebook aus dem Koffer geholt hatte, verstaute er diesen auf der dafür vorgesehenen Ablage. Mortimer folgte seinem Beispiel und setzte sich ihm gegenüber hin. Auf dem winzigen Tisch war allerdings nur Platz für einen Computer. Mortimer guckte säuerlich, weil Tobias sein Gerät als erster darauf abgestellt hatte. Um die Stimmung nicht noch zu verschlechtern, zog er es auf seinen Schoß.
„Bitte sehr“, murmelte er, entwirrte das Kopfhörerkabel seines IPod und schob sich die Stöpsel in die Ohren.
Eine ganze Weile später tauchte eine Servicekraft der Bahn auf und bot Getränke an. Tobias erwarb einen Kaffee sowie Orangensaft, packte sein Butterbrot aus und vertiefte sich wieder in sein E-Book. Bestimmt arbeitete Mortimer, aber er hatte keine Lust, in dieser unbequemen Lage über Excel-Tabellen zu brüten. Kurzentschlossen hatte er daher einen E-Reader installiert und ein Buch, das er schon lange lesen wollte und das es nicht als Print gab, runtergeladen.
Ein Brotkrümel, der auf der Tastatur landete, veranlasste ihn, eine Pause einzulegen. Schließlich wollte er das Gerät nicht noch mehr einsauen. Verstohlen beobachtete er sein Gegenüber. Mortimers verkniffene Miene war gruselig. Konnte der Typ überhaupt lächeln? Tobias erinnerte sich nicht, ihn je dabei ertappt zu haben.
Nachdem er sein Frühstück verspeist hatte, widmete er sich erneut seiner Lektüre. Der Krimi war mäßig spannend. Tobias fand es doof, wenn er dem Kommissar eine Nasenlänge voraus war. Hielt der Autor die Leser für unterbelichtet? Sowas fand er ebenfalls doof.
Seine Gedanken schweiften ab. Die Sache mit Henri ... sollte er ihr Verhältnis beenden? So toll war der Sex nicht und die Sorge aufzufliegen belastete ihn. Es wäre zwar keine Katastrophe, wenn die Kollegen Wind von der Chose bekamen, aber es roch wie nach oben schlafen. Auf solchen Ruf hatte er absolut keinen Bock.
Als sie Berlin erreichten, war er immer noch unschlüssig. Letztendlich gab es keinen Anwärter für Henris Position, weshalb er es genauso gut weiterlaufen lassen konnte. Da er kein Clubgänger war, gab es für ihn wenig andere Möglichkeiten, seinen Druck abzubauen. Okay, er hatte eine gesunde rechte Hand, doch auf Dauer wurde das eintönig.
Die Wartezeit verbrachten sie schweigend. Mortimer starrte ins Leere, die Stirn in Falten gezogen. Worüber dachte er nach? Tobias wusste gar nichts über sein Privatleben. Vermutlich war er ledig. Jedenfalls wies kein Ring auf eine Verbindung hin. Andererseits trugen heutzutage nicht alle Eheleute einen. Es wäre also durchaus möglich, dass Mortimer verheiratet war.
Auf der Weiterfahrt herrschte - Überraschung! - Stille. Mortimer tippte auf der Tastatur herum und Tobias versuchte, dem Buch ein paar positive Aspekte abzugewinnen. Immerhin gab es wenig Rechtschreibfehler und die Protagonisten waren sympathisch. Letztendlich fing er an quer zu lesen und war kein bisschen erstaunt über die Auflösung des Falles. Wie bereits erahnt, handelte es sich bei dem Täter um den Exmann des Opfers.
Waren verletzte Gefühle beziehungsweise verletzter Stolz nicht die häufigsten Mordmotive? Er überprüfte seine Annahme via Google. Das Ergebnis: Hass, insbesondere Rassenhass war das häufigste Motiv. Ganz falsch hatte er also mit seiner These nicht gelegen. Oft entstand Hass ja durch eine seelische Verletzung. Rassenhass allerdings nicht. Dazu benötigte es schon eines ziemlich kaputten Charakters.
Apropos kaputter Charakter ... er guckte rüber zu Mortimer. Was war bei dem eigentlich nicht in Ordnung? Hatte Mortimer eine Leiche im Keller? Also, keine sprichwörtliche, sondern eine echte. Mörder lächelten garantiert selten. Oder war das ein Klischee? Auf Polizeifotos guckten die zwar immer grimmig, doch das würde wohl jeder tun. Was kümmert dich das?, flüsterte es in seinem Kopf. Soll er doch nach seiner Fasson glücklich werden.
Wohl wahr. Tobias wechselte in den Buch-Shop, um nach weiterer Lektüre Ausschau zu halten. Die Vorschläge des Händlers waren allesamt indiskutabel. Aus Jux, weil ihn sein blonder Kollege dazu inspirierte, tippte er ‚die blonde Stute‘ ins Suchfeld. Die Ergebnisse ließen ihn die Stirn runzeln. Er hatte mit Pferdebüchern gerechnet, nicht mit Einhandlektüre. Da bot ein Autor 25 Seiten für sagenhafte drei Euro an. Das Erstaunlichste war, dass die Leute den Scheiß scheinbar kauften. Wenn’s um Sex ging, setzte bei einigen offenbar der Verstand aus. Noch unterirdischer waren die Artikel, die unter dem Buch als ‚Kunden kauften auch‘ angepriesen wurden. Vom Chef gemolken? Autsch! Zwangsbesamte Lehrerin? Nochmals autsch!
Er schrieb Krimi ins Suchfeld und wählte aus den Angeboten einen, dessen Klappentext vielversprechend klang.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2021
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