eine Anthologie der Homo Schmuddel Nudeln
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Copyright Texte: die Autoren
Foto: Stockvektor-Nummer: 115847464 von d-e-n-i-s
Cover-Design: Lars Rogmann
Korrektur: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Sissi Kaiserlos
Kontakt: sissi-kaiserlos@gmx.de
Das Thema für diesen Band heißt Winter, Schnee und Weihnachten. Alle Autorinnen und Autoren haben das für sich interpretiert, so dass am Ende eine bunte Mischung an Geschichten daraus geworden ist.
Die Einnahmen gehen wieder in voller Höhe an die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz Berlin. Durch die derzeit angespannte Situation haben gerade sie unsere Hilfe sehr nötig, denn es trifft diejenigen, die am Rande unserer Gesellschaft leben und denen die Schwestern helfen, besonders hart.
Unterhaltsamen Lesespaß und eine besinnliche Advents- und Weihnachtszeit wünscht, im Namen aller Autorinnen und Autoren sowie der fleißigen Menschen hinter den Kulissen,
Sissi Kaiserlos im Nudelgewand
November 2021
Barnaby hat sich von Holger getrennt, weil der fremdgegangen ist. An Heiligabend taucht sein Ex als Weihnachtsmann auf. Was für eine blöde Masche!
1.
Trübsinnig guckte Barnaby aus dem Fenster. Vereinzelt schwebte eine Schneeflocke vorbei. Die meisten schmolzen, noch bevor sie auf den Boden trafen. Genauso schnell war seine Partnerschaft mit Holger verpufft. Eben war alles noch okay und dann - zack! - löste sich ihre Beziehung in Scherben auf.
Vielleicht hätte er Holger sagen sollen, dass Treue für ihn unabdingbar war. Vielleicht hätten sie mehr reden sollen, anstatt nur wie die Karnickel zu rammeln. Gut, sie hatten sich schon unterhalten und viel zusammen unternommen. Dass Fremdgehen keine Option war, hatte Barnaby allerdings nicht speziell erwähnt. Er hielt das für selbstverständlich.
Nun, dass Holger anderer Meinung war, hatte er vor einer Woche festgestellt. Als er bei dessen WG-Party auftauchte, ertappte er seinen Ex dabei, eine Mandeluntersuchung mittels Zunge bei einem der Gäste durchzuführen. Holger war derart intensiv beschäftigt, dass ihn ein Mitbewohner auf Barnabys Anwesenheit hinweisen musste. Er war wie erstarrt in der Küchentür stehengeblieben.
Es folgten die üblichen Entschuldigungen. Zu viel getrunken, provoziert worden, nichts zu bedeuten, bla-bla. Das mit dem Besoffen stimmte. Holger konnte sich kaum artikulieren. Barnaby hatte ihm das Freundschaftsbändchen, das er mit gewissem Stolz trug, vor die Füße gepfeffert und die Wohnung verlassen. Die dramatische Geste litt ein wenig darunter, dass sich das leichte Stoffbändchen - ein selbstgemachtes Geschenk von Holger - nicht sonderlich gut pfeffern ließ und er auf dem Weg durch den Flur gestolpert war.
Die Scheiße war auch noch ausgerechnet kurz vor Weihnachten passiert. Es sollte der erste Heiligabend werden, den er in Gesellschaft eines festen Partners verbrachte. Für Barnaby, mit zwölf Waise geworden, hatte das große Bedeutung. In den Pflegefamilien, in denen er die Zeit bis zur Volljährigkeit verbrachte, wurde zwar auch gefeiert, doch das war etwas anderes. Er hatte sie sich nicht ausgesucht. Außerdem hing bei der ersten der Haussegen schief und bei der zweiten fühlte er sich wie das fünfte Rad am Wagen. Vielleicht seine Schuld, weil er sich abkapselte, aber damals konnte er nichts dagegen tun.
Er wandte sich vom Fenster ab und betrachtete den kleinen Weihnachtsbaum, den er mit ein paar billigen Kugeln und Lametta geschmückt hatte. Dass er eine Tanne in seiner Wohnung aufstellte, war eine Premiere. Bisher hatte er das Fest jedes Jahr ignoriert. Der Tag weckte schmerzliche Erinnerungen an seine Mutter.
Mit Holger hatte sich alles so richtig angefühlt. Sechs Monate auf Wolke sieben. Den tiefen Sturz verarbeitete er noch. Am Montag hatte er sich, nach zwei schlaflosen Nächten, zur Arbeit geschleppt, war vom Chef aber gleich wieder nach Hause geschickt worden. Im Winter war eh wenig zu tun. Die Aufträge für Baumbeschnitt hatten sie bereits erledigt und in den Gewächshäusern trat er sich mit den beiden Kollegen nur auf die Füße, wenn sie sich das bisschen Arbeit teilten.
Sinnend wanderte sein Blick zwischen Balkontür und Tannenbaum hin und her. Sollte er das Ding über die Brüstung werfen? Es würde seiner Stimmung entsprechen, an dem Bäumchen seinen Frust auszulassen. Andererseits hatte es ihm nichts getan.
In der Küche setzte er Wasser für Tee auf. Wie letztes Jahr würde er alle Ice-Age-Teile hintereinander gucken. Alternativ könnte er die Herr-der-Ringe-Trilogie schauen. Heute war ihm das aber zu schwere Kost.
Mit Pfefferminztee und Zwieback - sein Magen rebellierte seit der Party - machte er es sich auf der Couch gemütlich. In Kürze würde der alljährliche Bescherungstourismus losgehen; dann herrschte im Treppenhaus Trubel, wenn mit Geschenken bepackte Großeltern eintrafen. Obwohl sich die Nachbarschaft größtenteils aus Muslimen zusammensetzte, wurde das Fest in den meisten nach deutscher Sitte gefeiert.
Barnaby schlürfte ein bisschen Tee, schnappte sich die Fernbedienung und startete den ersten Film. Kaum flimmerte die Anfangssequenz über die Mattscheibe, ertönte seine Türglocke. Da hatte bestimmt jemand den falschen Klingelknopf benutzt.
Nach dem vierten Läuten hatte er die Schnauze voll. Genervt marschierte er in den Flur und griff nach dem Hörer der Gegensprechanlage: „Ja?“, bellte er hinein.
Nichts, dafür klingelte es erneut. Also stand jemand vor der Tür. Er knallte den Hörer zurück auf die Gabel und riss die Wohnungstür auf.
Im Treppenhaus stand ein Typ in voller Weihnachtsmannmontur, einen Sack über der Schulter. „Ho-ho-ho! Von draußen vom Walde, da komm ich her. Ich bringe dir neue, gute Mär ... ähm ... weiter weiß ich nicht.“
Er erkannte Holgers Stimme, verschränkte die Arme vor der Brust und murrte grimmig: „Was willst du?“
„Es ist Heiligabend. Da kommt üblicherweise der Weihnachtsmann.“
„Du bist kein Weihnachtsmann.“
Holger spähte an sich runter. „Doch.“
„Geh woanders Leute beglücken.“ Barnaby warf die Tür ins Schloss.
Es wunderte ihn nicht sonderlich, dass sogleich ein Klopfen ertönte. „Barny, bitte! Ich muss mit dir reden“, drang Holgers Organ durchs Holz.
„Es ist alles gesagt!“
„Bitte!“
Da er keine Szene wollte, öffnete er die Tür und ließ Holger in den Flur. Nachdem er sie wieder geschlossen hatte, verschränkte er erneut die Arme vor der Brust. „Sag, was du zu sagen hast und dann verschwinde.“
„Der Kuss hat nichts bedeutet. Ich war total blau und Frank hat das ausgenutzt.“
„Das hatten wir schon.“
„Es wird nie wieder vorkommen.“
„Du kannst jetzt rumzüngeln, mit wem du willst. Wir sind nicht mehr zusammen.“
„Ich will aber mit dir zusammen sein.“ Holger griff in den Sack und holte ein Päckchen daraus hervor. „Das ist für dich.“
„Nimm es wieder mit. Ich will nichts von dir.“
Aus aufgerissenen, traurigen Augen guckte Holger ihn einen Moment stumm an. „Ich hab es aber extra für dich gemacht.“
„Etwa wieder so ein hässliches Freundschaftsbändchen?“ Das war gemein, weil das Band echt hübsch gewesen war und sich Holger mit dem Knüpfen sehr viel Mühe gegeben hatte.
Sein Ex ließ den Kopf hängen. „Du mochtest es nicht?“
„Doch, schon, aber es ist nun mal vorbei.“ Barnaby öffnete die Wohnungstür. „Und nun geh.“
Holger trottete an ihm vorbei. Sobald sein Ex über die Schwelle getreten war, schloss er die Tür und lehnte sich von innen dagegen. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Mit geschlossenen Augen atmete er ein paarmal tief durch.
Die Konfrontation hatte ihn reichlich Kraft gekostet. Trotz allem war er immer noch in Holger verschossen. Am liebsten hätte er das Friedensangebot angenommen, aber das wäre dumm gewesen. Wer einmal fremdging - auch wenn’s nur küssen war - tat es wieder.
Er begab sich ins Wohnzimmer, ließ sich auf die Couch plumpsen und trank einen Schluck Tee. Dafür, einen Film zu gucken, war er viel zu aufgewühlt. Warum musste sein Scheiß-Ex ausgerechnet heute auftauchen? Morgen wär’s auch nicht besser gewesen, belehrte ihn sein Verstand. Warum musste Holger überhaupt aufkreuzen? Wollte das Arschloch ihm noch zusätzlich wehtun? So ist Holger nicht, flüsterte es abermals in seinem Schädel.
Das stimmte. Holger war ein liebevoller, kluger und aufmerksamer Mann, dazu noch attraktiv und ein Schmusebär im Bett, das musste er gerechterweise zugeben. Es half jedoch nicht gegen Liebeskummer, sich die guten Eigenschaften seines Ex ins Gedächtnis zu rufen. Leider half es genauso wenig, sich den Betrug vor Augen zu führen. Zudem war da die nervende Stimme, die ihm ständig sagte, dass es nur ein Kuss war. Na und? Fünf Minuten später hätte er die beiden garantiert im Bett erwischt.
Die Wände schienen immer näher zu kommen. Kurzentschlossen zog sich Barnaby warm an und entfloh der Enge.
2.
Holgers Mutter pflegte zu sagen: Übermut tut selten gut. Wie recht sie damit doch hatte. Durch seinen Übermut war ihm etwas immens Wichtiges verlorengegangen, nämlich Barnaby.
Bevor sie sich kennenlernten, war er ein überzeugter One-Nighter gewesen. Hätte er pro Fick eine Kerbe in seinen Bettpfosten geschnitzt, wäre das Gestell bald zusammengebrochen. Seit es Barnaby gab, war alles anders. Nach einer Dekade Lotterleben - mit fünfzehn hatte er seine Jungfräulichkeit verloren und anschließend eifrig an seinem Erfahrungsschatz gearbeitet - war er Mr. Right begegnet. Wie konnte er bloß so bescheuert sein, in dieser wichtigen Sache zu versagen?
Während er nach Hause latschte überlegte er, ob ihre Beziehung doch noch zu retten war. Es musste doch einen Weg geben! Seit einer Woche grübelte er und hatte dabei ein besonders schönes Armband geflochten. Viel lieber würde er Barnaby etwas Kostbares schenken, doch dafür fehlten ihm, als armer Student, die Mittel.
In der WG herrschte Totentanz, weil alle Mitbewohner zu ihren Familien gefahren waren. Darauf war Holger nicht neidisch. Das ohnehin kühle Verhältnis zu seinen Eltern hatte unter seinem Outing gelitten. Seitdem vermied er es, sie zu besuchen und sie unternahmen keinerlei Anstrengung, ihn einzuladen.
Er streifte das dämliche Kostüm ab und deponierte es in der Küche, für den Fall, dass jemand es später benötigte. In seinem Zimmer hockte er sich auf den Schreibtischstuhl und starrte Löcher in die Luft. Was hatte ihn nur dazu verleitet, Frank zu küssen? Dein Stolz, du Idiot, flüsterte es in seinem Kopf. Seine Mitbewohner zogen ihn ständig damit auf, dass er nun monogam lebte. Im Suff hatte er sich davon provozieren lassen und bewiesen, dass er immer noch ein toller Hecht war. Eine kindische Aktion. Zwei Leute hatte er damit verletzt: Barnaby und Frank. Letzterer stand auf ihn und war not amused, lediglich für eine Demonstration gedient zu haben. Na gut, Frank war nur verärgert. Barnaby hingegen ...
Seufzend fuhr sich Holger durchs Haar und guckte zum Fenster. Inzwischen war es dunkel. Eigentlich sollte er jetzt händchenhaltend mit Barnaby auf der Couch sitzen und die brennenden Kerzen am Tannenbaum anschauen. Er wusste, wie viel seinem Freund ... Exfreund das gemeinsame Fest bedeutete. Genau darauf hatte er gezählt, als er in der Weihnachtsmannmontur losgezogen war. Tja, dumm gelaufen.
Würde Barnaby versöhnlicher sein, wenn er mit einem Ring auftauchte? Und woher sollte er jetzt einen bekommen? Moment! Es gab Kaugummiautomaten am Bahnhof. Darunter sollte sich doch einer mit dem Gewünschten finden.
Nachdem er seinen Kleingeldvorrat - alle Münzen unter einem Euro warf er in ein Glas - geplündert hatte, brach er auf. Eiligen Schrittes steuerte er den Bahnhof an, wobei er den einen oder anderen Blick in erleuchtete Fenster warf. Überall blinkten bunte Lichter. Er hasste Weihnachten, insbesondere Heiligabend. Sein Alter war an diesem Tag meist besoffen gewesen. Seine Oma, die inzwischen nicht mehr lebte, hatte stets deswegen einen Streit angefangen. Auf den Mist konnte er echt verzichten.
Keiner der vier Kaugummiautomaten beinhaltete Ringe. Es gab einen mit Armbändern, Minitaschenmessern, Hundefiguren und einen mit Kugeln, in denen sich eine schleimige Masse befand. Enttäuscht schaute sich Holger nach weiteren Automaten um, sah jedoch keine. Stattdessen fiel ihm der Kiosk, in dem er häufig Zeitschriften kaufte, ins Auge. Der Laden wurde von einem Mann mit Migrationshintergrund betrieben, was sich im Sortiment spiegelte. Im Schaufenster tummelten sich Wasserpfeifen, hässliche Figuren, grauenvolle Aschenbecher und billige Armbanduhren. Hallo, Vorurteil, rügte er sich im Geiste. Schlechter Geschmack ist nicht auf eine einzige Bevölkerungsgruppe begrenzt.
Er betrat das Geschäft und musterte die ausgestellten Waren. Eine Wand war vollkommen von Zeitungen und Magazinen verdeckt. An der gegenüberliegenden standen ausgesuchte Scheußlichkeiten in den Regalen. Neben ultraschrecklichen Puppen in gigantischen Blister-Packungen gab es genauso schauderhafte Plastikfahrzeuge. Eine Packung mit der Aufschrift Für kleine Prinzessinnen weckte sein Interesse. Darin befanden sich ein Diadem, Armband, Spiegel, eine Halskette und - Hurra! - Ringe. Die ganze Pracht kostete nur 2,99.
Als er die Ware bezahlte, zwinkerte der Ladeninhaber ihm zu. „Last-Minute-Geschenk?“
„Sozusagen.“
„Soll ich einpacken?“
„Danke, nein. Das geht so.“ Er schenkte dem Mann ein Lächeln. „Schöne Feiertage.“
Zurück in seinem WG-Zimmer beäugte er seine Beute genauer. Kleine Mädchen würden sich bestimmt über das Zeug freuen. Es glitzerte und funkelte in rosa und weiß. Vorsichtig öffnete er die Verpackung, um an die beiden Ringe zu kommen. Der eine war mit einem dicken Klunker besetzt, der andere relativ schlicht. Beide steckte er in seine Hosentasche und warf den Rest in den Geschenkesack, in dem noch das Päckchen mit dem Freundschaftsbändchen lag.
Erneut begab er sich auf den Weg zu Barnaby. Wieder hatte er Glück: Als er vor dem Haus ankam, verließ gerade ein älteres Paar das Gebäude. Er schlüpfte hinter ihnen durch die Tür ins Treppenhaus und lief die Stufen in den 2. Stock hinauf.
Auf sein Läuten hin passierte nichts. Holger horchte an der Tür. Stille. War Barnaby weggegangen? Enttäuschung wallte hoch. Mit einem schwermütigen Seufzer ließ er sich auf der obersten Treppenstufe nieder.
Nach einer ganzen Weile - mittlerweile fror er und die Beleuchtung war ausgegangen - wurde die Haustür geöffnet. Schritte auf der Treppe. Hoffnungsvoll spähte er über den Absatz und sah eine Wollmütze, unter der braunes Haar hervorlugte. Er stand auf und postierte sich vor Barnabys Wohnungstür. Eine Hand steckte er in die Hosentasche, um die Ringe zu ertasten, in der anderen hielt er den Sack.
Bei seinem Anblick verfinsterte sich Barnabys Miene. „Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?“, zischte er, drängte Holger beiseite und schloss auf.
„Erst wenn du mir verzeihst.“ Vorsichtshalber stellte er einen Fuß auf die Schwelle, damit Barnaby ihm die Tür nicht vor der Nase zuschlug.
„Vergiss es.“ Barnaby schlüpfte in die Wohnung und verlangte: „Nimm den Fuß da weg.“
„Erst musst du mir zuhören.“
„Was gibt es, das ich nicht schon weiß?“
„Bitte!“
Zumindest hörte Barnaby auf, die Tür gegen seinen Schuh zu drücken. Und nun?
„Ich höre“, brummelte Barnaby.
Und nun? Einer Eingebung folgend ließ sich Holger auf die Knie sinken, wobei er einen der Ringe aus der Hosentasche zog. Als er ihn Barnaby entgegenstreckte stellte er fest, dass es der mit dem Klunker war. Scheiße! Ach, egal, die Geste zählte. Der andere war nicht minder scheußlich.
„Ich will eine zweite Chance. Weißt du, ich liebe dich und ...“ Geräusche im Stockwerk über ihnen ließen ihn innehalten. Jemand kam die Treppe runter.
Barnaby trat zurück und forderte: „Komm rein!“
Juhu! Er durfte in die Burg. Frohlockend marschierte er in die Wohnung.
Barnaby schloss die Tür und sah ihn aus schmalen Augen an. „Wieso küsst du einen anderen, wenn du mich angeblich liebst?“
„Das war Übermut. Ich dachte, ich muss mich beweisen. Du kennst doch meine große Klappe.“
Barnabys Blick wanderte zu dem Ring in seiner Hand. Ein Mundwinkel zuckte. „Wo hast du die Attrappe denn her?“
„Wenn die Läden wieder offen haben, kaufe ich dir einen richtigen.“ Und wenn sein BAFÖG überwiesen wurde. Vorher war das leider nicht drin.
Einige Momente guckte Barnaby ihn prüfend an, dann wurde seine Miene versöhnlicher. „Das brauchst du nicht. Ein Ring bedeutet doch gar nichts.“
„Für mich schon.“
Barnaby nahm ihm den Plastikring ab und streifte ihn über. Wundersamerweise passte der Reif. „Also bin ich jetzt dein Verlobter?“
Holger nickte eifrig.
„Ich werde das Bild einfach nicht wieder los, wie du diesen Typen küsst.“
„Es hat nichts bedeutet. Das war reines Supermann-Gehabe.“
Barnaby schälte sich aus Jacke, Schal und Mütze, warf alles auf die Garderobe und streifte die Sneakers von den Füßen. „Willst du auch einen Tee?“
Erneut nickte er. Als Barnaby in die Küche verschwunden war, zog er ebenfalls Jacke und Schuhe aus, nahm den Geschenkesack, den er dafür abgelegt hatte und ging ins Wohnzimmer. Angesichts des Mini-Tannenbaumes schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Sein innerer Grinch schmolz. Mit Barnaby Weihnachten zu feiern, stellte er sich wundervoll vor. Ursprünglich war geplant gewesen, Ente mit Rotkohl und Salzkartoffeln zu essen. Das hatte es zu Lebzeiten von Barnabys Mutter stets Heiligabend gegeben. Tja ... das fiel dann wohl aus.
Er ließ sich auf der Couch nieder, holte das Päckchen aus dem Sack und legte es unter den Weihnachtsbaum. Sinnend betrachtete er die Packung Plastikschmuck. Sollte er sie ins Treppenhaus legen, für eines der Nachbarskinder? Im Erdgeschoss wohnte eine große Familie, soweit er sich erinnerte drei Mädchen und ein Junge. Ach, das sollte Barnaby entscheiden. Er platzierte das Zeug neben dem anderen Geschenk und faltete den Jutesack zusammen.
3.
Durfte er Holger vertrauen? Sein Herz rief ja, sein Verstand sagte nein. Er würde nie herausfinden, wer recht behielt, wenn er es nicht versuchte.
Vorsichtig balancierte er die vollen Teebecher ins Wohnzimmer, stellte sie auf den Couchtisch und ließ sich in einem der beiden Sessel nieder. Blaue Augen guckten ihn derart hoffnungsvoll an, dass er beschloss, auf sein Gefühl zu hören. „Also gut, du bekommst deine Chance. Aber damit eines gleich klar ist: Sehe ich dich nochmal irgendwo rummachen, war’s das endgültig.“
Holger sprang von der Couch, umrundete den Couchtisch und setzte sich auf seinen Schoß. Im nächsten Moment lagen Lippen auf seinen. Eigentlich ging ihm das zu schnell, andererseits hatte er Holger so sehr vermisst, also erwiderte er den Kuss. Als eine Zungenspitze um Einlass bat, verweigerte er jedoch und bog den Kopf zurück.
„Lass es langsam angehen“, bat er. „Ich muss mich erst an den Gedanken gewöhnen, dass ich nicht mehr sauer auf dich bin.“
„Alles was du willst“, gurrte Holger, strich ihm durchs Haar und hauchte einen Kuss auf seine Stirn.
Ihre Versöhnung wirkte sich positiv auf seinen Magen aus. Plötzlich spürte er unbändigen Hunger, nachdem er in den letzten Tagen unter Appetitlosigkeit gelitten hatte. „Was hältst du von Würstchen mit Kartoffelsalat?“
„Kommt drauf an.“ Holger küsste ihn auf die Nasenspitze. „Dosenwürstchen und Salat aus dem Kühlregal?“
„Natürlich Würstchen vom Schlachter und den Salat machen wir selbst. Kartoffeln hab ich vorhin schon gekocht und gepellt.“ Allerdings hatte er da noch geglaubt, drei Tage davon essen zu müssen. Nun würde es wohl nur für einen Abend reichen.
„Es tut mir leid, dass das mit der Ente und so nicht geklappt hat.“
„Wieso? Die ist im Tiefkühlfach.“ Im Nacken zog er Holger für ein Küsschen heran, schubste ihn von seinen Beinen und stand auf. „Die gibt’s morgen.“
In der Küche verdonnerte er Holger zum Zwiebeln schneiden. Normalerweise übernahm er diesen Part, weil sein Ex-Ex - so nannte man doch Exfreunde, die man zurücknahm, oder? - den Zwiebelsaft nicht ertrug. Er fand aber, dass Holger ein bisschen Strafe verdient hatte.
Während er die Kartoffeln in Scheiben schnitt, schniefte Holger vor sich hin. Die Zusammenarbeit tat gut. Es half Barnaby, die Entwicklung zu verarbeiten. Als er dazu überging, die Salatsauce anzurühren, war er überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Garantien gab’s natürlich keine, aber irgendwie würden sie es schon hinbekommen.
„Ich brauch ein Taschentuch“, jammerte Holger, dem Tränen über die Wangen liefen.
Wortlos stellte Barnaby eine Rolle Küchenpapier auf den Tisch, bevor er mit seinem Tun fortfuhr.
„So hartes Papier für mein zartes Näschen?“, beklagte sich Holger.
„Taschentücher findest du im Bad.“
Grummelnd schlurfte Holger davon, was ihm ein Grinsen entlockte. In Punkto Wehleidigkeit war sein Freund Weltmeister. Freund? Offenbar hatte er sich inzwischen gedanklich auf die Situation eingestellt.
Holger kehrte zurück und schnäuzte sich lautstark. „Soll ich noch was helfen?“
„Du darfst den Tisch decken.“ Er schnappte sich das Brett mit den kleingeschnittenen Zwiebeln und schüttete sie über die Kartoffeln.
Wenig später saßen sie sich am Küchentisch gegenüber. Für jeden gab’s zwei Wiener. Innerlich beglückwünschte sich Barnaby dafür, vier Stück auf Vorrat eingekauft zu haben, wobei ihm erneut die Ente einfiel. Er stand auf, holte sie aus dem Eisfach und legte sie zum Auftauen ins Spülbecken.
Holger, der die Aktion beobachtet hatte, fragte: „Also bin ich auch morgen zum Essen eingeladen?“
„Sofern du heute Nacht keinen anderen als mich küsst ...“ Er setzte sich wieder hin. „Oder hast du für morgen was anderes geplant?“
„Bevor du mir verziehen hast hatte ich vor, Trübsal zu blasen.“
„So, so, blasen“, murmelte er mit einem schiefen Grinsen.
Holger ließ die Gabel sinken und guckte ihn stirnrunzelnd an. „Sagt man das nicht so?“
„Ich hab versucht zu scherzen.“
„Ach so.“ Holger strich mit den Zehen über seinen Fuß. „Nimmst du denn jetzt mein Geschenk an?“
„Bescherung ist nach dem Abendessen.“ Er hatte schon überlegt, was er mit den vor Wochen besorgten Sachen für Holger anfangen sollte. Nun würden sie doch noch ihrem angedachten Zweck zukommen.
Nachdem sie den Tisch abgeräumt und das Geschirr in der Spülmaschine verstaut hatten, holte Barnaby die auch vor Wochen gekaufte Flasche Champagner aus dem Kühlschrank und drückte sie Holger in die Hand.
Im Wohnzimmer zündete er die Kerzen am Weihnachtsbaum an. Während sich Holger um den Schampus kümmerte, kramte er die im Kleiderschrank versteckten Geschenke hervor und legte sie unter den Tannenbaum.
Angesichts der drei Päckchen guckte Holger beschämt. „Ich hab nur das Band für dich.“
„Da steckt doch viel mehr Arbeit drin, als all die Geschenke für dich wert sind.“ Er schlang einen Arm um Holgers Taille. „Tut mir leid, dass ich vorhin sowas Blödes über deine wunderschönen Bändchen gesagt habe.“
Für seine Entschuldigung bekam er einen süßen Kuss. Seufzend zog Holger ihn in eine enge Umarmung und küsste ihn abermals. „Darf ich heute Nacht hier schlafen?“
Diese Unsicherheit war entzückend. „Wenn du die Finger von mir lässt, ja.“
„Gilt das auch für meinen Mund?“
„Küssen darfst du mich.“
„Und was ist mit blasen?“
„Das fällt unter Finger weg.“
„Aber ...“, setzte Holger an, überlegte es sich jedoch und beendete den Satz nicht.
„Wo bleibt der Schampus?“
Nach einem weiteren Kuss reichte Holger ihm ein Glas, nahm das andere und setzte eine feierliche Miene auf. „Danke, dass ich bei dir sein darf.“
Vor Rührung wurde seine Kehle ganz eng. Stumm prostete er Holger zu und nippte am Champagner. Das Zeug prickelte herrlich auf der Zunge. Allmählich kam er in Festtagsstimmung und auch seine Libido regte sich ein bisschen. Seit einer Woche hatte sie geschlummert. Ganz geplatzt war der Knoten aber noch nicht.
Er gehörte zu den Typen, die Sex und Gefühle nicht trennen konnten. Ohne war es für ihn nur schaler Säfteaustausch. Das war wohl auch der Grund, weshalb für ihn Fremdgehen mehr als ein Kavaliersdelikt darstellte. Automatisch projizierte er seine Emotionen auf die seines Partners, hatte ihm Dalina, eine Freundin aus Kindertagen und Hobbypsychologin, vor einiger Zeit erklärt. Davon müsse er sich lösen, lautete ihr Ratschlag. Als ob das so einfach ginge.
„Und ich freu mich, dass du hier bist.“ Er streichelte Holgers Wange und wies mit dem Sektkelch auf die Geschenke. „Fang du an mit Auspacken.“
Holger pflanzte sich auf die Couch, nahm das erste Päckchen auf den Schoß und löste vorsichtig die Klebestreifen vom Geschenkpapier. „Meine Oma hat früher das Papier gebügelt, damit wir es am nächsten Weihnachten nochmal verwenden können.“
„Sehr vorausschauend. Lebt sie noch?“ Er nahm neben Holger Platz.
„Leider nicht. Sie war die einzige vernünftige Person in meiner Familie.“ Behutsam breitete Holger das Papier auseinander und begann zu strahlen. „Wow! Sowas hab ich mir schon immer gewünscht.“
Eine etwas übertriebene Reaktion, denn es handelte sich bloß um eine weiße Unterhose, die mit Elchen bedruckt war.
„Darf ich sie gleich anprobieren?“ Holger öffnete die Plastikhülle und fischte die Pants heraus.
„Erst die anderen Geschenke.“
„Aye-aye!“ Holger stülpte sich die Hose über den Kopf und griff nach dem nächsten Päckchen.
Die Tube Gleitgel mit Vanillekipferl-Duft rief ebenfalls Begeisterung hervor, genau wie die megadicken, kuschligen, rot-weiß geringelten Wollsocken. Abwechselnd schnupperte Holger an dem Gel und rieb die Wange an den Socken.
Amüsiert lächelnd schnappte sich Barnaby sein Smartphone, um ein Foto davon zu machen. Damit könnte er Holger bestimmt irgendwann erpressen. Ach, wahrscheinlich eher nicht, denn seinem Freund war nichts peinlich - fast nichts, korrigierte er im Geiste, als er an die beschämte Miene beim Anblick der Päckchen dachte.
Holger strahlte ihn an. „Danke-danke-danke!“
„Nimm bitte die Mütze ab.“
„Gleich, wenn ich sie anprobiere.“ Holger legte ihm das Geschenk, das er vorhin abgelehnt hatte, auf den Schoß und zeigte ihm eine Blisterpackung, aus der mit Sicherheit der Plastikring stammte. „Du darfst den restlichen Schmuck gern haben oder einer Dame deiner Wahl schenken.“
Kurzerhand holte Barnaby das Diadem heraus und setzte es sich auf den Kopf. „So, Gleichstand.“
Er wickelte Holgers Päckchen aus und beäugte das geflochtene Band. Es war breiter als das Exemplar, das er vorher getragen hatte und bestand aus Garn in allen möglichen Blautönen, seiner Lieblingsfarbe. Herzchen wechselten sich mit Rauten, dem Markenzeichen seines Lieblingsfußballclubs, ab. „Wow!“, flüsterte er gerührt.
„Es gefällt dir?“, erkundigte sich Holger mit verzagter Miene.
„Und wie!“ Er hielt Holger das Bändchen und sein Handgelenk hin. „Bindest du es mir um?“
Die Zunge zwischen die Lippen geklemmt kam Holger seiner Bitte nach. Anschließend küsste er Barnabys Handinnenfläche und schmiegte sie an seine Wange. „Ich lieb dich so sehr.“
Treuherzig guckten blaue Augen ihn an. In seinem Brustkorb entstand Wärme und etwas tiefer flatterten zögerlich erste Falter herum. Holgers sanfter Kuss verstärkte das Kribbeln. Mit geschlossenen Augen genoss er den Moment.
„Hast du mich auch wieder lieb?“, flüsterte Holger eindringlich.
Er nickte. Das Bild, wie Holger den Typen küsste, verblasste immer mehr. „Wolltest du nicht deine neue Pants anprobieren?“
„Au ja! Und die Socken auch!“ Holger sprang auf und eilte aus dem Raum.
Barnaby nutzte die Wartezeit, um die Kerzen zu löschen. Stattdessen knipste er die elektrische Lichterkette an. Das war auch stimmungsvoll und weniger gefährlich.
Lediglich mit Socken und Pants bekleidet kehrte Holger zurück. Diesen Mann konnte nichts entstellen. Selbst mit den dicken Wollsocken wirkte er ungemein sexy.
„Und? Steht sie mir?“ Holger drehte sich einmal um die eigene Achse.
„Du siehst heiß aus.“ Barnaby griff nach dem Gleitgel und sprang auf. „Bestimmt willst du das auch ausprobieren, nicht wahr?“
Holgers Mundwinkel flogen hoch. „Darauf hatte ich gehofft.“
Sprach’s, drehte sich um und marschierte ins Schlafzimmer. Er eilte hinterher. Plötzlich wollte er keine Minute länger darauf warten, endlich wieder Holgers Haut an seiner zu spüren. Auch sein Schwanz meldete gewisse Bedürfnisse an. Das verzehrende Verlangen, das er vor dem ganzen Mist empfunden hatte, war wieder da.
Holger wartete vorm Bett, einen sehnsüchtigen Ausdruck in den Augen. Die Kissen waren aufgeschüttelt, die Decken zurückgeschlagen. Normalerweise scherte sich Holger nicht um sowas. Sein Herz schwoll an vor Liebe.
Er legte die Tube auf den Nachtschrank, stahl sich einen Kuss und streifte hastig seine Klamotten ab. Der Blick, mit dem Holger ihn dabei verschlang, ließ seine Libido freudig aufjaulen. So war es von Anfang an zwischen ihnen gewesen. Sobald der Funke entzündet war, entwickelte er sich im Nu zum Flächenbrand.
Knutschend fielen sie ins Bett. Holgers Hände waren überall. Für ein langes Vorspiel reichte Barnabys Geduld jedoch nicht. Ohne ihre Lippen voneinander zu lösen, streckte er den Arm nach dem Gleitgel aus. Sein Versuch, seinen Ständer damit einzuschmieren, misslang allerdings. Dafür musste er den Kuss unterbrechen. Kaum war es vollbracht, warf er die Tube beiseite und stürzte sich wieder auf Holger.
Als er ihre Körper miteinander verband, setzte sein Verstand aus. Es gab nur noch Fühlen. Im Moment des kleinen Todes sahen sie einander in die Augen. Es war eine Art reinigender Akt, denn als er danach erschöpft neben Holger lag, war jeglicher Groll verschwunden.
Es wurde Barnabys schönstes Fest seit vielen, vielen Jahren. Wenn sie nicht gerade die Laken zerwühlten, kochten sie zusammen, guckten Weihnachtsfilme oder gingen spazieren. Mit jeder vergehenden Stunde war er überzeugter, dass ihnen viele gemeinsame Jahre bevorstanden. Vielleicht sogar ein ganzes Leben.
ENDE
Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.
Victor Hugo
Leichter Schneefall überpudert den Bahnsteig und die wenigen Reisenden, die mit mir hier warten. Tropfen bleiben an meinen Wimpern kleben. Unsicher, ob Niederschlag oder Tränen mir die Sicht verschleiern, beobachte ich die verschwommenen Eiskristalle, die still zu Boden sinken. Eisig, wie sich mein Innerstes anfühlt. Die Hoffnungslosigkeit des Anblicks lässt mich schaudern. Dies hat nichts von winterlicher Schönheit, vom ersten, sonst mit Sehnsucht erwarteten Schnee, sondern erinnert mich an ein bleiches Leichentuch, das die Welt mit Trostlosigkeit überzieht und dessen Kälte meine Seele gefrieren lässt.
Unwillkürlich ziehe ich die Schultern zusammen, trete von einem Fuß auf den anderen und reibe über meine stoppeligen Wangen. Der Frost verwandelt meine Finger in Eiszapfen, wandert von dort in die Brust und sticht schmerzhaft ins Herz. Als eine unpersönliche Stimme verkündet, dass der Zug eine halbe Stunde Verspätung haben wird, zucke ich zusammen. Das verzögert meine Flucht ungewollt.
Mühsam versuche ich die heranstürmende Flut widersprüchlicher Gefühle zu meistern und nicht vor Traurigkeit zu weinen oder meine Wut herauszuschreien.
Neben mir tanzen zwei Mädchen zu Last Christmas von Wham. Sie lachen und freuen sich auf Weihnachten. Mir bleibt nur die Erinnerung an das letzte glückliche Fest.
Jingle Bells mit Jingle Balls …
Verdammt! Wieso hänge ich so an dir? Könnte ich dich doch vergessen und neu anfangen!
Die Musik weckt die Vergangenheit. Vor dem inneren Auge taucht mein dunkelhaariger Freund auf und kommt langsam heran, vollkommen nackt bis auf die Weihnachtsmannmütze. Rot und weiß stehen ihm. Der Fellbommel schaukelt verwegen an seiner Schläfe. Lachend packt Marcel mich, ich lande in einer sinnlichen Umarmung. Erotik liegt in der Luft und verführt die Hormone zum Tanzen.
Meine Haut beginnt zu prickeln, als sei er wirklich da. Die Illusion ist derart echt, dass ich glaube, seinen verführerischen Duft unter einem Hauch Parfüm aufzuschnappen. Hoffnungsvoll fahre ich herum und sinke entmutigt zusammen. Marcel ist nicht gekommen, um mich aufzuhalten. Einsam stehe ich am verschneiten Bahnsteig und warte auf den Zug, der mich endgültig von ihm fortbringt.
Zur Ablenkung drehe ich die Musik lauter. Die In-Ear-Kopfhörer vibrieren. Bässe dröhnen hart in den Ohren wie das rhythmische Hämmern auf einem Amboss, verstärken den Schmerz. Im leeren Magen spüre ich den Takt genauso heftig. Seit Tagen bekomme ich keinen Bissen herunter.
Die letzte Auseinandersetzung fällt mir ein, schlimmer als alle vorangegangenen. Wir sagten furchtbare Dinge zueinander, die mir inzwischen leidtun. Marcel warf mir einen vernichtenden Blick zu und schrie, er wolle mein verdammtes Mitleid nicht. Wütend sagte er, ich solle mich zum Teufel scheren und jemand anderen bemuttern.
Erneut brennen meine Wangen, teilweise vor Scham. Mir wird schlagartig klar, wie recht er hatte! Ich war zu nachsichtig, viel zu gutmütig! Und ich behandelte ihn wie eine zerbrechliche Porzellanfigur, versuchte jeden Schaden von ihm abzuwenden. Natürlich meinte ich es gut. Aber aus dem stärkeren Partner machte ich einen Schwächling, bewies, wovon er selbst überzeugt war. Mit den Hätscheleien verletzte ich ihn vermutlich mehr als sonst irgendwie. Doch das konnte ich damals nicht erkennen. Gekränkt packte ich meine Sachen und verließ den Geliebten.
Nun stehe ich hier am Bahngleis und fühle mich halb verdaut wieder hochgewürgt, unfähig, das bevorstehende neue Leben in Berlin zu beginnen. Schmerzlich vermisse ich den Mann, der mir alles bedeutet, mein Herz wärmt und den Körper zum Glühen bringt. Ich möchte zu ihm, um ihn um Verzeihung zu bitten. Gleichzeitig will ich ihm den Kopf zurechtrücken, um ihn daran zu erinnern, was uns verbindet. Von den widerstreitenden Gedanken und Gefühlen werde ich zerrissen, spüre abwechselnd die winterliche Kälte und die Hitze eines Schmiedefeuers.
Unschlüssig betrachte ich das Bahnticket und fürchte mich vor einer Zukunft ohne Marcel.
Der Titel wechselt und mir läuft es eisig den Rücken hinunter. Sanfte Klavierklänge, dann Amy Lees feinfühliger Einsatz. Ihre Stimme verdeutlicht mir, wie müde ich von den wochenlangen Auseinandersetzungen, Sticheleien und der zur Schau gestellten Reserviertheit meines Partners bin. Unversehens trägt der Song die Vergangenheit herbei. My immortal ist eins meiner Lieblingslieder, weshalb ich von Marcel liebevoll verspottet wurde. Weichgespültes Mädchenzeug passe nicht zu einem Kerl, meinte er und zwinkerte dabei schelmisch. Wie ich seine Katzenaugen vermisse, den verschleierten Blick, wenn er erregt ist, ihr lebendiges Grün, das beim Lachen an Intensität gewinnt.
„Sieh nach, ob ich ein Mädchen bin!“, pflegte ich auf solche Frotzeleien zu antworten.
„Du verhältst dich wie eine Pussy!“, flüstert der Wind. Ich schaue verwirrt umher und erkenne, dass mein Verstand mir Streiche spielt. Doch der Vorwurf ist berechtigt. Statt zu kämpfen, gab ich klein bei und floh.
Die Melodie macht mich melancholisch, die Sängerin klingt klagend und lässt mein Herz unregelmäßig tuckern. Gequält windet sich meine Seele bei der Erinnerung an unser erstes Treffen. Vor über drei Jahren lernten wir uns kennen, bei der Ausbildung zum Metallbauer. Beinah augenblicklich verliebte ich mich in den dunkelhaarigen, muskulösen Riesen, der zum ausgelassenen Leben verführte und mir zeigte, was Liebe bedeuten kann.
Meinen Kelten nannte ich ihn oft, bewunderte den von Tätowierungen gezeichneten Körper, so bildschön wie eine antike Statue. Groß und grünäugig glich er den Kriegern, die Rom die Stirn boten. Neben ihm wirkte ich winzig, fast einen Kopf kleiner, blonde Locken, blaue Augen, dazu ausgesprochen schüchtern. Das störte Marcel nie. Er liebte mich, vielleicht, weil wir kaum unterschiedlicher sein konnten.
Mein Kelte! Die Gedanken wandern zurück. Aus dem lebensbejahenden Gefährten wurde ein störrischer, frustrierter Mann. Ein einziger Augenblick hatte unser Leben vernichtet und meinen Geliebten verändert. Ein unachtsamer Moment …
Amy Lees Stimme wird leiser, kaum noch ein Flüstern. Die Klavierhämmerchen berühren die Saiten zart und entlocken ihnen die letzten Töne. Dagegen pocht mein Herz nun wie ein Schmiedehammer und bringt den Leib zum Glühen. Die Hitze lässt mich die Jacke öffnen. Ich missachte den anerkennenden Blick der Mädchen ebenso wie den stärker werdenden Schneefall. So wie die Entscheidung, von Marcel wegzugehen, mich fast erfrieren ließ, strömt mit dem Entschluss, zurückzukehren, Wärme in meinen Körper.
Unser Leben ist nicht vorbei! Wir sind noch da!
Für diese Erkenntnis benötigte es nur eines winzigen Anstoßes. Die Musik rief die Vergangenheit wach, weckte verdrängte Gefühle daran, wie sehr meine Seele sich nach dem Liebsten verzehrt. Entschlossen stecke ich das Bahnticket weg, kehre dem einfahrenden Zug den Rücken und haste zum Taxistand.
Überrascht blickt Marcels Mutter mich an. Ihre Augen sind gerötet, als hätte sie geweint. Wie so oft in letzter Zeit. Die Folgen des Unfalls machen uns zu schaffen, wir leiden alle.
„Chris!“ Sie umarmt mich und wispert: „Ich bin froh, dass du da bist. Marcel ist oben und lässt niemanden an sich heran.“
Auch das ist inzwischen die Norm. Aus dem offenen Menschen wurde ein verbissener, störrischer Eremit. Die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung trägt er wie einen Schutzpanzer und verkriecht sich darunter.
Seesack und Schuhe lasse ich in der Diele zurück und schleiche die Treppe hinauf. Die Tannengirlande im Flur wirkt trostlos, die angehängten Glocken und Kugeln beinah zynisch. Wir hatten versucht, dieses Weihnachten mit viel Schmuck und Brimborium zu retten und den Untröstlichen mit dem Fest der Liebe aufzumuntern. Zusammen mit Marcels Eltern schmückte ich das Haus. Das sollte eine Überraschung sein und auf die Adventszeit einstimmen. Keiner rechnete mit seiner abweisenden Reaktion. Ich am allerwenigsten.
Enttäuschung und Wut ließen mich jede Nachsicht vergessen. Außer mir schrie ich ihn an. Ein Wort gab das andere.
Auf dem Weg hierher hatte ich mir überzeugende Argumente zurechtgelegt. Nun sind sie fort, begraben unter Aufregung und Furcht. Jeder Schritt beschleunigt den Puls wie ein Sprint, die Kehle wird eng, die Luft knapp. Was, wenn er mich abweist und rauswirft, ohne zuzuhören? Erneut wird mir kalt. Beim Klopfen an die Tür fühlen sich meine Finger taub an. Ich vermag kaum zu atmen.
Drinnen bleibt es still. Bevor mich der Mut ganz verlässt, drücke ich die Klinke herunter und trete ein.
Mit geschlossenen Augen liegt Marcel auf dem Bett. Die Musik im Kopfhörer ist laut genug, um den Titel zu erkennen. My immortal.
Unwillkürlich steigen Tränen auf und ich schlucke krampfhaft. Bei seiner Vorliebe für Deathmetal konnten die melancholischen Klänge nur eines bedeuten: Mein Freund will sich an mich erinnern. Die Trennung quält ihn ebenso, auch wenn er nicht der Typ ist, das zuzugeben. Noch weniger jemand, der den ersten Schritt zur Versöhnung macht.
Ein Kloß im Hals macht mir das Atmen schwer. Wie erstarrt warte ich.
Beim Verklingen der letzten Töne schlägt Marcel die Lider auf, sieht herüber und strahlt mich voller Freude an.
Schon haste ich los, als sein Gesicht abrupt hart wird und die Miene versteinert. Lautlos fluche ich und zucke zusammen.
Eine ungeschickte Bewegung erstickt das Hochgefühl im Keim. Beim Aufstehen vergisst Marcel, das Gewicht auf den linken Arm zu verlagern, stützt sich wie gewohnt rechts ab und knickt weg. Verärgert reißt er die Kopfhörer herunter.
Der Klinkenstecker rutscht heraus und die Boxen der Anlage beginnen unheilvoll zu beben. Sanfte Klänge, ein leiser Chor, Gitarrenriffs folgen. Ville Valo klagt: „Join me in death.“
Mein Magen dreht sich, Eis kriecht durch die Glieder. Wie kann HIMs Frontmann so etwas singen? Ausgerechnet jetzt?
Kurz hält Marcel inne, lauscht, dann schüttelt er den Kopf und fragt wütend: „Wieso bist du hier? Wir sind fertig miteinander. Endlich hast du das kapiert!“ Damit schwingt er die Beine vom Bett, eilt wortlos an mir vorbei und deutet auf die offene Tür. „Verschwinde!“ Er klingt unnahbar und zornig. Beinah entgeht mir das Zittern in seiner Stimme.
Geschockt stehe ich da und fühle mich handlungsunfähig, winzig vor meinem Riesen, hilflos! Merkt er nicht, wie viel er mir bedeutet?
Dumpfe Bässe erklingen. Das dunkle Timbre des Sängers vibriert schmerzhaft im Bauch.
Schrecklich, den geliebten Menschen derart verzweifelt zu sehen. Doch sein selbstmitleidiges Verhalten zu tolerieren, hatte unsere Situation verschlimmert und die Heilung verzögert. Mit Rücksicht erreichte ich das Gegenteil von dem, was ich bezweckte. Immer mehr zog Marcel sich zurück und duldete kaum Intimität. Die Fliege an der Wand brachte ihn in Rage. Wegen seines Handicaps tolerierte ich das aufbrausende Benehmen, bis mir letztlich der Kragen platzte.
„Nein!“ Entschieden trete ich näher, ergreife seinen rechten Arm und halte ihn trotz erbitterter Gegenwehr fest. Seine Miene ist verzerrt, doch ich sehe keine Wut, nur Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. „Hör auf! Du tust uns beiden weh! Wir gehören zusammen. Begreif das endlich!“
Hektische Gitarrenriffs, entfesselte Drums und ein grollender Metallsänger scheinen Marcels Bemühungen zu verstärken. Sein Widerstand wächst. Verärgert schaut er herab, atmet heftig und brüllt, um die Musik zu übertönen: „Kapierst du es nicht? Du bist ohne mich besser dran! Was willst du mit mir?“ Damit reißt er sich los und fuchtelt mit dem Arm vor meinem Gesicht herum.
Marcel ist kräftig, aber ich arbeite seit frühester Kindheit in der Schmiede meines Großvaters. Unnachgiebig packe ich den Armstumpf, ziehe ihn an die Lippen und küsse das Narbengewebe. „Denkst du wirklich, das hier stört mich?“
Seine Abwehr erlahmt. „All unsere Zukunftspläne sind für die Kat’, Chris, die eigene Werkstatt, ein gemeinsames Leben! Ist doch so schon schwer genug für uns. Da kann ich dich nicht mit ’nem Krüppel belasten!“
Mein Geliebter gehört nicht zu den Menschen, die nah am Wasser gebaut sind. Daher sagen mir seine feuchten Augen mehr als die Worte. Das Herz wird mir schwer bei dem Anblick. So gern möchte ich ihn einfach festhalten und trösten. Entschlossen unterdrücke ich diesen Wunsch und frage: „Weißt du noch, als Ronny nach dem Unfall im Rollstuhl landete und seine Freundin ihn verließ? Was hast du damals gesagt? Das würden wir einander nie antun! Du bist mir mit einer Hand mehr wert als jeder andere mit zweien! Du bist mein Kelte, schon vergessen?“
Seine Augen leuchten hoffnungsvoll auf. Genauso abrupt erlischt der Schimmer. „Ich will dir nicht die Zukunft verbauen. Es war immer klar, wenn wir eine Firma gründen, wird es heftig. Mit nur einer Hand … Ich bin der Kräftigere, der fürs Grobe, und ich bin Rechtshänder!“ Resigniert schüttelt Marcel den Kopf, geht zum Bett und lässt sich fallen. Die Hand vors Gesicht geschlagen, versucht er seine Gefühle zu verbergen.
Nach außen hin scheint er der Stärkere, früher stimmte das und ich genoss es, mich darauf verlassen zu können. Aber wieso glaubt er, eine fehlende Hand änderte etwas daran? Sein Durchsetzungsvermögen und das grenzenlose Selbstvertrauen faszinierten mich, nicht die körperliche Kraft.
Zusammen können wir alles erreichen!, lautete Marcels Motto stets.
„Du fürs Grobe?“, erkundige ich mich verärgert. „Wer von uns ist der Bücherwurm? Und wer schraubt lieber an Dingen herum? Wird Zeit, dass du in mir mehr als deine Pussy siehst!“
Mit der Wucht eines Hammers treffen meine harten Worte. Schmerz verfinstert seine Miene, die Lippen zittern verräterisch. „Das habe ich nie, aber …“
„Der fürs Grobe? Weißt du, wie bescheuert das klingt? Sehe ich wie ein Schwächling aus, nur weil ich kleiner bin als du? Oder wie deine Putze? Sollte ich den Haushalt schmeißen? War das dein Plan? Ich hätte nie geglaubt, dass du so ein unsensibler Arsch bist!“ Langsam gehe ich auf ihn zu, abwehrbereit, denn ich erwarte eine heftige Reaktion. Marcels Gemüt glüht heiß wie ein Schmiedefeuer, er ist der Temperamentvollere von uns. Auch jetzt sprühen seine Augen Funken beim Aufspringen. Drohend ballt er die Faust und fährt mich an: „Und nun soll ich deine Pussy sein, oder was? Schürze um, Wäsche waschen, Klo putzen?“
Schürze an! Beim Gedanken daran habe ich Mühe, mir das Lachen zu verkneifen. Mein Riese auf Knien, die sinnliche Kehrseite mir entgegengereckt. Augenblicklich schießt Blut in meine Körpermitte. Vor Verlangen prickelt mein Körper und für einen Pulsschlag wird die Hose unbequem eng. Die sexuelle Anziehung, die von Marcel ausgeht, selbst in dieser Situation, erschreckt mich einerseits, bestätigt aber gleichzeitig, dass ich genau da bin, wo ich hingehöre!
Um mich zu beruhigen, atme ich bewusst und lausche der Stimme von Iced Earth Frontmann Jon Schaffer. E-Gitarren begleiten den rauen Gesang und heben meinen leeren Magen, bis Galle aufzusteigen beginnt. Alle Erregung spült mit ihr davon. Dafür ruft Raven Wing die vergangenen finsteren Monate ins Gedächtnis, den Motorradunfall und den Schock über die schweren Verletzungen. – Marcels Gesicht beim Aufwachen, als er den Verband am Unterarm bemerkt und die Erkenntnis ihn wie ein Vorschlaghammer trifft.
Die Boxen dröhnen.
Angespannt lauscht Marcel und sieht mich dabei direkt an.
Die Musik wird sanfter, melodischer, dann erneut drängender.
„Du bist an meiner Seite“, flüstert er.
„So ist es!“, erwidere ich und nicke zustimmend. „Ich bin für dich da!“
„Aber was kann ich noch tun mit einer Hand? All unsere Pläne …“
Mitleid steigt auf, ich versinke in wundervollen tanngrünen Augen, will ihn halten und ihm Kraft schenken. Mein Leib brennt vor Verlangen nach der Nähe meines Freundes. Ich möchte seine Haut spüren, ihn glücklich machen.
So weit waren wir schon oft!, fällt mir ein. Die Wärme fließt davon und hinterlässt Eiswasser in den Adern. „Scheiß auf alte Pläne, es gibt neue!“, schimpfe ich. „War dein Gerede von Liebe und Gemeinsamkeit, von füreinander einstehen, egal was passiert, nur ’ne Show, um mich rumzukriegen? Kannst du mir nicht vertrauen und dich auf mich verlassen? Suchst du wirklich jemanden, bei dem du dich als Macho aufspielen und alles in die Hand nehmen kannst?“
Wie ein an Land gespülter Karpfen schnappt Marcel nach Luft, schockiert, wütend, verletzt. Die Anspielung auf die Hand rutschte mir heraus, aber ich finde sie im Nachhinein als Weckruf passend.
Unendlich lange Sekunden scheint er zu grübeln. Plötzlich ist er bei mir und hebt mich hoch. „Macho, ja? Du willst Gleichberechtigung? Dann bist du jetzt dran. Nimm mich auf den Arm!“
Die Doppeldeutigkeit bringt mich zum Lächeln. Heute riechst du besonders gut. Die Umarmung fühlt sich wundervoll an, seine erhitzte Haut auf meiner. Ungewollt taucht ein Bild auf: wir beide in der Schmiede meines Großvaters. Im Feuerschein sehe ich Marcels nackten Oberkörper, das Spiel von Muskeln beim Bedienen des Blasebalges und farbige Zeichnungen auf der Haut, die dadurch zum Leben erwachen. Schweiß strömt ihm aus allen Poren und klebt dunkles Haar an Stirn und Wangen. Seine Augen sprühen Feuer. Marcel grinst verwegen, als er zu mir kommt, mich anhebt und auf dem Amboss absetzt. „Lass uns das Eisen schmieden, solange es heiß ist!“, raunt er und meint keinesfalls den glühenden Batzen Erz in der Esse.
Seine Hand gleitet tiefer. Mit dem rechten Arm hält er mich, die Linke greift zwischen uns und streicht fest über die Vorderseite meiner Hose.
Die Erinnerung lässt mich stahlhart werden, entflammen und vor Verlangen verbrennen. Ich will nichts anderes, als ihn entkleidet auf mir spüren.
„Idiot!“, höre ich mich sagen und kann kaum fassen, dass es mir gelingt zu widerstehen. Zur Entschuldigung lege ich ihm die Finger in den Nacken und massiere die verkrampften Muskeln.
Er drückt meinen Leib an seinen und atmet keuchend. „Ich will dich!“
„Ich dich auch!“, gebe ich zu, bitte dennoch schweren Herzens: „Doch jetzt lass mich herunter!“ Die Verlockung einer kurzfristigen Versöhnung in weichen Laken ist mächtig, dort harmonieren wir perfekt. Mein Körper sehnt sich so sehr nach meinem Geliebten, dass es wehtut. Aber ich bleibe standhaft, obwohl die Haut mittlerweile in Flammen steht und meine Wangen wie damals in der Schmiede glühen. Wieder taucht das Bild vor mir auf: Mein Keltenkrieger, groß und tätowiert, wie er mir hastig die Hose herunterzieht.
Angestrengt unterdrücke ich ein verräterisches Stöhnen, ziehe einen Stuhl heran, bedeute Marcel, auf dem Bett Platz zu nehmen und setze mich ihm gegenüber. „Ich würde mich gern verführen lassen, doch zuerst müssen wir reden!“
Eine Weile schweigt er. Sein Blick schweift ruhelos durch den Raum. Schließlich flüstert Marcel: „Ich hab nie damit gerechnet, dass ich mal der Schwächere von uns wäre und auf Hilfe angewiesen bin!“ Die Worte kommen stockend, am Ton höre ich die Bleischwere des Geständnisses. „Das bin einfach nicht ich, und du hast etwas Besseres verdient!“
Sanfte Klänge setzen ein, melodisch. Gitarrenakkorde, die zu schweben scheinen, und eine verheißungsvolle Stimme, die mir Mut macht. Nightwish singt voller Sehnsucht und Hoffnung von der letzten Seefahrt eines alten Mannes. Unsere Reise ist erst am Anfang, deshalb dürfen wir nicht aufgeben! „Wir haben uns das Schicksal nicht ausgesucht, trotzdem müssen wir es akzeptieren.“
„Ich weiß nicht wie.“
„Aber ich!“
Zögernd fragt er: „Was ist mit dem Job in Berlin? Die wollen dir den Meister finanzieren.“
Die Musik beruhigt mich und erstickt den aufkommenden Zorn über Marcels ewig gleiche Sorge. Ist es so schwer zu kapieren, dass ich für dich da bin? Mit einem Kopfschütteln erwidere ich: „Ich will nicht allein dort sein. Soll dein Unfall wirklich unser Leben zerstören?“
„Was willst du mit mir?“ Beinah unhörbar leise klingt die Frage dennoch nach Verzweiflung, Furcht und Pein.
„Leben, was sonst? Ich hab keine Angst vor morgen, solange du bei mir bist. Die Werkstatt war mein Traum, und du wolltest ihn mir erfüllen.“ Beim Gedanken daran kommen mir unwillkürlich Tränen. „Mist! Versteh doch! Du bist mir wichtig! Nicht unser Plan von der eigenen Firma. Meine Wünsche hast du über deine gestellt. Ich hab das nie richtig zu würdigen gewusst! Du hättest alles getan, um mich glücklich zu machen. Wir finden etwas anderes! Wer weiß schon, was vor uns liegt? Das ist kein Grund, uns aufzugeben!“
„Mit nur einer Hand …“
Wieder diese verdammte Unsicherheit in der Stimme. Entnervt wische ich meine Tränen weg. Das fehlt mir noch! Ein erwachsener Kerl, der fast flennt, reicht. Behutsam greife ich seinen Stumpf. „Das macht dich nicht aus. Außerdem gibt es biosensorische Prothesen. Die ersetzen deine Hand nicht, doch sie helfen im Alltag. Du suchst dir was, das dir Spaß macht. Hauptsache, wir zwei sind zusammen!“
„Wie stellst du dir das vor?“ Hoffnungsvoll blickt er mich an. Mit Sicherheit hat Marcel oft genug ähnliche Gedanken gewälzt. Wieso fehlt ihm der Mut zu glauben, dass ich zu ihm stehe?
„Ganz einfach: einen Schritt und dann den nächsten! Ich könnte den Job antreten und uns eine Wohnung in Berlin nehmen. Wir kommen endlich aus dem Kleinstadtmief raus! Großstadt, bunte Lichter, Nachtleben, Bürgersteige, die bis zum Morgengrauen nicht hochklappen.“
Langsam werden die geliebten Züge weicher. Er nimmt meine Hand in seine, fährt mit dem Daumen über den Handteller, so sachte und liebevoll, dass mir erneut warm wird. Schon diese winzige Berührung schürt das Feuer in mir. Manchmal erinnert mich mein Gefährte an Hephaistos, den Gott der Schmiedekunst, heiß und gefährlich.
Marcels Stimme reißt mich in die Wirklichkeit zurück. „Ich hab nie bemerkt, wie viele Schwielen du hast. Du besitzt mehr Kraft, als ich dachte!“
Sehr schmeichelhaft!, überlege ich, lächle dennoch wie eine Katze vorm Sahnetöpfchen und sehe in hoffnungsvolle Augen. „Über meine Schwielen haben weder du noch der kleine Marcel sich je beschwert. Reichlich spät, jetzt damit anzufangen!“
Verlegen grinst er.
Das ermutigt mich, ich will Zuversicht vermitteln. Im Besitz zweier Hände fällt es mir schwer, seine Verzweiflung nachzuvollziehen. Wäre Marcel gestorben, bliebe uns nichts, doch so …! Die Zukunft steht uns offen. „Ich bin stark genug für uns beide, glaub mir!“
Ganz sacht zieht er mich in die Arme, sanfte Küsse wandern über meinen Hals und die Wange. In meiner Halsbeuge verharrt er. Heißer Atem streift meine Haut. „Christoph, ich hab dich gar nicht verdient, ich liebe dich und will, dass du glücklich bist. Mit meiner Angst hab ich fast alles zerstört. Das hast du mir heute klargemacht. Irgendwie habe ich dich nie gesehen, wie du wirklich bist, sondern immer nur meinen kleinen, unglaublich zierlichen Freund und bin automatisch davon ausgegangen, dass ich dich beschützen muss. Das kann ich nur noch marginal!“
„Marginal?“ Das Wort entlockt mir ein Lächeln. Wer, bitte, benutzt solche Begriffe? Das tröstet über das klein hinweg. Insgeheim danke ich dem Schicksal, das ihn zu mir in die Metallbau-Klasse sandte statt an irgendeine Hochschule. Zugegeben spielten da Marcels Eltern eine Rolle, die es für sinnvoll hielten, vorm Studium einen Beruf zu erlernen.
Wir sind total verschieden, fällt mir wieder auf. Während ich am Auto schraubte oder in Großvaters Schmiede hämmerte, hockte er daneben, las oder zeichnete und war mit den Gedanken meilenweit entfernt. Erneut wird mir klar, dass Marcel seine Wünsche zugunsten meines Traumes zurückstellte. Anstatt nach der Lehre zu studieren, erwärmte er sich für die Idee, gemeinsam Großvaters Metallbude zum Leben zu erwecken. „Wird Zeit, dass wir uns der Realität stellen! Ich bin der fürs Grobe“, verkünde ich. „Vielleicht können wir tatsächlich irgendwann etwas Eigenes aufziehen. Doch jetzt hast du die Chance zu tun, was dir wirklich liegt. Mit der Entschädigung vom Unfall und den Beihilfen könntest du zur Uni gehen!“ Sanft streichle ich seinen Rücken, fühle das unterdrückte Zittern, schmiege mich an die breite Brust und höre, wie unsere Herzen im Gleichklang pochen.
„Ich war so ein Arsch!“, flüstert er.
„Jo, jedoch mein Arsch, und den finde ich ziemlich scharf!“
Unsere Körper haben eine eigene Sprache. Ich spüre, wie die Unsicherheit schwindet, nehme den leichten Geruch von Erregung unter dem sinnlichen Duft von Armanis Code wahr. Langsam streiche ich seinen rechten Arm herab. Mir kommt ein Gedanke, den ich ohne zu überlegen ausspreche. „Sieh’s mal positiv, beim nächsten Karneval machst du mir den Piratenkapitän! Ich schmiede dir einen vortrefflichen Haken!“
Im ersten Moment scheint Marcel geschockt, dann lacht er befreit auf. „Du hast sie echt nicht alle, Chris! Es ist nicht in Ordnung, über meine Behinderung Witze zu reißen!“
Erleichtert atme ich auf und erwidere keck: „Sagt der Richtige! Du ziehst mich ständig auf, weil ich einen Kopf kleiner bin, würde mal sagen, damit sind wir quitt! Das da“ – wieder drücke ich den Stumpf an meine Lippen – „ändert gar nichts, denn du bist immer noch der Mann, den ich liebe. Du weißt, was das bedeutet! Viele suchen den Gefährten fürs Leben, ohne ihn je zu finden, aber uns verbindet etwas Besonderes. Wir wollen ein gemeinsames Leben und das werden wir haben! Du bist mein Seelenverwandter!“
„Und du hoffnungslos romantisch!“, versetzt Marcel und gibt den Widerstand endgültig auf. Nachgiebig sinkt er gegen mich und fährt mit der Linken in meinen Hosenbund.
Ich genieße die Berührung einen Lidschlag lang, spüre der Hitze in meinem Unterleib nach, höre die Glocken läuten und weiß, dies wird ein wundervolles Weihnachten. Verlangend streichle ich meinen Geliebten, dann entwinde ich mich ihm. „Warte!“ Hastig wähle ich einen Song aus der Playlist und schließe die Tür ab.
Beschwörende Stimmen, rhythmisches Trommeln, nach und nach erklingen weitere Instrumente, Flöten, Wolfsgeheul. Mein Körper nimmt die Melodie auf, wird von ihr verzaubert und mitgerissen. Jede Faser beginnt sich zu spannen. Zum Takt wiege ich die Hüften, öffne betont aufreizend die Jeansknöpfe, beobachte Marcels Reaktion und kann es kaum erwarten, endlich in seinen Armen zu versinken.
Wie Smaragde funkeln seine Augen und fixieren mich voller Verlangen. Hitze steigt ihm ins Gesicht und rötet seine Wangen. Die Sehnsucht führt ihn schließlich zu mir.
Nach der langen Zeit von Streit und Enthaltsamkeit hebt er mich gierig hoch. Wir verschmelzen, küssen einander und fallen aufs Bett. Hingebungsvoll feiern wir unsere Lust, entkleiden uns gegenseitig, streicheln über muskulöse Körper, genießen mit allen Sinnen, verwöhnen mit Lippen und Zähnen.
Ich der Amboss, er der Hammer. Unsere Liebe, geschmiedet im Feuer von Leidenschaft und Schmerz, ist viel mehr als ein schnell geformtes Werkstück. Sie ist mit Tränen gehärtet, so oft gefaltet wie ein Damaszenerschwert und genauso wertvoll!
Gitarrenklänge und Flöten erklingen, dann dringt Andrea Haugens dunkle Stimme zu mir. Ich erkenne Where the lonely souls go sofort, werde davon entführt und denke mit grimmigem Lächeln: Scheiß auf einsame Seelen. Wir haben uns!
Ich lasse mich verführen und erwidere die Zärtlichkeiten. Dabei verglühe ich in Marcels Armen, brenne wie Kohlen im Schmiedefeuer und kann vor Erregung kaum atmen. Dieser prächtige Leib, eine breite Brust, Bauchmuskeln und ein V, das mir den Weg zum verführerischen Ziel weist. Mein Kelte! Genussvoll fahre ich mit der Zunge bronzene Haut hinab und spüre sein ungeduldiges Zucken.
Der Rhythmus der Musik trägt uns, verschmilzt Seelen und Körper. Wie eine Beschwörung aus alter Zeit schmiedet das Lied uns zu etwas Neuem und Besserem: einer Einheit, die jedes Unbill übersteht.
In meinen Ohren klingelt es leise. Jingle Bells. Marcels Hand streichelt mich. Nicht nur im Advent wünsche ich seine riesige Pranke dort, wo ich am empfindlichsten bin.
Wir feiern das Fest der Liebe – und die Liebe feiert uns.
Im Stillen danke ich Whams leidigem, alle Jahre rauf und runter gedudeltem Last Christmas für die Erinnerung, die mich im rechten Augenblick wachgerüttelt hat.
Was wäre Weihnachten ohne meinen Geliebten?
Meine Hörempfehlung zu dieser Geschichte und gleichzeitig die Titelliste:
Wham: Album „The Final“, Titel „Last Christmas“
Evanescence: Album „Fallen“, Titel „My Immortal“
HIM: Album „Razorblade Romance“, Titel „Join me in death“
Iced Earth: Album „Incorruptible“, Titel „Raven Wing“
Nightwish: Album „Dark Passion Play“, Titel „The Islander“
Adrian von Zieglers „Wolf Blood“ lieferte die Inspiration zum Strip.
Hagalaz Runedance: Album „Frigga’s Web“, Titel „Where the lonely Souls Go“
Mein Buch war endlich beendet und ich hatte es in Druck gegeben. Da die Druckerei, die ich sonst beauftragte, ausgebucht war, musste ich diesmal eine andere nutzen. Deshalb hatte ich vorab ein Autorenexemplar zur Ansicht bestellt. Es war mir lieber, mit der Veröffentlichung noch etwas zu warten, um keine böse Überraschung zu erleben.
Nur wenige Tage später hatte ich dann mein Probeexemplar in der Hand und suchte aufgeregt jeden Zentimeter des Covers nach Fehlern ab. Erleichtert darüber, dass es genauso war, wie ich es mir gewünscht hatte, blätterte ich die ersten Seiten durch. Der Buchtitel stimmte, doch danach passte einfach nichts mehr zu dem, was ich in stundenlanger Schreibarbeit in meinen PC gefüttert hatte. Auch auf den folgenden Seiten konnte ich nichts finden, was auch nur ansatzweise von mir war. Verdammt, was sollte das denn? Frustriert rief ich bei der Druckerei an, um den Verantwortlichen zur Rede zu stellen. Doch wie ich es vermutet hatte, ging keiner ans Telefon, sondern es klingelte viermal und dann ging der Anrufbeantworter an. War ich hier bei jemandem gelandet, der Bücher noch mit der Hand setzte? Ich schimpfte vor mich hin, bis das Signal ertönte, nach dem man endlich sein Anliegen vortragen durfte. Doch auch dazu kam es nicht, da schon auf dem Band erwähnt wurde, die Druckerei sei derzeit unterbesetzt und würde keine Aufträge mehr annehmen. Das war ja alles schön und gut, aber ich wollte mein Buch noch vor Weihnachten auf den Markt bringen. Zu Ostern nützte mir ein Weihnachtsbuch nichts mehr.
Frustriert legte ich mein Handy weg und suchte nach der Visitenkarte. Ich fand sie, schnappte mir meinen Datenstick, die Autoschlüssel und zog mir im Hinausgehen noch Schuhe und Jacke an. Dann würde ich jetzt eben mal zwei Stunden Autofahrt auf mich nehmen, um herauszufinden, wer Carola Rosengold war und warum ihr Back- und Bastelbuch mein Cover und meinen Buchtitel bekommen hatte.
Es hatte zu schneien begonnen und so verzögerte sich die Fahrt noch um eine halbe Stunde. Von außen sah die Druckerei nicht wirklich groß und auch nicht sehr professionell aus. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? So langsam kam ich mir vor, als hätte ich wahllos Adressen von Druckereien auf ein Blatt geschrieben und dann mit einem Pfeil drauf geworfen.
Einen solchen Treffer zu landen, hätte nämlich zu mir gepasst. Kopfschüttelnd musste ich daran denken, wie mein Buch zu seinem Titel gekommen war.
Zu meinem Glück brannte im Innern der Druckerei Licht und die Tür ließ sich öffnen. Etwas unsicher trat ich ein.
„Hallo?“, rief ich, da ich nicht sofort jemanden sah. Es kam keine Antwort und so rief ich noch einmal etwas lauter. „Hallo? Ist hier jemand?“ Es war die typische Szene, wie man sie aus Büchern und Filmen kannte. Doch was hätte ich sonst sagen oder tun sollen?
Auch jetzt kam keine Antwort und so ging ich weiter hinein. Mehrere Druckmaschinen liefen auf Hochtouren, überall waren PCs in Betrieb und irgendwo klingelte unaufhörlich ein Telefon. Es war warm, geradezu heiß hier drin und langsam begann ich zu schwitzen. Ich öffnete meine Jacke, fuhr mir mit den Fingern durch das feuchte Haar und rief dann erneut durch den Raum.
„Ah, verdammt“, fluchte plötzlich jemand unter einem Schreibtisch, der nur wenige Meter von mir entfernt stand. Gleich darauf stand ein Mann, der ungefähr Ende 30 und damit in meinem Alter war, vor mir und rieb sich den Kopf. „Was wollen Sie und wie kommen Sie überhaupt hier rein?“, fauchte er mich an.
Ohne auf seinen Ton zu achten, legte ich das Buch, das ich heute Morgen geliefert bekommen hatte, vor ihm auf den Schreibtisch und ignorierte seine Frage. „Schauen Sie da rein und sagen Sie mir dann, was das hier bitte soll?“
Grau-grüne Augen funkelten mich wütend an, doch dann griff er nach dem Buch. Wir waren gleich groß, auch wenn er sportlicher aussah als ich. In mir steckte einfach der Schreibtischarbeiter.
„H. J. Jähn. Ist das Ihr Name?“, fragte er und besah sich das Cover. Ich nickte und beobachtete ihn genau. „Ein Plätzchen im Herzen“, las er den Titel des Buches vor und ich begann mich dafür zu schämen. Auch jetzt nickte ich nur und wartete darauf, dass er sich das Innere des Buches ansah. Ein zischendes Geräusch war zu hören und dann fluchte er los. „Fuck, das ist jetzt nicht wahr! Wie viele haben sie davon denn schon drucken lassen? Oh Mann, das kostet mich jetzt sicher ein Vermögen.“ Nun klang er nicht mehr wütend, sondern geknickt. Ich hatte hier also den Besitzer der Druckerei oder zumindest einen Verantwortlichen für dieses Missgeschick vor mir.
„Ich habe nur dieses eine Ansichtsexemplar drucken lassen“, erklärte ich. „Ich kannte Ihre Arbeit nicht und wollte auf Nummer sicher gehen“, fügte ich hinzu und sah, wie er sich etwas entspannte. „Wie es aussieht, war das die richtige Entscheidung, da Sie anscheinend nicht mal wissen, welches Cover zu welchem Text gehört“, beendete ich meine etwas forsche Rede.
Sofort strafften sich seine Schultern und er schien zu überlegen, womit er kontern könnte, doch als er merkte, dass ich im Recht war, senkte er den Kopf und atmete tief ein.
„Es tut mir leid, es geht hier schon seit Tagen drunter und drüber“, entschuldigte er sich. „Bis auf fünf Aufträge konnte ich alles absagen.“ Er sah mich hilflos an. „Ich weiß, dass es wie eine billige Ausrede klingen muss, aber ich mache das hier seit Anfang der Woche allein. Mein Partner, Mitarbeiter, was auch immer, hat alles hingeworfen und ...“
Den Rest des Satzes ließ er offen. Es kam mir aber so vor, als würde er mit Partner nicht unbedingt nur das Geschäftliche meinen.
„Ich kann mich nur bei Ihnen entschuldigen und versuchen, das Ganze wieder hinzubiegen. Ich hoffe nur, dass Karlo Rosold nicht auch noch hier auftaucht und sich fragt, warum er plötzlich keine Rezepte, sondern…“ Er brach wieder ab, nahm das Buch erneut in die Hand und las den Klappentext durch. „Eine Weihnachtsromanze?“, beendete er den Satz und sah mich fragend an.
„Ja, es ist ein Weihnachtsschmachtfetzen, na und? Es hat seine Leser und ich bin st…“ Nein, stolz war ich darauf nicht. Dennoch wollte ich diesen Fehler nicht einfach durchgehen lassen. Jetzt war er es, der sich mit der Hand durchs Haar strich, weil ihm der Schweiß über die Stirn lief. Ich hingegen zerfloss schon regelrecht, was sich auch nicht änderte, als ich meine Jacke auszog.
Mein Gegenüber war zu einem Regal gegangen und hatte ein Buch herausgenommen, das er öffnete und erleichtert ausrief: „Ja! Wie es aussieht, hat sich dieser Fehler nur in Ihrem Buch eingeschlichen und Herr Rosold ist verschont geblieben.“
„Es mag ja schön sein, dass es keinen Dritten getroffen hat, aber wie wollen Sie Frau Rosengold klarmachen, dass hinter ihrem Cover zwei Männer nackt unter dem Tannenbaum vögeln?“ Ich hatte es absichtlich so provokant ausgedrückt, da ich nun endlich eine Lösung wollte. Doch als Antwort kam ein Lachen. Ich musste zugeben, dass dieses Lachen entwaffnend war und in einem anderen Zusammenhang hätte ich jetzt vermutlich einen Flirt begonnen, doch jetzt und hier in diesem Backofen war mir eher wie einer Weihnachtsgans als wie einem Gockel auf Hühnerschau zumute.
„Carola Rosengold ist der Künstlername von Karlo Rosold. Der gute Mann hat ein Faible fürs Backen und Basteln und denkt, dass er als Frau mehr verkauft, als wenn auf dem Buchcover ein Männername steht“, erklärte mir mein druckfehlermachender Schönling, immer noch lachend.
„Schön für ihn,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: die Autoren
Bildmaterialien: Shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Bernd Frielingsdorf, Aschure, Sissi Kaiserlos
Satz: Sissi Kaiserlos
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2021
ISBN: 978-3-7554-0092-9
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