Anmerkung: Alle Vorgänge und Umstände sind nach bestem Wissen und Gewissen geschildert. Das Erlernen einer Sprache ist natürlich langwieriger, (außer bei Überfliegern), wurde aber aus dramaturgischen Gründen verkürzt.
Manchmal bereute Joscha seine Entscheidung. Das geschah immer dann, wenn er hasserfüllte Szenen zwischen Flüchtlingen und Helfern beobachtete oder selbst involviert war. Er verstand, dass im überfüllten Lager Emotionen hochkochten und die Hoffnungslosigkeit einen in den Wahnsinn treib. Dafür konnten die, die sich für diese Leute aufopferten, jedoch am wenigsten. Sie fungierten bloß als Blitzableiter.
Er lebte in einem Appartement zusammen mit drei anderen Helfern. Lasse und Kirk teilten sich ein Schlafzimmer, Mario und er benutzten das andere. Bezüglich des Badezimmers kam es gelegentlich zu Engpässen, doch im Vergleich zur Situation der Zeltbewohner war es trotzdem Luxus. Sie hatten weder mit Kälte, Überschwemmungen, dreckigen (infolge der starken Frequenz) Sanitärräumen, Ungeziefer noch Essensmangel zu kämpfen.
Im Gegensatz zu seinen Mitbewohnern war Mario für Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Die anderen drei arbeiteten für den Verein Hilfe für Lesbos und das je für drei Jahre. Ein langer Zeitraum, den er niemals aushalten würde. Die drei Monate, für die er sich gemeldet hatte, reichten ihm vollauf.
Joscha war ein Überflieger. In der Schule hatte er zwei Klassen übersprungen, ein Einser-Abi hingelegt und sein Medizin-Studium mit Bravour abgeschlossen. Sein Vater, in dessen Gemeinschaftspraxis er einsteigen sollte und wollte, war begeistert gewesen, als er den Wunsch äußerte, erstmal eine Auszeit zu nehmen.
Als er von seinen Plänen erzählte, hatte sich das geändert. Seine Eltern versuchten ihn zu überreden, statt des Dienstes an der Front - wie sie seinen Einsatz nannten - eine Urlaubsreise zu unternehmen. Darauf hätte Joscha schon Lust, aber nicht allein. Mit seinen sozialen Kontakten sah es allerdings ziemlich mau aus. Mit einem Streber wollte keiner etwas zu tun haben.
Selbst an der Uni hatte er als Außenseiter gegolten. Das mochte eher an seinem introvertierten Verhalten als seinen guten Leistungen gelegen haben. Mit Mühe und Not war es ihm zumindest gelungen, seine Jungfräulichkeit loszuwerden. Über das Wie dachte er lieber nicht mehr nach. Keine schöne Erfahrung.
Seufzend guckte er aufs Ziffernblatt des Weckers. Erst sechs. Er war schon ziemlich lange wach. In dem Bett an der anderen Wand schnorchelte Mario. Sein Zimmergenosse kannte keine Schlaflosigkeit, der Glückliche.
Joschas Dienst begann um acht. Meist stand um die Zeit schon eine Schlange vor den beiden Zelten, in denen medizinische Hilfe angeboten wurde. Husten, Fieber, entzündete Wunden, Ohren und Augen waren an der Tagesordnung. Besonders zu Herzen ging es ihm, wenn Säuglinge oder Kinder von solchen Krankheiten befallen waren. In einem Fall, in dem er nicht mehr helfen konnte, war der Säugling gestorben. Im Prinzip war das Kind schon fast tot, als man es zu ihm brachte. Den Transport ins nächste Krankenhaus hätte es nicht überstanden. Davon mal abgesehen war die Klinik eh schon restlos überfüllt und das Personal damit überfordert.
Angesichts des Elends wurde Joscha regelmäßig wütend, wenn er Artikel, in denen von Wirtschaftsflüchtlingen die Rede war, las. Oder von deutschen Bürgern, die sich gegen Überfremdung wehrten, weil sie Sorge hatten, etwas von ihrem Wohlstand einzubüßen. Die Menschen im Lager hatten ihre Heimat nicht wegen eines Luxusproblems verlassen, sondern weil ihnen jegliche Existenzgrundlage genommen worden war. Sie mussten außerdem jeden Tag um ihr Leben bangen. Etwas, das auch vielen Deutschen im 2. Weltkrieg passiert war, doch diese Generation gab es ja inzwischen nicht mehr.
Die Lage war heutzutage etwas anders. Im Grund könnte sich ein reicher Staat wie Deutschland leisten, die Flüchtlinge aufzunehmen und mit allem Nötigen zu versorgen. Eine Integration der großen Menge war natürlich schwierig, aber durfte man deshalb Menschen ins Verderben schicken?
Viertel nach sechs. Joscha schlüpfte aus dem Bett, schnappte sich seine Klamotten und schlich ins Bad. Er nutzte die halbe Stunde, bis der erste seiner Mitbewohner aufstand, um ausgiebig zu duschen und sich zu rasieren. Anschließend kümmerte er sich ums Frühstück. Eigentlich war der Küchendienst aufgeteilt, doch wenn er vor den anderen wach war, übernahm er stets diese Aufgabe. Es wäre kleinlich, sich hinzusetzen und zu warten, bis der ursprünglich Eingeteilte auftauchte.
Während er den Tisch deckte, kamen erneut frustrierende Gedanken auf, die er jedoch energisch verdrängte. Seine Mitbewohner hatten ihn mehrfach darauf hingewiesen, dass es kontraproduktiv wäre, seinen Groll zu pflegen. Es brachte nichts und half den Flüchtlingen kein Stück weiter. Zudem vergiftete es die Seele. Er stimmte dem bedauernd zu. Zu einem Weltverbesserer fehlten ihm eh der Elan und die monetären Mittel. Seine Familie war zwar begütert, doch nicht reich genug, um entscheidenden Einfluss auf die Politik zu nehmen. Dafür müsste man schon das Vermögen eines Bill Gates oder Jeff Bezos besitzen.
Mit seinem ersten Becher Kaffee verzog er sich auf den Balkon. Die Sonne hatte sich knapp über den Horizont erhoben. Sie tauchte die Umgebung in ein trügerisch idyllisches, goldenes Licht. Unten, auf der Straße, knatterte ein Mofa vorbei, ansonsten herrschte Stille.
Er trank einen Schluck und ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Die Insel war auf raue Art schön. Schroffe Felsen wechselten sich mit grünen Flächen ab. Es gab einige Sandstrände, verträumte Häfen und Sehenswürdigkeiten. Wenn er den Zweck, wofür er hergekommen war, ausblendete, wäre Lesbos eine Wohlfühloase; das ursprüngliche Griechenland, touristisch nicht überlaufen.
Seit immer mehr Flüchtlinge die Insel bevölkerten, war der Tourismus praktisch vollkommen zusammengebrochen. Joscha konnte verstehen, dass sich die Einwohner mit ihren Sorgen alleingelassen fühlten. Dennoch ging es um Menschen, nicht um Dinge, die man einfach zurück ins Meer warf.
„Ich kann die dunklen Wolken über deiner Stirn sehen“, riss ihn Lasses Stimme aus seinen Gedanken.
„Morgen.“
„Dir auch einen guten Morgen.“ Lasse stellte sich neben ihn, ebenfalls einen Kaffeebecher in der Hand. „Danke, dass du meinen Dienst übernommen hast.“
Joscha zuckte mit den Achseln. „Ich war ja eh auf.“
„Trotzdem.“
Lasse war voll okay, genau wie Kirk und Mario. Er hatte echt Glück mit seinen Mitbewohnern. „Wofür seid ihr heute eingeteilt?“
„Küchendienst, wie üblich.“ Lasse seufzte. „Danach helfen wir bei der Errichtung einer neuen Stromversorgung. Die armen Teufel stehen ja länger Schlange vor den paar Steckdosen, als vorm Buffet.“
Buffet ... ein hochtrabender Begriff für die Essensausgabe. Joscha leerte seinen Becher und ging wieder rein. Inzwischen war auch Kirk auf. Im Bad rauschte die Dusche. In der Küche legte er letzte Hand an den Frühstückstisch und schaute anschließend nach Mario, der im entgegenblinzelte, als er in den Raum kam.
„Muss ich schon wieder aufstehen?“, fragte sein Zimmergenosse.
„Von mir aus darfst du liegenbleiben.“
„Sei doch nicht immer so ernst“, beschwerte sich Mario, gähnte und schlug die Decke zurück.
Angesichts des Zeltes, das die Morgenlatte mit Marios Pants errichtet hatte, drehte Joscha um und kehrte in die Küche zurück. Sie spielten im gleichen Team, doch es gab zwischen ihnen keine sexuelle Anziehung. Überhaupt pennte Joschas Libido seit seiner Ankunft. Wer konnte in Anbetracht des täglichen Elends noch an Sex denken? Er jedenfalls nicht.
Am Frühstückstisch herrschte vorwiegend Schweigen, wie jeden Morgen. ‚Gib mir mal die Butter‘ oder ‚Lass was von der Marmelade übrig‘ lauteten die Standardsätze, die sie wechselten.
Danach brachen Kirk und Lasse auf. Mario verschwand ins Bad, um zu duschen und Joscha räumte den Tisch ab. Sie funktionierten wie eine gut geölte Familie. Es gab selten Streit und wenn, dann war der schnell beigelegt. Beispielsweise hatte Lasse neulich Marios Biervorrat vernichtet. Nach einigen bösen Worten waren die beiden zusammen in die nächste Taverne abgezischt und sternhagelvoll wieder nach Hause gekommen.
Die Sauferei war ein echtes Problem. Joscha hatte sich auch dabei ertappt, regelmäßig nach Feierabend Alkohol zu trinken. Zu Hause tat er das nur zu feierlichen Anlässen. Mittlerweile hatte er sich deshalb ein striktes Limit gesetzt. Mehr als ein Bier oder ein Glas Wein pro Abend waren nicht drin.
Nachdem er sein Bett gemacht hatte - etwas, worüber Mario immer schmunzelte - verließ auch er die Wohnung.
Bis zum Lager waren es zwanzig Minuten Fußweg. Er genoss die kühle Brise, die vom Meer her wehte. Später, wenn die Hitze des Tages alles überlagerte, passte auch sie sich stets der Temperatur an und bot keinerlei Erfrischung mehr.
Vor den beiden Sanitätszelten stand eine Schlange, bestehend aus ungefähr zwanzig Leuten. Joscha musterte sie kurz und war erleichtert, keinen Säugling unter den Wartenden zu entdecken.
Im Zelt begrüßte ihn Mustafa, einer der Assistenten, mit den Worten: „Der Dolmetscher verspätet sich.“
Von den jüngeren Flüchtlingen sprachen viele englisch, doch die ältere Generation beherrschte meist nur wenig Brocken. Wenn es darum ging, irgendwelche Gebrechen zu erklären, war ein Übersetzer unabdingbar.
„Wir fangen trotzdem an“, entschied Joscha. Jede Verzögerung bedeutete, dass noch mehr Leute vorm Zelt standen. Andererseits kämpfte er gegen Windmühlenflügel. Manchmal hatte er den Eindruck, es kamen umso mehr Hilfebedürftige, je schneller er arbeitete.
Um Viertel vor neun - zu dem Zeitpunkt hatte er zwei Patienten versorgt - tauchte Baschar, der Dolmetscher auf. Joscha teilte sich den Mann mit seinem Kollegen, der im zweiten Zelt arbeitete. Im Prinzip hätte man auch jemanden aus dem Camp verpflichten können, doch das ging nicht, wegen der ärztlichen Schweigepflicht und aus Pietätsgründen. Die Patientinnen hatten eh schon Probleme, sich vor einem Fremden zu entblößen. Vor einem Zeltnachbarn - selbst wenn dieser hundert Reihen weiter lebte - wäre es undenkbar.
Zur Mittagszeit ebbte der Strom ab. Wer niemanden hatte, um Essen zu besorgen, musste in die Schlange vor der Feldküche wechseln. Auch die Ärzte legten eine Mittagspause ein. Niemand konnte ohne Verschnaufen den ganzen Tag durcharbeiten. Mit seinem Kollegen Michael begab er sich zu dem Zelt, in dem Mitarbeiter verpflegt wurden. Mustafa hielt unterdessen die Stellung, damit niemand medizinisches Material entwendete.
„Ich komme mir vor wie Sisyphos.“ Michael seufzte. „Gestern hab ich den Finger eines kleinen Mädchens bandagiert, heute kommt es mit der nächsten Verletzung.“
Das Lager war denkbar kinderfeindlich. Holzsplitter, herumliegender Unrat, spitze Steine - alles Gefahrenquellen. „Geht mir genauso. Unsere Arbeit ist eben nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“
Sie bedienten sich am Buffet und setzten sich an einen der Tische. Selten waren alle Plätze besetzt. Viele machten zwischendurch, wenn es gerade passte, Pause. Entsprechend gab es zwischen elf und fünfzehn Uhr ein Angebot an warmen Speisen. Die Anzahl der Helfer konnte Joscha schwer schätzen, da er sie nie auf einem Haufen sah.
Michael stammte aus Würzburg und war Assistenzarzt. Das Jahr auf Lesbos nannte er Sabbatical. Eine passende Bezeichnung, fand Joscha, wurde so doch ein Forschungssemester betitelt. Allerdings bezog sich die Recherche hier eher darauf, wie viel man Menschen zumuten konnte, bevor sie daran zerbrachen; nicht auf neue medizinische Erkenntnisse. Eher eine Art Folter-Forschung.
Als er in sein Zelt zurückkehrte, ging Mustafa zum Mittagstisch. Er nutzte die Zeit, um seine Aufzeichnungen zu vervollständigen. Da einige Patienten keine Ausweispapiere besaßen, musste er sich auf deren Angaben zu Namen, Geburtsdatum und Herkunft verlassen. Egal. Es krähte kein Hahn danach, wen er wann behandelt hatte. Seine Unterlagen dienten lediglich internen Zwecken.
Sobald Mustafa zurück war, ließen sie den nächsten Patienten herein. Ein junger Mann mit verstopftem Ohr. Danach trat eine Frau mit einem Mädchen an der Hand das Zelt. Das Gesicht der Kleinen war über und über mit Schorf bedeckt. Schuppenflechte, erkannte Joscha auf den ersten Blick. In der Zivilisation, wie er die Welt außerhalb des Lagers zynisch nannte, gäbe es einige Therapiemöglichkeiten. Hier, in seinem nur mit dem Nötigsten ausgestatteten Zelt, blieb ihm bloß die Vergabe von Salbe.
Als er das Mädchen genauer unter die Lupe nahm fiel ihm auf, dass deren Mutter extrem kurzatmig war. Bronchitis oder Asthma, diagnostizierte er, ohne seine Untersuchung zu unterbrechen. Wie vermutet, handelte es sich um Psoriasis. Er trug Kortison haltige Creme auf die betroffenen Hautpartien auf und gab der Mutter eine Tube des Präparats. Mithilfe Baschars erklärte er ihr, dass sie die Salbe nur einmal täglich anwenden durfte, um die Haut des Mädchens nicht nachhaltig zu schädigen. Er machte sich keine Illusionen. Nach dem Motto viel hilft viel, würde sie garantiert den Tubeninhalt innerhalb kürzester Zeit aufbrauchen.
Das Bild des Mädchens, mit den großen, dunklen Augen in dem entstellten Gesicht, verfolgte ihn für den Rest des Tages.
Eine Woche später tauchte die Mutter mit dem Kind wieder auf. Das Mädchen sah etwas besser aus, die Frau hingegen wirkte kränker. Sie wollte neue Salbe, woraufhin Joscha ihr welche aushändigte, aber unter der Bedingung, diesmal sparsamer damit umzugehen.
Am folgenden Tag erschien die Mutter erneut, diesmal in Begleitung eines weiteren Kindes und jungen Mannes. Es war offensichtlich, dass sie nicht freiwillig gekommen war. Die Kinder und der Mann drängten sie förmlich ins Zelt. Auf Baschars Frage hin, welcher Art ihre Beschwerden wären, schüttelte sie den Kopf und behauptete, dass ihr nichts fehlen würde.
„She’s very ill“, mischte sich der Mann ein.
Dem musste Joscha leider zustimmen, als er die Frau kurz darauf mit seinem Stethoskop abhorchte. Für eine genaue Diagnose brauchte er allerdings ein Röntgenbild der Lunge. Er bat also Mustafa, einen Termin im Krankenhaus zu vereinbaren. Wie nicht anders zu erwarten, konnte man erst einen in drei Wochen anbieten. Joscha schrieb das Datum und die Uhrzeit auf einen Zettel, den er Baschar gab mit der Bitte, der Patienten dazu alles Nötige zu erklären.
Das Ende von Joschas Einsatz rückte näher und näher. Zu seiner Erleichterung, dem Anblick des Elends zu entkommen, gesellte sich Bedauern, weil er seine Mitbewohner vermissen würde. Sie hatten ihn ohne Wenn und Aber akzeptiert. Vermutlich war diese Toleranz der besonderen Situation geschuldet. Wären sie im Urlaub zusammengetroffen, hätten Lasse und Kirk bestimmt anders auf ihn reagiert. Bei Mario hingegen war er nicht so sicher. Immerhin hatten sie eines gemeinsam.
Vormittags, einen Tag vor seiner Abreise, entstand Tumult vorm Zelt. Baschar ging nachschauen, was die Ursache war und kam mit dem jungen Mann von neulich zurück.
„Seine Mutter ist todkrank“, erklärte der Dolmetscher. „Du sollst sofort nach ihr sehen.“
Rasch instruierte er Mustafa, dem Jungen, den er gerade untersucht hatte, einen Verband um die verletzte Hand anzulegen, schnappte sich seine Arzttasche und folgte dem jungen Mann.
Er hatte es nach Möglichkeit vermieden, durch das Lager zu gehen. Die vielen desillusionierten Mienen, die man dabei sah, schlugen ihm aufs Gemüt. Als er hinter dem Mann hereilte, blendete er seine Umgebung weitestgehend aus. Die Bilder würden ihn sonst nie wieder loslassen.
Der Mann stoppte vor einem Zelt, schlug die Plane beiseite und bedeutete ihm hineinzugehen. Die Frau lag auf einem Lager aus Lumpen. Obwohl er auf den ersten Blick erkannte, dass jegliche Hilfe zu spät kam, zückte er sein Handy und wählte den Notruf.
Während er auf die Ankunft der Ambulanz wartete, entwickelte er sinnlosen Aktionismus. Mithilfe des Mannes legte er ihren Oberkörper frei und horchte sie ab. Ihre Lunge war kurz vorm Kollabieren. Die Frau wirkte fiebrig. Ihre Augenlider hingen halb herab und sie schien nichts zu fokussieren.
„Do anything!“, flehte der Mann.
„Excuse me, but I cannot help her anymore“, antwortete er und bemerkte die beiden Kleinen, die sich in einer Ecke zusammengekuschelt hatten und sein Tun - beziehungsweise Nichtstun - mit großen, ängstlichen Augen verfolgten.
Eine gefühlte Ewigkeit später vernahm er ein Martinshorn. Kurz darauf erschienen zwei Männer mit einer Trage am Zelteingang. Er räumte seinen Platz, damit sie die Frau vom Lumpenlager auf die Bahre verfrachten konnten. Der junge Mann - ihr Sohn oder Gatte - warf den Kindern ein paar Worte zu, woraufhin sie aufstanden und sich zu ihm gesellten. Zu dritt folgten sie den Sanitätern nach draußen. Joscha verließ ebenfalls das Zelt.
Am Rettungswagen entstand eine Diskussion. Der Mann verlangte, mitsamt den Kindern mitfahren zu dürfen, was die Sanitäter verwehrte. Als es zu einem Handgemenge kam, stellte Joscha seine Tasche ab und ging dazwischen.
Die Sanitäter schlossen die Türen, stiegen ein und brausten davon. Der Mann und die Kinder guckten dem Wagen mit waidwundem Blick hinterher. Es musste unvorstellbar grausam sein, in der Fremde ein Familienmitglied zu verlieren, zumal so ein wichtiges. Die Kinder schätzte Joscha auf vier bis sieben Jahre. In dem Alter brauchte man seine Mutter. Ach, die brauchte man eigentlich immer. Seine mochte er auch nicht missen.
Er hob seine Arzttasche auf und stellte sich neben die drei. „As soon as I hear something, I will inform you.“
Keine Antwort. Der Mann ließ den Kopf hängen, genau wie die Kleinen. Da seine Patienten warteten, murmelte Joscha: „Good luck“, und begab sich zurück zu den Sanitätszelten.
Die Nachricht, dass die Frau verstorben war, kam kurz nach der Mittagspause. Gegen alle Vernunft hatte Joscha auf eine positive gehofft. Wer sollte es den Hinterbliebenen mitteilen? Hilfesuchend schaute er von Mustafa zu Baschar, mit denen sich während ihrer Zusammenarbeit eine wortlose Kommunikation eingestellt hatte.
Letzterer seufzte. „Ich gehe hin und sage es ihnen.“
Dankbar nickte er Baschar zu und wandte sich wieder an seinen aktuellen Patienten, einen älteren Herrn mit Rheuma. Wie für viele Gebrechen war auch für dieses das Lager reines Gift. Er gab dem Mann ein paar Tabletten, die die Gelenkentzündungen hoffentlich zurückdrängten.
Bei jeder Gelegenheit dachte er an die Hinterbliebenen der Verstorbenen. Was geschah mit den armen Kindern? Konnte sich der junge Mann ausreichend um sie kümmern? Wer bezahlte die Beerdigung? Die Leiche merkte es zwar nicht mehr, wenn man sie einäscherte und ohne Trauerfeier beisetzte, aber für die Angehörigen war so etwas schlimm. Jeder sollte die Gelegenheit bekommen, sich ordentlich von einem geliebten Menschen zu verabschieden.
Nach dem letzten Patienten verabschiedete er sich von Baschar und Mustafa. Seine Stelle würde in wenigen Tagen ein neuer Kollege übernehmen. Anstatt seine Schritte heimwärts zu lenken, zog es ihn in eine andere Richtung. Wieder versuchte er, keine Blicke nach links und rechts zu werfen, als er durch die Zeltreihen marschierte. Vor der Behausung, in der er die Verstorbene vormittags zuletzt lebend gesehen hatte, stoppte er und spähte hinein. Der Mann und die Kinder hockten darin.
„Hallo“, machte er auf sich aufmerksam, woraufhin sich drei Paar Augen auf ihn richteten. „Mein aufrichtiges Beileid. Es tut mir leid, dass ich nichts mehr für sie tun konnte.“
Als der Mann die Stirn krauste fiel ihm auf, dass er deutsch gesprochen hatte. Er wiederholte den Satz auf Englisch.
„Thank you“, murmelte der Mann.
„I wish you all the best. Good bye“, verabschiedete er sich, drehte um und eilte den Weg, den er gekommen war, zurück.
Idiot! Von deinem Beileid können sich die drei nichts kaufen!, schimpfte eine Stimme in seinem Kopf. Leider hatte sie recht, aber was sollte er sonst tun? Sie mit nach Deutschland nehmen? Ha-ha! Guter Witz! Wieso nicht?, flüsterte es in seinem Schädel.
Im Sanitätszelt war Mustafa noch am Aufräumen. Joscha suchte das Blatt mit den Angaben zur Verstorbenen sowie deren Tochter aus seinen Unterlagen, faltete sie, steckte sie ein, wünschte Mustafa einen schönen Abend und trat den Heimweg an.
Zur Feier seines Abschieds - normalerweise aßen sie abends nur Brot oder eine Kleinigkeit außer Haus - hatte Lasse gekocht. Es gab geschmorte Auberginen mit Hackfleisch und Tomatensauce, dazu Reis und Retsina.
Joscha war von der lieben Geste gerührt, doch es fiel ihm schwer, sich auf ihre Unterhaltung zu konzentrieren. Ständig musste er an die trauernden Kinder und den Mann denken. Nach seiner Einschätzung war letzterer ungefähr zwanzig, plus-minus zwei Jahre. Die Verstorbene war 1984 geboren. Der Mann könnte also eher ihr Sohn statt Gatte sein.
„Leidest du schon unter Trennungsschmerz?“, scherzte Mario und stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite.
„Der hält sich in Grenzen.“ Joscha seufzte. „Weiß einer von euch, was mit toten Lagerbewohnern passiert?“
Lasse und Kirk schüttelten den Kopf.
„Die werden vermutlich eingeäschert und so billig wie möglich begraben“, meinte Mario. „Fragst du wegen der Frau, die es heute erwischt hat?“
Joscha nickte. „Sie litt unter Asthma. Ich hatte sie ans Krankenhaus überwiesen.“
Lasse winkte ab. „Vergiss es. Die sind da heillos überlastet.“
„Sie hat kleine Kinder.“
Seine Mitbewohner wurden schlagartig ernst. Wenn es um die Kleinen ging, waren sie alle gleich sensibel gestrickt.
„Mit viel Glück bringt man sie hier weg, damit sie betreut werden“, ergriff Kirk das Wort.
„Es gibt da wohl einen volljährigen Sohn“, entgegnete Joscha.
„Dann passiert nichts.“ Mario beäugte die letzte Aubergine. „Will die noch jemand?“
Pünktlich um acht hob am nächsten Morgen das Flugzeug mit Joscha an Bord ab. Er war müde, weil er sich die halbe Nacht schlaflos hin und her gewälzt hatte. Die Kinder gingen ihm nicht aus dem Kopf. Der Älteste - inzwischen war er überzeugt, dass es sich um den Sohn handelte - war doch bestimmt damit überfordert, die beiden Kleinen großzuziehen. Das wäre selbst unter normalen Umständen schwer, doch im Lager ... er wollte um keinen Preis tauschen.
Während er in Athen auf seinen Anschlussflug wartete, dachte er über mögliche Optionen, den Kindern zu helfen, nach. Care-Pakete? Die kamen vielleicht nie an, weil sie vorher von jemandem abgefangen wurden. Außerdem war es ein Tropfen auf den heißen Stein. Was nützte es, Klamotten und Nahrung zu schicken, wenn den Empfängern eine Perspektive auf ein besseres Leben fehlte?
Obwohl er wusste, dass es Schwachsinn war, fühlte er sich für den Tod der Frau verantwortlich. Er hätte ihr nicht helfen können, selbst wenn ihm ihr Zustand eher bekannt gewesen wäre. Auf Lesbos mangelte es nun mal an medizinischen Kapazitäten. Er könnte aber dem Mädchen helfen. Es brauchte nicht sein Leben lang entstellt herumlaufen. Überhaupt könnte er den dreien helfen, über den Verlust der Mutter hinwegzukommen. Also, nicht er direkt, sondern ein Therapeut.
Endlich, um 13 Uhr, wurde sein Flug aufgerufen. Er begab sich zum entsprechenden Gate und checkte ein. Vier Stunden später landete er in Hamburg-Fuhlsbüttel. Zu seiner Überraschung wurde er von seinen Eltern empfangen. Normalerweise wäre sein Vater um diese Zeit noch in der Praxis. Seine Mutter arbeitete mittlerweile nur noch stundenweise in der Anmeldung der Gemeinschaftspraxis und das auch bloß, wenn jemand ausfiel.
„Gut siehst du aus.“ Jovial klopfte sein Vater ihm auf die Schulter.
Seine Mutter begrüßte ihn mit Küsschen und fester Umarmung. Sie duftete wie immer nach Maiglöckchen. „Du bist dünn geworden.“
Tatsächlich hatte er ein paar Kilo verloren. „Ich finde, das steht mir.“
Sie schüttelte lediglich missbilligend den Kopf.
Auf der Heimfahrt erzählte er von den Vorkommnissen der letzten Tage. Sein Vater, der hinterm Steuer saß, hörte bloß zu. Seine Mutter stellte die eine oder andere Frage und meinte, als er geendet hatte: „Die armen-armen Kinder.“
„Ich wünschte, ich könnte etwas für sie tun“, erwiderte Joscha.
„Du kannst nicht die ganze Welt retten. Drei Monate hast du schon für den guten Zweck geopfert. Das reicht doch erstmal.“
Seine Eltern wohnten im gleichen Haus wie er. Sie residierten im Erdgeschoss auf 200, er im 1. Stock auf 120 Quadratmetern. Das Gebäude gehörte ihnen und hatte früher auch die Praxis beinhaltet. Wegen der Aufnahme von zwei Partnern musste sein Vater in größere Geschäftsräume umziehen, die idealerweise nur zwei Straßen entfernt lagen.
„In einer halben Stunde gibt’s Abendessen“, verkündete seine Mutter, als sie das Treppenhaus betraten.
„Aye-aye“, murmelte er.
Er beneidete keinen der Mieter, die in den oberen Etagen wohnten. Wegen der hohen Decken musste man etliche Stufen mehr als in Neubauten bewältigen. Auf diese Weise fühlte sich der 1. Stock wie der 2. an. Dass die Wohnung unterm Dach dennoch dauerhaft vermietet war, lag bloß an der noblen Gegend. Leute nahmen einiges auf sich, um in Eppendorf zu leben.
Nach den drei Monaten auf kleinem Raum mit drei Mitbewohnern kam ihm sein Zuhause dreimal so groß vor. Es war für eine Einzelperson völlig überdimensioniert, dazu merkwürdig aufgeteilt. Der Eingangsbereich bestand aus einem großen Raum, neben dem die Küche und eines der drei Badezimmer lagen. Geradeaus führte ein Torbogen in den Flur, durch den man in die zwei weiteren Bäder sowie drei Zimmer gelangte. Ideal für eine Wohngemeinschaft, aber für diese Klientel - zumeist Studenten - war das Vierteil zu teuer.
Er holte die Schmutzwäsche aus seinem Gepäck und stopfte eine Ladung in die Waschmaschine, bevor er sich wieder nach unten begab.
Im Anschluss an das Abendessen verzog er sich mit seinem Vater in die Bibliothek. Es handelte sich um ein Arbeitszimmer, in dem - neben der üblichen Einrichtung - ein antiker Bücherschrank stand. Diesem verdankte der Raum die hochtrabende Bezeichnung.
Sein Vater steuerte die Bar, die in einem Globus untergebracht war, an. „Auch einen Cognac?“
„Ja, bitte.“ Joscha ließ sich in einem der zwei Sessel, die vorm Schreibtisch standen, nieder.
Sein Vater reichte ihm einen Cognacschwenker und nahm, den anderen in der Hand, im Schreibtischsessel Platz. „Nun erzähl mal: Wie hat es dir wirklich gefallen.“
Anscheinend ging sein Vater davon aus, dass er seiner Mutter in ihren regelmäßigen Telefonaten eine geschönte Version untergejubelt hatte. „Es war toll, ein bisschen helfen zu können.“
„Aber auch frustrierend, nicht wahr?“
Joscha nickte. „Es ist zu wenig. Selbst wenn man rund um die Uhr arbeiten würde, wäre es immer noch nicht genug.“
„Und wenn man bedenkt, wie viel Geld die Griechen von der EU erhalten haben, ist es eine Schande, dass ehrenamtliche Helfer einspringen müssen.“
„Man munkelt, dass man die Flüchtlinge absichtlich im Elend leben lässt, damit nicht noch mehr kommen.“
„Davon hab ich auch gehört. Der Mensch ist das schlimmste Monster auf Erden.“ Sein Vater seufzte und nippte am Cognac.
„Ich würde die drei Kinder gern herholen.“
„Hast du gründlich darüber nachgedacht?“
„Hab ich.“
„Schlaf bitte eine Nacht darüber. Du würdest dir große Verantwortung aufladen.“
„Das ist es wert.“
„Trotzdem solltest du das Für und Wider gründlich erwägen. Wenn du sie erstmal hier hast, wirst du sie nicht wieder los.“
Seine Entscheidung stand trotzdem fest. Vor allem mussten sie schnell handeln. Jeder Tag zählte. „Wenn ich morgen immer noch von meiner Entscheidung überzeugt bin: Wirst du mir helfen?“
„Selbstverständlich.“ Erneut setzte sein Vater das Glas an die Lippen.
„Papa?“
„Mhm?“
„Du bist der Beste.“
Sein Vater schmunzelte. „Ich weiß.“
Fünf Tage später saß Joscha wieder im Flugzeug, diesmal in Begleitung von Doktor Ferdinand Morgenstern. Der Mann war Rechtsanwalt, Patient seines Vaters und diesem etwas schuldig. Worin die Schuld bestand, entzog sich seiner Kenntnis. Er hoffte sehr, dass es sich nicht um krumme Machenschaften, wie die Beschaffung einer Spenderniere oder ähnliches, handelte.
Ferdinand - sie hatten sich gleich aufs du geeinigt - besaß weitreichende Beziehungen und unerschütterliches Selbstvertrauen. „Wir kriegen deine Leute innerhalb von einem Tag da raus“, lauteten seine Worte zur Begrüßung.
Kaum war die Maschine gestartet, hatte sich Ferdinand bequem zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Joschas vergebliche Versuche, etwas zu lesen, wurden von einem leisen Schnarchen begleitet. Er wünschte, er könnte sich auch entspannen. Die Nächte seit seiner Rückkehr war er von Alpträumen heimgesucht worden. Mal brannte das Lager und die drei Kinder kam im Feuer um, mal hatte man sie in ein Boot gesetzt, um sie nach Hause zu schicken.
Wie es auch Australien praktizierte, war Griechenland dazu übergegangen, Flüchtlinge postwendend wieder aufs Wasser zu setzen. Als ob jemand, der verzweifelt genug war, sein Heim zu verlassen, schnurstracks dorthin zurückkehren würde, nur weil man ihm ein Schiff zur Verfügung stellte. Manche Leute hatten echt merkwürdige Ideen. Leute, die sowas beschlossen, sollten an der Front für die Umsetzung sorgen. Das würde so manchen Schwachsinn beenden.
Kurz vor der Landung in Athen wachte Ferdinand auf. Zum Glück startete der Anschlussflug in zwei Stunden, so dass sie nicht ewig auf dem Flughafen herumhängen mussten. Auf der letzten Tour hatte Joscha vier Stunden Wartezeit dort verbracht.
Er setzte sich mit Ferdinand, der sogleich ein Notebook auspackte, in eine der Bars und bestellte für sie Kaffee.
„Also ...“, ergriff Ferdinand das Wort. „Was haben wir an Fakten, ausgenommen den Daten der Verstorbenen und deren Tochter?“
„Der eine Sohn ist zwischen sechs und acht Jahre alt. Den anderen schätze ich auf achtzehn bis zweiundzwanzig.“
Ferdinand lüpfte eine Augenbraue. „Sicher, dass es nicht der Stiefvater der Kinder ist?“
Joscha schüttelte den Kopf. „Allerdings wäre das ein ungewöhnlicher Altersunterschied.“
„Und es ist nicht anzunehmen, dass die Mode, sich einen Toy-Boy zu halten, bei den syrischen Frauen schon angekommen ist“, ergänzte Ferdinand mit einem schiefen Grinsen.
Darüber musste Joscha auch lächeln.
„Erinnerst du dich an die Namen der beiden?“, fuhr Ferdinand fort.
Er runzelte die Stirn. War je ein Name gefallen? Wenn ja, erinnerte er sich nicht daran. Er schüttelte also den Kopf.
„Es sieht so aus ...“ Ferdinand nickte dem Kellner, der zwei Kaffeebecher auf den Tisch stellte, zu und schnappte sich einen davon. „Wir holen die drei mit einem Besuchervisum da raus. Wenn sie erstmal in Deutschland sind, überlegen wir die weiteren Schritte. Möglicherweise braucht der Älteste eine Fake-Gattin. Vielleicht lässt man ihn aber auch als Begleitperson für die unmündigen Kinder durchgehen.“
Fake-Gattin? Hatte Ferdinand davon einige in petto? Egal. Darum konnten sie sich später kümmern. „Was meinst du, wie schnell wir die drei außer Landes bekommen?“
„Sofern die Kinder einverstanden sind, dürfte das im Handumdrehen gehen.“
Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Was sollte er tun, wenn die drei auf Lesbos bleiben wollten, in der Nähe der toten Mutter? Darauf wusste er keine Antwort.
Den Rest der Wartezeit hackte Ferdinand auf die Tastatur des Notebooks ein. Joscha nutzte das, um seinen Gedanken nachzuhängen. Sobald sie die drei nach Deutschland geschafft hatten, wollte er für das Mädchen eine Therapie buchen. Sein Vater meinte, dass eine Kombination aus Salzwasser und UV-Licht am vielversprechendsten wäre. Er hatte bereits recherchiert, wo man sowas anbot. Außerdem brauchten die drei bestimmt weitere Unterstützung, um den Tod der Mutter zu verarbeiten. Da wäre jedoch die Sprachbarriere. Für den Großen könnte er bestimmt einen englischsprachigen Therapeuten finden, aber für die Kleinen wurde es schwierig. Die Anzahl Ärzte, die des Syrischen mächtig waren, dürfte äußerst begrenzt sein.
Den Flug nach Lesbos nutzte Ferdinand für ein weiteres Nickerchen. vom Flughafen nahmen sie ein Taxi nach Mytilene, wo Joscha Hotelzimmer reserviert hatte. Von dort waren es nur wenige Minuten mit dem Auto nach Kara Tepe.
Nachdem sie ihr Gepäck abgestellt hatten, fuhren sie weiter zum Camp. Joscha stand in telefonischer Verbindung mit seinen Ex-Mitbewohnern, die ihnen helfen würden, Kontakt zu den drei Kindern aufzunehmen. Als Außenstehende durften sie ja nicht einfach ins Lager gehen, deshalb war das überaus hilfreich.
Vorm Camp stiegen sie aus und näherten sich dem Zugang, der von zwei Wachen im Auge behalten wurde. Den einen kannte Joscha und grüßte ihn mit einem Lächeln, woraufhin der Mann erfreut grinste und auf Englisch sagte: „Hi. Lange nicht gesehen.“
„Ich hatte Urlaub“, log er.
„Wer ist deine Begleitung? Auch ein Arzt?“ Neugierig musterte der Typ Ferdinand, der einen dunklen Anzug trug.
„Ja, auch ein Doktor, der sich mal umschauen mochte“, flunkerte er erneut.
Sie durften passieren. Das war zwar illegal, aber wen scherte es?
Während sie durch die Zeltreihen gingen bemerkte er, dass Ferdinands Miene mehr und mehr versteinerte. Offenbar ging ihm das Leid, das sie sahen, ebenfalls zu Herzen. So viele hoffnungslose Blicke, so viele Kinder in teils verdreckter Kleidung, die umherliefen. Manche begegneten ihnen aber voller Hass. Ein Mann, der ihren Weg kreuzte, spuckte sogar vor ihnen aus. Vielleicht hielt er sie für Elends-Touristen.
Vor dem Zelt, in dem die Geschwister hausten, saß der kleine Junge. Bei ihrem Auftauchen spannte sich der Bursche sichtlich an und betrachtete sie misstrauisch.
„Hallo.“ Joscha ging vor ihm in die Hocke. „Where is your brother?“
Keine Reaktion. Leider beherrschte er kein einziges Wort syrisch. Die Frau, die vor dem Zelt nebenan saß, ein Smartphone in der Hand, sagte etwas zu dem Jungen, woraufhin der aufstand und durch den Zelteingang ins Innere huschte.
Gleich darauf tauchte der Älteste auf. „What do you want?“
„I’m here do bring you to Germany“, erklärte Joscha.
Argwöhnisch guckte der Mann zwischen ihm und Ferdinand hin und her. „Really?“
„Can we come in?“, erkundigte sich Ferdinand, blickte vielsagend rüber zu der Frau nebenan, die ganz große Ohren bekommen hatte und aufs Zelt.
Mit deutlichem Widerstreben ließ der Mann sie eintreten. Drinnen sah es genauso armselig aus wie beim letzten Mal. Ferdinand ignorierte das und setzte dem Mann leise auseinander, warum sie hier waren. Dessen Miene wechselte von ungläubig zu hoffnungsvoll.
„Do you have passports?“, fragte Ferdinand zum Schluss.
Eilfertig kramte der Mann das Gewünschte hervor. Die beiden Kleinen hielten sich dicht an ihrem großen Bruder. Das Gesicht des Mädchens wies vereinzelt Kratzwunden auf. Bestimmt juckte der Schorf höllisch.
Die nötigen Daten im Gepäck verließen sie das Zelt. Joscha hatte sich Zarifs - so hieß der Älteste - Handynummer geben lassen, damit sie in Kontakt bleiben konnten. Laut Ferdinand dürften sie die notwendigen Genehmigungen rasch erhalten. Man war in Griechenland froh um jeden Flüchtling, der das Land freiwillig verließ und so lange Joscha für seine Besucher bürgte, gab es auch von Deutschland keine Verzögerung zu befürchten.
Zurück im Hotel verabredeten sie, sich in einer halben Stunde zum Abendessen im Restaurant zu treffen. In seinem Zimmer ließ sich Joscha aufs Bett fallen. Wahnsinn! Es schien alles wirklich zu klappen! Er hatte mit allen möglichen Schwierigkeiten gerechnet, angefangen damit, die drei zu finden. Allerdings sollte man den Tag nicht vor dem Abend loben. Wer weiß, was sie noch erwartete?
Bevor sie gingen hatte er gefragt, ob ihre Mutter schon begraben wäre. Zarif hatte mit trauriger Miene die Schultern gezuckt. Inzwischen wusste Joscha, dass es auch in den Leichenhäusern und auf den Friedhöfen Engpässe gab. Es starben so viele Flüchtlinge, dass der Platz nicht mehr reichte. Bestattet wurden sie ohne Zeremonie und mit Grabtafeln, auf denen lediglich Sterbedatum und eine Registrierungsnummer standen. Immer noch besser als Massengräber, trotzdem ... es war für die Hinterbliebenen schrecklich, den Angehörigen auf diese Weise verscharrt zu wissen.
Pünktlich um sieben betrat er das Hotelrestaurant. Ferdinand saß bereits an einem Tisch und winkte, um auf sich aufmerksam zu machen. Joscha gesellte sich zu ihm.
„Ich hab gute Nachrichten“, berichtete Ferdinand. „Morgen früh bekomme ich das Visum. Wir können also morgen Mittag gen Heimat fliegen.“
„Wow! Dann buche ich gleich Flüge.“ Er zückte sein Smartphone.
„Schon erledigt“, winkte Ferdinand ab. „Wir müssen nur noch Gepäckstücke für die Kinder organisieren, damit sie ihren Kram mitnehmen können.“
Joscha schob sein Handy zurück in die Hosentasche. „Du bist unglaublich.“
„Ich hab bloß Vitamin B. Ohne dem geht nichts.“ Ferdinand zwinkerte ihm zu und wandte sich an den Kellner, der an ihrem Tisch aufgetaucht war. „Zwei Gläser Prosecco, bitte, und dann hätten wir gern die Speisekarte.“
„Hast du auch schon einen Sprachkurs für die Kinder organisiert?“
„Ich kann doch keine Wunder vollbringen.“
„So, so“, murmelte er grinsend.
Beim Essen erfuhr er, welcher Art der Gefallen war, den sein Vater Ferdinand erwiesen hatte. Zu seiner Erleichterung spielte ein Spenderorgan keine Rolle. Joschas Vater hatte Ferdinand in der schwierigen Situation nach dessen Scheidung geholfen und ihn vor der drohenden Drogenabhängigkeit bewahrt. Weitere Details dazu gab sein Begleiter nicht preis. Die gingen Joscha sowie nichts an. Mittlerweile war Ferdinand über die Trennung hinweg und traf sich mit einer Frau, mit der er eine Familie gründen wollte. Seine erste Gattin hatte Kinder strikt abgelehnt.
„Ich weiß zwar noch nicht, ob ich mit Zwergen klarkomme, aber vielleicht sollte ich mir nicht so viele Gedanken darum machen.“ Ferdinand nippte an dem Espresso, den sie zum Nachtisch bestellt hatten.
„Stimmt. Das lohnt nicht.“
„Hast du dir schon überlegt, was du mit deinem Familiennachwuchs anfangen wirst?“
„Na ja, erstmal das naheliegende. Die Kleine muss dringend in medizinische Behandlung.“
Ferdinand nickte. „Der arme Wurm sieht furchterregend aus.“
Später, als er in seinem Zimmer im Bett lag, konnte er nicht einschlafen. Er hätte den Espresso weglassen sollen. In seinem ohnehin aufgedrehten Zustand war Koffein reines Gift.
Schließlich stand er auf und begab sich auf den Balkon. Vor ihm lag der Hafen. Auf den Schiffen, die an der Mole festgemacht hatten, brannte vereinzelt Licht. Einige Leute schlenderten über die Promenade. Ihr Lachen schallte zu ihm herauf. Angesichts dieser Kulisse war es schwer vorstellbar, dass in nur wenigen Kilometern Entfernung verzweifelte Leute ohne Strom und ausreichende sanitäre Anlagen in ihren Zelten hockten.
Seufzend ging er wieder rein und machte es sich mit einem Buch im Bett gemütlich. Seine Konzentration war zwar mangelhaft, weil seine Gedanken ständig abschweiften, aber er hoffte auf einen einschläfernden Effekt.
Tatsächlich wurde er nach einer Weile müde und löschte das Licht.
Mit vier leeren Koffern und den erforderlichen Dokumenten im Gepäck machten sie sich am folgenden Morgen auf den Weg nach Kara Tepe.
Sie waren einige Minuten gefahren, da richtete Ferdinand das Wort an ihn: „Noch kannst du zurück. Du weißt, dass du dir einen Riesenhaufen Verantwortung aufbürdest, nicht wahr?“
„Damit kann ich umgehen.“
„Ich wollte es nur erwähnen.“
„Ich hab ein gutes Gefühl bei der Sache.“
Ferdinand beließ es dabei und schaute den Rest der Fahrt aus dem Fenster.
Am Eingang zum Camp warteten Mario und Lasse, um ihnen zu helfen. Das hatte Joscha am Vortag mit ihnen verabredet. Diesmal stand ein fremder Wachposten am Tor, der ihre Papiere eingehend studierte, bevor er sie passieren ließ.
Ihnen folgten neugierige Blicke, als sie mit den Koffern durchs Lager marschierten. Abermals saß Malek vorm Zelt. Diesmal sprang der Junge bei ihrem Erscheinen auf und huschte in die Behausung, um mit Zarif wieder aufzutauchen. Beide musterten mit großen Augen die Gepäckstücke.
„Unser Flug geht um zwölf. Wir helfen euch packen“, erklärte Ferdinand auf Englisch.
Es war niederschmetternd, wie armselig die Habe war, die nur drei der Koffer füllte. Kurzerhand schenkte Ferdinand den verbliebenen der Nachbarin. Sie strahlte, als hätte sie ein Diamanthalsband oder ähnlich wertvolles erhalten.
Auf dem Rückweg ging Joscha neben den Kindern, wobei auf den Ältesten diese Bezeichnung nicht mehr passte. Zarif war bereits einundzwanzig.
„Hast du deinen Geschwistern erzählt, wohin die Reise geht?“, erkundigte sich Joscha auf Englisch.
Zarif schüttelte den Kopf.
„Du wolltest erst abwarten, ob wir euch wirklich abholen, nicht wahr?“
Zarif mied seinen Blick und nickte.
„Seid ihr schon mal geflogen?“
Kopfschütteln.
„Dann hoffe ich mal, dass keinem von euch schlecht wird.“ Hör auf, den armen Kerl vollzutexten!, ermahnte er sich im Geiste und wandte sich an Mario, der vor ihm ging: „Wie läuft es bei euch?“
„Geht so. Unser neuer Mitbewohner ist ein Langschläfer. Wir vermissen dich.“
Das ging runter wie Öl, auch wenn es sich wohl nur auf seinen freiwilligen Frühstücksdienst bezog.
„Außerdem ist er eine Quasselstrippe“, fügte Lasse hinzu.
Vor dem Camp wartete das Großraumtaxi, mit dem sie hergefahren waren. Der Chauffeur lud das Gepäck in den Wagen und setzte sich wieder hinters Steuer. Die Kinder nahmen auf den hintersten Sitzen Platz, Ferdinand und Joscha auf der Bank davor. Zum Abschied winkte er seinen ehemaligen Mitbewohnern zu.
Während sie Mytilene ansteuerten, wurde ihm die Tragweite seines Handelns bewusst. Bislang hatte er sich nur Sorgen gemacht, dass die Kinder unauffindbar waren oder eine Einreise nach Deutschland unmöglich. Nun, wo diese Hürden nicht mehr bestanden, konnte er sich auf die nächsten Schritte konzentrieren. Was sollte er tun, wenn sich die Kinder in ihrer neuen Heimat nicht wohlfühlten? Außerdem musste der Junge in die Schule, doch ohne Sprachkenntnisse und mit Gastvisum war das ein Ding der Unmöglichkeit. Immer langsam, Joscha!, ermahnte er sich im Geiste. Eines nach dem anderen.
Am Flughafen ließ Ferdinand sie am Eingang zurück, um einen Gepäckwagen zu besorgen. Die beiden Kleinen drängten sich eng an ihren Bruder und beobachteten die Umgebung mit großen Augen. Vermutlich hatten sie noch nie einen Flughafen gesehen.
Als Ferdinand zurückkehrte, luden sie die Koffer auf den Wagen. Joscha hielt Djamila, die zutraulicher als Malek wirkte, seine Hand hin. Sie schaute zu ihm hoch und als er sie anlächelte, zuckten ihre Mundwinkel kurz nach oben. Ein herzzerreißender Anblick, mit den riesigen Kulleraugen in dem schorfigen Gesicht. Sie schob ihre kleine Hand in seine, woraufhin er mit dem Daumen über ihre Finger strich und ihr erneut ein Lächeln schenkte.
Zarif folgte mit Malek an der Seite Ferdinand. Joscha bildete mit Djamila das Schlusslicht. Nachdem sie das Gepäck aufgegeben hatten, begaben sie sich in den Abflugbereich, in dem es neben einem Duty-Free-Shop ein Café gab.
„Ich gebe eine Runde Getränke aus“, verkündete Ferdinand und steuerte auf das Lokal zu.
Da die Jungs stehenblieben, erklärte Joscha: „Ferdinand zahlt für alle.“
Zarif setzte sich wieder in Bewegung, Malek im Schlepptau. Im Café dirigierte Joscha seine Schützlinge an einen Tisch und fragte, was sie trinken wollten, bevor er sich zu Ferdinand an den Tresen gesellte.
„Wir hätten neue Klamotten für die drei besorgen sollen“, meinte er leise.
„Warum?“
„Dann würden sie weniger deplatziert wirken.“
„Ihre Sachen sind sauber und in Ordnung.“ Ferdinand gab ihre Bestellung auf und wandte sich wieder ihm zu. „Mit fremden Sachen würden sie sich vielleicht noch fremder fühlen.“
Ein gutes Argument.
Gemeinsam verfrachteten sie die Getränke zum Tisch. Djamila hatte Orangensaft bestellt, Zarif und Malek Cola, Ferdinand und Joscha Kaffee. Dazu gab’s ein paar Kekse, die von den Kindern begehrlich beäugt wurden. Ferdinand schob sie ihnen rüber, woraufhin sie im Nu in deren Mündern verschwanden.
Während sie an ihren Getränken nippten, horchte Ferdinand Zarif aus. Joscha erfuhr, dass dessen Vater vor rund einem Jahr bei einer Schießerei getötet wurde. Außerdem war ein Bruder mit fünfzehn an starkem Fieber gestorben. Die beiden Nachzügler hatte Zarifs Mutter nach zwei Fehlgeburten bekommen. Der Tod des Vaters und damit Wegfall des einzigen Verdieners war eine Katastrophe. Zarif, der nach einer Ausbildung zum Tischler keinen Arbeitsplatz gefunden hatte, machte alle möglichen Jobs, doch es reichte kaum zum Überleben. Letztendlich verloren sie noch ihre Wohnung, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnten. Sie kamen in einem winzigen Zimmer bei einem Bruder seines Vaters unter. Sein Onkel verlangte dafür Dienste im Haushalt und führte ein strenges Regiment, so dass sich die Kleinen praktisch unsichtbar machten.
Zarif wollte trotzdem bleiben, aber seine Mutter bestand darauf, ihr Glück in einem anderen Land zu versuchen. Sie hatte ihn angefleht, an die Zukunft seiner kleinen Geschwister zu denken. Wie sie die Überfahrt bezahlt hatten, blieb im Dunkeln. Ferdinand fragte nicht danach. Vor vier Monaten waren sie auf Lesbos angekommen. Zarifs Mutter hatte bereits auf der Reise angefangen zu husten und sich ständig geweigert, deswegen einen Arzt aufzusuchen. ‚Nur eine kleine Erkältung‘, lauteten stets ihre Worte.
Joscha stand auf, um weitere Kekse zu besorgen. Als er damit zurückkam, leuchteten Djamilas Augen auf. Er stellte den Teller vor ihr ab und setzte sich wieder neben Ferdinand. Es war niedlich, wie Djamila erst ihrem Bruder einen Keks anbot, bevor sie sich einen nahm.
Wenig später wurde ihr Flug aufgerufen. Erneut nahm Joscha Djamila an die Hand. Diesmal griff sie gleich zu und schaute voller Vertrauen zu ihm auf. Haben die Kekse diesen Durchbruch erzielt?, überlegte er amüsiert.
Im Flieger suchte Djamila wieder die Nähe ihres Bruders. Zarif saß also auf der einen Seite des Ganges mit seinen Geschwistern, Joscha und Ferdinand auf der anderen. Ein Platz in ihrer Reihe blieb frei.
Nachdem sie gestartet waren, beugte sich Ferdinand zu ihm rüber und meinte leise: „Ich hab den Eindruck, dass der Älteste uns etwas verschweigt.“
„Haben wir nicht alle unsere kleinen Geheimnisse?“
Ferdinand grinste schief. „Allerdings.“
Aus dem Augenwinkel sah Joscha rüber zu Zarif. Ein attraktiver Bursche, mit dem olivfarbenen Teint und den dunklen Plüschaugen. Eigentlich lagen sie altersmäßig gar nicht so weit auseinander. Bisher hatte er Zarif als großen Teenager eingestuft, doch bei genauerer Betrachtung handelte es sich um einen erwachsenen Mann. Vermutlich war sein erster Eindruck entstanden, weil Zarif stets den Kopf einzog und unterwürfig wirkte. Ein typisches Symptom, das Joscha auch bei einigen anderen Lagerbewohnern beobachtete hatte. Entweder resignierten sie oder sie waren auf Krawall gebürstet. Dazwischen gab es natürlich noch etliche gemäßigte Zustände. Schließlich waren nicht alle Menschen gleich gepolt.
Bei der Zwischenlandung in Athen spendierte Joscha für alle einen Imbiss. Anscheinend hatten Zarif und die Kinder mächtigen Hunger, denn ihre Portionen waren im Nu verspeist. Er bestellte daher nochmal das Gleiche. Djamila und Malek waren darüber begeistert, doch Zarif guckte beschämt.
„Ich hab dir nur Nachschlag besorgt, damit deine Geschwister nicht denken, dass du benachteiligt wirst“, flunkerte er.
Mit dieser Lüge erntete er ein kurzes Lächeln. Dafür lohnte es, mal die Unwahrheit zu sagen.
„Vielleicht solltest du schon anfangen, mit ihnen deutsch zu reden“, schlug Ferdinand vor. „Je eher, desto besser.“
„Damit wollte ich warten, bis wir zu Hause sind.“
„Apropos: Ich hab gestern mit deinem Vater telefoniert.“
„Weiß er, wann wir in Hamburg landen?“
Ferdinand nickte. „Sie holen dich am Flughafen ab.“
Für die restliche Wartezeit besorgte Joscha Lesestoff. Zeitungen für Ferdinand und ihn und für die Kinder zwei Comics in englischer Sprache, damit Zarif sie ihnen vorlesen konnte.
Um vier ging es endlich weiter. Ferdinand tippte entweder auf dem Handy herum oder pennte. Joscha schaffte es auch, ein wenig zu dösen, doch die meiste Zeit irrten seine Gedanken ziellos umher. Seine Eltern hatten versprochen, in dem leerstehenden Zimmer in seiner Wohnung ihr altes Ehebett aufzustellen. Es lagerte im Keller, weil sie sich von dem edlen, potthässlichen Stück aus echtem Holz nicht trennen konnten. Vielleicht, weil sie seinen Bruder Johann und ihn darin gezeugt hatten ... wer weiß.
Die beiden liebten Kinder. Bei jeder Gelegenheit schmierten sie Johann aufs Brot, dass sie sich Enkelkinder wünschten. Sein Bruder, Zahnarzt, beziehungsweise Klempner im Luxussegment, wie er sich selbst gern spöttisch bezeichnete, arbeitete daran. Leider liefen Johann die Frauen immer wieder weg. Dabei sah sein Bruder ganz passabel aus und verdiente gut.
Jedenfalls hatte Joscha keinen Zweifel, dass seine Eltern Zarif und die Kinder herzlich willkommen heißen würden. Natürlich hoffte er auf ihre Hilfe. Da er bald seine Stelle in der Praxis seines Vaters antreten musste, benötigte er sie auch. Vorläufig würde er zum Glück nur Teilzeit arbeiten, weil er lediglich schrittweise die Patienten von Doktor Bering, der in Ruhestand gehen wollte, übernahm.
Was musste er noch an Möbeln besorgen, damit sich seine neuen Mitbewohner wohlfühlten? In dem zweiten unbenutzten Raum standen die aus seiner Jugendzeit, was vorläufig für die Kinder reichen würde. Am besten besprach er die Ausstattung mit Zarif. Der sollte doch eigentlich wissen, was seine Geschwister brauchten.
Wäre es besser, sich sofort um ein dauerndes Bleiberecht zu kümmern? Müsste Zarif dafür wirklich eine Deutsche heiraten? Ein ätzender Gedanke. Vielleicht bestand die Frau darauf, den ehelichen Beischlaf zu vollziehen. Das war unzumutbar, wo Zarif doch gerade erst einer Zwangslage entkommen war.
Nein, eher würde er sich anbieten. Schließlich standen bei ihm keine Verehrer Schlange ... oder, eher gesagt, glaubte er nicht, dass er jemals einen adäquaten Lebensgefährten finden würde. Es war anstrengend genug gewesen, für sein erstes Mal jemanden zu rekrutieren. Leider hatte er sich dabei auch noch vergriffen. Der Typ war ziemlich unsanft und bar jeglicher Zärtlichkeit vorgegangen. Tja, dumm gelaufen.
Für den nächsten Tag hatte er geplant, Klamotten zu kaufen. Die Kinder brauchten auch neue Schuhe. Djamilas und Maleks Treter sahen aus, als ob sie damit den Erdball umrundet hätte. Zarif könnte ebenfalls ein neues Paar vertragen. Fragte sich nur, wie er diesen dazu überredete, die Geschenke anzunehmen. Nun, das mussten sie wohl als erstes klären, sonst waren sie jeden Tag am Diskutieren.
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2021
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