Cover

Männerliebe - Spenderherzen

Herzen für Kapitel



Arrogantes Spenderherz

Mathis, Mitglied einer Wohltätigkeitsorganisation, lässt sich auf einer Feier zugunsten einer Spende versteigern. Ein Mann bietet den höchsten Betrag: Für 80.000 Euro muss er mit Reginald von Würzbach einen Abend verbringen. Mathis könnte kotzen, denn er findet den arroganten Typen ätzend, aber was tut man nicht alles für den guten Zweck.

1.

„Na, komm schon! Ein Abend in netter Gesellschaft bei Kerzenschein wird dich schon nicht umbringen“, drängte Berit.

„Nette Gesellschaft? Wenn mich die olle Berenberg ersteigert, wird das ein Höllentrip.“ Mathis zog eine angeekelte Grimasse. „Davon erhole ich mich nie wieder.“

„Stell dich nicht so an!“

Seit einer Woche drangsalierte ihn seine Kollegin Berit mit dieser bescheuerten Idee. Mal davon abgesehen, dass er mit etlichen der Leute, die zu solchen Veranstaltungen erschienen, privat nichts zu tun haben wollte: Es würde doch eh kaum Gebote geben. Wer hatte schon Interesse daran, mit ihm essen zu gehen?

Er war selbstbewusst genug, um zu wissen, dass er gut aussah. Schlank, ein hübsches Gesicht und gepflegtes Äußeres. Ansonsten hatte er aber wenig zu bieten. Sein Job, als Sachbearbeiter in einem Versandhaus, bot wenige Gesprächsthemen. Er interessierte sich nicht für Kunst und war nicht durch die ganze Welt gereist.

Am nächsten Wochenende fand die jährliche Feier für alle, die mehr als 10.000 Euro gespendet hatten, im Hotel Atlantik statt. Es würde Häppchen, Champagner und eine Tombola geben, um noch mehr Spenden zu sammeln. Der Event wurde von der Unternehmensgruppe, der das Hotel gehörte, gesponsert.

Mathis war vor fünf Jahren dem Verein beigetreten, weil er etwas Gemeinnütziges leisten wollte. Er brach sich keinen Zacken aus der Krone, wenn er einmal pro Monat mit einem weiteren Mitglied in der Fußgängerzone stand und für Paten für Kinder warb. Hinzukamen zwei große Feiern, eine vor Weihnachten und eine im Sommer, auf denen er aushalf.

Seine Kollegin Berit hatte ihn auf die Idee gebracht. Sie war seit vielen Jahren in dem Verein aktiv. Mittlerweile war er kurz davor, sein Engagement zu bereuen.

„Lass mich mit dem Scheiß in Ruhe!“, pflaumte er sie an.

Berit schob die Unterlippe vor und wandte sich wieder ihrem Monitor zu. Sie teilten sich ein Büro. Normalerweise arbeitete er gern mit ihr in einem Raum, doch momentan ... Warum spielst du nicht einfach mit? Dann gibt sie Ruhe, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Mathis war total harmoniesüchtig, weshalb ihm die angespannte Stimmung an die Nieren ging.

„Also gut“, gab er nach. „Ich mach’s.“

Juhu!“, rief Berit, sprang auf, lief zu ihm rüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Soll ich dir was aus der Teeküche mitbringen?“

Als sie vor einer halben Stunde gegangen war, hatte sie ihn demonstrativ nicht gefragt. „Ja, bitte einen Kaffee.“

Kaum war sie zur Tür hinaus, bereute er seinen Entschluss, doch nun war’s zu spät. Garantiert nutzte Berit den Ausflug zur Teeküche, um mit dem Vorstand des Vereins zu telefonieren. Das Kind war also - wie seine Mutter zu sagen pflegte - bereits in den Brunnen gefallen.

Seufzend lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück, nahm die Brille ab und massierte seine Nasenwurzel. Zu den geladenen Spendern zählten vorwiegend Honoratioren der Stadt. Reiche Leute, die sich Wohltätigkeit locker leisten konnte. Worüber sollte er mit solchen Menschen reden? Die eingangs erwähnte Dame hatte, außer ihren zahlreichen Katzen, keinerlei Interessen. Na ja, auch das Wohl von Kindern lag ihr am Herzen, sonst würde sie kaum spenden, aber bestimmt bekam der Tierschutzverein weitaus mehr als Paten für Kinder.

Abends, als er seinen Eltern davon erzählte, lobte ihn seine Mutter überschwänglich: „Ich finde das toll, mein Schatz. Und wer weiß? Vielleicht lernst du auf diese Weise einen richtig schnuckeligen Mann kennen.“

Schnuckelig war neuerdings ihr Lieblingswort. Wie solcher Mann aussehen sollte, entzog sich Mathis‘ Kenntnis. „Unter den geladenen Spendern befindet sich kein Heiratskandidat, wenn du das meinst.“

Sein Outing hatten seine Eltern nicht nur gut aufgenommen, sondern bestärkten ihn auch stets darin, zu seiner Orientierung zu stehen. Manchmal fand er das ein wenig übertrieben.

„Du musst ja nicht gleich heiraten. Die Ehe wird eh überbewertet“, meinte sein Vater trocken und fügte, an seine Mutter gewandt, hinzu: „Kann ich noch ein Stück Braten haben, Liebling?“

Mindestens einmal pro Woche aß er bei seinen Eltern. Zum einen mochte er die gewohnte Hausmannskost, zum anderen schlug man damit zwei Fliegen mit einer Klappe: Familiärer Kontakt und Nahrungsaufnahme. Wenn er selbst kochte, dann meist chinesisch angehaucht, mit viel Gemüse, Geflügel und Reis.

Seine Mutter runzelte die Stirn. „Wieso wir die Ehe überbewertet?“

„Heutzutage braucht man doch keine Versorgungsgemeinschaften mehr, weil jeder ein eigenes Einkommen hat. Wozu also der ganze Brimborium?“

„Wenn das so ist, kriegst du keinen Braten mehr“, entschied seine Mutter und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ach, komm schon, mein Zuckerhase. Dich würde ich doch jederzeit wieder heiraten.“ Sein Vater schickte mehrere Luftküsse über den Tisch.

Mathis verdrehte die Augen gen Himmel. Die Turtelei seiner Eltern fand er peinlich. Zum Glück machten sie das nur im internen Kreis, sonst wäre er schon lange vor Scham im Boden versunken.



Zwei Wochen später, an einem Samstagabend, warf er sich für das Event in Schale. Anzug für Herren und das kleine Schwarze für Damen waren Pflicht. Schließlich repräsentierten sie einen seriösen Verein.

Weil es stark regnete rief er, anstatt den öffentlichen Nahverkehr zu benutzen, ein Taxi, um seine Kleidung nicht zu ruinieren. Selbst auf dem kurzen Stück von der Haustür zur wartenden Limousine wurden sein Hosensaum und die Schuhe, trotz des Regenschirms, klitschnass. Kaum saß er im Wagen, hörte der Schauer auf. Murphys Law. Er seufzte resigniert.

Die Fahrt dauerte zwanzig Minuten, in denen er gegen das mulmige Gefühl in seinem Bauch ankämpfte. Es passiert dir doch nichts, sagte er sich immer wieder vor. Ein Abendessen mit einer der Damen - sogar der ollen Berenberg - wirst du lebend überstehen. Zweifelsohne, aber die Schäden an seiner Psyche waren unabsehbar. Bestimmt litt er danach wochenlang unter Alpträumen. Noch schlimmer wäre allerdings, wenn niemand für ihn bot. Dann würde sein Selbstbewusstsein einen irreparablen Schaden davontragen.

Im Hotel Atlantic gab er seinen Regenschirm an der Rezeption ab, bevor er zum Festsaal ging. Er gesellte sich zu Berit, die in ihrem schwarzen Kleidchen klasse aussah und nickte den anderen Vereinsmitgliedern zu.

„Na? Muffensausen?“, erkundigte sie sich erstaunlich mitleidig dafür, dass sie ihn förmlich zu der Aktion gezwungen hatte.

„Und wie.“

Sie tätschelte seine Schulter. „Das wird schon. Hauptsache, es kommt eine ordentliche Summe dabei rum.“

Das hoffte er doch sehr, wenn er schon seine Haut zu Markte trug.

Wie stets bei der Sommerveranstaltung waren drei Stuhlreihen aufgebaut. Rundherum befanden sich Stehtische und vorne ein Podium, hinter dem eine Leinwand hing. Der Vorstand würde, untermalt von Fotos, einen Überblick über die Verwendung der Spendengelder geben. An der linken Seite des Raumes stand ein langer Tisch mit Sachspenden. Arschteurer Champagner, Fresskörbe mit Delikatessen und einige aufwendig verpackte Gutscheine von Spezialitäten-Restaurants. Obwohl die Gäste garantiert keine Not litten, war die Tombola ein äußerst beliebter Programmpunkt.

Mathis fischte ein sauberes Taschentuch aus der Sakkotasche, nahm seine Brille ab und putzte sie umständlich. Ein unnötiger Akt, da er sie zu Hause gründlich gereinigt hatte. Er tat das immer, wenn er nervös war.

Lagebesprechung!“, rief Karl-Heinz, Mitglied des Vorstands und winkte alle Anwesenden heran.

Es war nichts neues, dass sie umherstreifen und den Gästen jeden Wunsch von den Augen ablesen sollten. Alle bekamen ein Namensschild und befestigten es am Revers oder Schulterteil ihres Dresses.

Einige Minuten später trudelten die ersten Leute ein. Der Vorstand, der an der Tür Aufstellung bezogen hatte, begrüßte jeden mit Handschlag. Ein Kellner bot auf einem Tablett Gläser mit Sekt und/oder Orangensaft an.

Gerne hätte Mathis seine flatternden Nerven in Alkohol ertränkt. Er griff jedoch nach einem Glas puren Orangensaft und stürzte diesen in einem Zug runter. Zumindest half das gegen seine trockene Kehle. Wenn doch die Scheiß-Versteigerung schon vorüber wäre!

Punkt sieben waren alle geladenen Gäste vollzählig. Verena, Vorstandsvorsitzende, bezog hinter dem Rednerpult Aufstellung, begrüßte die Anwesenden und begann ihren Vortrag. An Mathis rauschte das Meiste vorbei. Seine Aufmerksamkeit galt den Gästen, die er einer nach dem anderen prüfend musterte. Welchen von denen musste er einen Abend ertragen? Die junge Dame mit dem verkniffenen Lächeln? Oder den älteren Herrn mit Wampe, der einen blasierten Eindruck machte? Oder den arroganten Typen, der dahinter saß und einen Anzug trug, von dem Mathis vermutete, dass er mindestens das Zehnfache von seinem Exemplar gekostet hatte?

„Mathis!“, zischte Berit. „Starr die Gäste nicht so an.“

„Sorry“, murmelte er und versuchte, sich auf Verena zu konzentrieren.

Nach gefühlten drei Stunden - es waren real nur 45 Minuten vergangen - kam Verena zum Schluss und verkündete: „Ein großes Danke an die Spender, die für unsere heutige Tombola Preise zur Verfügung gestellt haben. Sie haben nun die Möglichkeit, bei unseren Mitgliedern, die mit Lostöpfen herumgehen, einen davon zu gewinnen.“

Das war das Signal für Mathis, von Karl-Heinz eine Schale abzuholen und damit durch den Raum zu wandern. Berit, die hinter ihm ging, sammelte dreißig Euro pro Los ein. Trotz des stolzen Preises, war seine Schale rasch leer. Die der anderen erlitten das gleiche Schicksal. Wieder stellte er sich neben Berit an die Seite.

Karl-Heinz nahm nun Verenas Platz ein und räusperte sich, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken. „Bevor wir zur Preisverteilung kommen versteigern wir, wie jedes Jahr, ein Abendessen mit einem unserer Mitglieder. Diesmal hat der Chef der hiesigen Brasserie ein 4-Gänge-Menü gestiftet und der liebe Mathis Müller ...“ Karl-Heinz warf ihm einen auffordernden Blick zu, woraufhin ihn seine Füße zum Rednerpult trugen, obwohl er sich innerlich dagegen wehrte. „... freut sich darauf, einem von Ihnen dabei Gesellschaft zu leisten.“

Oh ja! Er war vor Freude schier aus dem Häuschen. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Mühsam zwang er ein Lächeln auf seine Lippen.

„Das Startgebot beträgt 5.000 Euro“, ließ Karl-Heinz verlauten. „Wer bietet mehr?“

Die olle Berenberg hob eine Hand. „10.000.“

Ach du Scheiße! Mathis schloss kurz die Augen.

„15.000“, bot eine andere Dame.

„50.000“, meldete sich der arrogante Typ.

Fast alle drehten den Kopf, um den Mann anzugucken. Selbst unter den Spendablen schien diese Summe gewaltig zu sein.

„Wunderbar!“, rief Karl-Heinz und klopft mit einem Holzhammer aufs Pult. „50.000 zum ersten ...“

„51.000!“, überbot die olle Berenberg den Arroganten.

„60.000“, hielt dieser gegen.

Erwartungsvoll sah Karl-Heinz von einem Anwesenden zum anderen, doch niemand schien ein weiteres Gebot abgeben zu wollen. Selbst die Berenberg schüttelte den Kopf.

„60.000 zum ersten, zweiten und dritten.“ Karl-Heinz begleitete diese Worte mit dem Holzhammer und wies mit selbigem auf den Arroganten. „Den Zuschlag erhält Herr von Würzbach. Vielen Dank für Ihr großzügiges Gebot.“

Der Super Gau war eingetreten. Von einem Abend mit diesem von Wie-auch-immer-Typen würde sich Mathis niemals erholen. Er sollte nach einem Therapeuten Ausschau halten, der anschließend sein Selbstbewusstsein wieder aufbaute.

Die Saaltüren wurden geöffnet. Sechs Kellner mit Tabletts, auf denen Fingerfood angerichtet war, strömten herein. Wie die Heuschrecken fielen die Gäste über das Essen her. Im Nu musste das Personal Nachschub herbeischaffen.

Bei der dritten Ladung kam ein Kellner mit ein paar übrigen Häppchen bei Mathis, der sich erneut zu Berit verzogen hatte, vorbei. Selbst wenn er vor Hunger kurz vorm Tod gestanden hätte, wäre es ihm unmöglich gewesen, etwas runter zu würgen.

Mit dem Ellbogen stieß Berit ihn in die Seite. „Hey, guck nicht so, als ob das Jüngste Gericht ansteht. Der Typ sieht doch super aus. Das wird bestimmt ein netter Abend.“

Nett, die kleine Schwester von Scheiße. Noch nie hatte dieser Spruch besser gepasst. „Willst du mit mir tauschen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich war letztes Jahr dran.“

Wie im Nebel rauschte der Rest der Veranstaltung an Mathis vorbei. Die Ziehung der Gewinnzahlen, der übliche Tumult bei der Verteilung der Preise und Verenas Abschiedsworte. Am Schluss bat sie den Gewinner der Auktion noch zu bleiben, um die Modalitäten zu klären.

Im Nu war der Raum fast leer. Berit verpasste ihm einen Schubs, weil er stocksteif dastand, während sich von Wie-auch-immer - den Namen hatte er total verdrängt - bereits zu Verena gesellt hatte.

„Geh schon!“, flüsterte sie ihm zu.

Er stolperte auf dem Weg zum Rednerpult. Zum Glück konnte er sich wieder fangen, sonst wäre er dem Typen vor die Füße gefallen.

Verena bedachte ihn mit einem herzlichen Lächeln und wandte sich an den Gewinner. „Haben Sie einen Terminvorschlag für das Dinner?“

„Mir würde es morgen passen.“

Lieber schnell hinter sich bringen, lautete Mathis‘ Devise, daher stimmte er zu: „Das passt mir auch.“

„Also Morgen um sieben in der Brasserie?“, versicherte sich der Typ.

Er nickte.

„Wunderbar.“ Verena strahlte. „Nochmals vielen Dank für die großzügige Spende und dir ...“ Sie richtete die nächsten Worte an Mathis. „... auch vielen Dank.“

„Keine Ursache“, brummelte er, rang sich ein schiefes Grinsen ab und kehrte zu Berit zurück.

„Siehst du. Ist doch gar nicht so schlimm“, meinte seine doofe Kollegin und tätschelte seine Wange. „Du bist echt ein Goldjunge. 60.000 Euro! Ich hab letztes Jahr nicht mal die Hälfte eingebracht.“

Dazu sagte er lieber nichts, sonst wäre etwas Böses über seine Lippen gekommen.

„Mathis!“, rief Verena und winkte ihn heran. „Du hast den Gutschein vergessen. Außerdem sind hier fünfzig Euro aus der Vereinskasse, für Getränke und Trinkgeld.“

Er steckte beides ein, bedankte sich artig und verließ den Saal. Draußen, vor der Tür, fiel ihm ein, dass er seinen Regenschirm vergessen hatte. Nachdem er selbigen an der Rezeption abgeholt hatte, machte er sich zu Fuß auf den Heimweg. Es war trocken und er brauchte ein bisschen Auslauf, um die Ereignisse des Abends zu verdauen.



2.

Nach einer Nacht, in der er mehrfach aus Alpträumen hochgeschreckt war, verbrachte Mathis den Sonntag in mieser Stimmung. Je näher der Abend rückte, desto ängstlicher wurde ihm zumute. Worüber sollte er bloß mit Reginald von Würzbach - was für ein grauenvoller Name! Inzwischen erinnerte er sich daran - unterhalten?

Recherchen im Internet ergaben, dass von Würzbach einer Porzellan-Dynastie entstammte. Dem Typen gehörten diverse Unternehmen, darunter auch ein Versanddienstleister. Die Firmengeschichte reichte bis 1823 zurück. In dem Jahr gründete ein Urahn der von Würzbachs die erste Manufaktur. So gut es ging prägte sich Mathis einige Daten ein, um zumindest darüber reden zu können.

Um sechs schlüpfte er in seinen Anzug und putzte zum x-ten Mal seine Brille. Zumindest regnete es nicht, als er das Haus verließ. Das hätte ihm die Laune endgültig verhagelt, wobei ... schlimmer ging’s eigentlich nicht mehr.

Punkt sieben traf er im Hotel ein. Von Würzbach saß in der Lobby in einem der Cocktailsessel, ein Bein elegant übers andere geschlagen und wieder in einem Aufzug, der garantiert Mathis‘ Monatsgehalt überstieg.

Bei seinem Erscheinen stand von Würzbach auf und trat lächelnd auf ihn zu. „Vielleicht sollten wir uns erstmal einander vorstellen. Ich bin Reginald.“

„Mathis.“

„Angenehm. Wollen wir?“ Reginald ging voraus ins Restaurant, das sich direkt an die Lobby anschloss.

Ein Ober führte sie an einen Tisch in einer Nische und brachte ihnen die Weinkarte. Na, super! Da konnte er sich ja gleich zum Anfang prima blamieren. Er hatte nämlich null Ahnung von Wein.

„Soll ich einen auswählen?“, bot Reginald an.

„Ja, bitte.“

„Lieber rot oder weiß?“

„Moment“, murmelte er, fischte den Voucher aus seiner Jackettasche und studierte ihn. Da stand aber nicht, woraus die Gänge bestanden. „Muss man zu Fisch nicht weißen und zu Fleisch roten trinken?“

„Geschmackssache. Ich bin für rot.“

Er zuckte mit den Achseln. „Ich schließe mich an.“ Trotzdem guckte er in die Karte und erlitt angesichts der Preise einen Schock. Mein lieber Herr Gesangsverein! Mit den fünfzig Euro würde es knapp werden. Glücklicherweise hatte er seine Kreditkarte dabei.

Reginald bestellte beim Ober, der rasch mit einer Flasche zurückkehrte, den Korken entfernte und je eine Pfütze in ihre Gläser goss. Pflichtschuldig, weil man das wohl so tat, nippte Mathis am Wein. Er konnte keinen Unterschied zu dem Billigrotwein, den er neulich im Discounter gekauft hatte, feststellen.

Reginald nickte dem Ober zu, woraufhin der nachschenkte, die Weinflasche auf den Tisch stellte und verkündete: „Der Maître serviert gleich persönlich die hors d'oeuvre.“

Kaum war der Mann verschwunden, tauchte ein Typ in Kochkleidung auf und platzierte je einen riesigen Teller vor Reginald und ihm. In der Mitte lag ein undefinierbares Bröckchen, garniert mit grünem Kraut und einem fein gesponnenen Netz, das Mathis an Samenfäden erinnerte.

„Monsieur von Würzbach“, näselte der Typ und verbeugte sich vor Reginald. „Es ist mir eine Ehre, Sie heute Abend verköstigen zu dürfen. Die Getränke gehen natürlich auch auf meine Kappe.“

Wunderbar! Da hatte er sich ja ganz umsonst erschrocken. Die Bückelei des Typen ging Mathis aber ganz schön auf den Sack, was er - hoffentlich erfolgreich - zu verbergen versuchte.

„Was haben Sie uns denn da schönes kredenzt?“, wollte Reginald wissen.

„Wachtelunterschenkel in Aspik in Blätterteighülle“, verriet der Maître mit deutlichem Stolz. „Lassen Sie es sich schmecken.“

Mit diesen Worten huschte der Typ davon. Reginald beäugte die Vorspeise - oder nannte es sich Vor-Vorspeise? - und murmelte: „Fragt sich, was er mit dem Oberschenkel angestellt hat.“

Offenbar besaß sein Begleiter Humor. Schmunzelnd griff Mathis nach der kleinen Gabel, die ganz außen lag und stach beherzt in das Bröckchen. Es fiel auseinander. Eine grün-graue Masse trat zutage. Da es unhöflich wäre, es nicht wenigstens zu probieren, schob er sich ein winziges Stückchen in den Mund. Der Geschmack erinnerte ihn an seinen letzten Besuch bei McDoof. Rasch vertilgte er den Rest und griff nach seinem Weinglas.

Konversation, Mathis!, mahnte eine Stimme in seinem Schädel. „Ich hab gelesen, dass Sie in Porzellan machen.“

„Du“, erinnerte ihn Reginald, legte die Gabel beiseite und hob ebenfalls das Glas. „Porzellan wurde mir gewissermaßen in die Wiege gelegt.“

„Es ist bestimmt nicht einfach, den Ansprüchen von Generationen gerecht zu werden.“

Reginald zuckte mit den Achseln. „Die sind ja schon alle tot, insofern hab ich Narrenfreiheit.“

„Ich meine eher die Bürde, so ein großes Unternehmen zu leiten.“

„Ich bin Meister im Delegieren.“ Reginald trank einen winzigen Schluck. „Schmeckt dir der Wein?“

Erneut kostete Mathis und gab sich echt Mühe, etwas Besonderes an dem schweineteuren Tropfen zu finden. „Ich finde ihn ziemlich süffig.“ Das sagte man doch so, oder?

„Das freut mich.“ Reginald lehnte sich zurück und musterte ihn so intensiv, dass er sich nackt fühlte. Sein Gaydar funkte: Der Kerl ist absolut sicher schwul. „Was machst du denn beruflich?“

„Nichts Besonderes. Ich bearbeite Kundenreklamationen in einem großen Versandhaus.“

„Das ist bestimmt viel anstrengender, als ein Unternehmen zu leiten.“

„Vielleicht. Ich war noch nie Chef.“

Der Ober erschien, sammelte die Teller ein und ein zweiter stellte Suppentässchen vor ihnen ab. Darin schwamm klare Brühe und ein paar Schnipsel Buntes, wahrscheinlich Gemüse.

„Das wird vermutlich Wachtelbouillon sein“, mutmaßte Reginald.

Die Suppe schmeckte nach Hühnerbrühe, womit sein Gegenüber recht haben dürfte. Drei Löffel später war das Tässchen leer. Wenn die nächsten Gänge genauso mager ausfielen, musste Mathis auf dem Rückweg eine Frittenbude ansteuern. Vor Aufregung hatte er nämlich keinen Bissen runterbekommen und nun entsprechenden Kohldampf.

„Erzähl doch mal“, bat Reginald. „Was war deine schlimmste Reklamation?“

„Auf den vorderen Plätzen rangiert der Kunde, der sich beschwert hat, dass wir keine Unterwäsche für Linkshänder führen“, platzte er heraus und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Das war doch echt kein Thema für ein Geschäftsessen.

Reginald runzelte die Stirn. „Unterwäsche für Linkshänder?“

Der Ober tauchte auf. „Hat es den Herren geschmeckt?“

„Hervorragend“, antwortete Reginald. „Richten Sie bitte dem Maître unser Lob aus.“

„Sehr wohl.“ Der Mann deutete einen Diener an und verschwand mit den Suppentässchen.

„Wie ist das denn nun mit der Unterwäsche gemeint?“, hakte Reginald nach.

Da der Fehler nicht mehr auszubügeln war, gab er Auskunft: „Es gibt anscheinend Herrenunterhosen mit Eingriff von links statt von rechts.“

Sein Gegenüber guckte nach unten, dann wieder ihn an und lachte leise. „Darüber hab ich noch nie nachgedacht, aber es stimmt. Die armen Linkshänder.“

Erleichtert, dass Reginald das Thema amüsant statt anzüglich fand, fügte Mathis hinzu: „Ich hab das damals recherchiert und festgestellt, dass eine französische Firma solche Modelle herstellt. Sie sind aber nie ins Portfolio meines Arbeitgebers aufgenommen worden.“

„Was für eine Sünde. Vielleicht sollte ich darüber nachdenken, diesen Engpass zu beseitigen. Zu meiner Unternehmensgruppe gehört auch ein Herrenausstatter.“

Wir praktisch. Bestimmt bezog der gute Reginald dort seine Outfits.

Die Ankunft ihres Hauptgangs beendete das Thema. Mit großartiger Geste lüpfte der Ober die Edelstahlglocken, die den Tellerinhalt verbargen. Diesmal war die Portion etwas größer und wirkte sehr ansprechend. Irgendein Fisch, dazu Kartoffeln mit Rosmarin und Gemüse.

Ein Weilchen aßen sie schweigend. Schließlich fing Reginald an, ein paar Anekdoten aus dem Berufsalltag zu erzählen. Womit er nicht gerechnet hatte: Hinter der arroganten Fassade steckte ein sympathischer Mensch. Es fiel ihm mit jeder vergehenden Minute schwerer, den Mann zu verabscheuen.

Nach dem 3. Gang war Mathis einigermaßen gesättigt und ein bisschen beschwipst. Ohne es zu richtig zu merken, hatte er zwei Gläser Wein getrunken. Vielleicht spielte auch das Testosteron, das Reginald versprühte, eine Rolle. Der Mann besaß mehr davon im kleinen Finger, als ein muskelbepackter Bauarbeiter. Okay, vielleicht war es nur eine Wechselwirkung zwischen Alkohol und Stangenfieber. Er hatte eindeutig zu lange keinen Schwanz mehr gespürt.

Zum Dessert gab es Zitronensorbet, eine seiner Lieblingsspeisen. Mathis ließ sich Zeit, seine Portion zu verspeisen und schloss bei letzten Bissen die Augen, um ihn länger zu genießen. Als er sie wieder öffnete, ruhte Reginalds Blick auf ihm.

„Kann ich dich überreden, auf einen Kaffee mit zu mir zu kommen?“, erkundigte sich sein Gegenüber leise.

Entschieden schüttelte er den Kopf. „Danke, aber nein.“

„Meine Absichten sind bloß ehrenhafter Natur.“

„Das sagen alle.“

„Ich meine es auch so.“

„Trotzdem muss ich deine Einladung ablehnen.“ Bei aller Wohltätigkeit war er dagegen, sich für den Verein zu prostituieren.

„Schade.“ Reginald verteilte den restlichen Wein auf ihre Gläser. „Trinken wir dann hier noch einen Kaffee?“

Mathis nickte und bat den Ober, der gerade vorbeikam, ihnen welchen - zusammen mit der Rechnung - zu bringen.

„Was machst du so in deiner Freizeit?“, fragte Reginald. „Theater? Ballett? Museum? Kino?“

„Kino. Die anderen drei Sachen meide ich möglichst.“

„Ballett hat durchaus positive Seiten, selbst wenn man die Musik nicht mag.“

„Ja, ja. Straffe Körper in Strumpfhosen. Sowas gucke ich mir auf Bildern an, anstatt dafür viel Geld auszugeben.“

„Was sonst noch? Segeln? Skifahren? Schwimmen?“

„Schwimmen, aber nur in der Freibadsaison. Ich hab eine Allergie gegen Schwimmbäder.“

Der Ober erschien, servierte den Kaffee und legte ein Mäppchen neben Mathis‘ Tasse. Vorsichtig spähte er hinein. Die Rechnungssumme lautete Null. Er legte den Fünfziger in die Mappen und schob sie an den Tischrand, bevor er seine Tasse an die Lippen hob.

Entweder hatte Reginald das Interesse an ihm verloren, war beleidigt oder gedanklich woanders. Jedenfalls fiel kein Wort mehr, bis sie ausgetrunken hatten und das Lokal verließen.

Vor der Tür suchte Mathis nach der richtigen Formulierung für einen formellen Abschied. Ihm wollte keine eloquente einfallen, daher meinte er lahm: „Danke für den angenehmen Abend.“

„Ich habe zu danken. Sehen wir uns wieder?“

„Bestimmt auf der nächsten Vereinsveranstaltung.“

„Ich meinte eigentlich privat.“

Was sollte er darauf antworten? Einerseits gefiel ihm Reginald, andererseits handelte es sich um einen schwerreichen Schnösel, mit dem er nichts gemein hatte. „Es tut mir leid, aber ... nein.“

Reginalds Miene nahm den gleichen kühlen Ausdruck an wie am Vortag. „Dann wünsche ich Ihnen alles Gute.“ Sprach’s, drehte sich um und marschierte davon.

In einer Mischung aus Erleichterung, weil der Abend vorüber war und Enttäuschung, weil der Abend vorüber war, schaute er der Gestalt hinterher. Hatte er Reginald verletzt? Oder war es nur gekränkter Stolz? Bestimmt bekam Reginald nicht oft einen Korb.



Böses Spenderherz

Julius hat ein Spenderherz bekommen. Gerne würde er sich bei der Familie des Spenders bedanken, doch bevor es dazu kommt, nimmt der Bruder des Verstorbenen Kontakt zu ihm auf. Ohne genau zu wissen, was dahinter steckt, stimmt er einem Treffen zu.



Prolog

Stirnrunzelnd las Marlies Jensen den Brief ein zweites Mal. Der Inhalt blieb gleich. In ihrer langjährigen Laufbahn beim DSO (Deutsche Stiftung Organtransplantation) war es bisher nie vorgekommen, dass der Angehörige eines Spenders den Empfänger kennenlernen wollte. Sonst kamen solche Bitten ausschließlich von der anderen Seite.

Im Transplantationsgesetz stand, dass die Anonymität gewahrt bleiben musste. Sie durfte daher keinen direkten Kontakt herstellen. Es war jedoch erlaubt, Nachrichten weiterzuleiten, sofern sie vorher sämtliche privaten Daten eliminierte.

Mit einem schwarzen Stift erledigte sie diese Aufgabe und suchte aus der Datenbank den Namen sowie die Adresse des Empfängers heraus. Den Brief steckte sie in ein Kuvert, bevor sie ihn in einen adressierten Umschlag schob. Das war das übliche Verfahren, in dem sie Post weiterleitete. Auf diese Weise wurde der Empfänger nicht unmittelbar mit der privaten Post konfrontiert und konnte selbst entscheiden, wann der Zeitpunkt gekommen war, um den Brief zu lesen.

Nachdem sie das Kuvert in ihren Ausgangskorb gelegt hatte, dachte sie über die Bitte des Bruders nach. Was trieb einen Angehörigen dazu, den Spendenempfänger kennenlernen zu wollen? Vielleicht die Hoffnung, dass mit dem Herzen auch die Seele des Verstorbenen transplantiert wurde? Ein schöner Gedanke, aber letztendlich handelte es sich um ein schlichtes Organ. Beim Gehirn wäre Marlies eher geneigt, an solchen Hokuspokus zu glauben. Bisher waren Transplantationen desselben aber noch reine Fiktion.



1.

„In zwei Kilometern rechts abbiegen“, tönte es aus dem Navi.

Das hätte Julius auch so gewusst, denn der Weg war gut ausgeschildert.

Seit fast drei Stunden saß er inzwischen hinterm Steuer und sehnte sich danach, sein Ziel zu erreichen. In besseren Zeiten hätte ihm die lange Strecke nichts ausgemacht, aber seit sein Herz streikte, war er kaum noch belastbar. Mittlerweile war es nicht mehr das Organ, denn er hatte ein neues bekommen, sondern die Nebenwirkungen der Medikamente, die ihn handicapten. Sein Arzt meinte jedoch, daran würde er sich im Laufe der Zeit gewöhnen. Hoffentlich geschah das noch vor Ablauf seiner Lebenszeit.

Vor einem Jahr, als die Probleme anfingen, war er von Doktor zu Doktor gerannt, bis man endlich herausfand, worunter er litt. Sein Herz war auf doppelte Größe angeschwollen. Ursache: Irgendwelche Keime, die er sich wer-weiß-wo zugezogen hatte. Jedenfalls war der Schaden inoperabel. Er kam auf die Warteliste für Organempfänger. Man prophezeite ihm, dass er ohne Spenderorgan voraussichtlich nur noch sechs bis zehn Monate leben würde.

Die Diagnose hatte seine Beziehung zerstört. Na gut, die war schon vorher hinüber gewesen. Sein Partner Ralf war unzufrieden, weil Julius‘ Libido seit Beginn der Krankheit praktisch gen null tendierte. Die Aussicht, noch länger auf Sex zu verzichten, hatte ihrem Verhältnis den Todesstoß versetzt. Ralf war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Möge der Scheißkerl in der Hölle schmoren.

Julius setzte den Blinker und bog in eine Straße ein, die aus Emden heraus führte. „Sie erreichen Ihr Ziel in drei Minuten“, verkündete die Navi-Stimme.

Er hatte eine Ferienwohnung in Twixlum angemietet. So nannte sich das Kaff, in dem der Bruder des Organspenders lebte. Der Mann hatte sich bei ihm gemeldet und um ein Treffen gebeten. Das hörte sich simpel an, war aber mit bürokratischen Hürden gepflastert gewesen. Eigentlich durfte nämlich der Empfänger die Familie des Spenders nicht kennenlernen. Entsprechend waren in dem Brief sämtliche Kontaktdaten geschwärzt.

Er hatte ein Antwortschreiben verfasst und an den DSO geschickt, damit dieser die Post weiterleitete. Auch sein Schreiben war zensiert worden. Erst etliche Telefonate mit der zuständigen Sachbearbeiterin später hatte man in seinem Fall eine Ausnahme genehmigt. So war dann der Kontakt zu Tim Wesselblek entstanden.

Julius hatte das verabredete Treffen als Anlass genommen, ein paar Tage Urlaub anzuhängen. Er konnte ein bisschen Luftveränderung gut vertragen. So schön die Lage seiner Wohnung direkt am Michel auch war: Im Sommer störten ihn die Touristen, die praktisch zu jeder Tageszeit durch die Straßen schwärmten.

„Sie haben Ihr Ziel erreicht“, tönte es aus dem Navi.

Im nächsten Moment entdeckte er die Hausnummer 97, blinkte und bog in die Auffahrt ein. Es handelte sich um einen Neubau, hinter dem sich eine Parkfläche befand. Laut Homepage gab es in dem Gebäude fünf Ferienappartements. Er hatte die Nummer drei für eine Woche gebucht und parkte seinen Wagen auf der Stellfläche, die mit dieser Ziffer gekennzeichnet war.

In seinem Appartement - ein Zimmer mit Pantry, Balkon und Vollbad - legte er eine Verschnaufpause ein. Bei einer Tasse Kaffee und einem Glas Wasser konsultierte er sein Smartphone, um den günstigsten Fußweg zu Wesselbleks Adresse rauszufinden. Man konnte einen Pfad, der sich hinter den Häusern am Feldrand entlang schlängelte, benutzen. Das war der kürzeste Weg. Der bequemste führte an der Hauptstraße entlang und dauerte zehn Minuten länger.

Nach einer Stunde, die er lesend auf dem Balkon gesessen hatte, brach er auf. Er war um vier Uhr mit Wesselblek verabredet. Worum es bei dem Treffen ging, wusste Julius nicht. Am Telefon mochte Wesselblek nicht darüber reden. Vielleicht wollte der Typ einfach nur gucken, wer aktuell mit dem Herzen seines Bruders durch die Gegend rannte. Wie auch immer ... Von seiner Seite bestand das Bedürfnis, sich für die geschenkten Lebensjahre zu bedanken.

Als er nach Tim Wesselblek im Internet gesucht hatte, fand er die Homepage eines Gnadenhofes. Von dem Mann gab es keine Fotos, nur von den Tieren. Pferde, ein Esel, Hühner, Schafe, Katzen und ein Hund. Julius hatte eine kleine Spende überwiesen, um auf diesem Weg vorab seinen Dank auszudrücken.

Der Pfad erwies sich als ausgetretener Fußweg. Links davon lagen Weizen- und Rapsfelder, soweit das Auge reichte. Rechts reihte sich Zaun an Hecke an Zaun.

Julius war frühzeitig aufgebrochen, um sich nicht beeilen zu müssen. Gemächlich spazierte er geradeaus, bis sich der Weg gabelte. Er wandte sich nach links und sog genüsslich den Geruch nach frisch gemähtem Gras ein, der aus einem der Gärten herüber wehte. Sowas vermisste er in der Innenstadt. Grünflächen gab es zwar, doch nicht in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung.

Auf Anhieb erkannte er den Gnadenhof anhand der Fotos, die er sich im Internet angeschaut hatte. Das Hauptgebäude wirkte malerisch, mit den weißen Fronten, an denen blühende Kletterpflanzen emporrankten. Das Dach bestand aus roten Ziegeln und besaß zwei Gauben mit Rundbogenfenstern. Julius hatte schon immer ein Faible für Dachschrägen besessen und stellte es sich sehr gemütlich vor, in einem dieser Zimmer zu wohnen.

Er zückte sein Handy, um die Uhrzeit zu checken. Zehn Minuten vor der verabredeten Zeit. Sollte er lieber bis vier warten? Pünktlichkeit war schön, Überpünktlichkeit häufig nicht gern gesehen.

Plötzlich kläffte ein Hund. Im nächsten Moment wetzte das Tier auf ihn zu. Erschrocken wich Julius einige Schritte zurück und hoffte, dass es sich nicht um ein bissiges Exemplar handelte.

Seine Furcht war unbegründet. Der Hund wedelte wie blöde mit dem Schwanz, sprang um ihn herum und schien sich total über sein Erscheinen zu freuen. Als Wachhund taugte das Tier nicht sonderlich, abgesehen von dem Lärm, des es veranstaltete.

Sockenschuss! Aus!“, erklang eine Stimme. Der dazugehörige Mann tauchte aus dem Gebäude neben dem Wohnhaus auf und kam auf ihn zu. „Sockenschuss! Mach Platz!“, rief der Typ - vermutlich Tim Wesselblek - woraufhin der Hund das Bellen einstellte und sich neben Julius auf den Boden pflanzte.

Aus großen, dunklen Augen schaute das Tier treuherzig zu ihm hoch. Es handelte sich um einen Schäferhund, doch wohl keinen reinrassigen. Dafür waren die Ohren zu groß und die Schnauze zu kurz.

„Sie müssen Julius Kramer sein“, stellte Wesselblek, der ihn inzwischen erreicht hatte, fest. „Ich bin Tim Wesselblek.“ Der Typ reichte ihm die Hand.

Schwielige, trockene Finger drückten fest zu. Blaue Augen musterten ihn eingehend. Wesselblek hatte die langen, braunen Haare im Nacken zusammengebunden, trug ein blaukariertes Hemd und dazu abgewetzte Jeans. Der gebräunten Haut sah man an, dass er viel Zeit im Freien verbrachte. Er dürfte ungefähr in Julius‘ Alter sein, gemessen an den feinen Fältchen in den Augenwinkeln und war einige Zentimeter größer als er.

„Möchten Sie erst einen Kaffee oder erst den Hof angucken?“, erkundigte sich Wesselblek.

„Bitte erst den Hof. Kaffee hatte ich gerade.“

Wesselblek nickte. „Dann folgen Sie mir.“

In den zwei Nebengebäuden befand sich ein Stall für die Hühner, einer für die Schafe, Boxen für die Pferde und den Esel sowie einige landwirtschaftliche Geräte. Auf der angrenzenden Weide grasten die Vierbeiner in friedlicher Eintracht. Als sich Wesselblek und Julius an den Zaun stellten, trabte eines der Pferde herbei und reckte den Kopf über die Abtrennung.

„Nein, Zuckerschnute. Ich hab nichts für dich.“ Wesselblek tätschelte den Hals des Tieres. „Geh wieder zu den anderen.“

Schnaubend wandte sich das Pferd Julius zu und stupste mit der Schnauze gegen seine Schulter. Unsicher, was er tun sollte, guckte er seinen Begleiter an.

„Auch Herr Kramer hat kein Leckerli für dich.“ Wesselblek wies mit dem Kinn in Richtung Wohnhaus. „Das war schon alles. Wir können also zum Kaffee übergehen.“

Mit Sockenschuss, der wie eine Klette an ihm hing, folgte er dem Mann. Der Typ war ein richtiger Griesgram. Nicht mal zur Begrüßung hatte er gelächelt und bei ihrem nur das Nötigste gesprochen. Na ja, in Anbetracht des Todesfalles, der ja erst einige Monate zurücklag, verständlich. Julius hatte zwar keinen Bruder, konnte sich aber vorstellen, dass ein derartiger Verlust einen lange beschäftigte.

„Was ist mit den Katzen?“, fragte er Wesselbleks Rücken.

„So lange Sockenschuss in Ihrer Nähe ist, werden Sie keine sehen. Er möchte zwar nur spielen, aber die Miezen haben einen Heidenrespekt vor ihm.“

Er schaute runter zum Hund. So ein liebes Tierchen könnte ihm auch gefallen. Leider war die Haltung von Haustieren in seiner Wohnung verboten. Davon mal abgesehen, gab es sowieso nicht genug Auslauf für solches Tier in der Umgebung.

Der Flur des Wohngebäudes war gefliest, mit Kiefernmöbeln eingerichtet und ging direkt in die Küche über. Diese bestand aus einer Mischung Altem und Neuem. Eine moderne Küchenzeile, ein antikes Büffet und Holztisch mit vier Stühlen. Bunte Vorhänge vor den Fenstern, durch die man auf den Hof und die Auffahrt guckte, rundeten das gemütliche Flair ab.

„Setzen Sie sich“, bat Wesselblek und begann, Geschirr aus einem der Schränke zu holen.

Nur zu gern gehorchte Julius. Der Spaziergang hatte ihn erschöpft. Als er seinem Arzt von den Reiseplänen erzählte, war der begeistert gewesen, hatte aber dringend geraten, regelmäßig Pausen einzulegen. Wenn der Doktor wüsste, dass er die Fahrt ohne Rast durchgezogen hatte ... Nun, er würde es nie erfahren.

Sockenschuss ließ sich zu seinen Füßen nieder und stupste mit der Schnauze gegen sein Bein. Offenbar verlangte der Hund Streicheleinheiten, denn er guckte herzerweichend. Julius beugte sich also runter und kraulte dem Tier die Ohren.

„Keiner will mit dir spielen, nicht wahr? Du armer, armer Hund“, säuselte er dabei. „Dabei bist du doch so ein lieber Knuddelbär.“

„Wie geht es Ihnen überhaupt mit dem neuen Herzen?“, fragte Wesselblek, eine Kaffeekanne in der Hand.

„Soweit gut. Ich muss mich nur noch ein bisschen schonen.“

Wesselblek füllte ihre Tassen und ließ sich ihm gegenüber nieder. „Ist es mit dem neuen Organ anders als vorher?“

„Natürlich. Vorher ging’s mir total schlecht.“

„Ich meine seelisch. Sehen Sie Dinge anders?“

Julius runzelte die Stirn. Wie war das gemeint? „Meine Perspektive hat sich insofern geändert, dass ich das Leben als Geschenk betrachte. Vorher erschien es mir selbstverständlich.“

„Milch zum Kaffee?“

„Ja, bitte.“

Wesselblek stand auf, nahm eine Milchtüte aus dem Kühlschrank und stellte sie neben seine Tasse, bevor er sich wieder hinsetzte. „Und Ihre Einstellung gegenüber anderen Menschen?“

„Generell positiv. Gerade Ihrem Bruder gegenüber empfinde ich große Dankbarkeit.“

Wesselblek verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn an. Im Kopf seines Gegenübers schien es zu arbeiten. Julius konnte förmlich Rauchwölkchen über der Stirn aufsteigen sehen.

„Mein Bruder war ein Arschloch“, beendete Wesselblek das Schweigen. „Er hätte niemals zugestimmt, nach seinem Tod ausgeweidet zu werden. Es war mir ein innerer Reichsparteitag, all seine verwendbaren Teile zu spenden.“

Julius blieb die Spucke weg. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit. Man konnte den Hass, den Wesselblek empfand, deutlich spüren. Was war passiert, um den Bruder derart in Ungnade fallen zu lassen?

„Jetzt hab ich Sie schockiert. Sorry.“ Wesselblek seufzte und strich sich eine Strähne, die sich aus dem Zopfgummi gelöst hatte, hinters Ohr. „Glauben Sie mir: Ich hab gute Gründe, meinen Bruder zu hassen. Er hatte kein gutes Herz.“

Das war schwer zu verarbeiten. Unwillkürlich legte er eine Hand auf seine linke Brusthälfte, wo das angeblich böse Herz kräftig schlug. Er war davon ausgegangen, dass es von einem wohltätigen Menschen stammte. Natürlich änderte der Charakter des Spenders nichts an der Beschaffenheit des Organs, trotzdem war es ein merkwürdiges Gefühl.

„Haben Sie mich herbeordert, um mir das zu erzählen?“, hakte Julius nach.

„Ich wollte wissen, was für ein Mensch Christians Herz bekommen hat. Wären Sie mir unsympathisch, hätte ich den Mund gehalten, weil eh nichts zu retten wäre. Sie machen aber einen anständigen Eindruck.“

Dankeschön!“ Julius sprang auf. „Nichts für ungut, aber ich denke, unsere Unterhaltung ist damit beendet.“

Wesselblek und Sockenschuss geleiteten ihn zur Haustür. Weil er immer noch schockiert war, verabschiedete er sich lediglich mit einem Nicken.

Auf dem Heimweg versuchte er zu begreifen, was in Wesselblek vorging. Offenbar dachte der, das Böse wäre mit dem Herzen implantiert worden und würde von seiner Seele Besitz ergreifen. Lächerliche Vorstellung. Andererseits auch nicht völlig abwegig. Viele glaubten, dass die Seele in der Brust wohnte. Julius vermutete sie eher im Kopf, sofern es denn überhaupt eine gab.

Bis zum Abend hatte er sich beruhigt und bereute seinen unhöflichen Abgang. Schließlich meinte Wesselblek es ja nur gut. Außerdem hätte er zu gern gewusst, was die Brüder gegeneinander aufgebracht hatte, dass es sogar den Tod überdauerte. Eifersucht? Eine Geldgeschichte? Eine Erbschaft? Möglichkeiten gab es unzählige.

Gegen sieben trieb es ihn zum Wesselblekschen Hof. Zumindest musste er sich entschuldigen und vielleicht schaffte er es ja, Wesselblek nähere Informationen zu entlocken. Sein Ex hatte ihn oft wegen seiner Neugier verspottet, aber war es nicht normal, dass man alles wissen wollte, das einen persönlich betraf?

Als er das Gelände betrat und aufs Wohngebäude zusteuerte, begrüßte ihn freudiges Gebell. Von irgendwo galoppierte Sockenschuss herbei und sprang schwanzwedelnd an ihm hoch.

„Na? Hast du mich so vermisst?“, flötete Julius und kraulte dem Hund die Ohren.



2.

Als Sockenschuss - Tim war mit ihm bei den Hühnern - kläffend davonraste, ging er hinterher, um nachzuschauen, wer ihn besuchte. Es wunderte ihn sehr, dass Kramer auf der Auffahrt stand. Nach dem überstürzten Aufbruch vorhin hatte er nicht damit gerechnet, ihn je wiederzusehen.

„Hallo“, grüßte Kramer mit einem unsicheren Lächeln. „Es tut mir leid, dass ich vorhin so unhöflich war.“

„Ich war ja auch nicht gerade zimperlich“, räumte Tim ein. Er bedauerte es, nicht sensibler vorgegangen zu sein.

„Können wir unsere Unterhaltung fortsetzen?“

Er zuckte mit den Achseln. „Natürlich. Ich muss nur noch kurz zu den Hühnern.“

„Darf ich mitkommen?“

„Klar.“ Tim drehte sich um und ging zurück in den Stall, Kramer und Sockenschuss im Schlepptau.

Mit seinem Hund musste er dringend ein ernstes Wort reden. Eindringlingen hatte Sockenschuss gefälligst mit Drohgebärden zu begegnen, statt vor Freude aus dem Häuschen zu geraten. Allerdings bezweifelte Tim, dass seine x-te Ermahnung - sie führten fast jede Woche solches Gespräch - fruchten würde. Sockenschuss war eben von Natur aus ein freundlicher und sozialer Hund.

Rasch beendete er die Reparatur des Maschendrahtzaunes, räumte sein Werkzeug weg und wünschte den Hühnern angenehme Nachtruhe. Pferde und Schafe hatte er bereits in ihre Ställe gebracht und versorgt, genau wie die Futter- und Wassernäpfe der Katzen gefüllt.

„Möchten Sie mir beim Abendessen Gesellschaft leisten?“, wandte er sich an Kramer, der mit großer Ausdauer Sockenschuss‘ Ohren streichelte.

„Wenn ich nicht störe.“

„Dann hätte ich Sie wohl kaum gefragt.“

„Dann nehme ich die Einladung gerne an.“

Nebeneinander verließen sie den Stall und gingen rüber zum Wohnhaus. Ihm schwante, dass Kramer etwas über sein gestörtes Verhältnis zu Christian wissen wollte. Von sich aus würde er aber kein Wort weiteres darüber verlieren. Die Narben waren zwar verblasst, doch darüber zu reden erzeugte immer noch starkes Unwohlsein.

Im Haus tauschte er seine Arbeitsstiefel gegen Gesundheitslatschen und kümmerte sich um Sockenschuss Näpfe. Prompt hatte er die volle Aufmerksamkeit seines Haustieres zurück. Wenn’s ums Fressen ging, war Herrchen eben wieder interessant. Na ja, viele Menschen waren ähnlich einfach gestrickt. Er machte dem Tierchen daraus keinen Vorwurf.

Nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, holte er den Rest Auflauf vom Vortag aus dem Kühlschrank.

„Ich hätte fragen sollen, ob Sie sowas überhaupt essen.“ Er zeigte Kramer, der am Tisch Platz genommen hatte, die Auflaufform. „Gemüse mit Kartoffeln und Putenstreifen, überbacken mit Käse.“

„Sieht lecker aus.“

Das war gelogen. Im kalten Zustand sah das Zeug scheußlich aus, mit der popelgelben Farbe und verströmte einen Geruch, der nicht gerade appetitanregend war. Er stellte die Form in die Mikrowelle und setzte das Gerät in Betrieb. „Mögen Sie was trinken?“

„Wasser, bitte.“

Mit zwei Gläsern Mineralwasser gesellte er sich zu Kramer. „Müssen Sie heute noch zurückfahren?“

Kramer schüttelte den Kopf. „Ich hab für ein paar Tage ein Appartement angemietet.“

„Wo?“

Sein Gast nannte eine Adresse.

„Das ist ja gleich um die Ecke. Wobei ...“ Tim grinste schief. „In Twixlum ist alles gleich um die Ecke.“

Kramer trank einen Schluck Wasser. „Wie ist es, in so einem kleinen Dorf zu leben?“

„Einerseits schön, andererseits nervig. Viele kennen mich mein Leben lang. Für sie werde ich immer der kleine Tim bleiben.“

Die Mikrowelle finalisierte. Er verteilte den Inhalt der Auflaufform auf zwei Teller und kramte Besteck hervor. Im letzten Moment erinnerte er sich daran, Servietten auf den Tisch zu legen, bevor er sich wieder zu Kramer setzte.

„Wollen wir zum Du übergehen?“, erkundigte er sich.

Kramer nickte. „Julius.“

„Tim“, erwiderte er.

Einige Momente aßen sie schweigend. Tims Kochkünste reichten nicht für ein Gourmet-Restaurant, doch im Großen und Ganzen war er zufrieden. Sein Gast schien es auch zu sein, der entspannten Miene und Schnelligkeit zufolge, in der jener das Essen in sich reinschaufelte.

„Du bist also hier aufgewachsen?“, fragte Julius schließlich.

Tim nickte. „Am Ende des Dorfes. Das Haus steht allerdings nicht mehr.“

„Und bist du je hier rausgekommen?“

„Ich hab in Oldenburg studiert.“

„Was denn?“

„Architektur.“

„Wow! Ich hab gehört, das ist ein schweres Fach.“

Er zuckte mit den Schultern. „Wenn es einem liegt, ist es einfach.“

„Ich hab es nur bis zum Bankmitarbeiter untere Laufbahn geschafft.“

„Wieso nur? Ist doch auch eine super Karriere.“

„Die nun vorbei ist. Ich bin erstmal lange krankgeschrieben. Sollte ich wieder arbeitsfähig werden, will mich doch keiner mehr haben.“

Tims Gabel verharrte in der Luft. „Wieso?“

„Weil ich ein Risikofaktor bin. Ich könnte jeden Tag wieder ausfallen oder tot umfallen.“

„Scheiß Kapitalismus.“

„Ganz meine Meinung.“

Sockenschuss, der es sich unterm Tisch gemütlich gemacht hatte, seufzte laut, als würde er ebenfalls zustimmen.

Als beide Teller leer waren, lehnte sich Julius, das Glas Wasser in der Hand zurück. „Verrätst du mir, warum du deinen Bruder so sehr hasst?“

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Ich hab Zeit mitgebracht.“

„Die kurze Version lautet: Er hat mich mein Leben lang gequält. Willst du echt die lange hören?“

„Wenn es dir nichts ausmacht.“

„Es macht mir etwas aus, aber du hast ein Recht, alles zu erfahren. Schließlich hab ich dich deswegen hierher bestellt.“

„Eingeladen“, korrigierte Julius mit einem kurzen Lächeln.

„Wortklauberei“, winkte Tim ab. „Wollen wir ins Wohnzimmer umziehen? Auf Dauer sind die Stühle ein bisschen ungemütlich.“

Vorsorglich nahm er eine Flasche Mineralwasser mit, als sie den Raum wechselten. Julius setzte sich in einen Sessel, er wählte die Couch und Sockenschuss machte es sich unterm Tisch gemütlich. Die tiefstehende Sonne schien durchs Fenster. In den goldenen Strahlen wirkte Julius weniger abgespannt als im grellen Licht. Sein Gast war ziemlich attraktiv, was Tim wohl registrierte, doch nur am Rande. Das war in dieser Situation völlig nebensächlich.

„Christian war fünf Jahre älter als ich“, begann er zu erzählen. „Er hat früh einen Hang dazu, Tiere zu quälen, entwickelt. Wenn ich einen Käfer oder Wurm anschleppte, um ihn als Haustier zu halten, hat er ihn stets auf irgendeine Weise getötet. Das ist ja relativ normal, wenn Kinder die Welt erforschen, aber bei ihm war es anders. Grausamer. Einmal hat er einen Regenwurm in den Toaster gesteckt.“

„In den Toaster?“, echote Julius mit angeekelter Miene.

„Er war ziemlich erfinderisch. Belassen wir es dabei, sonst wird es richtig eklig.“ Beispielsweise, als Christian eine halbtote Katze in einen Kochtopf geworfen hatte. Daran mochte Tim echt nicht mehr denken. „Später ist er dazu übergegangen, seinen kleinen Bruder, also mich, bei jeder Gelegenheit zu schlagen oder sonst wie zu verletzen. Einmal waren wir in einem Waldstück in der Nähe von unserem Elternhaus. Dort haben wir einen alten Bunker gefunden. Ich hab eine Nacht und einen Tag darin zugebracht, bis man mich befreit hat.“

Fragend hob Julius die Augenbrauen.

„Es gab darin eine Grube, in die Christian mich geschubst hat. Ich war zu klein, um da allein wieder rauszukommen. Gegenüber unseren Eltern hat er behauptet, er wisse nicht, wo ich stecke.“

„Und wie hat man dich gefunden?“

„Mit Spürhunden der Polizei.“

„Hast du deinen Eltern die Wahrheit erzählt?“

Tim schüttelte den Kopf. „Christian hat mir gedroht, dass er mir alle Knochen bricht, wenn ich ihn verpfeife.“ Er trank einen Schluck Wasser, bevor er fortfuhr: „Obwohl ich den Mund gehalten habe, hat er mir kurz darauf eine Rippe gebrochen, als er mich getreten hat. Die blauen Flecken, die er mir verpasst hat, hab ich irgendwann nicht mehr gezählt. Es ist ja normal, dass sich Geschwister kabbeln, doch bei ihm war es mehr als das. Ich glaube, er war eifersüchtig auf das Nesthäkchen, obwohl ich keine Sonderbehandlung bekommen habe.“

Erneut setzte er das Glas an seine Lippen, ehe er weiterredete: „Richtig schlimm wurde es, als er rausfand, dass ich auf Jungs stehe. Zu dem Zeitpunkt war ich ungefähr fünfzehn und ging aufs Gymnasium, er auf die mittlere Schule. Allein das hat ihn schon fuchsig gemacht. Die Tatsache, einen schwulen Bruder zu haben, war das Tröpfchen, das das Fass zum Überlaufen brachte.“

Die Erinnerung an jenen Nachmittag erzeugte ein Grummeln in seinem Bauch. Trotz vieler Therapiestunden hatte er einiges nicht verwunden und würde es wohl auch bis an sein Lebensende nicht schaffen.

„Christian hat mir auf dem Heimweg von der Schule mit drei Kumpels aufgelauert. Ich bin stets mit dem Fahrrad eine Abkürzung über einen Feldweg gefahren. An einer einsamen Stelle haben sie mich krankenhausreif geschlagen und mir anschließend aufs Gesicht gepisst. Dann haben sie mich liegenlassen. Vielleicht wäre ich abgekratzt, wenn mich nicht wenig später jemand gefunden hätte.“

Julius guckte ihn mit entsetzter Miene an. „Ist er wieder ohne Strafe davongekommen?“

„Als ich im Krankenhaus Besuch empfangen durfte, war er der erste, der auftauchte. Er meinte, wenn ich ihn verpfeife, werden seine Kumpel und er mich beim nächsten Mal mit einem Besenstil vögeln. Ich hatte keinen Zweifel, dass er es ernst meint und hab angegeben, dass ich die Täter nicht kannte. Meine Oma hat den Braten wohl doch gerochen, denn sie hat veranlasst, dass ich zu ihr ziehe. Meinen Großeltern gehörte dieser Hof. Der Schulweg war von hier kürzer und führte ausschließlich an der Straße entlang.“

Tim schenkte sich Wasser nach und befeuchtete seine vom Sprechen trockene Kehle. Es war kein Zuckerschlecken gewesen, ständig über die Schulter zu gucken, ob irgendwo sein Bruder lauerte; nirgendwo hin zu dürfen, weil seine Oma Sorge hatte, dass ihm etwas passierte. Für die Geschichte selbst war das jedoch irrelevant, deshalb behielt er das für sich. „Zum Glück verpflichtete sich mein Bruder bald darauf beim Bund. Somit war er die meiste Zeit in der Kaserne in Bremen.“

„Er war Berufssoldat?“

„Wäre er vielleicht geworden, doch man hat ihn nach vier Jahren rausgeschmissen. Was vorgefallen ist, hat er nie verraten. Ich vermute, dass seine sadistische Ader ans Tageslicht gekommen ist.“

„Ist er wieder bei deinen Eltern eingezogen?“

Tim schüttelte den Kopf. „Er hat sich in Bremen eine Wohnung gesucht und von Gelegenheitsjobs gelebt, wenn er nicht gerade arbeitslos war. Ich hab zu der Zeit in Oldenburg studiert und bloß, wenn es gar nicht anders ging, meine Eltern besucht. Von ihnen stammt das wenige, das ich darüber weiß.“

Gedankenverloren drehte er das Wasserglas in seinen Händen. Damals hatte er gehofft, dass Christian ihn vergessen hatte. Wie naiv man in jungen Jahren doch war.

„Als meine Großeltern kurz hintereinander starben, hab ich den Hof geerbt. Darüber ist das ohnehin brüchige Verhältnis zu meinen Eltern völlig kaputt gegangen. Sie waren sauer, weil sie im Testament übergangen worden waren. Das hat sich wohl auf ihre Gesundheit niedergeschlagen, denn sie sind im Laufe der folgenden zwei Jahre meinen Großeltern ins Grab gefolgt. Na ja, ihr übermäßiger Alkoholkonsum war auch mit schuld.“

Seine Eltern hatten schon immer viel getrunken. Nach der Testamentseröffnung mussten sie noch einen Zahn zugelegt haben. Offiziell lautete die Todesursache Herzversagen.

„Beim Begräbnis meines Vaters - bei denen meiner Großeltern hat Christian gefehlt - hab ich meinen Bruder wiedergesehen. In Gegenwart meiner Mutter hat er sich zusammengerissen, aber bei der ersten Gelegenheit, bei der wir allein waren, hat er mir einen Tritt in die Eier verpasst und gedroht, dass er sie völlig zermatscht, wenn ich ihm nicht sofort 5.000 Euro gebe. Ich konnte ihn auf 1.000 runterhandeln, aber nur unter der Bedingung, dass ich ihm den Rest in einem Monat aushändige.“

„Hattest du denn so viel Geld?“, wollte Julius wissen.

„Zum Glück war ich schon immer ein Sparschwein. Einen Monat später hab ich ihm das Geld an einem vereinbarten Treffpunkt übergeben. Es war keine Überraschung, dass er weitere Zahlungen verlangt hat. Lange Rede, kurzer Sinn: Seitdem tauchte er in regelmäßigen Abständen auf und wollte Geld haben. Mal konnte ich ihn überzeugen, dass ich keines habe, mal musste ich ihm welches geben, damit ich unversehrt bleibe. Ich hab drei Kreuze an die Wand gemacht, als er sich totgefahren hat.“

Julius rieb sich die Stirn. „Das ist starker Tobak. Ich wünschte, ich könnte mir das Herz rausreißen und ins Grab deines Bruders werfen.“

„Du bist mir lebendig aber lieber.“

„Hast du eine Ahnung, warum er so war?“

Tim seufzte. „Ich habe aufgehört mich das zu fragen. Anfangs hab ich mir darüber den Kopf zermartert, doch mein Therapeut hat mir davon abgeraten. Es gibt eben Menschen, die für eine soziale Gesellschaft nicht geschaffen sind. Mein Bruder gehörte dazu.“

„Ich hätte ihn auch gehasst.“

„Betrachten wir es doch mal als gerechte Strafe, dass er so früh sterben musste und als posthume Wiedergutmachung, dass er einige Körperteile gespendet hat.“

„Ich bin heilfroh, dass man mir nicht sein Gehirn transplantiert hat.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bosheit vom Verstand gesteuert wird. Dafür dürfte eher die emotionale Ebene zuständig sein.“

„Nun wird’s aber hochphilosophisch.“

„Sorry.“ Schief grinsend prostete er Julius zu.

„Hast du den Gnadenhof gegründet, um Buße für die Tierquälereien deines Bruders zu tun?“

„Nö. Das hat sich so ergeben. Ich hatte den Hof damals vermietet, weil ich nicht zwischen Oldenburg und Twixlum pendeln wollte. Als ich vor neun Jahren hergezogen bin, haben mir meine Mieter die Hühner dagelassen, da sie keine weitere Verwendung für die Tiere hatten. Der Rest ist irgendwie dazugekommen.“

„Jedenfalls verstehe ich jetzt, wieso du Sorge wegen des Organs hast. Ich kann dich beruhigen: Bisher habe ich noch keine negativen Schwingungen bemerkt.“

„Also bist du nicht homophob?“

„Das wäre fatal, weil ich mich dann selbst hassen müsste.“

Es dauerte einen Augenblick, bis bei Tim die Message ankam. „Ach du dickes Ei! Mein Bruder würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass ausgerechnet du ... Das nenne ich mal ausgleichende Gerechtigkeit.“

„Vielleicht gibt es doch einen Gott“, sinnierte Julius.


Verirrtes Spenderherz

In der Fußgängerzone entdeckt David einen attraktiven Typen, der Spenden sammelt. Er überlegt sich eine List, um den Mann anzubaggern. Es kommt jedoch anders als gedacht.



1.

Wie jeden Morgen holte sich David auf dem Weg zur Arbeit in dem Coffeeshop, der sich im gleichen Gebäude wie sein Arbeitgeber befand, einen Muntermacher. Als er mit dem Pappbecher in der Hand wieder vor die Tür trat, fiel ihm ein attraktiver Mann ins Auge. Der Typ stand an der Hausfront gegenüber und hielt eine Spendenbüchse in der Hand. Blonde, wuschelige Haare, ein ausnehmend hübsches Gesicht. Lange Beine in Jeans, dazu ein blaues T-Shirt.

David nippte an seinem Kaffee, ohne den Typ aus den Augen zu lassen. Sollte er einfach rübergehen und nach der Telefonnummer fragen? Das wäre zu plump, entschied er. Außerdem verriet ihm sein Gaydar nicht, ob er es mit einem Gleichgesinnten zu tun hatte. Er könnte sich also eine Ohrfeige einhandeln.

Nachdenklich betrat er durch die Drehtür, die in die Lobby seines Arbeitgebers führte, das Gebäude und ging zu den Fahrstühlen. Einige Kollegen standen dort und warteten. Er grüßte sie mit einem Nicken, weiterhin am Grübeln, wie er den Spendensammler anbaggern konnte.

Als er sein Büro erreichte, kam ihm eine zündende Idee. Er hastete zu seinem Schreibtisch, kramte einen Blick aus einer der Schubladen und malte ein Herz. Der erste Versuch misslang. Erst beim dritten war er einigermaßen zufrieden. In das Herz schrieb er: Hi, ich bin David und würde dich gern kennenlernen. Ruf mich bitte mal an. Tel. 0151-XXX.

Damit sich der Spendensammler erinnerte, wer ihm das Papierherz in die Büchse gesteckt hatte, klebte er ein Passfoto auf die Rückseite. Es handelte sich nicht um ein scheußliches, biometrisches Exemplar, sondern um eines, auf dem er in die Kameralinse lächelte. Vor ungefähr einem Jahr hatte er es für seine HVV-Fahrkarte machen lassen. Es war also relativ aktuell.

Nachdem er das Herz in einen Geldschein gewickelt hatte, joggte er die Treppe runter und hoffte, dass der Spendensammler noch da war. Unten, in der Lobby, warf er einen Blick durch die großen Fenster. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Der Typ stand noch an Ort und Stelle.

David atmete tief durch, damit er nicht wie ein Irrer wirkte, verließ das Gebäude und schlenderte rüber, zur anderen Seite der Fußgängerzone. Gerade steckte eine alte Dame etwas in die Spendenbüchse. Er wartete, bis sich die Frau verzogen hatte, bevor er hinging und seine Spende in die Büchse warf.

Der Typ lächelte ihn an. „Dankeschön.“

Laut der Aufschrift auf der Spendenbüchse handelte es sich um einen Verein für Flüchtlingshilfe, für den der Mann sammelte. Da David zu diesem Thema spontan nichts einfiel, um eine Unterhaltung anzufangen, - außerdem wartete seine Arbeit - murmelte er lediglich: „Bitteschön“, und eilte zurück in sein Büro.

Kaum saß er hinterm Schreibtisch, hatte er einige Ideen, worüber er mit dem Typen hätte reden können. Beispielsweise, um welche Flüchtlinge es sich handelte, wie man zu helfen gedachte und ob der Mann selbst vor Ort aktiv wurde. Tja. Zu spät. Davon mal abgesehen musste er sich sputen, weil um zehn ein Meeting anstand.

Um eins kehrte er von dem Termin zurück. Derart lange Konferenzen erschöpften ihn ungemein. Mit einem Kaffee in der einen Hand, die andere an der Maus, surfte er zur Entspannung ein bisschen im Internet und googelte den Verein für Flüchtlingshilfe. Es handelte es sich um eine Organisation, die vorwiegend in Griechenland tätig war. Man suchte händeringend Freiwillige, die direkt im Lager oder in der Peripherie tätig sein wollten. Beim besten Willen konnte sich David sowas nicht vorstellen. Das ganze Elend vor Augen zu haben, würde ihn total runterziehen.

Einige Kollegen und Leute aus der Szene waren der Meinung, er wäre ein oberflächlicher, arroganter Typ, nur weil er ein hübsches Gesicht besaß. Na gut, er tat wenig gegen diese Ansicht. Sollte die sie glauben was sie wollten. David hatte durchaus Mitgefühl, mochte Kinder und war sogar manchmal unsicher, so wie vorhin, bei dem Spendensammler. Die Menschen, die ihm wichtig waren, wussten über ihn Bescheid. Der Rest durfte ihn am Arsch lecken.

Als er gegen fünf das Geschäftsgebäude verließ, war der Spendensammler verschwunden. David überlegte den ganzen Heimweg, ob er sich zum Affen gemacht hatte. Andererseits würde er davon nichts merken, so lange sich der Typ nicht meldete. Insofern war’s egal.

Den ganzen Abend ließ er sein Smartphone nicht aus den Augen. Der Spendensammler hatte doch bestimmt nach Feierabend den Inhalt der Büchse gezählt und seinen Zettel gefunden. Oder wurden die Spendenbüchsen von jemand anderem geöffnet? Daran hatte er gar nicht gedacht. Somit war seine Aktion - auf gut deutsch gesagt - für den Arsch. Bestimmt vereinnahmte irgendein vertrockneter Buchhalter beziehungsweise eine Buchhalterin die Spenden. Hoffentlich fühlte sich derjenige nicht angesprochen und rief an.

Im Laufe der folgenden Tage geriet der blonde Schönling zunehmend in Vergessenheit. David war kein Typ, um sich in eine hübsche Visage zu verlieben. Dazu gehörte schon mehr. Okay, als Teenager war ihm das schon passiert. Er hatte einige Schauspieler und Rockstars angeschmachtet. Das war aber wohl normal und legte sich im Zuge des Erwachsenwerdens.

Am Samstagnachmittag vibrierte sein Handy. Eine unbekannte Rufnummer stand auf dem Display. Entsprechend förmlich meldete sich David: „Hirschmann.“

„Hi, bin Felix. In der Spendenbüchse steckte ein Zettel mit deiner Telefonnummer. Hat sich da jemand einen Spaß erlaubt oder stammt der von dir?“

Die Stimme klang äußerst sympathisch und jung. Zu einem alten Buchhalter gehörte sie garantiert nicht. „Den hab ich da reingesteckt. Eigentlich wollte ich dich direkt ansprechen, aber das fand ich dann doch zu plump.“

„Also bist du das auch wirklich auf dem Foto?“

„Richtig. Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?“

Einen Moment herrschte Stille, so dass David schon dachte, den Anrufer mit seinem Vorpreschen verschreckt zu haben. Dann räusperte sich Felix und antwortete: „Das geht leider nicht. Ich bin gerade in München. Bildungsurlaub.“

„Worin bildest du dich denn weiter? In Maßkrug stemmen?“ Lahmer Witz, tadelte er sich, kaum waren die Worte raus.

„Mein Arbeitgeber hat mich zu dem Seminar verdonnert. In einer Woche darf ich wieder nach Hause.“

„Und wie sieht es dann mit einem gemeinsamen Kaffee aus? Du darfst auch was anderes trinken.“

„Ich ruf dich an, wenn ich zurück bin. Okay?“

„Okay“, erwiderte er.

„Schönes Wochenende“, wünschte Felix und legte auf, bevor er etwas entgegnen konnte.

Erfreut über den Gesprächsverlauf steckte David das Handy wieder in seine Hosentasche und lehnte sich auf die Balkonbrüstung. Er hatte gerade seine Blümchen gegossen, als Felix anrief. Im Innenhof spielten ein paar Kinder. Ihr Lachen schallte zu ihm hoch. In dieser Gegend gab es für die Kleinen kaum Auslaufmöglichkeiten. Entsprechend frequentiert waren die wenigen Grünflächen und Spielplätze. Manchmal war der Lärm nervig, doch im Großen und Ganzen mochte er es, den Kindern beim Herumtollen zuzusehen.

Zurück zu Felix: Die Stimme klang schon mal vielversprechend. Ein piepsiges oder raues Organ konnte ganz schön abschrecken. Ihm gefiel auch, dass Felix anscheinend ein strebsamer Mensch war. Ein fauler Sack hätte irgendeinen Weg gefunden, um sich vor der Weiterbildung zu drücken. Überhaupt war Felix ein schöner Name. Hieß das nicht der Glückliche? Eine Recherche im Internet ergab, dass Felix der vom Glück begünstigte bedeutete. Also hatte er nicht völlig danebengelegen.

Abends, als er es sich auf der Couch gemütlich eingerichtet hatte, überfiel ihn das Bedürfnis nach ein bisschen Plaudern. Die meisten seiner Kumpels waren noch auf dem Weggeh-Trip und schieden damit aus. Er hatte schon seit langer Zeit keinen Bock mehr, durch die Clubs zu ziehen. Diejenigen, die auch lieber zu Hause blieben, lebten in festen Beziehungen. Sie kamen daher auch nicht infrage. Ach, was machte er sich vor? Er wollte unbedingt nochmal Felix‘ Stimme hören.

Es war halb acht, eine Zeit, zu der man mit dem Abendessen durch sein sollte. Er wählte Felix‘ Nummer aus der Anrufliste, speicherte sie unter blonder Adonis und tippte aufs grüne Symbol.

„Ja?“, meldete sich Felix.

„Hier ist der Herzspender.“ David grinste über seinen eigenen Witz. „Störe ich?“

„Nö.“

„Was machst du denn gerade?“

„Auf dem Balkon sitzen und lesen.“

„Dann störe ich ja doch.“

„Ich kann ja gleich weiterlesen.“

„Sag mal, warst du denn schon mal in einem der Flüchtlingscamps?“

„Nein. Ich hab zwar darüber nachgedacht, aber es wäre mir zu emotional aufwühlend, all das Elend zu sehen.“

„Geht mir genauso. Was sind das für Menschen, die sowas können?“

„Vielleicht sind sie besser als wir.“

„Oder abgestumpfter?“

„Dann würden sie nicht helfen wollen. Ich denke, dass manche Leute gut abschalten können.“

„Als was arbeitest du denn, wenn du nicht gerade für den Verein fleißig bist?“

„Ich bin Postbeamter.“

„Briefträger?“

„Nein, nur in einer Filiale am Schalter. Dienst am Kunden.“

„Das ist doch bestimmt frustrierend. Immer, wenn ich zur Post muss, steht da eine kilometerlange Schlange. Garantiert beschwert sich doch jeder zweite über die ewige Wartezeit.“

„Allerdings.“ Felix seufzte. „Aber glaub ja nicht, dass mein Arbeitgeber Fortbildungen in Krisenmanagement anbietet.“

„Sonderpädagogik wäre sowieso sinnvoller.“

„Was machst du denn so, wenn du nicht gerade Nachrichten in Spendenbüchsen steckst?“

„Ich bin Controller bei einem Immobilienladen.“

„Und was tut man da den ganzen Tag?“

„Wirtschaftlichkeitsanalysen erstellen und natürlich kontrollieren, ob die anderen ordentlich arbeiten.“ David gluckste.

„Ich wusste doch, dass das was mit Kontrolle zu tun hat.“ Auch Felix lachte. „Und was treibst du gerade?“

„Auf der Couch abhängen und telefonieren.“

„Gehst du gar nicht weg?“

„Keine Lust. Ist doch immer das Gleiche.“

„Das hört sich an, als ob du schon achtzig wärest.“

„Manchmal fühle ich mich auch so.“ David seufzte übertrieben. „Und was ist mit dir? Bist du in der Szene unterwegs?“

„Eher weniger. Ich gehe lieber ins Kino, Theater, Konzert oder essen.“

„Theater?“

„Ertappt.“ Felix lachte. „Das hab ich nur gesagt, um dich zu beeindrucken.“

Es entspann sich eine Unterhaltung über Filme, die sie gesehen hatten. Sie verabredeten, mal gemeinsam ins Kino zu gehen, bevor sie auflegten.


Den Sonntag verbrachte David mit seiner Schwester Anja und deren beiden Kindern im Freibad. Lara, drei Jahre und Knut, (wie sie auf den Namen gekommen war, entzog sich seiner Kenntnis), fünf Jahre, waren echt Zucker. Okay, nicht immer, aber überwiegend. Anjas Gatte Max hatte leider keine Zeit. Als Selbständiger musste man auch am Wochenende arbeiten.

Ziemlich erschöpft, aber sehr zufrieden mit dem Tag, kehrte er Spätnachmittags heim. Nachdem er klebrige Kinderhände und Chlorwasser von seiner Haut geduscht hatte, flegelte er sich in Shorts und T-Shirt auf die Couch. Wie am Abend davor rief er Felix an, um ein bisschen zu plaudern. Diesmal redeten sie viel über Kinder. Felix hatte einen Neffen, ein Jahr alt und schien ganz vernarrt in den Kleinen zu sein.

Auch in der folgenden Woche telefonierten sie abends. Es gab immer irgendeinen Gesprächsstoff. Davids Vorfreude auf ihr Wiedersehen wuchs von Stunde zu Stunde.

Endlich war der ersehnte Tag da. Er hatte sich mit Felix, der Samstagabend heimgereist war, für Sonntagmittag zum Kaffee verabredet. Treffpunkt: Ein Coffeeshop im Hauptbahnhof. Felix‘ Vorschlag, damit sie es beide gleich weit hatten. Inzwischen wusste er, dass Felix in Hamm wohnte und in der Postfiliale am Gänsemarkt arbeitete. Im Gegenzug hatte er seine Adresse preisgegeben.

Eine Viertelstunde zu früh traf David am Treffpunkt ein. Der Coffeeshop ähnelte dem Laden, in dem er morgens seinen Kaffee holte. Diese Lokale sahen eigentlich alle gleich aus. Mit einem Latte Macchiato setzte er sich ans Fenster, um auf Felix‘ Ankunft zu warten.

Um kurz nach zwölf begann er, nervös zu werden. Würde Felix ihn versetzen? Das konnte er sich schwer vorstellen, da er den Eindruck hatte, dass sie auf der gleichen Wellenlänge lagen. Gerade zückte er sein Handy, um Felix anzurufen, da sprach ihn jemand von der Seite an: „Bist du David?“

Überrascht musterte er den Typen. Ein kleiner Mann mit Brille, roten Locken und sommersprossigem Gesicht. „Kennen wir uns?“

„Ähm ... ja. Wir haben doch telefoniert.“ Der Typ setzte sich ihm gegenüber hin. „Allerdings muss ich dir wohl was erklären.“

Allerdings. Dieser Nerd war nicht der Mann mit der Spendenbüchse.

„Rene, dem du deine Nachricht in die Büchse gesteckt hast, hat sie in den Papierkorb geworfen, als wir in der Sammelstelle die Einnahmen gezählt haben. Ich hab sie rausgefischt und lange überlegt, ob ich dich anrufen soll. Eigentlich wollte ich dir gleich sagen, dass ich nicht Rene bin, aber ...“ Felix zuckte mit den Achseln und grinste schief. „Irgendwie bin ich immer wieder davon abgekommen.“

Neben Enttäuschung wallte in David Entrüstung hoch. Es war unverschämt, sich als ein anderer auszugeben und ihn so hinters Licht zu führen! Ihm fehlten die Worte.

„Übrigens ist Rene strikt hetero. Nur zur Info“, fügte Felix hinzu.

David sprang auf, stieß hervor: „Ich fühl mich verarscht!“ und marschierte aus dem Laden. Er war so sauer, dass er dringend Bewegung brauchte. Mit weitausholenden Schritten rannte er durch die Wandelhalle ins Freie, überquerte die Straße und begab sich in das Gewirr aus Gassen neben dem Schauspielhaus.

Genauso schnell wie er hochgewallt war, verrauchte sein Zorn. Schließlich hatte Felix ihn nicht belogen, höchstens etwas verschwiegen. Davon mal abgesehen hätte jeder andere die Nachricht aus dem Papierkorb fischen können ohne zu wissen, dass sie an den Blonden gerichtet war.

Er kehrte um.

Durch Fenster des Coffeeshops sah er Felix an dem Tisch sitzen, an dem sie sich vorhin getroffen hatten. Der arme Kerl wirkte total niedergeschlagen, beide Hände um einen Becher gelegt, als wollte er sich daran wärmen. Es tat David unendlich leid, ihn derart verletzt zu haben. Zumindest musste er sich entschuldigen.

Er betrat das Lokal und setzte sich zu Felix, der ihn nur eines kurzen Blickes würdigte. „‘tschuldige, dass ich so ausgerastet bin.“

Die Antwort bestand lediglich in einem Achselzucken.

„Ich finde es echt lieb von dir, dass du mich aufgeklärt hast. Ich wäre sonst dumm gestorben“, fuhr er fort.

Felix stand auf, zeigte ihm den Mittelfinger und verließ den Laden. Schockiert über diese Reaktion blieb David stocksteif sitzen. Womit hatte er das verdient?


Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure - dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2021

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /