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Amrum ist gut fürs Herz - Vol. 5

Amrum ist gut fürs Herz - Vol. 5



Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Korrekturen: Aschure, Dankeschön!

Foto Cover: shutterstock_179129984, Leuchtturm, Insel: Sissis Malkünste

Kontakt: https://www.sissikaipurgay.de/



Amrum ist gut fürs Herz - Vol. 5

Rüdiger Wuttke, Polizeibeamter in Hamburg, hat den Zuschlag für die Stelle als Saison-Bulle auf Amrum erhalten. Für ihn eine super Gelegenheit, mal aus dem anstrengenden Drei-Schicht-System rauszukommen. Außerdem gefällt ihm die Insel ausnehmend gut. Weniger gut gefällt ihm der Idiot, der die Polizei wegen Kinkerlitzchen ruft. Auf den zweiten Blick ist Balthasar Gregor Süden aber gar nicht so übel.

1.

Gelangweilt schaute sich Rüdiger im Goldenen Hirsch um. Es gab zwar einige potentielle Kandidaten, doch keiner konnte ihn reizen. Er war eindeutig übersättigt. Oder trauerte er immer noch Sascha hinterher? Sein letzter Bettgefährte hatte ihn stärker beeindruckt, als er zugeben wollte.

Was für ein Glück, dass er Montag in eine andere Dienststelle wechselte, und zwar nach Amrum. Seine Bewerbung als Saisonbulle war angenommen worden. Vielleicht hatte es geholfen, in den höchsten Tönen von der Insel zu schwärmen. Eigentlich war sowas nicht Rüdigers Ding, aber er wollte die Stelle unbedingt haben. In solchem Fall musste man eben über seinen Schatten springen. Jedenfalls freute er sich sehr auf den Tapetenwechsel.

„Hi Großer“, sprach ihn plötzlich jemand von der Seite an.

Ein ziemlich süßer Typ grinste frech zu ihm hoch. Wenn er sich recht erinnerte, waren sie vor etlichen Monaten mal zusammen im Darkroom gewesen. Leider winkte sein Schwanz desinteressiert ab. Den konnte kaum noch jemand aus der Reserve locken.

„Hi Kleiner“, erwiderte er.

„Wie sieht’s aus?“ Das Kerlchen guckte vielsagend rüber, in Richtung Darkroom.

„Bin nicht in Stimmung.“

„Schade“, murmelte der Typ, schenkte ihm ein bedauerndes Lächeln und schlenderte davon.

Wieso hing er überhaupt hier rum, wenn er doch nicht ficken wollte? Weil du das letzte Mal Großstadtluft schnuppern wolltest, antwortete er sich selbst. Zweifelsohne würde er auf Amrum eine Durststrecke erleben. Zumindest so lange, bis die Touristen wie Heuschrecken über die Insel herfielen.

Sein Schwanz ließ sich dadurch nicht motivieren. Weich kuschelte sich das Ding in seine Pants und pennte, außer es wollte pissen. Nagte der Zahn des Alters an ihm? Schließlich wurde Rüdiger bald vierzig. Inkontinenz und Impotenz rückten damit in greifbare Nähe.

Er leerte sein Glas, nickte dem Barkeeper zum Abschied zu und verließ den Club. Draußen erwartete ihn kühler Nieselregen. Mittags hatte noch die Sonne vom Himmel gestrahlt, nun machte der April einen auf Winter. Was für ein Scheiß-Monat! Viel lieber würde er seinen Dienst auf Amrum im Mai antreten, doch das Leben war nun mal kein Wunschkonzert.

Rüdiger schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und stiefelte los. Seine Wohnung lag nur drei Straßen entfernt. Für die Strecke lohnte kein Taxi, zumal er es ohnehin nicht eilig hatte.

Ungefähr auf der Hälfte des Weges begegnete ihm eine Gruppe Jugendlicher. Ihren unsicheren Schritten zufolge, hatten sie ordentlich getankt. Als sie aneinander vorbeigingen, rempelte ihn einer der Jungs absichtlich an.

Er stoppte, drehte sich um und bellte: „Hey, Pickelfresse! Was soll der Scheiß?“

Die vier Jugendlichen hielten ebenfalls an und wandten sich ihm zu. Der Typ, der ihn angerempelt hatte, schnaubte verächtlich. „Das schreit ja förmlich nach Schlägen.“

Rüdiger begab sich in Kampfposition. Er hatte bloß einen Drink intus und dazu noch eine Karatekarriere hinter sich. Mit den besoffenen, halben Portionen wurde er locker fertig.

Drohend kamen die vier auf ihn zu. Einem verpasste er einen Tritt in den Solarplexus, frei nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. Dem nächsten rammte er seinen Ellbogen ins Gesicht. Der dritte landete einen Glückstreffer, für den sich Rüdiger mit einem linken Haken revanchierte und der vierte versuchte es gar nicht erst, sondern ergriff gleich die Flucht. Die anderen torkelten ihm hinterher.

Rüdiger betastete sein lädiertes Auge. Es schwoll bereits zu. Ein fairer Preis dafür, sein Mütchen an diesen Hirnis abkühlen zu dürfen. Trotz des Veilchens fühlte er sich viel besser als beim Verlassen des Clubs. Er überlegte sogar umzukehren, um das süße Früchtchen durchzuknallen, entschied sich jedoch dagegen. Vordringlich brauchte sein Matschauge Kühlung.

Beschwingten Schrittes setzte er seinen Heimweg fort.

In seiner Wohnung sah es ungemütlich aus. Da er sie untervermietet hatte, war seine persönliche Habe in den Keller gewandert. Es wirkte ein bisschen wie eine Ferienwohnung, mit den zeitlosen Kunstdrucken - allesamt Landschaftsmotive - und in schlichten Farben gehaltenen Möbeln.

Vorher hatte überall etwas rumgelegen oder gestanden. Zeitschriften, Notizen, Bücher, DVDs, eine alte Uhr von seinem Großvater und einige Topfpflanzen. Letztere waren zur Nachbarin gewandert, die die armen Pflänzchen bis zum Herbst versorgen würde. Sie kümmerte sich auch um seine Post.

Im Eisfach befand sich ein Kühlaggregat, das er für sein lädiertes Auge hervorholte. Mit einer Flasche Bier ließ er sich im Wohnzimmer auf der Couch nieder, wobei er das Aggregat auf sein Veilchen presste. Viel würde es ohnehin nicht helfen. Das wurde ja ein toller Einstieg auf Amrum, wenn der Saisonbulle mit Kampfspuren im Gesicht auftauchte. Egal. Dann vermittelte er eben gleich den richtigen Eindruck.



Am nächsten Morgen klingelte sein Wecker um acht. Gähnend streckte Rüdiger den Arm aus, brachte das Mistding zum Schweigen und überlegte, welcher Tag war. Ach ja, Sonntag. Durch die verdammten Schichtdienste kam er ständig durcheinander.

Bevor er unter die Dusche stieg, setzte er in der Küche die Kaffeemaschine in Betrieb. Um neun wollte sein Untermieter erscheinen, weshalb etwas Eile geboten war. Bis dahin musste er seinen restlichen Kram im Auto verstaut haben und abreisefertig sein.

Pünktlich zur verabredeten Zeit ertönte die Türglocke. Rüdiger betätigte den Öffner und warf einen Blick in den Garderobenspiegel. Das Veilchen verlieh ihm einen verwegenen Touch. Er grinste sich zu, wodurch sich die Haut schmerzhaft spannte. Eine grimmige Miene tat weniger weh, aber damit wollte er den Mieter - es handelte sich um einen neuen Kollegen - nicht empfangen.

Zehn Minuten später war die Übergabe erledigt. Ortwin Maier stammte aus München und war überaus dankbar, erstmal eine bezahlbare Bleibe gefunden zu haben. Sie verabschiedeten sich mit Handschlag und wünschten einander einen guten Neustart.

Sein erstes Ziel war sein Elternhaus. Es lag auf dem Weg zur Autobahn, sonst hätte er den Besuch am Vortag erledigt.

Es erwarteten ihn nicht nur seine Eltern, sondern auch seine Geschwister nebst Anhang, also Ehegatten, Neffen und Nichten. Kerstin und Moritz, Zwillinge, hatten synchron Nachwuchs gezeugt. Zum Glück trugen die Kinder Namen mit den Anfangsbuchstaben seiner Schwester und seines Bruders, sonst würde er durcheinander kommen. Marie und Mark stammten von Moritz, Kasim und Kiki von Kerstin, jeweils drei und fünf Jahre alt. Onkel Rüdiger betrachteten sie stets mit großen Augen und wahrten Abstand, lediglich Kasim kannte keinerlei Hemmungen und hängte sich immer an sein Bein, sobald er auftauchte.

Ongel Rüdi!“, krähte Kasim, stürmte auf ihn zu und umarmte seinen Unterschenkel, als er ins Esszimmer trat.

Der Kleine widersetzte sich seinem Versuch, ihn hochzuheben, daher schleppte Rüdiger ihn rund um den Tisch, um seine Familie zu begrüßen. Kerstin erlöste ihn schließlich von der Beinfessel, was Gejammer auslöste. Kasim wollte partout zu Ongel Rüdi. Er erbarmte sich daher, platzierte den Quälgeist auf seinem Schoß und schon war Ruhe.

„Das Veilchen steht dir.“ Sein Schwager Olaf grinste ihn an. „Das Kind übrigens auch.“

Seine Familie war es gewohnt, dass er gelegentlich lädiert aussah, daher nahm niemand großartig Notiz von seinem Matschauge.

„Vergiss es“, winkte er ab. „Ich bin heilfroh, dass ich mich mit sowas nicht rumplagen muss.“

„Wer weiß? Vielleicht findest du einen Mann mit Anhang“, sinnierte seine Schwester.

„Um sowas mache ich einen großen Bogen.“

„Erzähl doch mal von deiner neuen Stelle“, bat sein Bruder Moritz.

„Genaues weiß ich auch noch nicht, nur, dass ich keine drei Schichten mehr schieben muss.“

„Das ist doch eine 1.000 prozentige Verbesserung“, fand seine Mutter.

„Allerdings. Derjenige, der sich dieses System ausgedacht hat, gehört gekocht und gevierteilt“, stimmte Rüdiger zu.

„Bestimmt ein Schreibtischhengst“, mutmaßte seine Schwester.

Um elf brach Rüdiger auf, da er für die 13-Uhr-Fähre einen PKW-Stellplatz gebucht hatte. Kasims Gejaule hallte ihm noch eine Weile in den Ohren. Dem Kleinen hatte es überhaupt nicht gefallen, den Platz auf Ongel Rüdis Schoß wieder aufzugeben.

Hinter Rendsburg begann es zu regnen. Seine gute Laune beeinträchtigte das nicht. Er fühlte sich, als ob ein neues Leben begann. Das erste Mal kam er für längere Zeit raus aus der Stadt und durfte dort arbeiten, wo andere Urlaub machten. Eigentlich ein blöder Slogan, weil der Anblick faulenzender Leute garantiert Neid weckte, aber vielleicht gab es so wenig zu tun, dass er sich ebenfalls auf die faule Haut legen konnte. Was sollte auf der winzigen Insel verbrechenstechnisch schon los sein?

Bis zur Ausfahrt Harrislee arbeiteten die Scheibenwischer auf Hochtouren. Dann, genauso plötzlich, wie es losgegangen war, hörte der Regen auf; so, als hätte Gott die Dusche an und wieder abgedreht.

Auf der restlichen Strecke bis Dagebüll passierte Rüdiger etliche Dörfer, in denen er nicht tot übern Zaun hängen wollte. Traurige Kaffs ohne Einkaufsmöglichkeiten. Dazwischen Felder, so weit das Auge reichte.

Überpünktlich erreichte er den Fähranleger. Außer ihm stand nur ein Wagen in der ausgewiesenen Spur. Er verließ sein Auto und sog genießerisch die salzige Luft in seine Lunge. In der Ferne drehten sich Windräder. Ob das eine Bereicherung oder Verschandelung der Landschaft war, darüber ließ sich streiten.

Während er das Stück Butterkuchen, das seine Mutter ihm eingepackt hatte, verspeiste, beobachtete er das Treiben auf dem Anleger. Ein Fahrzeug trudelte ein, das eine Familie ausspuckte. Vater, Mutter, zwei Kinder. Die vier gingen zum Fahrkartenschalter. Rüdiger hatte sein Ticket zu Hause ausgedruckt, deshalb blieb ihm das erspart.

Eine Möwe landete einige Meter entfernt und beäugte etwas, das auf dem Boden lag. Anscheinend hatte sie darin etwas Essbares entdeckt, denn sie begann, daran herumzupicken. Eine zweite gesellte sich dazu, woraufhin die erste ihre Flügel ausbreitete und kreischte. In der freien Wildbahn hatte man es echt nicht leicht. Kaum hatte man Futter gefunden, kreuzten Neider auf.

Er wischte sich die Finger mit einem Papiertaschentuch ab und trank einen Schluck Eistee, auch aus dem Fundus seiner Mutter. Die Familie kehrte zurück. Eines der Kinder, der Junge, zeigte auf Rüdiger und rief: „Guck mal! Der Mann hat ein kaputtes Auge!“

Was für ein gescheiter Bube.

„Kon-stan-tin!“, schimpfte die Mutter. „Man zeigt nicht mit dem Finger auf fremde Menschen.“

Womit dann?

„Aber der Mann...“, widersprach Konstantin. „Guck woanders hin!“, fuhr die Mutter dem Kind über den Mund.

Armes Bürschchen. Rüdiger wollte nicht tauschen. Seine Mutter hätte ihm ausführlich erklärt wie ein Veilchen entstand, anstatt ihn zu maßregeln.

Inzwischen befand sich die Fähre, vorher ein Punkt in der Ferne, in Sichtweite. Er beobachtete, wie sie rasch näher kam und zum Anlegemanöver ansetzte. Als die ersten Wagen von Bord fuhren, schwang er sich wieder hinters Lenkrad.

2.

Vor Rüdiger stand ein Becher Kaffee. Er guckte aus dem Fenster und überlegte, wie seine Unterkunft aussah. Man hatte ihm mitgeteilt, dass er eine Wohnung im Dienstgebäude beziehen würde. Dieses lag in Nebel, nahe dem Strunwai, den er vom letzten Besuch auf der Insel kannte, umringt von Häusern mit Ferienwohnungen. Allerdings dürfte das für fast jedes Gebäude des Eilands gelten.

Am Horizont hingen graue Wolken, ansonsten war der Himmel blau. Im Fahrgastraum herrschte wenig Betrieb. Die Familie von vorhin hatte sich auf die andere Seite des Saals verzogen, was Rüdiger sehr entgegenkam. Der Kleine war süß, aber ständig angestarrt zu werden, zerrte selbst einem hartgesottenen Typen wie ihm an den Nerven.

Auf Föhr verließ die Familie das Schiff. Nun war nur noch eine Handvoll Passagiere übrig. Rüdiger begab sich nach draußen und zog den Reißverschluss seiner Jacke bis oben zu. Vorsorglich hatte er reichlich warme Kleidung eingepackt. Bis Ende Mai konnte es laut Karsten, dem Kerl, mit dem Sascha liiert war, noch recht kühl sein.

Er lehnte sich an die Reling und beobachtete, wie die Fähre ablegte. Auf Föhr war er mal als Kind gewesen, woran er sich kaum erinnerte; leider aber genau daran, dass er beim Abschied von seiner Mutter wie ein Schlosshund geheult hatte. Damals war er sieben oder acht gewesen.

Eine ganze Weile hielt er sich auf dem Oberdeck auf, obwohl ihm der Wind tüchtig um die Ohren pfiff. Als er in den Fahrgastraum zurückkehrte, war die Wärme wohltuend. Er orderte einen weiteren Becher Kaffee, mit dem er sich erneut am Fenster niederließ.

Rund eine halbe Stunde später begab er sich zum Fahrzeugdeck, um in seinen Wagen zu steigen. Kurz darauf durfte er losfahren. Langsam rollte er über die Brücke auf den Anleger und fuhr die Inselstraße entlang. Erinnerungen keimten auf. In einem der Läden hatte er mit Sascha im vergangenen Sommer Strandspielzeug gekauft, um eine Burg zu bauen. Bestimmt hätte es nicht so viel Spaß gemacht, wenn Karstens Kinder nicht dabei gewesen wären.

Als er an der Blauen Maus vorbeikam, gesellten sich weitere Bilder zu den ersten. War so früh im Jahr in der Kneipe überhaupt was los? Nun, er würde es rausfinden.

Im Nu erreichte er Nebel und fand problemlos die Polizeistation. Ein Range Rover stand vor dem Gebäude und als er seinen Wagen daneben abstellte, erschien ein korpulenter Mann in der Haustür. Das dürfte Fiete Petersen sein, der amtierende Leiter der Dienststelle.

Rüdiger stieg aus, ging auf dem Mann zu und bot ihm die Hand an. „Moin. Ich bin Rüdiger Wuttke, der Neue.“

„Moin-moin“, erwiderte der Typ. „Ich bin Fiete. Nettes Souvenir hast du da aus Hamburg mitgebracht.“ Vielsagend guckte Fiete sein Veilchen an.

„Leider ein vergängliches. Mal gucken, ob ich hier Nachschub bekomme.“

Fiete lachte. „Schlägereien suchst du hier vergeblich. Überhaupt ist es sehr ruhig und das darf auch so bleiben.“

Das Appartement lag im ersten Stock und bestand aus Schlaf- und Wohnzimmer mit Küchenzeile sowie Bad. Es war mit Möbeln aus hellem Holz ausgestattet und wirkte sauber und freundlich.

„Fühl dich wie zu Hause.“ Fiete schlug ihm auf die Schulter. „Ich verkrümle mich wieder. Wir sehen uns Morgen um acht zum Dienstantritt.“

„Schönes Restwochenende“, wünschte Rüdiger und folgte dem Kollegen die Treppe runter, um sein Gepäck zu holen.

Rund anderthalb Stunden brauchte er, um alles hoch zu schaffen und auszupacken. Weil er nicht wusste, wie die Verpflegungslage war, hatte er zwei Kartons Nahrungsmittel mitgebracht; außerdem seine Kaffeemaschine und den Toaster, beides überlebenswichtige Geräte.

Anschließend unternahm er einen Rundgang durchs Dorf. Bei jedem Lokal studierte er die aushängende Speisekarte und beschloss, innerhalb der folgenden Woche eines nach dem anderen auszuprobieren. Oder besser fragte er Fiete, ob der eines empfehlen konnte.

Sein nächster Weg führte zum Strand. Die Straße zog sich endlos hin. Es dauerte eine Viertelstunde, bis er am Kniepsand ankam. Weitere zehn Minuten brauchte er, um zum Meeressaum zu gelangen. Er schaute nach links und rechts und entdeckte zwei Spaziergänger in einiger Entfernung, ansonsten war die Fläche menschenleer. Verständlich, denn der kühle Wind sorgte für eiskalte Ohren. Besaß er eine Mütze? Eigentlich trug er keine, da sie die Frisur ruinierten, doch ein windzerzauster Schopf war genauso wenig kleidsam. Er würde sich also eine zulegen müssen.

Zurück in seinem Domizil machte er sich daran, sein Abendessen zuzubereiten. Eine Dose Eintopf, verfeinert mit Corned Beef und zwei Tomaten. Danach richtete er sich gemütlich auf der Couch ein und guckte Fernsehen, bis es Zeit zum Schlafengehen war.



Am nächsten Morgen wachte er vorm Weckerklingeln auf. Einige Momente lauschte er der herrlichen Ruhe. Welch ein Unterschied zu der Großstadt, die niemals schlief. Abgesehen von Vogelgezwitscher war nichts zu hören.

Mit seinem Kaffeeautomaten bereitete er der Stille ein Ende. Das Mahlwerk röhrte derart laut, dass es bestimmt sämtliche Nachbarn aus dem Schlaf riss. Rüdiger begab sich unter die Dusche, aus der wunderbar weiches Wasser kam. Das hatte er bereits bei seinem letzten Besuch festgestellt. Die Wasserqualität auf der Insel war hervorragend.

Um fünf vor acht stieg er die Treppe runter und nahm auf der Bank vorm Gebäude Platz. Ungefähr eine Minute später rollte Fietes Range Rover aufs Grundstück. Der Kollege sprang aus dem Wagen und zog im Gehen ein Schlüsselbund aus der Jackentasche.

Fiete blieb vor ihm stehen. „Moin. Hast du dich schon eingelebt?“

„Einigermaßen. Ich bräuchte Tipps, wo man gut essen gehen kann und vor allem brauche ich ein Fahrrad.“

„Darum kümmern wir uns beim ersten Kaffee.“ Fiete schloss die Tür auf und trat ins Haus.

Die Dienststelle bestand aus zwei Räumen, einer Teeküche und einem Waschraum. Das erste Zimmer diente wohl offiziellen Anlässen, denn es war penibel aufgeräumt, während das zweite das Gegenteil spiegelte. Die beiden Schreibtische lagen voller Akten. Diverse benutzte Becher standen herum, auch auf der Fensterbank, auf der einige Topfpflanzen ein kärgliches Dasein fristeten. Vielleicht wurden sie mit Kaffee oder selten gegossen. Sie wirkten jedenfalls kränklich.

„Das ist dein Schreibtisch.“ Fiete wies auf den Tisch, auf dem die höheren Berge lagen. „Keine Sorge. Das ist alles altes Zeug und muss bloß abgelegt werden.“ Pfeifend verschwand Fiete in Richtung Teeküche.

Ohne die Akten aus den Augen zu lassen, als könnten sie ihn anspringen, ließ sich Rüdiger hinter dem Schreibtisch nieder. Der Bürosessel ächzte. Das Ding stammte wohl aus einer Zeit, in der Ergonomie noch ein Fremdwort war.

„Milch ist alle“, rief Fiete. „Wenn du welche brauchst, muss ich die erst besorgen.“

„Ich nehme erstmal Wasser. Koffein hatte ich schon genug.“ Er spähte in eine Akte und stellte fest, dass Fiete nicht gelogen hatte. Der Vorgang war vor vier Monaten als erledigt gestempelt worden. „Wo finde ich denn das Archiv?“

„Immer mit der Ruhe.“ Fiete kehrte zurück, stellte ein Glas Wasser auf seinen Tisch und hockte sich auf dessen Kante. „Damit eines klar ist: Wir machen hier Dienst nach Vorschrift, nicht mehr und nicht weniger. Diese Stube ist ja auch nach Vorschrift eingerichtet und das vor ungefähr hundert Jahren.“

Fragend zog Rüdiger die Augenbrauen hoch.

„Das soll heißen: Wir lassen es langsam angehen“, fuhr Fiete fort. „Außerhalb der Saison ist eh wenig zu tun. Wenn die Touristen in Scharen hier einfallen, könnte es ein wenig hektischer werden.“

In der folgenden Stunde wies Fiete ihn in die zu führenden Statistiken ein, zeigte ihm das Archiv im Keller und die Dienstfahrzeuge in der Garage. Letztere bestanden aus einem Golf und einem Fahrrad.

„Du kannst es gern auch privat benutzen“, gestattete Fiete großzügig. „Ansonsten kann ich dir gerne eines leihen. Wie es der Zufall so will, betreibe ich einen Fahrradverleih. Und solltest du Besuch erwarten: Ich hab auch ein paar Ferienwohnungen im Angebot.“

Auf der Tour über die Insel, die sie anschließend unternahmen, erfuhr Rüdiger einige Interna. So war es beispielsweise ein Unterschied, ob der amtierende Bürgermeister eine Garage zu einem Ferienhaus umwidmete oder ob es ein einfacher Bürger tat. Bei dem einen drückte man ein Auge zu, den anderen zeigte man an. Im Grunde war es dasselbe, was auch am Festland geschah, nur fiel es dort weniger ins Auge.

Ab und zu hielt Fiete und stellte ihn jemandem vor. Die meisten Namen konnte sich Rüdiger nicht merken. Es waren einfach zu viele. Auch die dummen Sprüche bezüglich seines Veilchens rauschten zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus.

Gegen zwölf kamen sie wieder an ihrem Ausgangspunkt an. Fiete reichte ihm die Wagenschlüssel fürs Dienstfahrzeug. „Ich muss los. Meine Holde wartet mit dem Essen. Bin um drei zurück.“

Sprach’s, schwang sich in den Range Rover und brauste davon. Stirnrunzelnd guckte Rüdiger dem Wagen hinterher. Drei Stunden Mittagspause? Das war also Fietes Auffassung von Dienst nach Vorschrift. Wurde von ihm erwartet, derweil die Ablage zu erledigen? Ach, die lief ihm nicht weg. Außerdem wollte er nicht übereifrig wirken.

In seinem Domizil bereitete er sich einen Imbiss zu und ließ sich damit auf der Couch nieder. Während er aß lief die Glotze. Unglaublich, welchen Scheiß man im Fernsehen sendete. Fremdschämen war mehr an der Tagesordnung als die Ausnahme. Lustig waren auch die Bezeichnungen für irgendwelche C-Promis. Wer beim Eintritt ins Dschungelcamp noch als It-Girl oder Fernsehrichterin betitelt wurde, erhielt später die Auszeichnung Dschungelcampkandidat. Desgleichen bei den Idioten, die bei der Container-Scheiße mitmachten. Entnervt schaltete Rüdiger die Glotze aus und beschloss, in Wittdün nach einer Mütze Ausschau zu halten.

Er machte ein langes Gesicht, als er an jedem Laden das Schild ‚closed‘ vorfand. Man war entweder zur Mittagspause oder im Winterurlaub. Verdienten diese Leute ihr Geld im Schlaf? Rüdiger nutzte den Ausflug, um eine Runde durchs Dorf zu drehen. Egal wo er hinschaute: Tote Hose.

Zurück in seiner Wohnung setzte er sich mit einem Becher Kaffee vors Notebook und bestellte drei Mützen. Kein Wunder, dass die Versandriesen immer reicher wurden, wenn der örtliche Handel derart mau aussah. Einmal dabei, landete noch ein bisschen Unterwäsche und einige Paare Socken in seinem Warenkorb.

So beschaulich wie der erste Tag verliefen die nächsten Wochen. Das aufregendste Ereignis waren zerstochene Autoreifen. Rasch konnten die Täter ausfindig gemacht werden. Es handelte sich um zwei geständige Jugendliche, die mit einem blauen Auge davonkamen, weil die Geschädigten ihre Anzeigen zurückzogen. Vermutlich war intern Geld geflossen, damit die Kinder straffrei ausgingen.

Rüdiger verbrachte viel Zeit am Strand oder streifte durch den Wald. An den Wochenenden, wenn Sascha und Carsten in ihrem Wohnwagen gastierten, fuhr er zum Campingplatz. Bei solchen Gelegenheiten ging er mit ihnen in die Blaue Maus. Es tat gut, so richtig zur Ruhe zu kommen und fühlte sich ein bisschen nach Urlaub an. Lediglich das kühle Wetter war ein Wermutstropfen.

Auch im Mai besserte es sich nicht wesentlich. Die Temperaturen blieben bei zehn bis fünfzehn Grad und sanken nachts in den einstelligen Bereich.

3.

Missmutig beobachtete Balthasar durchs Wohnzimmer die dunkle Wolkenfront, die sich unerbittlich in Richtung Insel bewegte. Das Scheißwetter schlug ihm aufs Gemüt. Allerdings musste er sich eingestehen, dass er auf den Balearen genauso mies gelaunt wäre. Es lag nicht am Wetter, sondern an seinem Leben im Allgemeinen. Obwohl mit Geld und anderen Besitztümern gesegnet, war er unzufrieden. Eine Midlifecrisis konnte er ausschließen, da dieser Zustand schon rund zehn Jahre dauerte.

Das Vibrieren seines Smartphones lenkte seine Aufmerksamkeit weg vom Fenster. Er schnappte sich das Gerät vom Couchtisch, sah den Namen seiner Mutter und verdrehte die Augen. Was wollte die denn schon wieder? Sie hatten doch vor zwei Monaten erst telefoniert.

„Hi Karla“, begrüßte er sie. Seine Eltern bestanden darauf, mit Vornamen angeredet zu werden.

„Ich hab schlechte Nachrichten. Simone ist über alle Berge. Man vermutet, dass sie mit diesem Idioten, der sich der IS angeschlossen hat, nach Syrien gereist ist.“

Balthasars Cousine Simone besaß einen legendär schlechten Männergeschmack. Der Vater ihrer beiden Kinder, ein Norweger, hatte sie nach der Geburt des zweiten verlassen. Die Kerle davor waren jeweils nur ein paar Monate geblieben. Als hätte sie ein für alle Mal die Schnauze von blonden Männern voll, stand sie seit einigen Jahren ausschließlich auf den südlichen Typus.

„Das ist doch eigentlich eine gute Nachricht. So seid ihr sie endlich los.“ Seine Eltern hatten nie einen Hehl aus ihrer Aversion gegen Simone gemacht.

„Einerseits schon, aber sie hat ihre Kinder hiergelassen.“

Balthasar setzte sich auf die Couch. Ihm schwante Böses. Er war der Patenonkel der beiden, weil sich seine Cousine das so sehr gewünscht hatte.

„Man hat die beiden vorhin bei uns abgeliefert. Hol sie bitte unverzüglich ab.“

Ich?

„Du bist ihr Pate.“

„Aber ich kann mit Kindern nicht umgehen.“

„Dann lernst du es halt. Also: Soll ich sie zu dir bringen lassen oder holst du sie?“

„Warum können sie nicht bei euch bleiben?“

„Weil ich aus dem Alter raus bin. Ab und zu meine Enkel reichen mir völlig. Dein Vater ist der gleichen Meinung.“

„Gib mir zehn Minuten Bedenkzeit“, bat Balthasar. „Ich melde mich gleich wieder.“

Er tippte aufs rote Symbol und ließ seinen Kopf auf die Rücklehne sinken. Was sollte er nun tun? Unmöglich konnte er die Kinder aufnehmen. Die beiden waren noch so klein und brauchten jemanden, der sich mit Erziehung auskannte. Andererseits wollte er nicht, dass sie in ein Heim oder zu fremden Menschen kamen. Immerhin waren sie sein Fleisch und Blut, wenn auch um zwei Ecken.

Jemand, der sich mit Erziehung auskannte ... Praktizierte seine letzte Nanny Katharina eigentlich noch? Mittlerweile dürfte sie über fünfzig sein. Er durchsuchte seine Kontakte, fand ihren Namen und tippte auf verbinden.

Seine Eltern, schwerreiche Immobilienbesitzer, hatten stets Kindermädchen beschäftigt. Im Laufe der Zeit waren unzählige von seinen Geschwistern und ihm verschlissen worden. Katharina, die letzte in der Reihe, hatte sich wacker gehalten und sie bis zur Volljährigkeit begleitet. Anschließend war sie mit einer großzügigen Abfindung entlassen worden.

„Weißkopf“, meldete sich Katharina.

„Hi, hier ist Balthasar.“

„Balthi, mein Engelchen“, drang Katharinas Stimme an sein Ohr. „Wie schön, von dir zu hören. Wo drückt der Schuh?“

Fast zwanzig Jahre hatte Funkstille geherrscht, dennoch kannte sie ihn noch in- und auswendig. Er meldete sich immer erst, wenn die Kacke richtig am Dampfen war. Das hatte er schon als Kind und Jugendlicher getan. „Bist du noch als Babysitter tätig?“

Katharina lachte. „Ich bin doch kein Babysitter, sondern eine Gouvernante. Aktuell hab ich keine feste Anstellung, falls das deine nächste Frage ist.“

„Wie sieht es mit deiner Reiselust aus?“

„Wieso? Willst du durch die Welt tingeln und mich mitnehmen?“

Schräge Vorstellung. Katharina war echt okay, aber als Reisebegleitung? Nein danke. „Meine Cousine ist abgehauen. Als Pate muss ich ihre Kinder aufnehmen und brauche jemanden, der sich mit sowas auskennt. Hier kommst du ins Spiel.“

„Und wo wird das Schauspiel stattfinden?“

„Auf Amrum. Ich bin hier vor Anker gegangen.“

„Das hört sich gut an. Wie schnell muss ich packen?“

Ihm fiel ein Stein vom Herzen. „Sehr schnell. Ich nehme die nächste Fähre und dürfte gegen ...“ Er schaute auf die Uhr. „Gegen vier in Hamburg eintreffen. Wir müssten dann sofort wieder los, um die letzte Fähre zu erreichen.“

„Hast du keinen Hubschrauber zur Verfügung?“

„Leider nicht. Ich sage meinen Eltern Bescheid, dass du bald eintriffst.“

„Grüß sie von mir. Sie können um halb vier mit mir rechnen. Bis nachher, mein Goldstück.“ Katharina beendete die Verbindung.

Nachdem er den Anruf bei seinen Eltern erledigt hatte, reservierte er einen Fährplatz. Ihm blieb noch eine halbe Stunde, bevor er aufbrechen musste. Die Zeitspanne nutzte er, um durchs Haus zu wandern und gedanklich die nötigen Veränderungen vorzunehmen. Bei acht Zimmern auf drei Etagen war genug Platz vorhanden, um Katharina mit den Kindern unterzubringen. Vorläufig mussten die beiden Gästezimmer reichen. Sie waren mit Betten und Schränken ausgestattet.

Da seine Cousine ihm zu jedem Geburtstag seiner Patenkinder Fotos geschickt hatte, war er auf dem neuesten Stand, zumindest was deren Äußeres betraf. Persönlich gesehen hatte er sie zuletzt bei der Taufe. Lara war inzwischen vier, Lutz fünf. Zwei goldige Kleinkinder mit blonden Haaren und porzellanblauen Augen. Wie konnte seine dämliche Cousine die beiden bloß zurücklassen? Bei ihr schienen einige Synapsen durchgeknallt zu sein. Auf der anderen Seite wäre es genauso bescheuert, die Kleinen in ein Krisengebiet mitzunehmen. Trotzdem ... man ließ seine Kinder nicht im Stich! Jedenfalls nicht, ohne vorher Bescheid zu sagen.

Balthasar packte zwei Wasserflaschen, Plastiktrinkbecher und Kekse in eine Tasche, schlüpfte in Sneakers und Jacke, schnappte sich die Autoschlüssel und verließ das Haus. Am Fuß seines Hanggrundstücks befand sich eine Doppelgarage. Die eine Seite war frei, auf der anderen stand sein Mercedes.

Am Anleger stellte er sich in die Autoschlange, stieg aus und holte im Fahrkartenhäuschen sein Ticket ab. Normalerweise druckte er es aus oder lud es auf sein Handy, doch das hatte er diesmal vergessen. Die Frau hinterm Schalter lächelte ihn an. „Na, mal wieder ans Festland?“

Dumme Frage. Er nickte bloß, nahm Ticket und Wechselgeld entgegen und ging zurück zu seinem Wagen. Manchmal hasste er den vertraulichen Ton, den einige Insulaner ihm gegenüber anschlugen. Er würde sowieso nie einer von ihnen werden, daher hielt er das Getue für Heuchelei. Man war eine eingeschworene Gemeinschaft, die Zugezogene nicht aufnahm. Schon gar keine schwulen Zugezogenen. Mit seiner Neigung ging er zwar nicht hausieren, war aber schon mit männlichen Besuchern Hand in Hand durch die Straßen gelatscht. Seine sexuelle Ausrichtung dürfte also hinlänglich bekannt sein.

Während der Fährfahrt rief Katharina an, um ihm mitzuteilen, dass sie alles geregelt hatte. Ein Taxi würde sie zu seinen Eltern bringen. Die Frau war Gold wert. Ohne sie wäre er verloren. Die restliche Zeit verbrachte er damit, im Internet nach Kinderzimmermöbeln und Spielzeug zu gucken. Die Auswahl überließ er besser Katharina, damit er nicht Kram bestellte, der pädagogisch wertlos war.

Generell hatte er nichts gegen Kinder. Er fühlte sich in ihrer Nähe bloß unwohl. Woher das rührte, entzog sich seiner Kenntnis. Vielleicht hatte er Angst, von ihnen verletzt zu werden. Vielleicht war in seiner Kindheit etwas schiefgelaufen, an das er durch sie erinnert wurde. Ein Psychologe hätte sicher große Freude daran, diese Regung zu analysieren. Um solche Koryphäen schlug er auch einen großen Bogen. Die krempelten einen bis auf die Knochen um und überließen es einem dann selbst, sich wieder zu sortieren.

Auf der Autobahn bekam er einen Vorgeschmack dessen, was ihn auf der Rückfahrt erwartete. Die halbe Republik schien in Richtung Norden unterwegs zu sein oder es waren die Baustellen, die auf der Gegenspur für dichten Verkehr sorgten.

Um halb vier erreichte er, weil er gut durchgekommen war, sein Ziel. Seine Eltern lebten in einer Villa am Alsterlauf in Wellingsbüttel. Mittels Fernbedienung öffnete er das Gartentor, lenkte seinen Wagen hindurch und parkte vor der Garage, die die Ausmaße eines Wohnhauses besaß.

Nun, wo die Konfrontation mit seinen Patenkindern unmittelbar bevorstand, breitete sich ein mulmiges Gefühl in seinem Bauch aus. Was sollte er tun, wenn sie ihn nicht mochten? Das kann dir doch egal sein. Sie haben nur noch dich, machte er sich im Geiste Mut. Katharina wird es schon richten.

Sein Vater öffnete auf sein Läuten hin die Haustür. Normalerweise tat das seine Mutter.

„Hi Wigald.“ Er schüttelte seinem Vater die Hand.

Im Hause Süden ging man nicht sonderlich herzlich miteinander um. Wahrscheinlich hatten seine Eltern bloß Nachwuchs gezeugt, um das Familienimperium zu erhalten und bevorzugten daher seine Geschwister, die mit je drei Enkeln den Fortbestand sicherten.

„Schön, dass du da bist“, erwiderte sein Vater, ließ ihn eintreten und fügte hinzu: „Karla ist völlig durch den Wind. Ich bin froh, wenn wieder Ruhe einkehrt.“

Es musste schlimm sein, sich mal selbst um die Brut zu kümmern, überlegte Balthasar zynisch. Laut sagte er: „Du bist uns ja in spätestens einer halben Stunde los.“

Balthi!“, erklang Katharinas Stimme. Seine ehemalige Kinderfrau stürmte in den Flur und riss ihn in eine erdrückende Umarmung. Anschließend legte sie beide Hände an seine Wangen und beäugte ihn ausführlich. „Gut siehst du aus. Die Meeresluft bekommt dir.“

„Du siehst auch gut aus“, entgegnete er und meinte es ehrlich, denn die grauen Haare standen Katharina ausnehmend gut.

Sie winkte ab. „Lass gut sein. Mein Spiegel sagt was anderes. Komm. Es warten zwei entzückende Kinder auf dich.“ Katharina nahm ihn bei der Hand und zog ihn ins Wohnzimmer, wo seine Mutter mit den Kindern auf der Couch saß.

Lara und Lutz wirkten wie zwei kleine Statuen. Laras Gesicht war verheult, das von Lutz sehr ernst. Angesichts der traurigen Mienen überkam Balthasar Mitleid, so dass er jegliche Ängste in den Wind schlug und vor Lara in die Hocke ging. „Hallo Prinzessin. Ich bin dein Patenonkel.“

Keine Reaktion.

„Sie hat kein Wort gesprochen, seit das Jugendamt sie hier abgeliefert hat“, schaltete sich seine Mutter ein. „Schätzungsweise zwei Tage haben die beiden allein in der Wohnung gehaust. Deine Cousine hat gesagt, sie geht kurz einkaufen. Ist das zu fassen?“

Typisch für Karla, vor den Kindern derart abfällig über deren Mutter zu reden. Er bedachte sie mit einem warnenden Blick, bevor er sich Lutz zuwandte. „Wird dir oder deiner Schwester beim Autofahren übel?“

Lutz schüttelte den Kopf.

„Wunderbar. Dann lasst uns aufbrechen. Ist einiges los auf den Straßen.“ Balthasar richtete sich auf. „Haben die Kinder Gepäck?“

„Im Flur stehen zwei Taschen neben meinen Koffern“, antwortete Katharina, nahm Lara auf den Arm und küsste sie auf die Wange. „Na, meine Süße? Musst du mal?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf, dennoch trug Katharina sie mit den Worten: „Wir sind dann mal für kleine Königstigerinnen“, davon.

Da Balthasar nichts einfiel, das er zu Lutz sagen könnte, verkündete er: „Ich kümmere mich dann mal um das Gepäck.“

Sein Vater half ihm, das Zeug zum Wagen zu schleppen. Katharinas riesige Koffer besaßen glücklicherweise Rollen. Als er sie in den Mercedes hievte, ächzte er unter der Last. Mein lieber Herr Gesangsverein! Hatte sie Wackersteine eingepackt? Als nächstes befestigten sie zwei Kindersitze auf der Rückbank. Für ihre Enkelkinder hatten seine Eltern davon drei Stück parat, was sich nun als Glücksfall erwies.

Bei ihrer Rückkehr ins Haus kam Katharina, Lara an der Hand, gerade aus dem Gäste-WC. „Sag Karla und Wigald auf Wiedersehen und geh mit deinem Onkel schon mal zum Wagen. Ich komme mit Lutz gleich hinterher.“

Ihr Versuch, Lara loszulassen, war vergeblich. Das Mädchen klammerte sich an sie. Katharina seufzte. „Schatzi, ich kann nicht mit deinem Bruder Pipi machen gehen, wenn du mich festhältst.“

„Ich kann allein pullern“, verkündete Lutz von der Wohnzimmertür her und marschierte an ihnen vorbei.

„Das ist ja schön.“ Katharina hob Lara auf ihre Arme. „Siehst du, Schätzchen? Manche Probleme erledigen sich von allein.“

Kurz darauf waren die Kinder in ihren Sitzen verstaut. Katharina saß auf dem Beifahrersitz und winkte, als sie vom Grundstück fuhren. Balthasars Eltern erwiderten den Abschiedsgruß mit deutlicher Erleichterung.

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Tag der Veröffentlichung: 13.07.2021

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