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Amrum ist gut fürs Herz - Vol. 4

Regelmäßig fährt Karsten nach Amrum, in seinen Wohnwagen auf dem Campingplatz. Für ihn ist die Insel der Inbegriff von Erholung. Seit seiner Scheidung und nachdem er jobtechnisch kürzertreten kann, ist er so gut wie jedes Wochenende in seinem Feriendomizil. Überraschend taucht bei einem seiner Aufenthalte ein alter Klassenkamerad auf. Sascha, der mit einem Kumpel im Schlepptau aufkreuzt, weckt widersprüchliche Gefühle in ihm.


1.

Es wehte ein scharfer Wind. Der Himmel war grau bewölkt und das Meer kabbelig. Die Fähre tangierte das kaum. Unbeirrt bahnte sie sich einen Weg durch die Dünung.

Seit Karsten seine wöchentlichen Arbeitsstunden reduziert hatte, fuhr er fast jedes Wochenende nach Amrum. Davor hatte er die Insel maximal alle zwei Monate besucht. Am Freitag war er stets so erschöpft gewesen, dass er das ganze Wochenende zur Regeneration benötigte. Das gehörte glücklicherweise der Vergangenheit an, genau wie seine Ehe.

Die Scheidung hatte ihn finanziell ganz schön angegriffen. Marlies, seine Ex, wollte das Haus und dazu noch Unterhalt. Letzteres war abgeschmettert worden, doch die Immobilie ihr zugefallen. Die Richterin meinte, dass Marlies für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen konnte, da die Kinder - zu dem Zeitpunkt 16 und 19 - keine Betreuung mehr brauchten.

Für die beiden zahlte Karsten natürlich, aber für seine Ex keinen Cent. Marlies war nach der ersten Geburt zu Hause geblieben und hatte nie eine Anstrengung unternommen, etwas zum Familieneinkommen zuzusteuern. Insgeheim tat sie ihm ein bisschen leid. Schließlich hatte er sie nie so geliebt, wie es ihr zugestanden hätte. Anfangs mochte er sie sehr, aber im Laufe der Jahre war es zu einem lauwarmen Gefühl verkommen. Zum Ende hin hatte er sie sogar ein wenig verachtet, schlussendlich auch der Grund, weshalb er endlich um eine Trennung bat.

Im Rückblick musste er sich eingestehen, dass er sie lediglich wegen seines Kinderwunsches geheiratet hatte. Wäre sie nicht da gewesen, hätte er eine andere genommen. Seine Sprösslinge Maja und Emil waren sein ganzer Stolz. Beide würden es im Leben noch weit bringen, davon war er überzeugt. Emil studierte Sozialwissenschaften und Maja plante, sich für Medizin einzuschreiben.

Mittlerweile hatte sich die Fähre dem Anleger genähert. Karsten begab sich aufs Autodeck, wo sein Fahrrad mitsamt Gepäck stand. Den alten Drahtesel, den er sonst auf der Insel benutzte, musste er entsorgen. Durch die salzige Meeresluft war das Ding vollkommen verrostet gewesen.

Zusammen mit ungefähr zehn Passagieren, die ebenfalls Fahrräder mit sich führten, wartete er darauf, von Bord gehen zu dürfen. Trotz Hochsaison hielt sich die Anzahl der Mitreisenden in Grenzen. Das war der Vorteil daran, wenn man bereits donnerstags losfuhr. Freitags war die Fähre nämlich meist brechend voll.

Das schwächelnde Sommerwetter suchte sich den Moment aus, in dem sich die Leute in Bewegung setzten, um einen Regenguss über den Ankömmlingen niedergehen zu lassen. Im Nu war der Busunterstand voll belegt, so dass Karsten weiter radelte und den nächstbesten Schutz in Anspruch nahm: Das Vordach eines Ladens, der Sportklamotten anbot.

So schnell, wie der Guss begonnen hatte, hörte er auch wieder auf. Karsten schwang sich in den Sattel und fuhr die Hauptstraße entlang, wobei er genüsslich die frischgewaschene Luft einsog. Zum Glück hatte er eine gefütterte Regenjacke an. Bei zwanzig Grad, ohne Sonnenschein und mit stetigem Wind wäre es sonst unangenehm geworden.

Am Zeltplatz angekommen sagte er in der Rezeption Hallo. Elke, normalerweise stets zu einem Schwätzchen aufgelegt, nickte ihm bloß zu. Sie war mit zwei Urlaubern, die Anmeldeformulare ausfüllten, beschäftigt.

Karsten schob sein Fahrrad ums Gebäude und über den Sand zu seinem Domizil, wo er es im Vorzelt abstellte. In Wohnwagen roch es nach abgestandener Luft. Er öffnete zwei Luken und fing an, seine Taschen auszupacken.

Er hatte gerade alles verstaut, da klopfte jemand gegen die Außenwand des Wagens. Paul schaute herein. „Hi. Hast du das Scheißwetter angeschleppt?“

„Ich hab vergeblich versucht, es auf der Autobahn abzuhängen.“ Karsten holte ein Sixpack Pils, das er in einen der Schränke gestellt hatte, wieder hervor. „Willkommensbierchen gefällig?“

„Aber immer!“

Dieses Ritual hatte sich in den vergangenen Jahren eingebürgert. Manchmal uferte es zu einem längeren Gelage mit anschließendem Besuch der Blauen Maus aus, manchmal ging Paul nach einem Bier. Je nachdem, wie die Stimmung in dessen heimischen vier Wänden war. Paul und Jutta waren seit zwei Jahren in Rente und seitdem nahezu ständig auf Amrum. Ihre Ehe war schon vorher kein Zuckerschlecken gewesen. Das dauernde Aufeinanderhängen trug nicht dazu bei, die Situation zu verbessern.

Warum die beiden noch zusammen wären, hatte er Paul mal gefragt. Ich mag nicht allein sein, lautete die Antwort. Karsten fand das krass. Es schienen allerdings viele Menschen so zu ticken, denn er hatte häufig beobachtet, wie alte Ehepaare gegeneinander stichelten. Für ihn wäre das unerträglich. Deshalb hatte er sich ja auch lieber scheiden lassen, als weiter in solcher Beziehung zu leben. Seine Ex war nämlich genauso drauf gewesen. Sogar vor den Kindern hatte sie Anspielungen über ihr unbefriedigendes Sexualleben gemacht.

Er zog es vor allein zu sein, statt gemeinsam einsam, obwohl durch die Scheidung etliche soziale Kontakte verlorengegangen waren. Der Kegelclub, die Doppelkopf-Runde. Beide bestanden aus Ehepaaren, unter denen er sich wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt hätte. Außerdem wäre er Marlies bei den Treffen begegnet. Etwas, worauf er gern verzichtete.

Sie ließen sich im Vorzelt nieder. Durch die Plastikfensterscheibe hatte man Ausblick auf die Rückseite des Gebäudes und den Zugang zu den Waschräumen. Momentan trieb sich niemand auf dem Weg, der rund ums Haus führte, herum. Eine Seltenheit. Sonst herrschte ein reges Kommen und Gehen, weil ja jeder mal aufs Klo musste. Auch der an der Hausvorderseite befindliche Krämerladen mit Imbiss erfreute sich großer Beliebtheit.

„Morgen soll es wieder schön werden“, meinte Paul, öffnete eine Bierdose und trank einen Schluck.

„Habt ihr irgendetwas geplant?“ Karsten griff ebenfalls nach einer Dose.

„Jutta möchte rüber nach Föhr, ein bisschen shoppen.“

„Kompensationskäufe?“ So nannte er es, wenn man Unzufriedenheit mit sinnlosen Einkaufstouren übertünchte.

Paul seufzte und verdrehte die Augen. „Gut erkannt. Meist ist sie danach eine Woche friedlich, je nachdem, was ihr in die Netze gegangen ist.“

„Dann lohnt es sich ja, Geld zum Fenster rauszuwerfen.“

„Ihre Ansprüche sind ja nicht groß. Sie guckt schon auf die Preise, wenn sie sich die hundertste Handtasche oder den tausendsten Schal kauft.“

„Wo lagert ihr eigentlich den ganzen Scheiß?“

„Zu Hause in Lübeck. Der Keller ist voll mit solchem Zeug.“ Wieder setzte Paul die Dose an und trank.

Karsten kannte das Problem. Auch Marlies hatte dazu geneigt, ihren Frust mit Geld ausgeben zu kompensieren. Im letzten Jahr ihrer Ehe war nahezu jeden Tag ein Paket von irgendeinem Internetshop eingetroffen. Insofern brauchte sie das Haus wirklich, weil es genug Platz für den ganzen Müll bot.

„Wie war deine Woche?“, wechselte Paul das Thema.

„Viel zu tun. Zum Glück kann ich mittwochs den Kram, den ich nicht geschafft habe, den Kollegen aufbürden.“

„Du hast es gut. Ich musste bis zum Schluss Vollzeit ran.“

Obwohl Paul und Jutta keine Kinder hatten, war sie zu Hause geblieben. Angeblich schaffte sie es mental nicht, einen Job auszuüben. Egal. Das war nicht Karstens Baustelle.

Nach einer Dose Bier verschwand Paul. Ihm war das mehr als recht. Manchmal nervte ihn ihr oberflächliches Gelaber, manchmal kam er gut damit klar. Heute war einer der Tage, an dem er zu ersterem neigte.

Der Himmel war weiterhin wolkenverhangen. Er zog daher wieder seine Regenjacke an, stopfte zwei Stoffbeutel in die Taschen und schob sein Fahrrad durch den Dünensand zum befestigten Weg.

Auf der Fahrt nach Wittdün kamen ihm einige Radler mit Gepäck entgegen. Offenbar hatte gerade die nächste Fähre angelegt. Im Supermarkt füllte er einen Korb mit den Lebensmitteln, die er nicht aus Hamburg mitgebracht hatte, wie frische Milch, zwei Sorten Käse, Brot, Kartoffeln und ein Steak.

Zurück auf dem Campingplatz machte er es sich im Vorzelt gemütlich. Leise Musik, ein Becher Kaffee und gutes Buch. Das war für ihn der Inbegriff von Entspannung.

Zum Abendessen gab es das Steak mit Kartoffeln, Kräuterbutter und Coleslaw-Salat. In solchen Momenten, wenn er allein vor seinem Teller saß, fühlte er sich schon ein wenig einsam. Es war eben schöner, in Gesellschaft zu essen. Dennoch würde er dafür niemals den Preis bezahlen, den Paul in Kauf nahm.



Am nächsten Morgen strahlte die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Gähnend trat Karsten aus dem Vorzelt und reckte die Arme über den Kopf. Einige Meter entfernt steuerte Jutta gerade auf ihren Wohnwagen zu und winkte, als sie ihn erblickte.

„Morgen!“, rief sie ihm zu und huschte ins Vorzelt.

Schon merkwürdig, dass sich Ehepartner im Laufe der Jahre immer mehr glichen. Genau wie Paul trug Jutta etliche Pfunde zu viel auf den Rippen und die grauen Haare kurz. Wenn sie in identischen Klamotten rumlaufen würden, könnte man sie glatt für Zwillinge halten. Oder hatten vielleicht sie schon immer gewisse Ähnlichkeit besessen?

Nach einem gemütlichen Frühstück packte er eine Flasche Mineralwasser, zwei Äpfel, ein Handtuch und Sonnencreme in seinen Rucksack. Auf dem Weg zum Hinterausgang des Campingplatzes guckte er sich aufmerksam nach links und rechts um. Hier und da kam ihm ein Gesicht bekannt vor. Viele Camper waren Wiederholungstäter. Die Insel besaß eben Suchtpotential. Ihn hatte es ja auch beim ersten Besuch gepackt. Okay, Marlies nicht, aber die Kinder kamen ebenfalls regelmäßig her.

Am Ende der Umzäunung wandte er sich nach links. Der Bohlenweg führte über Dünentäler und durch kleine Ansammlungen von Kiefern. Noch roch die Luft nur salzig, doch schon bald, wenn die Sonne an Kraft gewann, würde sich der Duft von Kiefernöl dazu mischen.

Auf der Düne, hinter der sich der Strand erstreckte, verharrte er eine Weile. Links und rechts nichts als Sand und geradeaus die Nordsee. In der Ferne wanderten ein paar Menschen am Wassersaum entlang. Was für ein Unterschied zu den dicht bevölkerten Stränden auf den Balearen oder in anderen Badegebieten. Himmlisch!

Karsten zog seine Schuhe aus und stapfte durch den tiefen Dünensand, runter, zum plattgetretenen des Kniepsands. Am Wasser angekommen prüfte er mit den Füßen die Temperatur. Arschkalt! Diesbezüglich war er eine Mimose.

Während er in Richtung Nebel spazierte, erinnerte er sich an Gegebenheiten, als Emil und Maja noch klein waren. Einmal wollten seine Kinder unbedingt auf eine Sandbank, um dort eine Burg zu bauen. Damals hatte Karsten von Ebbe und Flut noch keine Ahnung, also ließ er die beiden ziehen. Es kam ihm vor, als hätte er nur einmal kurz weggeschaut, da hatte das Wasser den Kindern bereits den Weg zum Strand abgeschnitten. Die beiden standen auf dem immer kleiner werdenden Fleckchen Sand, umklammerten ihre Schaufeln und Eimer und heulten. Mit Marlin hatte er die Früchte seiner Lenden gerettet.

Ein anderes Mal hatten sie die Kinder in einem Bollerwagen über den Strand gezogen. Emil, verrückt nach Muscheln, versuchte vom Gefährt aus, welche zu sammeln. Eine Glasscherbe wurde seinem Sohn zum Verhängnis.

Mit dem schreienden, blutenden Emil waren sie im Schweinsgalopp zur nächsten Ortschaft, Süddorf, gerannt. Mitten im Laufen hatte Karsten versucht, ein Taxi zu rufen. Man teilte ihm mit, dass der einzige verfügbare Wagen in einer halben Stunde eintreffen könnte. Sie nahmen also den Bus, der glücklicherweise kam, als sie Süddorf erreichten. Eine Diskussion über das Verbot von Bollerwagen im örtlichen Nahverkehr schenkte sich der Fahrer, angesichts des verletzten Emils.

In Wittdün, in der einzigen Arztpraxis der Insel, hatten sie wiederum Glück. Die Sprechzeit begann zwar erst eine Stunde später, doch die Ärztin war bereits im Haus und nahm sich Emils an. Sein Sohn bekam eine Tetanusspritze und die Wunde wurde geklammert.

Maja hatte dieses Ereignis genauso mitgenommen wie ihren Bruder. Sie wich Emil in den nächsten Tagen nicht mehr von der Seite und bedachte jede Muschel mit bösen Blicken. Damals war sie vier und Emil sieben.

Karsten blieb stehen und tauschte seine Klamotten gegen eine Schicht Sonnencreme aus. Auf seine Figur, schlank mit einem Schwimmringansatz um die Leibesmitte, war er nicht sonderlich stolz. Hier sah ihn aber niemand. Ach, es war ihm sowieso egal. Er hatte mit Beziehungen, insbesondere mit Frauen, nichts mehr am Hut. Davon war er durch Marlies gründlich kuriert worden.



2.

Gegen drei stieg er an der Haltestelle Blaue Maus aus dem Bus. Er war bis Norddorf gelaufen, hatte sich drei Kugeln Eis gegönnt und entschieden, den Rückweg lieber fahrenderweise zurückzulegen.

Als er sein Domizil erreichte, entdeckte er einen Marienkäfer auf einer der Bohlen, mit denen er das Vorzelt abgedichtet hatte. Er beugte sich runter und zählte die Punkte. Das hatte er als Kind getan, um festzustellen, wie alt ein Käfer ist. Inzwischen wusste er, dass die Anzahl der Punkte nichts damit zu tun hatten. Das aktuelle Exemplar besaß sieben Punkte, wie eigentlich alle, die er je gesehen hatte.

Offenbar hatte er das Tierchen gestört, denn es kehrte ihm den Hintern zu und krabbelte davon. Im Nu war es verschwunden.

„Da geht mein Glückbringer hin“, murmelte Karsten, trat ins Vorzelt, ließ sich auf einen Stuhl fallen und streckte die Beine aus.

Ungefähr zwölf Kilometer hatte er zurückgelegt. Solche langen Touren unternahm er nur unregelmäßig, weshalb er die Strapazen deutlich spürte.

Während er das restliche Wasser, das er auf der Tour nicht getrunken hatte, vernichtete, beobachtete er das Treiben unten auf dem Weg. Plötzlich geriet jemand in sein Blickfeld, mit dem er niemals gerechnet hätte. War das wirklich Sascha, sein ehemaliger Klassenkamerad?

Die Vermutung wurde zur Gewissheit, als sich der Mann in seine Richtung wandte und begann, durch den Dünensand zu waten. In Saschas Schlepptau: Ein blonder Typ, der Karsten unbekannt war. Vielleicht der aktuelle Lover?

Sascha war schon zu Schulzeiten geoutet gewesen. Entgegen vielen anderen Schicksalen hatte man Sascha kaum deswegen belästigt. Eventuell, weil er eine Sportkanone war oder weil sich nicht genug homophobe Dumpfbacken unter den Mitschülern befanden.

Karsten hingegen hatte die volle Breitseite abbekommen. Als unsportlicher Junge mit guten Noten bot er ein hervorragendes Ziel. Streber, Lahmarsch, Pfeife lauteten seine Spitznamen. Ab der neunten Klasse hörte das auf, warum auch immer. Vielleicht hatte es in den Sommerferien Hirn geregnet.

Sascha spähte durch die offene Tür des Vorzelts. „Klopf, klopf. Darf man eintreten?“

„Sofern du mir nicht meine Biervorräte wegsaufen willst, bist du willkommen“, erwiderte Karsten.

„Und wie sieht es mit Kaffee aus?“

„Positiv. Kommt rein.“ Er ging in den Wohnwagen, um die Kaffeemaschine in Betrieb zu setzen.

Sascha hatte er zuletzt auf dem Klassentreffen vor fünf Jahren gesehen. Karsten erinnerte sich, von seinem Wohnwagen auf Amrum geschwärmt zu haben. Wieso hatte sich Sascha das gemerkt? Sie waren weder in der Schulzeit noch danach sonderlich dicke miteinander gewesen.

Mit drei Bechern und einer Tüte Milch gesellte er sich zu seinen Gästen.

„Das ist Rüdiger“, stellte Sascha den Typen vor.

„Hi, ich bin Karsten. Braucht ihr Zucker?“

Sascha schüttelte den Kopf. „Falls du dich wunderst: Wir haben in der Anmeldung nach dir gefragt, sonst hätten wir dich nie gefunden.“

„Ich hab denen gesagt, dass ich Undercover unterwegs bin, um ein Mafia-Mitglied zu beschatten“, meldete sich Rüdiger zu Wort.

Der Typ hielt sich offenbar für lustig. Höflich klebte sich Karsten ein Lächeln ins Gesicht.

„Das hat er natürlich nicht“, meinte Sascha mit einem Stirnrunzeln. „Wir wollen schließlich deinen guten Ruf nicht ruinieren.“

„Ich hab keinen Ruf. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.“

„Rüdiger ist Bulle“, fügte Sascha hinzu. „Nur dass du dich nicht wunderst, wenn er mit sowas kommt.“

„Polizeibeamter“, korrigierte Rüdiger. „Bitte immer schön politisch korrekt bleiben.“

„Geh mir weg mit dieser Scheiß Correctness! Mich kotzt das an.“ Sascha seufzte. „Über Jahrzehnte kämpft man darum, in keine Schublade gepackt zu werden und nun machen die jungen Leute für jeden Dreck eine auf und wollen auch noch da rein getan werden.“

„Sich von der Masse abzusetzen wird eben immer schwieriger.“ Das wusste Karsten nur zu gut von seinen Kindern, die von Klamotten bis hin zu merkwürdigen Hobbys alles ausprobiert hatten.

„Aber muss man dafür seine sexuellen Vorlieben der Öffentlichkeit unterbreiten?“, echauffierte sich Sascha weiter. „Ich binde doch auch nicht jedem auf die Nase, wie ich ticke.“

„Das brauchst du auch nicht. Dir steht es auf die Stirn geschrieben“, witzelte Rüdiger.

„Idiot!“ Sascha schnaubte. „Ich spreize weder den kleinen Finger beim Trinken ab, noch trage ich rosa Tutus.“

„Aber du ziehst jeden verfügbaren Kerl mit den Augen aus“, hielt Rüdiger gegen.

„Ich hole mal den Kaffee.“ Karsten verzog sich in den Wohnwagen und trödelte ein bisschen herum, bevor er sich zurück zu seinen Gästen begab. Nachdem er die Becher gefüllt hatte, nahm er wieder Platz. „Macht ihr hier Urlaub?“

„Nur ein Kurztrip. Eigentlich wollte ich allein herkommen, aber der da ...“ Mit dem Kinn wies Sascha auf Rüdiger. „... hat sich an meine Fersen geheftet.“

„Moment mal! Du hast gefragt, ob ich mitkommen möchte.“

„Das war doch nur rein rhetorisch gemeint.“

„Wo habt ihr euch denn eingemietet?“, fragte Karsten.

„Im Hotel Seemannsbraut. Ich hätte ja lieber ein Appartement gemietet, aber für ein Wochenende in der Saison geht das nicht.“

„Wie nobel. Was kostet die Nacht?“, hakte er nach.

„170 Euro“, antwortete Sascha.

„Wow! Pro Nase?“

„Nein, fürs Doppelzimmer. Sonst wäre mir das echt zu teuer.“

„Das Zimmer ist okay“, schaltete sich Rüdiger ein, nippte am Kaffee und fügte hinzu: „Das Bettgestell scheint auch recht stabil zu sein.“

War das eine Anspielung auf die Art von Sex, den die beiden betrieben? Vor Karstens innerem Auge entstanden Bilder. Es war ja nicht so, dass er noch nie zwei Schwule in Aktion gesehen hätte. Als Jugendlicher hatte er sich zu solchen Pornos einen runtergeholt. Natürlich nur heimlich, denn seine Eltern hätten ihn sonst rausgeworfen. Die beiden waren streng katholisch und lebten inzwischen im Altenheim. Ihr Verhältnis war nie besonders gut gewesen, nicht mal nach der Ankunft von ihren Enkelkindern.

Die schwulen Clips waren allerdings das Einzige, was Karsten in dieser Richtung kannte. Wäre Marlies nicht auf der Bildfläche erschienen, hätte er sich vielleicht um echte Erfahrungen bemüht. Vielleicht ... vermutlich eher nicht. Sein Selbstvertrauen war erst in den vergangenen zehn Jahren gewachsen. Davor hatte er mit starker Scheu zu kämpfen gehabt.

Sascha übernahm den Löwenanteil der Unterhaltung. Rüdiger glänzte mit blöden Bemerkungen und Karsten gab sich redlich Mühe, seinen Beitrag zu leisten. Er war froh, als die beiden nach dem Kaffee aufbrachen.

„Sehen wir uns später in der Blauen Maus?“, erkundigte sich Sascha, schon halb zum Vorzelt hinaus.

„Wahrscheinlich. Wo soll man sonst hingehen?“

„Okay. Dann bis nachher“, verabschiedete sich Sascha und Rüdiger brummelte: „Man sieht sich.“



3.

Sascha wünschte, er hätte Rüdiger nicht mitgenommen. Anfangs war er froh gewesen, nicht allein reisen zu müssen, doch nun störte ihn sein Begleiter erheblich. Natürlich hatte er vorher gewusst, dass Rüdiger zu dummen Sprüchen neigte. Schließlich kannten sie sich schon eine Weile. Wie nervig diese Angewohnheit war, hatte er erst in Karstens Gegenwart gemerkt, weil ihm aufgefallen war, dass es für Unbehagen sorgte.

Karsten ... dessen begeisterte Erzählungen über Amrum waren der Grund für seinen Kurztrip. Normalerweise wäre er niemals auf die Idee gekommen, der Insel einen Besuch abzustatten. Es gab hier schließlich nichts, abgesehen von Wasser und Sand. Warum auch immer war ihm plötzlich danach gewesen, das - laut Karsten - Paradies persönlich anzugucken.

Seit der Trennung von Heinrich vor rund einem Jahr fühlte er sich erschöpft; wie ein Ballon, dem man die Luft rausgelassen hatte. Vielleicht handelte es sich - er war vor einigen Monaten 45 geworden - um die berühmte Midlifecrisis. Vielleicht hatte er einfach eine antrieblose Phase.

Zurück im Hotel fiel ihm wieder ein, weshalb er Rüdiger mochte: Der Kerl war ein fantastischer Stecher und redete beim Vögeln nicht. Dafür stöhnte Rüdiger das ganze Zimmer zusammen.

Hinterher lag Sascha platt auf dem Rücken und genoss die Brise, die durchs angekippte Fenster wehte und seine erhitzte Haut kühlte. Es herrschte Stille, abgesehen von gelegentlichen Stimmen vorbeigehender Leute. Die Ruhe war herrlich.

„Schade, dass es keinen Zimmerservice gibt“, murmelte Rüdiger.

Saschas Magen bestätigte mit einem Knurren, dass es Zeit fürs Abendbrot war. Mittags hatten sie auf der Fähre eine Kleinigkeit gegessen. Die Hühnerplörre - Suppe konnte man das Wasser mit Fettaugen und Fleischkrümeln kaum nennen - war schon lange verdaut.

Ächzend richtete er sich auf und schwang seine Beine über die Bettkante. Den Fick würde er noch eine Weile spüren. Rüdigers Hammer war nicht übermäßig dick, aber lang. Genau die richtige Größe, um seinen Hotspot zu stimulieren.

Zwanzig Minuten später saßen sie in dem Restaurant, das neben dem Hotel lag. Der Wirt hatte es empfohlen und auch gleich einen Tisch für sie reserviert. Obwohl das Lokal nicht voll besetzt war, tat das offenbar not, denn vier Gäste, die kurz nach ihnen eintrafen, wurden fortgeschickt.

Hatte Karsten damals nicht so was wie wegen Reichtum geschlossen erwähnt? Und dass es bei vielen Insulanern in die Nase regnete, weil sie diese so hoch erhoben trugen?

„Ich nehme den Mastochsen“, verkündete Rüdiger, der die Speisekarte studierte.

Sascha wählte das Wiener Schnitzel, dazu ein Viertel Weißwein, während sein Begleiter Bier bestellte.

Sie plauderten über dies und das und gemeinsame Bekannte. Er kannte Rüdiger aus dem Goldenen Hirsch, den er in den Zeiten, in denen er in keiner Beziehung lebte, häufig aufsuchte. Dabei ging es ihm mehr um soziale Kontakte als um Sex. Klar nahm er letzteres auch mit, wenn es sich anbot. Schließlich war er nur ein Mann mit normalen Bedürfnissen. Der Hype aus seiner Jugend, in der es ihn angeturnt hatte, möglichst viele Schwänze pro Tag zu konsumieren, war jedoch vorbei.

„Dieser Karsten ... ich will dir ja nicht auf den Schlips treten, aber ich finde den ziemlich spießig“, meinte Rüdiger beim Espresso, den sie anstelle von Nachtisch geordert hatten.

„In der Schule war er als Streber verschrien. Ein bisschen davon haftet ihm immer noch an, doch im Großen und Ganzen ist er in Ordnung.“

„Das wollte ich damit auch nicht sagen, nur, dass er nicht mein Typ wäre.“

„Karsten ist verheiratet und hat zwei Kinder. Damit fällt er sowieso als möglicher Sexpartner aus.“

„Ich hab schon andere Familienväter kennengelernt, die ganz heiß darauf sind, mal mit einem Mann zu vögeln.“

„Die berühmte Altersschwulität. Davon hab ich auch gehört.“

„Oder verleugnete Bisexualität.“

Sascha leerte seine Tasse und winkte den Kellner heran. „Zahlen, bitte. Alles auf eine Rechnung.“

„Okay, aber morgen bin ich dran“, nahm Rüdiger die Einladung an.

Das schätzte er ebenfalls an seiner Begleitung: Die Unkompliziertheit. Dafür konnte er über manches andere hinwegsehen.

Sie drehten eine Runde durch Wittdün. Rüdiger hatte schon bei ihrer Ankunft in die Schaufenster geguckt und ein immer längeres Gesicht gemacht. Da sich herausstellte, dass die ‚Shoppingmeile‘ aus einer Straße bestand, wurde es noch länger.

„Die einzige Chance, hier Geld auszugeben, ist für fressen und schlafen“, kommentierte Rüdiger den Mangel an interessanten Geschäften.

„Wir sind hier nicht auf Sylt.“

Gespielt panisch starrte Rüdiger ihn an. „Scheiße! Wir sind im falschen Hafen ausgestiegen!“

„Blödmann“, brummelte Sascha amüsiert.

„Aber mal im Ernst: Was machen wir morgen?“

„Fahrräder leihen und die Landschaft genießen.“

„Darf ich auf einen Fick in der Natur hoffen?“

„Sofern wir dafür eine geeignete Ecke finden: Warum nicht?“

„Das verbessert meine Laune erheblich.“ Grinsend schlang Rüdiger einen Arm um seine Schultern. „Lass uns mal zum Strand gucken.“

Angesichts der riesigen Sandfläche stieß sein Begleiter einen überraschten Pfiff aus. „Mein lieber Scholli! Das nenne ich mal eine Sandkiste.“

„Sollen wir lieber Eimer und Schaufel besorgen, damit du dich austoben kannst?“

„Also, eine Sandburg würde ich schon gern bauen.“

„In welcher Größenordnung?“

„Och, nur ’ne kleine.“ Rüdiger hielt eine Hand in Hüfthöhe. „Nicht größer als so.“

„Dann sind wir morgen ja ausgelastet. Vielleicht sollten wir uns eher nach einem Bagger umschauen.“

„Das wäre schon geil, aber ich vermute, dass es verboten ist, den ganzen Strand umzugraben.“

Schmunzelnd zog er Rüdiger weiter, die Promenade entlang. Schon bald endete der befestigte Weg, so dass sie auf Sand weiterlaufen mussten. Kurz darauf erreichten sie einen Holzsteg, der an einem Binnensee entlangführte. Es gab vereinzelt Sitzecken und Tafeln mit Erklärungen, welche Arten von Vögeln in dem Gewässer nisteten.

Ab und zu kamen ihnen Spaziergänger entgegen. Der schmale Bohlenweg erforderte, dass sie dann hintereinander gingen. Rüdiger war erstaunlich still. Es schien, als ob ihm die teilweise über morastigen Untergrund führende Strecke nicht behagte.

Am Ende des Sees gabelte sich der Weg. Rechts lag das Meer, links Dünen und Kiefern. Sie wählten diese Richtung.

Es begann zu dämmern. Manchmal zwitscherte ein Vogel und die Luft roch nach Harz. Ihre Schuhsohlen erzeugten ein dumpfes Geräusch auf den Brettern. Manche schwangen, als wären sie morsch. Rüdiger, weiterhin ruhig, lief, beide Hände in den Hosentaschen, neben ihm her. Das Unbehagen schien jedoch geschwunden zu sein. Stattdessen wirkte sein Begleiter nachdenklich.

Sascha hatte keinen Bock zu reden, weshalb ihm Rüdigers Stimmung gefiel. Er ließ den Besuch bei Karsten Revue passieren und fragte sich, wo dessen Familie steckte. Fuhr man als verheirateter Mann allein in Urlaub? Doch eigentlich nur, wenn der Haussegen schiefhing, jedenfalls nach seiner Erfahrung. Ach, das ging ihn gar nichts an.

Nach einer Weile tauchte der Zeltplatz vor ihnen auf. Wieder gab es eine Kreuzung mit zwei Möglichkeiten. Geradeaus führte der Weg zwischen den Zelten hindurch, rechts um den Platz herum.

„Wollen wir nochmal bei deinem Kumpel vorbeischauen?“, schlug Rüdiger vor.

Sascha nickte und folgte Rüdiger, der geradeaus marschierte. Mittlerweile war es dunkel. Vor einigen Zelten saßen Leute. Hier und da flackerte ein Windlicht. Die friedliche Atmosphäre gefiel ihm. Er war kein Camping-Enthusiast, doch dieser Platz unterschied sich von den spießigen, die er kannte und reizte ihn ungemein.

Sascha erhielt eine Antwort auf die Frage, was denn mit Frau und Kindern war. In Karstens Vorzelt saßen ein Junge und Mädchen. Ihn schätzte er auf ungefähr zwanzig, sie etwas jünger. Die Tochter erkannte er auf den ersten Blick, da sie die gleichen blauen Augen und braunen Haare - bloß ohne silberne Strähnen - wie der Vater besaß.

„N’Abend“, grüßte Sascha die beiden. „Ist der Hausherr auch zugegen?“

„Papa ist kurz für kleine Königstiger“, erwiderte das Mädchen. „Und wer seid ihr?“

„Ich bin Sascha, ein alter Schulkamerad deines Vaters und das ist mein Kumpel Rüdiger.“

„Ich denke, es ist okay, wenn ihr reinkommt“, befand das Mädchen.

Es gab nur noch einen freien Stuhl, den Rüdiger mit Beschlag belegte. Sascha hockte sich auf die Stufe, die zum Wohnwagen führte.

Kaum saßen sie, tauchte Karsten auf und wunderte sich: „Oh, ihr habt euch vermehrt.“

„Durften wir sie in dein Heiligtum lassen?“, erkundigte sich das Mädchen.

„Das geht in Ordnung. Haben sich die Herren denn vorgestellt?“ Karsten drehte eine leere Getränkekiste um und nahm darauf Platz.

Das Mädchen nickte. „Aber wir nicht.“

„Das vorlaute Gör ist meine Tochter Maja und der junge Herr ist mein Sohn Emil“, übernahm Karsten die Vorstellung. „Die beiden sind ohne Voranmeldung hier aufgekreuzt.“

„Ts. Gefährlich. Ihr hättet euren Vater in flagranti erwischen können“, meldete sich Rüdiger zu Wort.

„Papa hat gesagt, er hat die Schnauze voll von Frauen“, verkündete Maja. „Insofern bestand da keine Gefahr.“

„Vielleicht bevorzugt er jetzt Männer“, entgegnete Rüdiger mit einem Zwinkern.

„Papa ist nicht schwul, sonst würde es uns nicht geben.“ Beifall heischend guckte Maja ihren Vater an.

„Richtig, mein Schatz“, erwiderte Karsten. „Möchtet ihr auch etwas trinken?“

„Was süffelt ihr denn da?“, wollte Rüdiger im Hinblick auf die halbvollen Gläser, die auf dem Tisch standen, wissen.

„Alsterwasser“, erwiderte Maja.

„Sowas hätte ich auch gern“, bat Rüdiger.

Sascha schloss sich an.

Kurz darauf hielten sowohl er als auch Rüdiger ein kühles Getränk in den Händen. Endlich redete auch mal Emil, der von seinem Vater übers Sozialwissenschaften-Studium ausgefragt wurde. Sascha lauschte nur mit halbem Ohr, weil er überlegte, ob sein Zelt aus Jugendtagen noch bei seinen Eltern lagerte. Voraussetzung, seinen Urlaub auf Amrum zu verbringen, wäre allerdings Karstens Anwesenheit. Darauf, zwei Wochen allein hier abzuhängen, hatte er nämlich keine Lust.

Ihm fiel auf, dass Maja seinen Begleiter interessiert musterte. Hatte sie etwa ein Faible für ältere Männer? Zugegeben: Rüdiger war ziemlich attraktiv. Blond, blaue Augen, groß und schlank. Trotzdem trennte Maja und ihn rund ein Vierteljahrhundert. Davon mal abgesehen, dass Karstens Tochter das falsche Geschlecht innehatte.

„Lass mich raten: Du bist von Beruf Physiotherapeut“, platzte sie heraus und grinste Rüdiger herausfordernd an.

„Das ist fast richtig. Ich massiere Verbrechern die Handgelenke mittels Stahlbügeln.“

„Oh! Du bist also ein Bulle“, stellte sie mit großen Augen fest. „Dann sollte ich mir in deiner Nähe wohl besser keinen Joint anzünden.“

„In meiner Nähe auch nicht“, grollte Karsten.

„Papa! Das war ein Scherz!“

„Maja kifft nicht. Sie steht mehr auf chemische Drogen“, mischte sich Emil feixend ein.

„Ha-ha! Die Antibaby-Pille ist keine Droge.“ Maja warf ihrem Bruder einen vernichtenden Blick zu, bevor sie sich an ihren Vater wandte: „Mama war übrigens mit ihrem Neuen auf Sylt. Der Typ hat in Westerland eine Wohnung.“

„Ein Appartement“, korrigierte Emil sie näselnd.

„Was ja das Gleiche ist“, fuhr Maja fort. „Außerdem hat der Typ noch ein Haus auf Usedom.“

„Na, da hat es eure Mutter ja gut getroffen“, meinte Karsten trocken.

Entweder lebten die beiden also getrennt oder waren geschieden. Das erklärte die Abwesenheit von Karstens Gattin.

„Ich kann den Kerl nicht leiden“, brummelte Emil. „Wie kann sie nach Papa solchen Lackaffen an Land ziehen?“

„Du bist voreingenommen. Vielleicht hat der Lackaffe mehr Qualitäten als ich“, meinte Karsten.

„Monetäre Qualitäten scheint er jedenfalls zu haben. Geld ist doch auch was Schönes“, warf Sascha ein.

„Geld ist aber nicht alles“, widersprach Emil.

„So lange man genug davon hat, ist es egal.“ Rüdiger lachte.



4.

Karsten war es schnuppe, was seine Ex trieb. Seine beiden liebsten Menschen auf der Welt, seine Kinder, waren da. Nur das zählte. Vorhin, als sie plötzlich vorm Zelt standen, hatte er sich ein Loch in den Bauch gefreut.

Auf dem Weg zur Blauen Maus, - Paul hatte sich ihnen an die Fersen geheftet - legte er einen Arm um Majas Schultern und schnupperte an ihrem Haar. „Du riechst immer noch wie meine Tochter.“

„Mensch, Papa! Ich hab extra ein neues Parfum gekauft, um dich zu beeindrucken. Kannst du das bitte mal honorieren?“

„Du duftest wundervoll“, flötete er.

„Das ganze Zugabteil hat danach gestunken“, murrte Emil in ihrem Rücken.

„Das hat nach deinem Achselschweiß gestunken“, schoss Maja zurück.

Karsten verdrehte die Augen. Seine beiden Lieblinge konnten es nicht lassen, gegeneinander zu sticheln. Das hatten sie schon als Kinder getan. Hörte das denn nie auf?

„Hast du keinen Führerschein?“, fragte Paul, der mit Emil hinter ihm ging.

„Doch, aber ein Auto ist mir zu teuer.“

„Sehr vernünftig.“

„Und Mamas ist in der Werkstatt, sonst hätten wir das genommen“, fuhr Emil fort.

„Ach, so ist das“, murmelte Paul.

„Die Kupplung ist kaputt“, erklärte Maja. „Das wird arschteuer.“

Wie hatte seine Ex denn das wieder geschafft? Vermutlich eine Folge von ihrer Angewohnheit, die Kupplung schleifen zu lassen.

Bis sie die Blaue Maus erreichten, sagte keiner mehr was. Im Schankraum war es voll und laut. Karsten schickte die anderen also wieder raus, damit sie im Garten einen Platz reservierten und baute sich am Tresen auf, um Getränke zu bestellen.

Sascha, der ebenfalls geblieben war, fragte: „Du bist geschieden?“

Karsten nickte. „Schon eine ganze Weile.“

„Kommen deine Kinder damit klar?“

„Sie sind fast erwachsen. Eltern sind in dem Alter ziemlich uninteressant.“

„Trotzdem sind sie hier.“

Der Barkeeper, der ihnen endlich Aufmerksamkeit widmete, unterbrach ihre Unterhaltung. Als sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, redete Sascha weiter: „Und sie scheinen dich sehr lieb zu haben. Jedenfalls lieber als den Neuen deiner Ex.“

Karsten zuckte mit den Achseln. „Sie sind eben an mich gewöhnt.“

„Nun mach dich nicht so schlecht. Du warst, nein, bist bestimmt ein toller Vater.“

Wurde er rot? Seine Wangen fühlten sich ganz heiß an. „Danke für die Blumen.“

„Und sie scheinen gute Menschen geworden zu sein.“

„Nun hör zu schleimen!“

Sascha lachte. „Mist! Du hast es also bemerkt.“

Schmunzelnd wandte sich Karsten dem Barkeeper, der inzwischen ein Tablett für sie bestückt hatte zu. Er übernahm die Rechnung, dafür durfte Sascha die Getränke nach draußen tragen.

Maja und Rüdiger saßen in einem Strandkorb, Emil und Paul in dem daneben. Für Sascha und ihn waren zwei Stühle vorgehen. Unbehaglich stellte Karsten fest, dass seine Tochter mit Rüdiger flirtete. Das ging ihm gehörig gegen den Strich, weil seine Tochter keine Männer neben ihm haben sollte. Lächerlich, aber so empfand er nun mal. Wahrscheinlich typisch für Väter. Zum anderen war es Sascha gegenüber unfair. Was auch immer Rüdiger für jenen war: Maja hatte nicht dazwischen zu grätschen.

„Maja, komm zu deinem Vater“, bat er und guckte Sascha auffordernd an. „Tauschst du den Platz mit meiner Tochter?“

Maja schmollte zwar, gehorchte aber. Als sie sich neben ihm niederließ, tätschelte er begütigend ihren Arm. „Ich hab doch so wenig von dir. Da muss ich jede Minute auskosten.“

„Willst du mir ein schlechtes Gewissen impfen?“

„Ach, Schatz, so war das nicht gemeint.“ Erneut streichelte er ihren Arm. „Erzähl doch mal, wie’s dir so geht.“

„Wie immer. Kein heißer Typ in Aussicht und wenn ich mal einen finde, macht mir mein Vater einen Strich durch die Rechnung.“

Die zickige Ader musste Maja von ihrer Mutter geerbt haben. „Nun bist du ungerecht. Außerdem ist Rüdiger mit Sascha hier.“

„Ja und?“ Sie zuckte mit den Schultern, dann fiel der Groschen. Aus großen Augen starrte sie ihn an. „Du meinst, die beiden sind ...?“

„... liiert“, beendete er ihren Satz.

„Was für ein Mist! Die schönsten Männer sind besetzt oder schwul.“

„Wahre Schönheit kommt von innen.“

„Ts.“ Maja winkte ab. „Ich esse lieber von einem schönen als von einem hässlichen Teller.“

Das ließ er unkommentiert. „Und sonst? Was macht die Schule?“

„Alles bestens. In einer Woche sind Ferien.“

Emil hatte sich jede Eins hart erarbeitet. Maja flogen die guten Zensuren nur so zu. „Willst du immer noch Medizin studieren?“

„Nö. Ich schreibe mich für Bio ein, eröffne danach ein Labor für Viren, lasse eines davon auf die Menschheit los und verdiene mich an dem Gegenmittel dumm und dösig.“ Sie feixte.

„Also strebst du die Weltherrschaft an. Guter Plan, mein Liebling.“

„Und ich heirate reich“, meldete sich Emil zu Wort. „Arbeiten hat keine Zukunft. Das machen uns die Großkapitalisten doch vor.“

„Meine Frau betreibt ein Internetportal“, berichtete Paul. „Sie verkauft Topflappen und Häkelmuster für selbige. Es läuft ganz gut.“

Topf-lappen?“, echote Maja stirnrunzelnd.

„Das sind die Dinger, die man früher benutzt hat, um heiße Töpfe anzufassen“, assistierte Karsten, der bereits von Juttas Leidenschaft wusste. „Wir hatten davon auch einige Paare im Schrank liegen, bis deine Mutter sie als Putzlappen benutzt und anschließend weggeworfen hat.“

„Papa, das weiß ich, aber ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Dass man damit Geld verdienen kann, finde ich krass.“

„Es ist nicht viel, aber Jutta hat dadurch viele soziale Kontakte mit Gleichgesinnten“, relativierte Paul.

„Ich kenne jemanden, der verkauft Spielstände“, mischte sich Rüdiger ein. „Es gibt doch tatsächlich Leute, die dafür Geld ausgeben.“

„Spielstände?“, hakte Paul mit verständnisloser Miene nach.

„Beispielsweise Anno1800, wenn dir das was sagt. Oder Tropico. Der Typ spielt den Kram, bis er ein gewisses Level erreicht hat und verscherbelt es an Leute, die keine Zeit oder Lust haben, ganz von vorn zu beginnen“, erklärte Rüdiger.

Paul schüttelte den Kopf. „Dinge gibt’s ...“

„Lass dir Schlauchbootlippen und dicke Titten anoperieren und eröffne einen Blog“, wandte sich Rüdiger an Maja. „Auf dem erzählst du jeden Tag aus dem Nähkästchen. Die kleine Mädchen werden dir in Scharen hinterherlaufen.“

„Ein Phänomen, das ich absolut nicht verstehe.“ Maja verdrehte die Augen gen Himmel. „Das ist mir echt zu blöde. Wenn du mich fragst, ist sowohl bei den Damen, die das tun und den Mädels, die das toll finden, mehr als eine Schraube locker.“

„Lockere Schrauben sind heutzutage kein Grund mehr, sich zu schämen“, warf Sascha ein.

„Übertriebenes Selbstbewusstsein bis hin zum Narzissmus ist schon nötig, um bei dem Scheiß mitzumachen. Und natürlich das Fehlen jeglicher Selbstreflektion“, dozierte Emil.

„Es ist eine ganz schön beschissene Zeit, in der wir leben.“ Karsten seufzte.

„Warte mal ab, wie sich das noch entwickelt. Es wird garantiert noch beschissener“, antwortete sein Sohn.

Manchmal war Karsten heilfroh, in spätestens fünfzig Jahren das zeitliche zu segnen. Seine Visionen der Zukunft sahen nämlich genauso düster wie Emils aus.

Rüdiger brachte das Thema Darknet und Kinderpornografie auf. Ein weiteres düsteres Kapitel der Menschheit, für das Karstens Prognosen ebenso dunkel aussahen. Er verlegte sich aufs Zuhören und das meist nur mit halbem Ohr. Stets lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken, wenn er sich vorstellte, dass seine Kinder solchen Perversen in die Finger fielen.

Gegen zwei löste sich die Runde auf. Paul war bereits um zwölf aufgebrochen, um Jutta Gesellschaft zu leisten. Vermutlich schlief der restliche Häkelbüddelclub um diese Zeit schon, so dass Pauls Gattin Langeweile schob.

„Man rufe mir meine Sänfte“, meinte Rüdiger, als sie sich verabschiedeten.

„Für mich bitte auch eine“, schloss sich Emil grinsend an.

Sascha verpasste Rüdiger einen spielerischen Schlag gegen den Hinterkopf. „Und während man in Villa Riba noch auf die Sänften wartete, wurde in Villa Bacho schon geschlafen.“

„Wir grillen morgen Abend. Kommt gern vorbei“, bot Karsten an.

„Sofern wir nach den von Rüdiger geplanten Bauarbeiten am Strand noch in der Lage sind, werden wir erscheinen. Sollen wir was mitbringen?“, erwiderte Sascha.

„Bauarbeiten?“, echote Maja.

„Nur ’ne Strandburg“, präzisierte Rüdiger.

„Super! Darf ich mitmachen?“, stieß Maja hervor.

„Ich wäre auch dabei“, kam von Emil.

Man tauschte Handynummern aus, dann trennten sich ihre Wege. Während Karsten, links Emil, rechts Maja, in Richtung Zeltplatz ging, überlegte er, wieso die Kinder ihm bei solchem Vorhaben einen Vogel gezeigt hätten, aber bei Rüdiger in Begeisterung ausbrachen. Sein bierbenebeltes Hirn wusste darauf keine Antwort.

Er überließ den beiden den Wohnwagen und begnügte sich mit der Liege im Vorzelt. Garantiert würde er schnarchen wie ein Weltmeister, wie immer, wenn er gesoffen hatte. Das mochte er seinen Kindern nicht zumuten.

 

Am nächsten Morgen hatte er Kopfschmerzen, doch es hielt sich in Grenzen. Zum Glück war es beim Bier geblieben. Hätte er noch Schnaps dazwischen getrunken, wäre der Tag im Eimer.

Die Kinder kümmerten sich um den Frühstückstisch. Unterdessen besorgte er im Zeltplatz-Kiosk Käse, Marmelade und Brötchen.

Kaum saßen sie am gedeckten Tisch, schaute Paul herein und blieb auf einen Kaffee. Als der Nachbar wieder weg war, fragte Maja: „Das mit den Topflappen war aber ein Scherz, oder?“

Karsten lachte. „Das war sein voller Ernst. Pauls Frau betreibt dieses Hobby schon seit zwanzig Jahren.“

„Jedem Tierchen sein Pläsierchen“, murmelte Emil.

Maja rümpfte die Nase. „Wie spießig! Dann doch lieber Schlauchbootlippen, Plastiktitten und Scheiße labern.“

„Von mir bekommst du kein Geld für solchen Quatsch!“, erwiderte Karsten mit drohendem Blick.

„Echt? Menno!“ Sie schob die Unterlippe vor.

„Sie braucht keine OP“, stellte Emil fest und guckte vielsagend Majas Mund an.

Schwupps!, zog sie die Lippe wieder ein. „Und Rüdiger und Sascha sind echt schwul?“

„Vielleicht sind sie unecht schwul. Keine Ahnung. Ist das nicht egal?“, entgegnete Karsten.

„Eigentlich schon, wobei ...“ Sie kratzte sich an der Schläfe. „Ist schon krass sich vorzustellen, wie sie sich gegenseitig die Schwänze irgendwohin schieben.“

Karstens Kopfkino gaukelte ihm Bilder von Rüdiger und Sascha beim Bettsport vor. Sein eh kaum vorhandener Appetit verschwand völlig. Aus irgendeinem Grund fand er die Vorstellung ätzend. Er legte das angebissene Brötchen ab und griff nach seinem Kaffeebecher. „Für die beiden ist es bestimmt genauso krass sich vorzustellen, wo Heteros ihre Geschlechtsteile reinstecken.“

„Mag sein. Ich bin jedenfalls froh, dass du nicht schwul bist.“ Maja beäugte das Käseangebot. „Gab’s keinen Emmentaler?“

„Leider nicht.“

 

Im Anschluss ans Frühstück unternahmen sie eine Shoppingtour nach Wittdün. Maja hatte in einem der Schaufenster eine total süße Bluse gesehen, die sie unbedingt haben wollte. Emil bekam zum Ausgleich ein paar Sneakers.

Danach lieh Karsten für die beiden Fahrräder, damit sie mobil waren. Allein kehrte er zum Campingplatz zurück, da sich die zwei mit Rüdiger und Sascha zu dem Sandburgbauen-Event trafen.

Er verfrachtete bloß die Einkäufe in den Wohnwagen, um gleich zurück nach Wittdün zu radeln und am Strand nach den Burgenbauern Ausschau zu halten. Am schmalen Abschnitt fand er sie nicht. Schließlich konsultierte er sein Handy, weil er keine Lust hatte, den ganzen Wassersaum abzugrasen. Wer weiß, wo die vier ganz hingelaufen waren?

„Wo steckt ihr?“, fiel er gleich mit der Tür ins Haus, sobald sich Maja meldete.

„Auf der Shopping-Mall. Rüdiger sucht noch nach dem richtigen Werkzeug.“

„Okay. Ich stoße gleich zu euch.“

Karsten begab sich wieder zu seinem Fahrrad und schob es bis zur Inselstraße. Nach einigen Minuten entdeckte er die vier auf dem Bürgersteig, beladen mit Sandspielzeug. Als er ihnen entgegenging, musste er über die begeisterten Mienen schmunzeln. Die vier sahen aus wie Kinder, die sich auf ein Abenteuer freuten.

„Für dich haben wir jetzt gar keine Schaufel gekauft“, begrüßte ihn Sascha. „Aber ich will mal nicht so sein und teile meine mit dir.“

„Das ist aber großzügig.“ Belustigt betrachtete Karsten die Ansammlung aus Eimerchen, Sandformen, kleinen Harken und Sieben.

Während sie in Richtung Strand pilgerten, beratschlagten sie, wo die beste Stelle für ihr Projekt wäre. Rüdiger war dafür, nicht allzu weit zu laufen, damit sie in der Nähe der Toiletten und des Kiosks blieben. Emil und Maja hingegen wollten weitab von der Promenade die Burg errichten. Letztendlich konnten sie Rüdiger überzeugen, dass Toiletten überbewertet wurden und sie genug Proviant in dem Rucksack, den Sascha trug, dabei hatten.

 

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Tag der Veröffentlichung: 22.06.2021

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