Mit neun Jahren hat Silas das letzte Mal im Garten gespielt. Er und seine vier Geschwister werden seitdem von ihrem Vater im Keller gefangen gehalten. Mit neunzehn gelingt es ihm, zu flüchten und Hilfe zu holen. Ein völlig neues Leben, mit Unterstützung des Jugendamtes, beginnt. Andererseits ist es nicht völlig neu, weil die Kinder unter einem Deckmantel leben müssen. Würde die Presse sie in die Finger bekommen, wäre das eine Katastrophe. Eigentlich hat Silas bloß ein Gefängnis gegen ein weiteres ausgetauscht. In seiner Einsamkeit hängt er sein Herz an den nächstbesten, nämlich seinen Betreuer.
Sämtliche Gegebenheiten sind frei erfunden. Die Vorgänge im Jugendamt und Krankenhaus sind nach bestem Wissen und Gewissen geschildert.
Fünf Kinder jahrelang vom Vater im Keller eingesperrt, lautete die Schlagzeile der Blah-Zeitung am Mittwochmorgen. Gähnend griff Laurenz nach seinem Kaffeebecher und leerte ihn in kleinen Schlucken, wobei er den Artikel überflog. Unglaublich, zu welchen Taten Menschen fähig waren. Vom eigenen Vater gefangen gehalten und das über vermutlich zehn Jahre.
Der Vorfall erinnerte ihn an den Irren, der in Österreich die eigene Tochter in einem Verlies inhaftiert und mehrfach geschwängert hatte. Was ging in den Köpfen solcher Leute vor? Ach, nein, das wollte er lieber nicht wissen. Bestimmt wurde man verrückt, wenn man sich zu tief in die Abgründe solcher Psyche hineindachte.
„Morgen“, grüßte seine Kollegin Mechthild und nahm am Schreibtisch gegenüber Platz.
„Moin. Hast du das schon gelesen?“ Er wedelte mit der Zeitung.
„Was genau?“
„Na, von dem Typen, der die eigenen Kinder weggesperrt hat.“
„Ich sag’s ja immer wieder: Werdende Eltern sollten einen Kinderführerschein machen. Wer bei der Prüfung durchfällt, muss das Baby in fähigere Hände abgegeben.“
Mit dieser reaktionären Ansicht spiegelte sie zwar in etwa Laurenz‘ Meinung, dennoch fand er sie etwas zu hart. Schließlich gab es viele Eltern, die mit etwas Hilfe die Erziehung ihrer Brut ganz gut hinbekamen.
„Angeblich handelt es sich um ein Mitglied dieser Mun-Sekte“, erzählte er. „Die reden ja ständig vom Weltuntergang.“
„Tun das nicht alle Sekten?“
„Keine Ahnung. Ich kenne nicht sonderlich viele.“
„Ich auch nicht, aber mit irgendetwas muss man seine Anhänger ja ködern. Ein Weltuntergang ist ein super Lockmittel, wenn man seinen Jüngern ein Weiterleben bei unbedingter Treue und Ergebenheit verspricht.“
„Werde ich mir merken, für den Fall, dass ich mal eine Sekte gründe.“ Laurenz wandte sich wieder dem Artikel zu.
Die Sache war aufgeflogen, weil das älteste der Geschwister geflohen und die Polizei alarmiert hatte. Auf den Schwarzweißfotos sah man ein großes Anwesen mit Gewächshäusern und einem Wohngebäude. Eine zweite, erwachsene Person soll beteiligt gewesen sein. Man fahndete nach dem Mann, der sich vermutlich in Richtung Asien abgesetzt hatte.
Fotos der Kinder gab es keine. Das enttäuschte Laurenz sensationsgeile Verstandeshälfte. Die andere war darüber froh, denn so manches Opfer wurde durch zu viel Presseaufmerksamkeit im Nachhinein ein zweites Mal traumatisiert. Dafür gab es ein Bild des Vaters, eines verhärmt wirkenden Mittfünfzigers. Der Typ machte den Eindruck, als hätte er den Scheiß mit dem Weltuntergang wirklich geglaubt. Das war trotzdem kein Grund, jemanden einzusperren und schon gar nicht Kinder.
„Gib mir mal das Käseblatt“, bat Mechthild, woraufhin er die Zeitung faltete und ihr zuwarf. „Danke.“
Laurenz musste eh los. Er hatte einen Ortstermin bei einer Familie in einem sozialen Brennpunkt.
Mit neun sah Silas das letzte Mal Tageslicht. Das wusste er so genau, weil er einen Woche vor ihrem Umzug in die Kellerräume Geburtstag gefeiert hatte. Damals behauptete ihr Vater, sie vor drohender Gefahr beschützen zu müssen. Er und seine Geschwister waren derart eingeschüchtert, dass sie sich in der ersten Zeit nur flüsternd unterhielten.
Ihr Tagesablauf sah folgendermaßen aus: Frühstück, dann Unterricht bei ihrem Vater oder Gunther, einem Freund der Familie. Ihre Mutter war ein Jahr nach der Geburt von Silas‘ jüngstem Bruder gestorben. Kurz danach tauchte Gunther auf und wohnte seitdem bei ihnen.
Die Zubereitung des Mittagessens oblag ihm und seinen Geschwistern. Da Silas von klein auf seiner Mutter in der Küche geholfen hatte, funktionierte das einigermaßen. Außerdem bot es wenigstens ein bisschen Abwechslung in dem ansonsten tristen Alltag.
Je älter Silas wurde, desto öfter hinterfragte er die Absichten seines Vaters. Im Fernsehen wurde nie etwas über irgendeine Katastrophe berichtet. Draußen schien also alles normal weiterzulaufen. Wann immer er seinen Vater darauf ansprach, wurde er zurechtgewiesen.
„Ich weiß schon, was gut für euch ist“, lautete die Standardantwort. „Schließlich bin ich euer Vater.“
Silas‘ Zweifel wurden immer lauter. Die Zwillinge Anton und Geraldine, drei Jahre jünger als er, waren ebenfalls zunehmend unzufrieden. So manches Mal hockte sie beieinander und besprachen flüsternd, damit die anderen Geschwister nichts mitbekamen, wie sie ihren Vater umstimmen könnten.
Kurz vor Silas‘ neunzehntem Geburtstag wagten sie den offenen Aufstand. Beim Abendessen verlangten sie von ihrem Vater, den Keller verlassen zu dürfen. Die Folge: Zwei Tage sperrte ihr Vater sie zu dritt in ein Zimmer. Für ihre Notdurft gab es nur einen Eimer, zum Schlafen eine große Matratze. Ansonsten war das Zimmer leer. Ihre Mahlzeiten, die Gunther durch einen Türspalt hereinreichte, bestanden aus Wasser und je einer Schüssel Haferbrei.
Der Arrest bewirkte, dass sie erstmal den Mund hielten. Die Unzufriedenheit blieb jedoch.
Drei Wochen nach diesem Vorfall beschlossen Silas und die Zwillinge, dass einer von ihnen Hilfe holen musste. Der günstigste Zeitpunkt für eine Flucht war abends, wenn die Glotze lief und ihr Vater mit Gunther oben im Haus hockte. Häufig kam er erst gegen zehn wieder in den Keller, um sie ins Bett zu stecken. Das bot ein ausreichend großes Zeitfenster, um das Grundstück zu verlassen und jemanden zu alarmieren.
Silas wusste noch, dass es ungefähr zwanzig Minuten von seinem etwas abgelegenen Elternhaus zum nächsten Nachbarn dauerte. Als Schulkind hatte er diesen Weg regelmäßig mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurückgelegt. Bis zum Dorf brachte man eine halbe Stunde, sofern man schnell ging. Das wäre im Notfall auch zu schaffen.
Einige Tage nach diesem Entschluss ergab sich eine günstige Gelegenheit. Ihr Vater zog die Kellertür bloß ins Schloss, anstatt sie zu verriegeln. Das geschah in regelmäßigen Abständen und gehörte zu ihrem Plan. Mithilfe eines spitzen Küchenmessers gelang es Silas und Anton, die Tür zu öffnen. Danach gab es kein Zurück mehr, denn die Spuren. die sie dabei hinterließen, waren nicht zu übersehen.
„Viel Glück“, wünschten Anton und Geraldine.
Stumm nickte Silas den beiden zu. Mehr war nicht drin. Ihm klopfte nämlich das Herz bis zum Hals. Wenn er es vermasselte, drohte ihnen garantiert ewig langer Arrest. Vielleicht bis zum Ende seines Lebens.
Mit weichen Knien schlich er die Treppe hoch und atmete auf, als er die zweite Tür nur angelehnt vorfand. Er spähte in den Flur und lauschte angestrengt. Stille. Anscheinend waren Gunther und sein Vater nicht im Haus.
Auf Zehenspitzen begab er sich in die Küche, um durch die Hintertür in den Garten zu gelangen. Ihm blieb fast das Herz stehen, als er plötzlich das Klimpern eines Schlüsselbunds vernahm. Im nächsten Moment hörte er Schritte im Flur und die Stimme seines Vaters. Hektisch riss er die Tür auf, schlüpfte hindurch und drückte sie so leise wie möglich wieder zu.
Durch die Scheibe sah er Gunther, der die Küche betrat und etwas aus dem Kühlschrank holte. Dann verschwand der Mann wieder. Erneut atmete Silas auf.
Während er tief Luft holte, orientierte er sich nach allen Seiten. Früher war ihm das Grundstück riesengroß vorgekommen. Es schien geschrumpft zu sein. Der Zaun, der es zur Straße hin abgrenzte, lag nur wenige Schritte entfernt.
Büsche boten Deckung, als er seinen Standort verließ und den Gartenzaun ansteuerte. Selbiger bestand nur aus Holzlatten, über die es sich leicht hinwegsteigen ließ. In gebückter Haltung bewegte sich Silas an der Grundstücksgrenze entlang, bis zum Ende, an das sich ein Wäldchen anschloss.
Kaum hatte er die Bäume im Rücken, begann er zu laufen. Seine Kondition war eher mangelhaft, was ihm rasch Seitenstiche bescherte. Trotz seiner Bemühungen, fit zu bleiben, mangelte es im Keller eben an Bewegungsmöglichkeiten. Da halfen seine morgendlichen Liegestütze und Situps nur wenig.
Wie veranschlagt benötigte er zum nächsten Nachbarn, der Familie Bornhöft, falls diese noch dort wohnte, rund zwanzig Minuten. Leider waren alle Fenster dunkel und auf sein Läuten hin passierte nichts. Vor Enttäuschung kamen ihm die Tränen. Genervt wischte er sich übers Gesicht und setzte seinen Weg fort. Dann musste er eben bis zum Dorf laufen.
Zweimal fuhren Wagen an ihm vorbei, was ihn dazu veranlasste, in den Graben zu springen und sich zu ducken. Die Sorge, dass bereits Gunther oder sein Vater nach ihm suchte, war riesengroß.
Endlich, nach einer Ewigkeit, erreichte er das Ortsschild, auf dem Nahe prangte. Beflügelt von der Aussicht, gleich Menschen zu treffen, beschleunigte er seine Schritte. Die Straßen waren jedoch wie leergefegt. Vermutlich saßen alle vor der Glotze. Dazu, einfach irgendwo zu läuten, fehlte ihm der Mut. Wer weiß, auf was für Menschen er bei solcher Aktion stieß.
Schließlich, drei Häuser weiter, entdeckte er ein Lokal, dessen Neonreklame anheimelnd leuchtete. Er hielt darauf zu und musste sich vor der Tür selbst Mut zusprechen, um sie aufzustoßen und einzutreten. Gefühlt hundert Augenpaare richteten sich auf ihn.
„Ich ... ich brauche Hilfe. Meine Geschwister und ich werden gefangen gehalten“, brachte er stammelnd hervor.
Ungläubigkeit auf den Gesichtern.
„Bi-bitte! Bitte rufen Sie die Polizei.“
„Wie heißt du?“, will einer der Anwesenden wissen.
„Silas ... Silas Martinek.“
„Martinek? Das ist doch dieses Anwesen da draußen“, meldete sich ein anderer Gast zu Wort. „Da hab ich noch nie Kinder gesehen.“
Rund eine Stunde später saß Silas in einem Polizeiwagen, der den Weg, den er zu Fuß zurückgelegt hatte, innerhalb weniger Minuten schaffte. Die beiden Beamten begleiteten ihn zum Haus. Auf ihr Läuten hin dauerte es, bis sein Vater die Tür öffnete und bei seinem Anblick die Augen aufriss.
„Herr Martinek?“, fragte einer der Beamten.
Silas‘ Vater nickte.
„Wir würden uns gern davon überzeugen, dass es Ihrer Familie gutgeht.“
„Es sind alle wohlauf“, erwiderte Silas‘ Vater mit ungewohnt dünner Stimme.
„Wer ist denn da?“, ertönte Gunthers Organ.
„Die Polizei!“, rief Silas‘ Vater über die Schulter.
„Dürfen wir reinkommen?“, erkundigte sich der Beamte.
Eine weitere Stunde später saß Silas wieder in einem Wagen, diesmal in einem größeren, zusammen mit seinen Geschwistern. Man karrte sie zur Polizeistation, wo ihre Personalien aufgenommen wurden. Anschließend holte eine Frau sie ab und brachte sie zu einem Gasthof, in dem sie auf Zimmer verteilt wurden. Als die Dame versuchte, Malte und Merle in getrennte Räume zu stecken, protestierten die beiden. Silas‘ jüngste Geschwister waren deutlich verängstigt und es überhaupt nicht gewohnt, voneinander getrennt zu sein. Die beiden bekamen also ein Doppelzimmer. Geraldine hingegen freute sich, als man ihr einen eigenen Raum zuwies, genau wie Anton und Silas.
Nachdem sie sich mit ihrer spärlichen Habe eingerichtet hatten, trafen sie sich im Gastraum wieder.
„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Silas die Dame, die mit einem Glas Tee auf sie gewartet hatte. „Was passiert mit unserem Vater?“
„Vermutlich wird man ihn erstmal in Haft nehmen. Schließlich hat er sich der Freiheitsberaubung schuldig gemacht.“
Merle schniefte.
Begütigend tätschelte die Frau Merles Hand. „Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“
Silas konnte es gar nicht erwarten, in einem Zimmer mit Tageslicht aufzuwachen. Im Keller hatte es zwar Kasematten gegeben, doch das war ein Unterschied zu direkter Sonneneinstrahlung. Bestimmt sah er aus wie eine wandelnde Leiche, genau wie seine Geschwister. Alle waren totenbleich, besonders Merle.
„Morgen überlegen wir gemeinsam, wie es weitergehen soll. Es gibt verschiedene Möglichkeiten“, fuhr die Frau fort. „Wenn ihr zusammenbleiben wollte, finden wir eine Lösung. Ansonsten könnten die jüngeren in einen Pflegefamilie gehen und die älteren ...“
„Will nicht in einen Pflegefamilie!“, fiel Merle ihr ins Wort.
„Wir bleiben zusammen“, entschied Silas für seine Geschwister.
„Schlaft einmal drüber“, bat die Dame, leerte ihr Glas und schaute unauffällig auf die Uhr, die über dem Tresen hing. „Es ist schon spät. Da fällt man besser keine so weitreichenden Entscheidungen.“
„Ich lass euch nicht allein“, wandte sich Silas an Merle und Anton, die ihn mit riesengroßen Augen anstarrten.
„Genau. Wir bleiben zusammen“, bekräftige Anton, wozu Geraldine nickte.
Am folgenden Morgen wurden sie erneut woandershin gebracht. Die Frau vom Vortag begleitete sie und übergab sie an einen Mann, der sich ihnen als Peer Wagner vorstellte.
„Ich bin zuständig für eure Betreuung und euren Schutz“, teilte Peer ihnen mit. „Wir wollen vor allem verhindern, dass eure Gesichter in der Zeitung erscheinen.“
Das war Silas recht. Er fand es schwierig genug, mit der realen Welt außerhalb des Kellers klarzukommen. Einen Ansturm der Presse auf seine Geschwister und sich brauchte er gerade so nötig wie ein Loch im Kopf.
In den folgenden Wochen gab es unzählige bürokratische Dinge, um die sich Peer kümmerte, genau wie um eine Wohnung. Er und seine Geschwister mussten medizinische und psychologische Untersuchungen über sich ergehen lassen. Die Ärzte kamen zu dem Schluss, dass sie dauerhaft Hilfe benötigten, vor allem die jüngeren.
Das hätte Silas den werten Doktoren auch ohne den ganzen Scheiß sagen können. Sie mussten unheimlich viel lernen, auch wenn sie durchs Fernsehen nicht ganz weltfremd waren. Soziale Interaktion mit Fremden kannte er zumindest noch aus den Jahren, in denen er aktiv am Leben draußen teilgenommen hatte. Seine Geschwister hingegen, insbesondere Merle, waren diesbezüglich vollkommen unerfahren.
Damit sie niemand mit dem Vorfall in Verbindung brachte, hatte man sie in eine Großstadt, Hamburg, verfrachtet. Das war einerseits aufregend, andererseits ein kultureller Schock. Wenn Silas mit Peer und einem anderen seiner Geschwister - sie gingen nie alle zusammen raus, wegen der Tarnung - unterwegs war, staunte er über das lebhafte Treiben in den Straßen und Überangebot in den Läden.
Aufgrund seines Alters kam für ihn nicht mehr infrage, eine normale Schule zu besuchen. Sowieso strebte Peer für alle Geschwister eine andere Lösung an. Anton und Merle wollte er bei einer Waldorfschule anmelden. Die beiden hatten, gemessen am Alter, den besten Bildungsstand von ihnen. Der Rest sollte erstmal Privatunterricht bekommen, bis ein gewisses Niveau erreicht war. Anschließend schwebte Peer für Silas eine Erwachsenenbildungseinrichtung vor und für Geraldine und Anton vielleicht auch. Je nachdem, wie sich die beiden entwickelten.
Ihr Vater saß derweil in Untersuchungshaft. Gunther war auf der Flucht. Nach ihm wurde international gefahndet. Häufig fragten Anton und Merle nach ihrem Vater und baten, ihn besuchen zu dürfen. Dafür hatte Silas zwar Verständnis, schließlich war ihr Erzeuger ihre engste Bezugsperson, aber anschließen würde er sich ihnen nicht. Im Nachhinein war ihm unbegreiflich, was ihr Vater ihnen angetan hatte. Sicher, da war die religiöse Überzeugung, doch rechtfertigte das, anderen Menschen ihr Leben wegzunehmen?
In seinen Therapiestunden arbeitete er vieles auf. Die dreimal wöchentlich von Gunther abgehaltenen Gottesdienste und Gebete vor jeder Mahlzeit ähnelten einer Gehirnwäsche. Man hatte ihnen eingebläut, dass der Kontakt zu anderen Menschen schädlich sei. Man könnte sich dabei mit einem tödlichen Virus infizieren. Dieser würde schon lange unter der Bevölkerung wüten, nur hielte man das vor der Öffentlichkeit geheim.
Anfangs hatte er alles geglaubt. Später hatte er die Behauptungen mehr und mehr infrage gestellt. Wäre er eher isoliert worden, wie seine kleinen Geschwister, hätte er vermutlich alles für bare Münze genommen. Gerade die beiden jüngsten hatten arge Probleme, sich von dem Irrglauben zu lösen.
An einem Montagmorgen wurde Laurenz zu seinem Vorgesetzten Mark beordert. Er hasste es, wenn die Woche auf diese Weise begann. Sowas bedeutete immer, dass man ihm einen neuen Fall unterschob. Als ob er nicht schon einen vollen Schreibtisch hätte.
„Setz dich“, bat Mark, als er das Büro betrat.
Laurenz nahm auf dem Besucherstuhl Platz.
„Es geht um fünf Kinder. Mutter tot, Vater in U-Haft.“ Mark schob eine Akte über den Tisch. „Vielleicht hast du von dem Fall gehört. Ist allerdings vier Monate her.“
Stirnrunzelnd nahm er den Hefter an sich und schlug ihn auf. Familie Martinek ... da klingelte was bei ihm. das war doch diese Sache mit dem Irren, der seine Kinder eingesperrt hatte. Er blätterte in der Akte. Zwei Mädchen, drei Jungs im Alter von zwölf bis neunzehn. Von den Fotos sahen ihm ernste Gesichter entgegen.
„Bisher hatte Peer diesen Fall“, erzählte Mark. „Leider muss er die Familie abgeben, weil sich einer seiner Schützlinge emotional zu stark an ihn gebunden hat.“
„Schade.“ Laurenz klappte den Hefter wieder zu. „Wie soll ich die Kinder in meinem ohnehin straffen Zeitplan unterbringen?“
„Mechthild nimmt dir zwei Fälle ab. Ich hab sie schon entsprechend instruiert.“
„Okay. Ich geh dann mal zu Peer.“
„Hals und Beinbruch“, wünschte Mark mit einem aufmunternden Lächeln.
Mit seinem Vorgesetzten hatte Laurenz echt Glück. Im Amt gab es andere Kaliber, denen es gleichgültig war, wie viele Überstunden ihre Untergebenen schoben. Hauptsache, sie konnte zum Quartalsende beim Chef mit möglichst hohen Betreuungsquoten punkten.
Laurenz besorgte sich einen Kaffee, bevor er sich zu Peer begab. Der Kollege war Anfang dreißig, blond, blauäugig, groß und besaß ein sympathisches Gesicht. Kein Wunder, dass eines der Mädchen auf ihn flog.
Sie gingen die Akte durch, dann legte Laurenz sie beiseite und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Erzähl mir doch bitte etwas zu jedem der Kinder.“
Peer machte es sich ebenfalls bequem. „Die beiden Jüngsten wirken auf mich, als ob sie am liebsten wieder in den Keller wollen. Sie sind sehr ängstlich und haben kaum Selbstvertrauen. Ich denke aber, dass sich das mit der Zeit geben wird.“
„Und die Zwillinge?“
„In meinen Augen haben sie die Gefangenschaft am besten verkraftet. Vielleicht dadurch, dass ihre Verbindung sehr stark ist.“
„Gehe ich recht in der Annahme, dass es Geraldine war, die dich zum Rücktritt veranlasst hat?“
Peer schüttelte den Kopf. „Es war Silas.“
Laurenz staunte. Damit hätte er niemals gerechnet. Er griff nach der Akte und studierte das Foto des Jungen. Hübsche, braune Augen guckten ernst in die Kamera. Die ebenfalls braunen Haare waren modisch verstrubbelt, der Teint sehr blass.
„Er hat mich sehr direkt angebaggert. Als ich mit ihm darüber gesprochen habe meinte er, in mich verliebt zu sein. Ich denke aber, dass es ihm nur um Sex ging. Er macht auf mich den Eindruck eines vor Hormonen strotzenden Burschen. Kein Wunder, war er doch während seiner Pubertät eingesperrt und musste sich bestimmt wegen seiner Geschwister zurücknehmen.“
„Also ein Nachholbedürfnis?“
Peer nickte. „Genau. Ich meine, stell dir doch nur vor, man hätte dich in deiner Sturm- und Drangphase weggesperrt.“
„Lieber nicht.“ Seufzend legte Laurenz die Akte wieder weg. „Ich glaube, ich wäre an meinem Bewegungsdrang erstickt.“
Peer lüpfte eine Augenbraue. „Bewegungsdrang?“
„Die blumige Umschreibung für eine nicht jugendfreie Sportart.“
Sein Gegenüber grinste. „Das werde ich mir merken.“
„Dann will ich dich nicht länger aufhalten und mal in mein Büro zurückgehen, um mir Mechthilds Gemecker anzuhören.“
„Ziegen, die meckern, beißen nicht.“
„Da kennst du Mechthild schlecht. Die kann beides.“ Feixend schnappte er sich die Akte und seinen Kaffeebecher.
Seine Kollegin erwartete ihn mit neugieriger Miene. „Was hast du denn für einen Fall bekommen, dass ich gleich zwei von deinen übernehmen muss?“
„Erinnerst du dich an die Story mit den Kindern, die vom Vater im Keller gehalten worden sind?“
„Sag bloß, man hat dir Peers Fall übertragen.“
Laurenz nickte, ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und nippte am Kaffee. Das Zeug war inzwischen lauwarm und schmeckte eklig. „Er musste ihn abgeben.“
„Ist der Grund ein Geheimnis?“
„Eines der Kinder hat sich emotional zu eng an ihn gebunden.“
„Kein Wunder, bei solchem Traumtyp.“ Mechthild verdrehte die Augen und seufzte übertrieben. „Ich würde Peer auch nicht von der Bettkante stoßen.“
Das würde Laurenz ebenso wenig. Leider war Peer strikt hetero, dazu noch verheiratet. „Was du gleich wieder denkst ...“
„Ich weiß noch, wie’s mir in dem Alter ging.“ Seine Kollegin bekam einen schwärmerischen Gesichtsausdruck. „Ich hab nichts anbrennen lassen.“
Er mochte Mechthild wirklich gern, doch die Vorstellung, dass sie als Sirene durch die Gegend tingelte, erzeugte bei ihm ein Schaudern. Vielleicht war sie in ihrer Jugend hübsch gewesen, nun ging sie bestenfalls als interessant durch, mit ihren rot gefärbten Haaren und der faltigen Haut. Das konnte aber auch daran liegen, dass er schwul war. Da sah man manche Dinge in einem anderen Licht. „Soll ich dich in meine Fälle einweisen?“
„Ja, bitte.“
Am folgenden Nachmittag nahm er den ersten Termin bei Familie Martinek wahr. Dafür musste er nach Steilshoop fahren, einer Siedlung aus Hochhäusern, die in den späten Sechzigern entstanden war. Einst handelte es sich um ein ehrgeiziges Projekt. Es war angedacht einige Bauten so zu gestalten, dass darin Groß-WGs, nach dem Vorbild der Kommune 1, wohnen konnten. Mittlerweile merkte man von diesen Plänen nichts mehr. Der Stadtteil war runtergekommen und beherbergte eine große Anzahl Bewohner mit sehr niedrigem Einkommen und/oder Migrationshintergrund.
Laurenz stellte seinen Wagen in einem nahezu verwaisten Industriegebiet ab. Von dort waren es nur wenige Meter zu Fuß bis zu seinen Klienten. Am Klingelschild stand ein Tarnname, nämlich Müller, damit niemand die Kinder mit den Zeitungsschlagzeilen in Verbindung brachte.
„Ja?“, meldete sich eine junge Stimme auf sein Läuten hin.
„Hier ist Laurenz Stein. Wir sind verabredet.“
Der Öffner summte. Er trat ins Treppenhaus und beäugte skeptisch den Lift. Allerdings hatte er keine Lust, bis in den 6. Stock zu Fuß raufzusteigen. Dann doch lieber die nach Urin stinkende Kabine benutzen.
Während der Fahrstuhl ihn nach oben transportierte, betrachtete er die Kritzeleien an den Wänden. Alda, fikken, darunter die kubistisch anmutende Skizze eines männlichen Geschlechtsteils. Fuck off war mehrfach vertreten. Einiges konnte Laurenz nicht entziffern, weil es entweder eine fremde Sprache oder der Künstler des Schreibens nicht mächtig war.
Im 6. Stock gab es acht Wohnungstüren. Nach einer Runde um die Etage fand er die richtige und klingelte erneut. Ein Junge, laut den Fotos in der Akte Anton, öffnete.
„Hi. Ich bin Laurenz“, stellte er sich vor.
Anton ließ ihn herein, schloss die Tür und guckte ihn stumm an.
„Du bist Anton, richtig?“, fuhr Laurenz fort.
Sein Gegenüber nickte.
„Peer hat euch ja darüber informiert, dass ich in seine Fußstapfen trete, nicht wahr?“
Erneutes Nicken.
Der Älteste, Silas, tauchte auf und funkelte seinen Bruder an. „Mann, Anton! Du kannst doch reden!“
Röte kroch in Antons Wangen.
„Hallo. Ich bin Silas“, wandte sich selbiger an Laurenz. „Möchten Sie einen Kaffee?“
„Gern.“
Er folgte Silas in die Küche. Zumindest bei diesem Raum hatten die Architekten gute Arbeit geleistet. Ein Gang, der beidseitig mit Küchenschränken und -geräten bestückt war, führte zu einem großen Essplatz in einem Erker mit super Weitblick.
„Milch? Zucker?“, fragte Silas.
Laurenz setzte sich an den Tisch. „Nur Milch, bitte.“
Silas stellte einen Becher, aus dem Dampf aufstieg und eine Milchtüte vor ihm ab und gesellte sich zu ihm. „Peer hat Ihnen sicher erzählt, warum er nicht mehr kommen möchte, oder?“
„Es geht nicht um möchten, sondern um dürfen. Laut unseren Statuten sind wir verpflichtet, gewisse Distanz zu wahren.“
„Er hat gewisse Distanz gewahrt.“
Das klang ziemlich bitter. Verständlich. In dem Alter hatte Laurenz seine Gefühle auch kaum im Griff gehabt. „Wie geht’s dir?“
Silas zuckte mit den Achseln. „Mal so, mal so.“
„Was macht die Schule?“ Alle Kinder wurden außer Haus unterrichtet. Peer hatte das deshalb so organisiert, damit sie sich daran gewöhnten, unterwegs zu sein.
„Das läuft ziemlich gut.“
„Magst du deine Geschwister holen, damit ich mich auch mit ihnen unterhalten kann?“
Wortlos stand Silas auf, verließ den Raum und kehrte wenig später mit den anderen zurück. Die beiden Mädchen setzten sich mit Silas zu ihm. Anton und Malte holten sich etwas zu trinken aus dem Kühlschrank, bevor sie ebenfalls am Tisch Platz nahmen.
„Ich bin Laurenz, Peers Nachfolger“, stellte er sich vor. „Ich hoffe, wir kommen genauso gut miteinander aus wie ihr mit ihm.“
Keine Reaktion.
„Für den Anfang schlage ich vor, dass ihr euch nacheinander vorstellt“, fuhr er fort. „Wer macht den Anfang?“
Silas räusperte sich. „Ich bin Silas Martinek, neunzehn Jahre alt und bereite mich derzeit auf meinen Schulabschluss vor.“
„Irgendwelche Hobbys?“
„Ich lese alles, was mir in die Finger fällt, gucke gerne Komödien und bin schwul.“
„Letzteres ist eigentlich kein Hobby.“
Silas zuckte mit den Achseln. „Ich betrachte es eben so. Allerdings ist es eines, das ich nicht ausüben kann.“
Laurenz ließ es auf sich beruhen und guckte Geraldine auffordernd an. Sie murmelte ihren Nahmen, genau wie der Reihe nach ihre Geschwister. Merle und Malte guckten ihn dabei noch nicht mal an.
„Möchtet ihr etwas über mich wissen?“, fragte er in die Runde.
Alle nickten.
Er nippte an seinem Kaffee, bevor er loslegte: „Mein Name ist Laurenz Stein. Ich bin 29, habe soziale Arbeit studiert und bin seit fünf Jahren bei der Behörde für Arbeit, Jugend und Soziales angestellt. Das ist nicht nur ein Job, sondern eine echte Aufgabe. Ich will nicht sagen, dass es mir Spaß macht, aber ich bin mit Herzblut dabei.“
„Sind Sie auch verheiratet?“, wollte Geraldine wissen.
Schmunzelnd schüttelte er den Kopf. „Was nicht ist, kann aber noch werden.“
„Das heißt, Sie haben eine Freundin?“, bohrte sie nach.
„Bitte, wir duzen uns. Was eine Freundin angeht: Nein, derzeit nicht.“ Vor den Kindern sein Sexualleben zu thematisieren, hielt er für kontraproduktiv. Da es nicht den Anschein hatte, als würde von ihnen noch etwas kommen, redete er weiter: „Ich würde mir gern eure Zimmer angucken, wenn das für euch okay ist.“
„Wir haben nicht aufgeräumt“, meldete sich Merle leise zu Wort.
„Das müsst ihr auch nicht. Ich möchte bloß wissen wie ihr wohnt“, besänftigte Laurenz sie.
„Dann mach ich mal den Anfang“, meinte Silas, stand auf und wartete, bis er sich ebenfalls erhoben hatte.
Das Zimmer war das letzte im Flur. Es handelte sich um einen ungefähr fünfzehn Quadratmeter großen Raum, in den ein Bett, Schrank und Schreibtisch passten. Damit war der Platz ausgereizt. An den Wänden hingen aus Zeitschriften ausgeschnittene Bilder. Die Auswahl war sehr unterschiedlich. Neben George Clooney, (der war ja selbst Laurenz zu alt), gab es ein Foto von Natascha Kampusch und etlichen Leuten, die er nicht kannte. Sogar eine koreanische Boygroup befand sich darunter.
„Fühlst du dich hier wohl?“, erkundigte er sich.
Silas zuckte mit den Schultern. „Klar. Immerhin hab ich Tageslicht.“
„Und wie läuft es mit deinen Geschwistern?“
Erneutes Achselzucken. „Es ist okay.“
„Sehen sie in dir eine Art Vaterersatz?“
Silas nickte. „Daran bin ich aber selbst schuld. Schließlich hat mich niemand gebeten, diese Rolle zu übernehmen. Ich bin freiwillig reingeschlüpft.“
An dem umfangreichen Wortschatz und der Ausdrucksweise erkannte Laurenz, dass das mit dem viel Lesen stimmte. Dafür sprachen auch die Stapel von Büchern, die sich in einem Regal und auf dem Boden neben dem Bett türmten. „Hast du Fragen an mich, die deine Geschwister nicht hören sollen?“
„Nö.“ Silas runzelte die Stirn. „Oder doch. Ich möchte ein Tattoo haben.“
Das war zwar keine Frage, doch Laurenz glaubte zu verstehen, was hinter dieser Ansage steckte. „Generell stehen für sowas keine Mittel zur Verfügung. Du müsstest dir das Geld irgendwie zusammensparen. Ich würde dir allerdings raten, noch ein bisschen darüber nachzudenken. Eine Tätowierung lässt sich nur sehr kostspielig wieder entfernen.“
„Ich möchte ja nur was Kleines.“
Fragend zog Laurenz die Brauen hoch.
„Eine Ratte“, erläuterte Silas mit einem schiefen Grinsen und tippte sich mit dem Finger auf die Hüfte. „Ungefähr hier.“
„Eine Ratte?“
„Ein Symbol. Ratten leben doch in Kellern. Asseln zwar auch, aber die will ich mir lieber nicht stechen lassen.“
„Wird dich das nicht immer an diese Zeit erinnern?“
„Als ob ich mich nicht auch so daran erinnern würde.“ Silas seufzte. „Ich brauche nur meine Geschwister anzugucken. Sie sind doch für ihr Leben gezeichnet.“
Nachdem Laurenz die Wohnung verlassen hatte, legte sich Silas aufs Bett und studierte die Decke. Der Typ wirkte sympathisch, genau wie Peer. Würde er wieder seine Sehnsucht nach Liebe auf den Mann projizieren? Als solche hatte sein Therapeut die Zuneigung zu Peer bezeichnet.
Es war echt beschissen, regelmäßig analysiert zu werden. Zumindest hatte Dr. Perstein aufgehört, seine Erlebnisse in Gefangenschaft ständig wiederzukäuen. Das würde zum Verarbeitungsprozess gehören, lautete Persteins Begründung für den Scheiß. Etwas, das Silas nicht verstand. Wieso sollte es heilsam sein, die schrecklichen Jahre wieder und wieder im Geiste zu erleben? Okay, nicht alles war schrecklich gewesen. Mit seinen Geschwistern hatte er viel gelacht. Erst später, als ihm die Ungeheuerlichkeit ihrer Gefangenschaft bewusst wurde, war er in Schwermut verfallen. Zudem fand ein Pubertierender Gesellschaftsspiele, wie beispielsweise Mensch-ärgere-dich-nicht, nur noch öde.
Anton kam herein und hockte sich auf die Bettkante. „Was hältst du von dem Typen? Ist er okay?“
Silas zuckte mit den Achseln. „Denke schon.“
„Ich hätte lieber Peer behalten.“
Den stummen Vorwurf, der in Antons Stimme mitklang, merkte er sehr wohl. „Ich auch. Das ist eben dumm gelaufen.“
„Warum musstest du ihn auch anbaggern?“
„Ich kann das nicht mehr ändern, also halt die Klappe.“
Anton seufzte. „Denkst du manchmal an Papa?“
„Mhm.“
„Und daran, warum er uns so behandelt hat?“
„Darüber denke ich ständig nach. Mein Psycho sagt, das wäre das größte Dilemma. Eltern sollen einen eigentlich beschützen vor dem, was Papa mit uns gemacht hat.“
„Sagt meiner auch.“
„Diese Typen sind alle aus dem gleichen Holz geschnitzt.“
„Ich überlege, mein Abi zu machen und Psychologie zu studieren“, verriet Anton.
„Kohle kannst du damit bestimmt bergeweise verdienen.“
„Mit geht es eher darum, kranken Menschen zu helfen.“
„Dann werde doch lieber Krankenpfleger.“
„Geistig Kranken.“
„Hältst du uns für krank?“, hakte Silas nach.
Anton zog die Schultern hoch. „Ein bisschen schon. Manchmal komme ich mir vor wie ein Alien.“
Das ging ihm genauso. Bisher war es ihm nicht gelungen, Kontakt zu Gleichaltrigen aufzunehmen. Da sie einzeln unterrichtet wurden, ergab sich auf diesem Weg keine Möglichkeit und die Jungs, die unten auf der Straße herumhingen, wollte er gar nicht kennen. Viele von ihnen unterhielten sich in Sprachen, die er nicht verstand und das, was auf Deutsch rauskam, klang wie Gerülpse. Digger sowie Alda würzten fast jeden Satz.
„Das wird sich mit der Zeit geben. Wir sind doch erst seit ein paar Monaten unter den Lebenden“, erwiderte er.
„Ich weiß“, murmelte Anton. „Trotzdem ... ich find’s unheimlich schwer, hier klarzukommen.“
Ähnliches hörte er regelmäßig von Malte und Merle. Die zwei waren echt am schlimmsten betroffen. Sie kannte ja nichts anderes als den Keller.
Er tätschelte Antons Bein. „Kopf hoch. Du bist doch nicht allein.“
„Ich weiß.“
„Was hältst du davon, beim Imbiss Fritten und Brathähnchen zu holen?“
Antons Miene hellte sich auf. „Lass uns los!“
Später, als sich all seine Geschwister in ihre Zimmer verzogen hatten, lag Silas wieder auf dem Bett und starrte an die Decke. Fernsehen reizte ihn nicht. Davon hatte er in den vergangenen Jahren mehr als genug gehabt. Lesen mochte er im Augenblick auch nicht.
Irgendwie gab es kaum einen Unterschied zu der Zeit seiner Gefangenschaft, mit der Ausnahme natürlich, dass er jederzeit raus konnte. Aber was sollte er dort? Ab und zu streifte er durch die umliegenden Schrebergärten, doch allein fand er das doof. Eines seiner Geschwister zu überreden, ihn zu begleiten, schaffte er nur äußerst selten.
Silas wusste, dass er alles zu negativ sah. Ihnen ging es wirklich gut. Die Wohnung war, gemessen an den Verhältnissen im Keller, mit 80 Quadratmetern, zusätzlichem Gäste-WC und vier Zimmern echter Luxus. Sie durften gehen wohin sie wollten, bekamen ausreichend Geld und dazu noch Hilfe in Form von Laurenz. Trotzdem war er unzufrieden. Vielleicht, weil er mit solchem Wohlstand nicht klarkam. Vielleicht, weil ihm ein Ziel fehlte. Vielleicht, weil ihm Sex fehlte.
Konnte einem etwas fehlen, das man gar nicht kannte? Schließlich war er noch Jungfrau. Auch seine Eigenexperimente hielten sich stark in Grenzen, denn im Keller hatte dafür die Privatsphäre gefehlt. Übers Wichsen war er auch aktuell noch nicht hinausgekommen. Ihm mangelte es an Mut, in einen Sexshop zu gehen und sich Spielzeug zu beschaffen. Internet war keine Option, da er sich damit zu wenig auskannte. Im Keller hatten sie bloß Zugang zu einem alten PC mit Spielen gehabt.
Konnte er Laurenz danach fragen, wie das mit dem Internet funktionierte? Nein, lieber nicht. Am Ende hielt ihn der Mann noch für abartig. Es reichte ja, dass er mit seiner Homosexualität rausgeplatzt war. Was ihn da geritten hatte, wusste er nicht mehr.
Die Wände schienen immer näher zu kommen. Silas stand auf, schlüpfte in Sneakers und schnappte sich seine Jacke. Anschließend klopfte er nebenan, bei Anton und spähte ins Zimmer. Sein Bruder guckte irgendeinen Krimi.
„Ich geh ein bisschen raus“, verkündete er.
„Mhm“, machte Anton lediglich.
Er schloss die Tür wieder und setzte seinen Weg fort. Statt des Fahrstuhls benutzte er die Treppe. Zum einen stank es in der Kabine, zum anderen bekam er so gleich Bewegung.
Vorm Haus standen zwei Frauen mit Kopftuch, in eine Unterhaltung vertieft. Eine trug ein Kind auf dem Arm, ein zweites hing an ihrem Rockzipfel. Beide beachteten ihn nicht, als er an ihnen vorbeiging, obwohl er ihnen schon mehrmals begegnet war und die zwei ebenfalls in dem Haus wohnten.
Einige Schritte weiter traf er auf vier Jungen in ungefähr seinem Alter. In diesem Fall war er froh, dass sie keinerlei Notiz von ihm nahmen. Er hatte nämlich schon ein paar unangenehme Erlebnisse gehabt, bei denen er von Jugendlichen mit blöden Bemerkungen bedacht worden war. Inzwischen trug er die gleichen Klamotten, wie auch alle anderen, womit ein Anlass zu solchem Mist schon mal wegfiel.
Beide Hände in den Hosentaschen steuerte er eine Kleingartenkolonie an. Dort hingen zumeist keine Idioten herum, außerdem mochte er den Anblick der hübschen Parzellen und es duftete nach Sommer. Das schloss sowohl Blumen als auch Grillgeruch ein.
Die ersten beiden Gärten waren verwildert. Der eine wohl eher aus Kalkül, denn die Laube darin wirkte gepflegt. In dem anderen war das Häuschen verfallen. In der nächsten Parzelle saßen einige Leute auf der Terrasse. Es roch intensiv nach Würstchen. Lachen sowie Gesprächsfetzen wehten rüber zu Silas.
Gemächlich ging er weiter, wobei er den Duft genüsslich einsog. Der erinnerte ihn an seine Kindheit, an Abende auf der Terrasse, wenn seine Familie gegrillt hatte. Bevor seine Mutter starb, war ihr Zusammenleben ganz normal gewesen. Eventuell hatte ihr Tod bei seinem Vater Wahnvorstellungen ausgelöst. Als dann Günther auftauchte, musste das den Irrsinn noch befeuert haben.
Silas fand es nervig, dass er den Grund für den ganzen Scheiß nicht kannte. Wenn er irgendwie nachvollziehen könnte, was seinen Vater angetrieben hatte, wäre es einfacher zu verarbeiten. Sein Therapeut vertrat hingegen die Meinung, dass das Warum keine große Bedeutung besaß. Die Tatsachen sprächen für sich. Es machte doch keinen Unterschied, ob sein Vater sie aus Boshaftigkeit oder religiösem Irrglaube eingesperrt hatte. Vor dem Gesetz gab es für letzteres auch keine mildernden Umstände.
Generell war das richtig. Trotzdem wollte Silas wissen, ob seinem Vater die Tragweite des Ganzen bewusst gewesen war. Fragen konnte er nicht, denn ein Besuch im Gefängnis war derzeit ausgeschlossen. Zum einen wegen der Geheimhaltung, zum anderen hielt das Jugendamt es für schädlich. Das mit dem schädlich mochte für seine jüngsten Geschwister richtig sein, doch für ihn, Geraldine und Anton sah er das anders. Blieb nur das Problem, wie sie ihre Identität verheimlichen sollten. In Tarnkostümen würde man sie bestimmt nicht in den Knast lassen.
Er schob diese Gedanken beiseite. Es lohnte nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wichtiger war momentan, mit der Situation klarzukommen. Er und seine Geschwister mussten einiges aufholen. Das fing beim Einkaufen an und hörte bei Bankgeschäften auf.
Anfangs war Peer jeden Tag bei ihnen gewesen, später nur jeden zweiten für ein paar Stunden. Das hatte gerade gereicht, um das Nötigste zu regeln, wie neue Klamotten oder die Schul- und Behördenangelegenheiten. Persönliche Bedürfnisse mussten erstmal zurückstecken.
Als alles lief, waren Peers Stunden hauptsächlich von Merle und Malte beansprucht worden. Zugegeben: Die zwei brauchten am meisten Zuwendung, trotzdem hatte sich Silas vernachlässig gefühlt. Vermutlich, weil er da schon dabei war, sich in Peer zu verlieben. Sein Therapeut meinte, dass so etwas kein schleichender Vorgang war, sondern plötzlich geschah. Persteins Doktortitel in allen Ehren, doch die Besserwisserei ging Silas mächtig auf den Sack.
Jedenfalls wollte er endlich auch ein bisschen mehr Zeit zu seiner Verfügung. Wenigstens eine halbe Stunde pro Besuch, damit Laurenz ihm zeigen konnte, wie das mit dem Internet funktionierte. Vor allem, wie man etwas anonym bestellte.
Im Verlauf seiner Runde sah er noch ein paar Leute, die den Abend auf ihrer Terrasse genossen. So ein Gärtchen würde ihm auch gefallen, viel besser als die Wohnung. Bestimmt eine Folge der Jahre unter Tage. Würde er die Erinnerung jemals abschütteln? Wahrscheinlich nicht. Schließlich war sie ein Teil von ihm.
Wie gewöhnlich fuhr er am nächsten Morgen mit Merle und Malte in die Innenstadt, wo das Institut lag, in dem sie für die Schule vorbereitet wurden. Anton und Geraldine, die ebenfalls diese Einrichtung besuchten, brachen stets eine Viertelstunde nach ihnen auf, damit sie nicht zusammen sah.
In Silas‘ Kurs saßen vier weitere Teilnehmer. Marianne, Anfang dreißig, Jens, Mitte zwanzig, Arnold und Heinrich, beide fast vierzig. Manchmal kam er sich vor wie bei einem Rentnertreff.
In der Pause kümmerte er sich um die beiden Ms, wie er seine jüngsten Geschwister gern nannte. Ab und zu spendierte er den beiden einen Kakao in der Bäckerei, die sich neben dem Institut befand. Ansonsten gab es die morgens geschmierten Brote und Wasser aus den Flaschen, die sie von zu Hause mitbrachten.
Die zwei hatten Einzelunterricht und machten riesige Fortschritte. Es schien, als würden sie das Wissen wie Schwämme aufsaugen. In dieser Hinsicht brauchte er sich nicht um sie sorgen. Nur ihre soziale Isolation, unter der er auch litt, bereitete ihm Kummer. Darüber wollte er ebenfalls mit Laurenz reden. Sie durften sich nicht länger in der Wohnung verkriechen, sondern mussten Kontakt zu Gleichaltrigen suchen.
Nachmittags, als sie wieder daheim waren, schnappte er sich das Notebook, das er sich mit Anton teilte und surfte ein bisschen im Internet. Vor sozialen Plattformen hatte Peer sie ausdrücklich gewarnt, weshalb er einen Bogen um Facebook und Co machte. Es hätte ihn zwar schon gereizt, zumindest auf diesem Weg mit anderen zu kommunizieren, aber was sollte er mit Leuten, die er gar nicht kannte, schon reden?
Auch Sexseiten mied er, weil Peer gesagt hatte, dass man sich da schnell einen Virus einfing. Er wäre vor Scham im Boden versunken, wenn er durch solche Aktion das Notebook kaputt machen würde. Zudem brächte er damit Anton, der sehr an dem Teil hing, gegen sich auf.
Eine Weile guckte er sich irgendwelche Clips auf YouTube an. Schließlich hatte er genug von dem Kram und brachte seinem Bruder das Gerät zurück. Anton riss es ihm förmlich aus den Händen.
„Wollen wir nicht lieber ein bisschen rausgehen?“, schlug Silas vor.
Stumm schüttelte Anton, der das Notebook bereits aufgeklappt hatte, den Kopf.
„Ich hätte Lust auf ein Eis.“
Zack!, klappte Anton den Deckel wieder zu und grinste ihn freudig an. „Endlich mal ein vernünftiger Vorschlag.“
An der Eisdiele tobte der Bär. Zwei Familien mit je vier Kindern standen vor ihnen in der Schlange. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich dran waren. Mit ihren Eiswaffeln ließen sie sich auf einer Steinmauer, die ein Blumenbeet säumte, nieder.
Silas fiel ein attraktiver Typ in ungefähr seinem Alter auf. Der Mann trug lila Jeans, dazu ein rosa T-Shirt. Das schrie förmlich schwul. Die Begleitung sah hingegen normal aus, wie alle anderen auch, mit Bluejeans und weißem Shirt.
Plötzlich guckte der Typ in seine Richtung. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde Silas von oben bis unten abgecheckt, dann schenkte der Mann ihm ein Lächeln. War das eine Anmache? Allein der Gedanke trieb ihm Röte in die Wangen. Schnell schaute er woandershin.
„Ey, ich glaub, der Typ steht auf dich“, flüsterte Anton ihm zu.
„Guck nicht hin“, zischelte Silas.
Achselzuckend ließ Anton den Blick in eine andere Richtung schweifen.
Entgegen Merle und Malte, die über seine Offenbarung unglücklich waren, gingen die Zwillinge locker damit um. Laut den Lehren ihres Vaters war Homosexualität eine Todsünde. Das hatten die Kleinen inhaliert. Er konnte ihnen daraus keinen Vorwurf machen. Wer in vergifteter Atmosphäre aufwuchs, tat sich später schwer, solche Irrlehren abzulegen.
Zurück in der Wohnung brütete Silas eine Weile über seinen Schulbüchern, bevor er Merle zum Küchendienst rief. Sie wechselten sich ab, wobei die Oberaufsicht stets ihm oblag. Dadurch war er jeden Tag dran, außer sie holten etwas vom Imbiss. Wegen ihres knappen Budgets geschah das überaus selten.
Er half Merle dabei, Kartoffeln zu schälen. Sie summte vor sich hin, ganz auf ihre Aufgabe konzentriert. Manchmal erweckte sie den Eindruck, jünger als Malte, anstatt zwei Jahre älter, zu sein.
Als die Kartoffeln in einem Topf auf dem Herd standen, nahm Silas eine Packung Eier aus dem Kühlschrank. Merle, die bereits eine Schüssel hervorgekramt hatte, schnappte sich das Paket und begann, die Eier aufzuschlagen.
„Soll ich dir weiter Gesellschaft leisten?“, erkundigte sich Silas, denn eigentlich kam sie ab diesem Punkt der Vorbereitungen gut allein klar.
Sie nickte.
Er nahm am Tisch Platz. „Anton und ich waren vorhin Eis essen. Sorry, dass ich dich und Malte nicht gefragt hab, ob ihr mitwollt.“
„Schon okay. Mag Eis eh nicht so gern.“
Vermutlich verfolgte sie einen Diätplan. Morgens schmierte sie nämlich neuerdings ihr Butterbrot ohne Butter. „Aber Malte wäre bestimmt gern mitgekommen.“
„Wir dürfen doch gar nicht alle zusammen raus.“
„Das wäre doch nur eine Ausnahme gewesen.“
Sie bedachte ihn mit einem strengen Blick. „Fängt man einmal damit an, hört man nicht wieder auf.“
Damit zitierte sie ihren Vater. „Ach, hör auf mit dem Quatsch. Du musst echt lockerer werden.“
„Gibst du mir bitte die Milch?“
Seufzend stand er auf, holte das Gewünschte und setzte sich wieder hin. „Es wird Zeit, dass du Freunde findest.“
„Ha-ha! Wo denn?“
„Ich werde mit Laurenz darüber reden.“
Stumm nahm sie das zur Kenntnis.
„Sag mal ...“ Sie kippte den halben Karton Milch zu den Eiern. „Kannst du nicht einfach nicht schwul sein?“
„Wie soll das gehen?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Sowas kann man nicht steuern. Oder kannst du mal eben lesbisch werden?“
„Igitt!“, stieß sie hervor, die Miene angeekelt verzogen.
„Siehst du.“
„Das ist doch was ganz anderes.“
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Korrektorat: Aschure - dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2021
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