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Käufliche Liebe Vol. 25 - Was für ein Hundeleben



Seat ist des Lebens auf der Straße müde. Er wehrt sich daher nicht, als ihn Leute einfangen und in ein Tierheim bringen. Dort ist es wenigstens warm und es gibt genug Futter. Wider Erwarten erwärmt sich ein Mann, der einen Hund sucht, für ihn, obwohl er ein struppiger, großer Mischling ist. Daniel entpuppt sich als warmherziger, lieber Mensch. Wäre Seat ein reiner Hund, würde er mit seinem neuen Heim vollauf zufrieden sein, aber in menschlicher Gestalt hat er auch Bedürfnisse.









Prolog

Schlüssel klapperten. Harte Sohlen klackten auf den Fliesen. Schuhe erschienen in Seats Blickfeld. Das eine Paar kannte er. Es gehörte einem der Pfleger. Das andere wirkte teuer, genau wie die Hosenbeine. Er hob den Kopf und beäugte den Typen. Eigentlich gingen Besucher stets an ihm vorbei und nahmen einen seiner Nachbarn mit. Zumeist einen der kleinen Kläffer.

„Was ist das für eine Rasse?“, fragte der Typ.

„Schwer zu sagen. Da scheint ein Wolfshund, Schäferhund und Bernhardiner drin zu stecken“, antwortete der Pfleger.

Und ein Stricher und Loser, komplettierte Seat die Aufstellung im Geiste.

„Wie alt ist das Tier?“

„Schwer zu sagen. Schätzungsweise sechs oder sieben.“

Der Typ ging in die Hocke und musterte ihn eingehend. „Ist er zahm?“

„Absolut. Er ist einer der friedlichsten Hunde, die ich je gesehen habe.“

So lang man ihm genug zu fressen und einen trockenen Platz zum Schlafen gab, sah Seat keinen Anlass zum Randalieren.

Der Typ richtete sich wieder auf. „Können Sie ihn mal rausholen?“

„Selbstverständlich.“ Metall klirrte, als sich der Pfleger an der Gittertür zu schaffen machte. „Komm mal raus. Der Herr möchte dich angucken.“

Dazu hatte Seat zwar eigentlich keine Lust, zumal sich der Typ eh nicht für ihn entscheiden würde, doch er gab nach. Das war immer der einfachste Weg.

Er trottete aus seiner Kabine auf den Gang, setzte sich hin und schnüffelte an den Hosenbeinen des Typen. Der Mann roch gut.

„Hat er einen Namen?“, erkundigte sich der Typ.

„Nein. Man hat ihn am Waldrand aufgelesen, ungechippt und ohne Halsband, also kein Hinweis auf Herkunft oder Name.“

„Er scheint wirklich lieb zu sein“, meinte der Typ, beugte sich runter und kraulte Seats Kopf. „Na du? Wie würde es dir gefallen, bei mir zu leben?“

Na, super. Erwartete der Kerl etwa eine verbale Antwort? Seat wedelte mit dem Schwanz, um Begeisterung zu signalisieren.

„Sieht so aus, als ob er sich freut“, stellte der Pfleger fest.

„Den nehme ich“, entschied der Typ.

Was war denn mit dem los? Wieso wollte der eine Schlaftablette? Vorsichtshalber, damit es sich der Mann nicht anders überlegte, wedelte Seat vehementer mit dem Schwanz.

„Es scheint, dass es ihm gefällt“, schlussfolgerte der Pfleger. „Freunden Sie sich ein bisschen mit ihm an. Ich mache derweil die Papiere fertig.“

Erneut ging der Typ in die Hocke und kraulte ihn am Kopf. Der Mann besaß wohl keine Erfahrung mit Hunden, so zögerlich, wie er Seat anfasste. Bestimmt würde er in Ohnmacht fallen, wenn er seine Zähne zeigte.

„Na du? Freust du dich auf dein neues Zuhause?“, faselte der Typ. „Ich hab einen großen Garten, der dir bestimmt gefallen wird.“

Sollte er etwa draußen in einer Hundehütte leben? Seat schauderte bei der Vorstellung.

„In der Nähe gibt es Wald und einen See. Da können wir schön Spazierengehen“, redete der Typ weiter. „Ich hoffe, du bist kein Sportfan, denn Joggen und Fahrradfahren fällt leider aus.“

Wie meinte der Kerl das?

„Zumindest für mich. Na ja, du wirst wohl auch kein Fahrrad benutzen wollen, nehme ich an.“

Was für ein lahmer Scherz!

„Ich guck mal, wie weit der Herr mit deinen Papieren ist“, teilte der Typ ihm mit, richtete sich auf und ging davon.

Seat verzog sich in sein Domizil, schlabberte ein bisschen Wasser und legte sich hin. Noch war er nicht überzeugt, dass der Mann ihn wirklich mitnahm. Er war selbstkritisch genug, um zu wissen, dass er neben den ganzen reinrassigen und niedlichen Hunden schlecht abschnitt. Bestenfalls konnte man sein Äußeres als interessant bezeichnen.



1.

Man hatte Seat als Neugeborenes auf einem Rastplatz gefunden. Er kam in einen Pflegefamilie, bis feststand, dass seine Mutter nicht zu ermitteln war. Zu dem Zeitpunkt war er ein Jahr alt.

Er wurde von einem kinderlosen Paar adoptiert, doch das Glück hielt nicht lange an. Kurz vor seinem zehnten Geburtstag ließen sich seine Eltern scheiden und gründeten neue Familien. Beide konnten plötzlich Babys bekommen, womit er immer mehr in den Hintergrund geriet. Seine Versuche, durch besonders liebes Verhalten Aufmerksamkeit zurückzuerlangen, schlugen fehl. Mit Ungehorsam hatte er weitaus mehr Erfolg.

Als die Pubertät einsetzte, passierten zwei Dinge. Er begriff, auf seinesgleichen zu stehen und seine zweite Gestalt trat zutage. Die Geheimhaltung beider Tatsachen warf ihn völlig aus der Bahn. Er schwänzte die Schule, begann zu rauchen und probierte Drogen. Damit fand die Toleranz seiner Eltern ein Ende. Sie beantragten für ihn beim Jugendamt einen Heimplatz.

Es war jedoch nicht so einfach, ihn wieder loszuwerden. Man stellte seinen Eltern lediglich eine Beraterin zur Seite, was die Situation nur verschlimmerte. Zahllose Diskussionsrunden später zog Seat selbst die Reißleine, packte seine paar Sachen und machte sich aus dem Staub.

In der ersten Zeit kam er bei einem Kumpel unter, wo er seinen Erfahrungsschatz mit Drogen erweiterte. Den Sommer verbrachte er auf der Straße und fand zum Herbst einen Typen, der ihn gegen körperliche Dienstleistungen über die kalte Jahreszeit beherbergte.

Auf diese Weise überlebte Seat eine Saison nach der anderen. Leider hatte seine schwindende Jugend die Folge, dass es schwerer wurde, einen Sugardaddy zu finden. Offenbar standen alte Herren auf sein Babyface, das sich natürlich nicht ewig erhalten ließ.

Im vergangenen Winter hatte er nur noch für einige Nächte Unterschlupf bei irgendwelchen Freiern gefunden. Unregelmäßiges Essen, Kälte und Schlafmangel hatten ihn erschöpft. Er kehrte dorthin zurück, wo sein Leidensweg begonnen hatte: Auf eine Raststätte. In seiner zweiten Gestalt lungerte er dort herum und ernährte sich von dem, was Reisende wegwarfen.

Nach einigen Tagen tauchten Leute vom Tierheim auf und nahmen ihn mit. Seat war zu geschwächt und desillusioniert, um sich zur Wehr zu setzen. Außerdem hatte er somit endlich einen warmen Schlafplatz und ausreichend Nahrung.

Mit den ersten Vorboten des Frühlings erwachte sein Freiheitsdrang. Zudem war seine Gesellschaft dermaßen verblödet, dass es kaum auszuhalten war. Es handelte sich um echte Hunde, die außer Fressen, Schlafen, Pissen nichts kannten. Entsprechend war geistig nicht viel von denen zu erwarten. Außerdem hatte man die meisten kastriert, womit eine gewisse Gleichgültigkeit einherging.

Wäre der Typ nicht erschienen, um ihn abzuholen, hätte Seat bald die Biege gemacht. Daniel, so hieß der Mann, brachte ihn in einen Außenbezirk Hamburgs, ins tiefste Rahlstedt.

Der Garten war tatsächlich groß und das Haus, das darin stand, heimelig. Blaue Fensterläden, rote Dachpfannen. Drinnen dominierten blanke Dielenböden, auf denen im Wohnbereich dicke Teppiche lagen.

Seat kam sich vor wie eine Prinzessin, die von ihrem Traumprinzen aufs Schloss entführt wurde. Die Umgebung erinnerte ihn an sein Elternhaus. Nach der Scheidung waren sie umgezogen, in Wohnungen im Innenstadtbereich. Weder die seiner Mutter noch die seines Vaters war ein Ersatz für das verlorene Paradies gewesen. Das lag vielmehr an den neuen Umständen, als der Umgebung. Vielleicht war er bloß ein kleines Arschloch gewesen, das die elterliche Liebe nicht hatte mit den Geschwistern teilen wollen. Ach, drauf geschissen! Vergangenes ließ sich eh nicht mehr ändern.

„Das ist dein Schlafplatz“, informierte ihn Daniel und zeigte ihm eine Decke, die vor dem Heizkörper im Wohnzimmer lag. „Futter gibt’s in der Küche.“

Seat schnüffelte an der Wolldecke. Sie schien neu zu sein und duftete nach Blumen. Mit einem behaglichen Seufzer probierte er den Liegekomfort gleich aus. Wunderbar! Da er neugierig war, wie die Verköstigung aussah, folgte er Daniel in die Küche. Dort erwartete ihn Wasser in einer Blechschüssel. Daneben stand ein Teller mit Fleischbrocken, die er nach einer Kostprobe als Steak identifizierte. Köstlich! Rasch verleibte er sich die Portion ein.

Man lernte auf der Straße schnell, dass man besser gleich alles aß, wenn sich eine Gelegenheit bot. Lieber den Magen verderben als Hunger leiden, lautete die Devise.

Seat leckte sich die Schnauze und schaute voller Hoffnung auf Nachschub hoch zu Daniel, der ihn lächelnd beobachtete. „Mehr hab ich leider nicht. Wir müssen nachher einkaufen gehen.“

Nachdem er sich am Wasser gelabt hatte, kehrte er ins Wohnzimmer zur Decke zurück. Daniel folgte wenig später, nahm auf der Couch Platz und begann, auf der Tastatur eines Notebooks herum zu tippen.

Das Geräusch wirkte beruhigend. Seat schloss die Augen und ließ seine Gedanken wandern. Als er sich das erste Mal verwandelte, geschah das ohne sein Zutun. Mitten in der Nacht war er aufgewacht und auf Klo gegangen. Zumindest hatte er das probiert, jedoch festgestellt, dass die Kloschüssel zu hoch für ihn war. Es folgten panische Minuten, in denen er zum Garderobenspiegel rannte und sich darin betrachtete. Merkwürdigerweise fühlte er sich in dem fremden Körper sofort heimisch, sonst wäre ihm ja aufgefallen, dass er sich auf allen Vieren ins Bad begeben musste.

Noch während er sein Spiegelbild anglotzte, wandelte er sich zurück. Auch das geschah ohne sein Zutun. In jener Nacht hatte er viel gegrübelt und ein paarmal versucht, wieder die andere Gestalt anzunehmen. Es wollte nicht gelingen. Erst einige Wochen später schaffte er es, doch es dauerte weitere Wochen, bis ihm klar wurde, wie es genau funktionierte. Er musste sich auf einen Punkt in seinem Inneren konzentrieren, wo offenbar seine beiden Wesen miteinander verknüpft waren.

Als er es begriffen hatte, ging die Wandlung kinderleicht. Seine Fähigkeit war ihm von großem Nutzen, als er sich entschied, ein Leben auf der Straße dem Stress daheim vorzuziehen. Seine zweite Gestalt ermöglichte ihm, beim Sex mit Freiern abzuschalten und auch gröbere Handlungen unbeschadet zu überstehen.

Leider hatte seine Hundegestalt einen erheblichen Nachteil: Als Tier konnte er weder seine Klamotten noch sonstige Habe bei sich tragen. Ein Hund in Jeans mit Rucksack auf dem Buckel hätte eh für Aufsehen gesorgt. Er musste daher stets voraus planen, wo er seine Sachen sicher unterbrachte, bevor er sich wandelte.

Seit seiner ersten Wandelerfahrung hatte er einiges an Lektüre über solche Spezies verschlungen. Natürlich waren das alles Fantasy-Storys, denn sowas wie ihn gab es in Wirklichkeit ja gar nicht. Dennoch zog er seine Schlüsse aus diesen Büchern. So musste, beispielsweise, eines seiner Elternteile auch ein Wandler sein. Vielleicht war er auf dem Rastplatz ausgesetzt worden, weil seine Mutter auf der Flucht war. Vielleicht hatten seine Eltern entschieden, dass er besser bei zwei reinrassigen Menschen aufgehoben war. Die Wahrheit würde er wohl nie erfahren.

Erst als Daniels Füße vor ihm auftauchten fiel ihm auf, dass das Geklapper aufgehört hatte.

„Wir müssen einkaufen gehen“, verkündete Daniel.

Seat fand es süß, dass er immer von ‚wir‘ redete. Er erhob sich und stupste mit der Nase gegen Daniels Bein, als Zeichen, aufbruchbereit zu sein.

Im Flur leinte Daniel ihn an, bevor sie das Haus verließen. Während sie den Gartenweg hinuntergingen, sog Seat genüsslich die warme Frühlingsluft ein. Die Sonne schien und überall blitzten Frühblüher aus der Erde. Hier ein paar Krokusse, dort eine Batterie Schneeglöckchen. Letztere hatte er schon als Kind geliebt und versucht, sie zum Läuten zu bringen. Natürlich vergeblich.

„Gleich lernst du schon mal den Wald kennen“, erzählte Daniel, als sie nach links abbogen.

Es handelte sich um eine Ansammlung Bäume, durch die ein unbefestigter Weg führte. Der Boden wirkte wie gekehrt. Also, Wald sah in Seats Augen anders aus.

„Der Mann im Tierheim hat mir geraten, dich chippen zu lassen“, plauderte Daniel weiter.

Seat stoppte abrupt. Chippen? Niemand - niemand! - steckte ihm ein Plastikteil unter die Haut!

„Ich bin aber dagegen“, fuhr Daniel fort, woraufhin er sich entspannte und wieder an die Fersen seines Herrchens heftete. „Schließlich will ich auch nicht, dass jemand an mir rumschnitzt.“

Daniel war wirklich ein Glücksgriff. Super Futter, ein kuschliger Schlafplatz und auch noch vernünftige Ansichten.

„Du brauchst aber unbedingt ein neues Halsband mit einer Marke, auf der meine Telefonnummer steht. Falls du mir verlorengehst.“ Daniel gluckste.

Sein Herrchen besaß eindeutig einen schrägen Humor.

Nach wenigen Schritten war das Wäldchen zu Ende. Sie überquerten eine Straße und einen Parkplatz, hinter dem ein Supermarkt lag. Daniel band ihn an einem dafür vorgesehenen Haken fest.

„Sei schön brav. Es dauert nicht lange.“ Mit diesen Worten ließ Daniel ihn stehen.

Seat setzte sich hin und schaute dem Treiben zu. Rechts vom Eingang bot ein Hinz & Kunzt Verkäufer seine Ware an. Eine alte Frau prüfte die draußen ausgestellten Obstsorten. Ein paar Jugendliche mit Migrationshintergrund gingen an ihr vorbei. Die Alte schaute den Halbwüchsigen hinterher, schüttelte den Kopf und murmelte: „Überall diese Ausländer.“

Kurz darauf band ein Mann einen Pinscher neben ihm an. Der kleine Kläffer wich so weit wie möglich von Seat zurück, knurrte und stellte die Pinselöhrchen auf. Zum Glück gab das Tier bald Ruhe, sonst wäre er aus der Haut gefahren und hätte das Viech kurzerhand gebissen. Diese Teppichratten sollte man verbieten. Sie verdienten den Titel Hund gar nicht.

Seat machte es sich gemütlich, die Schnauze auf seinen Pfoten geparkt. Hoffentlich waren seine Sachen noch da, wo er sie versteckt hatte. In blaue Müllsäcke verpackt, mit Erde und Zweigen bedeckt, lagen sie hinter einem verwitterten Grabstein auf dem Quickborner Friedhof. Das war die Station, an der er ausgestiegen war, um zur Raststätte Holmmoor zu gelangen.

Bei seinem Glück hatte die Friedhofsverwaltung ausgerechnet in diesem Winter entschieden, den uralten Grabstein abzuräumen. Unweigerlich würde man dabei sein Habe entdecken.

Bekannte Schuhe in seinem Blickfeld beendeten seinen gedanklichen Ausflug. Daniel band ihn los. „Leider hab ich da drinnen nichts für dich gefunden, außer Futter natürlich.“

Das war doch eine gute Nachricht.

„Um das Halsband und so kümmere ich mich morgen, wenn ich eh in die Stadt muss.“

In die Stadt?

„Ich hoffe, du hältst es aus, ein paar Stunden allein zu Hause zu sein.“ Daniel schlug die Richtung ein, aus der sie gekommen waren.

Juhu! Seat allein zu Haus!

„Meine Mutter hat versprochen, mittags vorbeizuschauen. Wenn ihr euch versteht, geht sie bestimmt eine Runde mit dir. Sie liebt Hunde.“

Mist! Er hatte sich schon in der Badewanne gesehen, die Musik laut aufgedreht und eine Flasche Bier in der Hand. Das konnte er also vergessen.

Den restlichen Weg legten sie schweigend zurück. Seat fiel auf, dass sein Herrchen etwas humpelte. Auf dem Hinweg hatte er das gar nicht bemerkt. Vielleicht trat es nur auf, wenn Daniel länger unterwegs war.



2.

Als Doktor Arnold Reinert, Daniels Therapeut, ihm riet, ein Haustier anzuschaffen, hatte er das rigoros abgelehnt. Einige Wochen später war er zu der Einsicht gekommen, dass der Doktor recht haben könnte. Eigentlich wollte er eine Katze aus dem Tierheim holen, hatte sich aber im letzten Moment um entschieden. Stubentiger waren zwar kuschlig, aber auch eigensinnig und nachtaktiv. Daniel hingegen benötigte einen tierischen Gefährten, der ihm treu zur Seite stand und nachts ruhig war. Es reichte, dass er sich häufig schlaflos im Bett hin und her wälzte. Da brauchte er ein unruhiges Tierchen genauso dringend, wie ein Loch im Kopf.

Im Tierheim hatte es ihn magisch zu dem großen, struppigen Hund hingezogen. Vielleicht waren es die großen, traurigen Augen gewesen. Zudem wirkte das Tier überaus friedfertig.

Er sah runter, auf den Hund, dem er noch einen Namen geben musste. Noch schwankte er zwischen Bruno und Bastian. Irgendwie erinnerte ihn das große Tier an einen Bären, weshalb der erste Name ihm passender erschien.

Zurück in seinem Haus räumte er die Einkäufe weg. Sein neuer Mitbewohner hatte sich gleich wieder auf die Decke im Wohnzimmer verkrümelt.

Daniel setzte sich auf die Couch und betrachtete sinnend den Hund. „Was gefällt dir besser: Bruno oder Bastian?“

Der Hund blinzelte ihn bloß an.

„Wir machen es so: Ich sage erst den einen, dann den anderen Namen. Bei dem, den du magst, wedelst du mit dem Schwanz. Okay?“

Keine Reaktion.

„Also: Wie findest du Bruno?“

Nichts.

„Und wie sieht es mit Bastian aus?“

Weiterhin blinzelte der Hund.

„Möchtest du lieber Oskar heißen?“ Was tust du hier eigentlich? Willst du das ganze Alphabet durchgehen, Idiot? „Ich bin für Bruno“, entschied Daniel, wandte sich dem Notebook zu und öffnete sein Homeoffice.

Seit seinem Unfall vor einem halben Jahr arbeitete er zu Hause. Lediglich zweimal in der Woche fuhr er ins Büro, um an Meetings teilzunehmen. Er hielt die zwar für überflüssig, genau wie viele Kollegen, aber der Schein musste gewahrt bleiben. So erklärte jedenfalls Marina, eine der wenigen, mit denen er auch privat redete, den Scheiß. Manchmal hatten sie nicht mal eine Agenda, wenn sie zusammentrafen. Dann laberte jeder irgendwas, um die Zeit zu füllen.

In der Firma, in der Daniel angestellt war, wurden Chemikalien und Erzeugnisse daraus hergestellt. Na gut, die meisten Produkte fertigten inzwischen - wie überall - Betriebe in Billiglohnländern. Irgendwann würde diese Politik den Deutschen auf die Füße fallen. Es kristallisierte sich ja heutzutage schon heraus, dass man einen riesigen Fehler beging. Arbeitsplätze für Leute mit geringer Bildung waren bereits Mangelware, die Verschmutzung der Weltmeere durch starken Frachtverkehr vernichtete immer mehr Lebensraum für Fische und die Müllberge wuchsen ins Unendliche.

Nachdem er alle neuen E-Mail abgearbeitet oder in Ordner verschoben hatte, warf er erneut einen Blick auf Bruno. Der schien zu pennen. Hatte er sich etwa einen Tattergreis zugelegt? Also, nichts dagegen, aber dann müsste er sich bald, wenn Brunos Lebenslicht erlosch, um einen neuen Hund bemühen. Allerdings konnte er keine grauen Haare im Fell des Tieres entdecken. Vielleicht war Bruno lediglich erschöpft durch den Aufenthalt im Heim.

Was veranlasste Leute, ihre Haustiere an Raststätten auszusetzen? Hatte nicht sogar mal jemand einen Rentner dort stehenlassen? Oder ein Kind? Anscheinend übte dieser Ort auf einige Menschen gewissen Anreiz, sich ungeliebter Dinge zu entledigen, aus.

Seufzend rieb er sich über den Schenkel, der mal wieder schmerzte. Körperlich fehlte ihm angeblich nichts. Sein Therapeut meinte, seine Beschwerden wären psychischer Natur. Der Rückenschmerz resultierte aus konsequenter, seelischer Anspannung und würde sich auf alle anderen Körperteile auswirken. Fehlte nur noch, dass der Doktor erheblichen Mangel an Sex diagnostizierte und ihm zu einem Puffbesuch riet. Glücklicherweise war das bisher noch kein Thema gewesen und das würde auch so bleiben, da Daniel solche Ansätze abzublocken gedachte.

Bei seinem Unfall handelte es sich eigentlich um eine Bagatelle. An einer roten Ampel war ihm jemand hinten rein gefahren. Durch den Ruck hatte er ein Schleudertrauma erlitten und seine Karre erheblich Schaden. Allerdings war sie schon vorher reif für den Abdecker gewesen. Er hatte sie dem Schrottplatz übereignet.

Im Krankenhaus hatte man ihn kurz untersucht und nach Hause geschickt. Die Folgen waren erst zwei Tage später offensichtlich geworden. Alpträume, schlimme Nacken- und Rückenschmerzen, die bis ins linke Bein ausstrahlten. Weitere Untersuchungen blieben ohne Ergebnis, so dass man ihm riet, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Doktor Reinert bekam eine Riesensumme dafür, seine Seele zu kurieren. Der Mann war ihm von Bekannten seiner Eltern empfohlen worden. Da man auf Rezept kaum eine Chance hatte, einen Termin bei einem Therapeuten zu bekommen, biss Daniel in den sauren Apfel. Er konnte sich das leisten, dennoch tat es ihm um das viele Geld leid.

Seit dem Vorfall hatte er sich kein neues Auto angeschafft und würde sich vermutlich sowieso nicht hinters Steuer setzen. Er war echt eine Mimose. Das sprach Reinert zwar nie laut aus, aber manchmal glaubte Daniel, Verachtung in den blauen Augen aufblitzen zu sehen.

Drei neue E-Mails waren eingetroffen. Elektronische Post war wirklich eine Pest. Die Absender schickten oft noch am selben Tag Mahnungen, doch bitte ihre erste Mail zu beantworten. Litten die unter Langeweile? Man sollte dem Empfänger wenigstens ein bis zwei Tage Zeit für eine Erwiderung einräumen.

Daniel war in der Abteilung Controlling tätig. Wie seine Kollegen erstellte er Auswertungen über die Wirtschaftlichkeit von Produkten und Produktgruppen. Außerdem arbeitete er mit Vertrieb und Entwicklung zusammen, die von ihm Kalkulationen für Neuentwicklungen und Dienstleistungen benötigten.

Widerwillig gab er den aufdringlichen Kollegen ihre Antworten. Sie würden sonst nur weitere Mahnungen senden. Anschließend brachte er seine eigentliche Tagesaufgabe zu Ende, klappte das Notebook zu und guckte rüber zu Bruno. Der hatte weiterhin die Augen geschlossen.

In der Küche kümmerte sich Daniel um das Abendessen. Für ihn gab es Reis mit Gemüse, für Bruno eine Dosenmahlzeit. Er hatte eine Sorte mit Öko-Siegel ausgesucht und hoffte, dass es seinem Mitbewohner schmeckte.

Obwohl der Dosenöffner kaum Geräusche verursachte, tauchte Bruno auf und hockte sich vor seine Füße. Das hatten Katzen und Hunde wohl gemein: Sobald es Futter gab, waren sie zur Stelle.

„Hast du ausgeschlafen?“, fragte Daniel, wobei er den leeren Napf vom Boden nahm.

Bruno gähnte, was er als ja wertete.

„Wollen wir gleich noch eine Runde gehen?“

Schwanzwedeln wertete er ebenfalls als ja. Daniel hatte sich ein bisschen über Hundehaltung im Internet informiert und wusste, dass erwachsene Tiere drei bis viermal pro Tag Auslauf brauchten. Ihm kam die Bewegung ebenfalls zugute. Etwas, worauf Doktor Reinert auch hingewiesen hatte.

„Heutzutage bewegen sich die Menschen zu wenig. Das führt dazu, dass sie Erlebnisse schlechter verarbeiten können und in ihren Köpfen Unordnung entsteht“, lauteten Reinerts Worte. „Ein ausgewogener Lebensstil ist also das A und O für geistige Gesundheit.“

Kaum hatte er den gefüllten Napf auf den Boden gestellt, fiel Bruno wie ausgehungert über die Portion her. Amüsiert guckte Daniel einen Moment zu, bevor er sich seinem Essen zuwandte. Er schaufelte Reis auf einen Teller, fügte eine Kelle Gemüsesauce hinzu und nahm am Tisch Platz.

Bruno hatte mittlerweile alles verputzt, schlabberte ein bisschen Wasser und gesellte sich zu ihm. Anscheinend war das Ziel, dem Bettelblick zufolge, etwas von seinem Abendessen abzubekommen.

„Sorry, aber das ist nichts für dich.“ Er schenkte Bruno ein bedauerndes Lächeln. „Damit verdirbst du dir nur den Magen.“

Bruno schien das einzusehen, kroch unter den Tisch und machte es sich auf seinen Füßen gemütlich. Was für eine herrliche Heizung. Allein dafür hatte sich die Anschaffung gelohnt.

Im Anschluss ging’s nach draußen. Die Sonne stand inzwischen tief. Ein kühler Wind veranlasste Daniel fröstelnd, den Schal enger um seinen Hals zu schlingen. Diesmal wandte er sich nach rechts und steuerte das große Waldgebiet an, das sich bis zu Hamburgs Landesgrenze hin zog.

Seine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Bruno wetzte davon, sobald er die Leine gelöst hatte. Leider fiel ihm zu spät ein, dass sein Hund vielleicht nicht auf den ihm zugedachten Namen hörte. Sein versuchsweises „Bruno!“ verhallte ohne Wirkung. Nach ihrer Rückkehr musste er unbedingt rausfinden, wie man ein Haustier an einen Namen gewöhnte.

Während des ganzen Spaziergangs umkreiste Bruno ihn wie einen Satelliten. Mal tauchte der Hund rechts aus dem Unterholz auf, mal links, mal kam er von hinten, mal von vorne. Ach ja, Fellpflege musste sich Daniel auch noch anlesen. Er hatte keine Lust, Zecken und sonstiges Getier in seinem Haus zu beherbergen.

Als sie an ihrem Ausgangspunkt ankamen, fand sich Bruno an seiner Seite ein. Er befestigte die Leine. „Was hältst du von einer Dusche?“

Bruno schaute zu ihm hoch mit einem Ausdruck, der „Spinnst du?“ zu sagen schien.

„Schon gut. War ja nur ein Vorschlag.“



In dieser Nacht schlief Daniel das erste Mal seit Tagen ruhig bis zum Weckerklingeln durch. Als er geduscht und frisch rasiert die Treppe runterstieg, erwartete Bruno ihn bereits mit einem Schwanzwedeln. Auf dem Weg in die Küche stolperte er, weil der Hund ihm zwischen die Beine drängte. Da hatte jemand offenbar mächtigen Hunger.

„Wenn du mich zu Fall bringst, gibt es kein Frühstück“, warnte er, woraufhin Bruno etwas Abstand wahrte.

Regel Nummer eins bei Haustieren: Wenn’s ums Fressen geht, verstehen sie jedes Wort. Als Kind hatte Daniel Meerschweinchen und ein Karnickel, die genauso reagierten.

Er kümmerte sich vorranging um Brunos Napf, den er mit dem Rest aus der Dose füllte. Bevor er ihn auf den Boden stellte versuchte er, Bruno nach dem Vorbild von Robinson Crusoe mit Freitag seinen Namen beizubringen: „Ich Daniel ...“ Er zeigte auf sich, dann auf Bruno. „Du Bruno.“

Der Blick des Hundes huschte vom Napf zu ihm und zurück.

„Bruno, mach Sitz“, befahl Daniel.

Zögernd gehorchte der Hund.

„Brav“, lobte er, strich Bruno über den Kopf und gab ihm sein Frühstück.

Im Anschluss an Kaffee und eine Scheibe Toast drehte er eine große Runde mit dem Hund, bevor er sich auf den Weg ins Büro machte.



3.

Kaum war sein Herrchen aus dem Haus, wechselte Seat die Gestalt. Probeweise stellte er sich auf seine Hinterbeine. Trotz der ungefähr drei Monate auf allen Vieren, hatte er das Gehen in aufrechter Haltung nicht verlernt.

Als erstes inspizierte er den Kühlschrankinhalt. Es gab Weißwein, sechs Bier und im Eisfach eine angebrochene Flasche Wodka. Das würde für ein lustiges Besäufnis reichen. Da er sein neues Heim noch ein bisschen behalten wollte, ließ er die Pfoten ... nein, Finger von den Sachen. Er stibitzte lediglich ein Stückchen Käse, das er knabberte, während er sich gründlich im Wohnzimmer umschaute.

Aus Hundeperspektive veränderte sich der Fokus. Seat stellte fest, dass ein langes Verweilen in der zweiten Gestalt dazu führte, mehr und mehr die Gewohnheiten des Tieres anzunehmen. Sein Augenmerk hatte sich auf schlafen, fressen, pissen verschoben. Seine Libido hielt wohl noch Winterschlaf, denn sie blieb momentan im Hintergrund.

Den riesigen Flat-Screen setzte er mühelos mit der auf dem Couchtisch liegenden Fernbedienung in Gang. Mit der Musikanlage erwies sich der Umgang als schwieriger. Zum einen fand er keinerlei Tasten an dem Gerät, zum anderen keine Fernbedienung. Sein Versuche, sie durch gesprochene Befehle - seine Stimme war ganz schön eingerostet - in Betrieb zu nehmen, schlugen fehl. Schließlich gab er auf und wandte sich dem Notebook zu. Es war mit einem Passwort geschützt.

Seat streifte durchs restliche Haus. Im Erdgeschoss gab es, neben dem Wohnzimmer, ein kleines Bad und einen Raum mit Bett, leerem Kleiderschrank und einem Stuhl. Vermutlich ein Gästezimmer. Im Obergeschoss: Ein Schlafzimmer, ein Raum mit Fitnessgeräten und ein großes Bad.

In ersterem guckte er sich genauer um. Das Bett sah gemütlich aus. Eine Liegeprobe ergab, dass der Eindruck nicht täuschte. Im Nachtschrank: Taschentücher, Hautcreme, Kondome und Gleitcreme. In der zweiten Schublade: Zwei Krimis mit Lesezeichen darin und darunter: schwule Farbmagazine. Wer hätte das gedacht? Seat blätterte durch zwei der Hefte, legte sie zurück und sah in den Kleiderschrank. Diverse Stapel T-Shirts, Hosen, Unterwäsche. An der Kleiderstange hingen etliche Anzüge und weiße Hemden. Sowas hatte Daniel vorhin getragen, sehr wahrscheinlich wegen eines Dresscodes im Büro.

Seat suchte das kleinste T-Shirt aus der Sammlung, eine der vier Jogginghosen und eine Pants. Die drei Teile versteckte er im Wohnzimmer unter der Couch, für den Fall, dass er Fluchtkleidung benötigte.

Nach einem Blick auf die Uhr - es war halb elf - entschied er, dass er es wagen konnte, die Dusche zu benutzen. Mittags bedeutete ja wohl nicht vor zwölf.

Er beeilte sich mit dem Waschen. Anschließend benutzte er Daniels Nassrasierer und Zahnbürste. Danach fühlte er sich wieder wie ein Mensch. Gern hätte er etwas angezogen, doch die Gefahr, sich plötzlich wandeln zu müssen, hielt ihn davon ab. Ein Hund in Klamotten hätte Daniels Mutter garantiert zum Nachdenken gebracht. Sorge, dass jemand sein Geheimnis entdeckte, hatte er zwar nicht, da es eh niemand glauben würde. Er befürchtete aber, zum Hundepsychologen geschleppt zu werden. Von Seelenklempner hatte er, nach seiner Erfahrung mit der Alten vom Jugendamt, ein für alle Mal genug. Oder, noch schlimmer, zum Veterinär. Der würde bestimmt merken, dass mit ihm etwas nicht stimmte.

Als sich um halb zwölf jemand an der Haustür zu schaffen machte, wechselte er rasch die Gestalt und trabte in den Flur. Eine Frau, unverkennbar Daniels Mutter, mit den gleichen braunen Haaren und blauen Augen, kam herein, erblickte ihn und begann zu lächeln.

„Du musst Bruno sein. Was bist du für ein hübscher Hund!“, rief sie.

Elende Lügnerin! Andererseits war es lieb von ihr, ihm Honig um den Bart zu schmieren. Entsprechend zeigte er ihr schwanzwedelnd, dass er sich freute.

„Da hat mein Sohn ja eine gute Wahl getroffen“, fand sie und kraulte seine Ohren. „Wollen wir gleich rausgehen oder erst später?“

Später? Wie lange wollte die Frau denn bitte bleiben?

„Ach, ich sehe schon, das gefällt dir gar nicht. Dann gehen wir gleich los.“ Erneut streichelte sie seine Ohren, bevor sie an ihm vorbei in die Küche ging. Ohne die Tasche in der Hand tauchte sie wieder auf, nahm die Leine von der Garderobe und ging zur Haustür.

Bis zum Waldrand leinte sie ihn an. Danach löste sie den Karabiner von seinem Halsband und tätschelte ihm den Kopf.

„Lauf ruhig vor. Ich bin nicht mehr die schnellste.“

Seat raste los. Sein menschlicher Magen vertrug den Käse, sein tierischer nicht. Hinter einem Busch verrichtete er sein Geschäft. Anschließend fühlte er sich wie neugeboren und galoppierte einige Runden durchs Unterholz, bevor er zu Daniels Mutter zurückkehrte.

Brav lief er neben ihr her. Sie hatte gelogen und marschierte sogar schneller als ihr Sohn. Gleichzeitig redete sie in einem fort auf ihn ein.

„... sollte mehr rausgehen. Seit dem Unfall verkriecht er sich noch mehr als vorher. Ich mache mir echt Sorgen.“

Unfall? Stammte daher das Humpeln?

„... überlegt, ob wir ihn mal mit zur Skatrunde schleppen oder zum Tanzen, aber Daniels Vater ist dagegen. Er meint, das wäre nichts für junge Semester. Dabei sind ganz viele junge Menschen dabei und einer ist sogar schwul, genau wie Daniel.“

Sie wollte ihren Sohn verkuppeln? Wie niedlich!

„... sieht gar nicht mal so übel aus. Na gut, er ist ein bisschen adipös, aber es zählen doch die inneren Werte, nicht wahr?“ Daniels Mutter seufzte. „Heutzutage achten die Leute viel zu sehr aufs Äußere. Früher war das anders.“

Ähm ... wie sah denn bitteschön Daniels Vater aus? Wie Gollum? Seat schauderte bei der Vorstellung.

Außerdem hat der Kandidat einen guten Job. Das ist doch auch was wert, nicht wahr? Daniel hat zwar genug Geld, aber er will doch bestimmt keinen armen Schlucker.“

Tja, wer wollte den schon?

„Jedenfalls muss mein Junge mehr unter Leute. Nun, wo er dich hat, lernt er ja vielleicht beim Gassigehen jemanden kennen. Hunde sind ja bekanntermaßen Ehestifter.“

Ach? In der Rolle hatte er sich noch gar nicht gesehen.

„Meine Nachbarin hat ihren Mann auch auf dem Weg kennengelernt. Inzwischen haben sie fünf Kinder.“

Was bei Daniel wohl nicht passieren würde.

Ein Hundebesitzer kam ihnen entgegen. Die Pudeldame hob hochmütig das Kinn und würdigte Seat keines Blickes. Eingebildete Schnepfe! Selbst wenn er auf Weiber stehen würde, wäre das hochgezüchtete, teilrasierte Ding nicht sein Fall.

Daniels Mutter grüßte das Herrchen und beugte sich runter, um den Pudel zu streicheln. Knurrend wich das blöde Tier zurück. Vermutlich roch es Seat an ihren Händen.

„Merkwürdig. Sonst ist sie total zutraulich“, meinte das Pudelherrchen.

„Es ist schon in Ordnung, wenn sie sich nicht von jedem anfassen lässt“, erwiderte Daniels Mutter. „Ich würde das auch nicht wollen.“

Sie gingen weiter, wobei Schweigen eintrat. Auch auf dem Rückweg herrschte Stille. Seat hätte gern erfahren, was es mit dem Unfall auf sich hatte. Plagten Daniel Schuldgefühle? Oder warum ging er nicht mehr aus? Ist doch egal. Du bist eh bald über alle Berge, flüsterte es in seinem Schädel.

In Daniels Zuhause bekam er frisches Wasser. Außerdem legte Daniels Mutter ihm ein Leberwurstbrot in den Napf. Das Zeug konnte er schon als Mensch nicht leiden. Als Hund ekelte es ihn regelrecht an. Angewidert wich er zurück und beäugte das Subjekt.

„Magst du das etwa nicht?“, säuselte Daniels Mutter. „Das mögen doch alle Hunde.“

Nun, er war ja nicht alle Hunde, sondern Seat.

„Dann bekommst du eben ein anderes Leckerli“, beschloss sie, entfernte das Ekelbrot und streute ein bisschen Trockenfutter ins Napf. Das war schon eher sein Geschmack. Er inhalierte die Bröckchen und begab sich ins Wohnzimmer, wo er sich auf seiner Decke niederließ.

Leider dachte Daniels Mutter gar nicht an Aufbruch. Sie putzte das ganze Haus, was teilweise Heidenlärm verursachte. Vor allem der Klopfsauger, mit dem sie die Teppiche reinigte, dröhnte in Seats Ohren.

Seine Hoffnung, sich in Menschengestalt noch ein wenig zu entspannen, schwand mit jeder vergehenden Minute. Sie wurde endgültig zunichtegemacht, als Daniel gegen halb drei eintraf. Die Uhrzeit wusste Seat so genau, weil sich die Digitalanzeige des Fernsehers genau in seinem Blickfeld befand.

Kurz nach Daniels Eintreffen verabschiedete sich dessen Mutter. Sie kraulte Seats Ohren und versprach ihm ein baldiges Wiedersehen. So lange sie nicht wieder mit Leberwurst ankam, war das für ihn okay.


Die folgenden Tage verliefen stets nach dem gleichen Muster: Morgens eine große Runde, dann setzte sich Daniel vors Notebook. Mittags ging’s wieder raus, aber nur kurz, meist zum Einkaufen und abends erneut eine große Runde.

Seat genoss das beschauliche Leben. Gutes Essen, eine warme Heizung und Decke ... was wollte man mehr? Ihm steckten die Jahre voller Entbehrungen noch in den Knochen. Vielleicht würde er sich nie davon erholen.

Am Wochenende - in der Küche hing ein Kalender und manchmal hörte Daniel bei der Arbeit Radio, daher wusste Seat die aktuellen Wochentage - erschienen Daniels Eltern, um sie zu einer Spritztour abzuholen.

Er bekam hinten im Kombi einen weich ausgelegten Platz mit hervorragender Aussicht. Er bedauerte es, als die Fahrt zu Ende war, weil er das Schaukeln des Wagens so gemütlich fand. Die Entschädigung in Form von einer Kugel Vanilleeis söhnte ihn aus, genau wie der ausgedehnte Spaziergang durch ein riesiges Waldgebiet.

Daniels Vater war ein attraktiver Herr, was ihn an das Gerede über innere Werte erinnerte. Entweder waren das nur leere Worte oder der Mann besaß beides. Sowas sollte es ja geben. Allerdings hatte Seat bisher noch keine Bekanntschaft mit solchem Exemplar geschlossen. Die gutaussehenden Typen waren allesamt ätzend gewesen und selbst die hässlichen nicht ausschließlich sympathisch.

Nach dem Ausflug sah er Daniel das erste Mal Alkohol trinken. Der Wunsch, ebenfalls ein Bierchen zu lenzen, wuchs. Vielleicht konnte er sich später, wenn Daniel schlief, ein Fläschchen gönnen.

Mal wieder wurde seine Hoffnung zunichtegemacht, denn es blieb bei einem Bier. Es würde zu sehr auffallen, wenn am nächsten Morgen mehr als eine leere Flasche in der Küche stand, wobei ... was sprach dagegen, das Altglas verschwinden zu lassen? Im Garten war doch reichlich Platz für seine persönliche Deponie.

Nachdem Daniel ins Bett gegangen war, wartete er sicherheitshalber eine Vierteilstunde, bevor er sich wandelte und in die Küche schlich. Mit einer der verbliebenen fünf Flaschen machte er es sich auf der Couch vor dem Notebook gemütlich. Mittlerweile hatte er das Passwort rausgefunden: Vorname und Geburtsjahr von Daniels Mutter. Erfahrungsgemäß benutzten viele derart einfache Kombinationen.

Während Seat sein Diebesgut vernichtete, surfte er ein bisschen im Internet herum. Plötzlich - er hatte einen YouTube-Clip angeklickt, ertönte aus dem Gerät eine Fanfare. Flink klappte er den Deckel zu, womit der Lärm erstarb und lauschte mit wild klopfendem Herzen, ob sich im Obergeschoss etwas rührte. Als es ruhig blieb, atmete er auf. Was war er doch für ein Dummkopf, den Ton nicht abzustellen! Der Vorfall hatte ihn dermaßen geschockt, dass er schnell den Rest Bier trank und die Flasche zu den Klamotten unter die Couch schob. Die Entsorgung wollte er bei nächster Gelegenheit vornehmen. Für heute hatte er sein Glück genug herausgefordert.


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Tag der Veröffentlichung: 24.03.2021

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