Jannis Marschacht ist Tänzer, und zwar bevorzugt auf Highheels. Damit hat er es zu gewisser Berühmtheit gebracht. Sein Ziel ist, auch international Ansehen zu erlangen. Er sucht daher Kontakt zu Brian Frischmann, ebenfalls Tänzer und mit Vitamin B ausgestattet, der ihm dazu verhelfen soll. Das ist aber nicht der einzige Grund: Brian ist ausnehmend sexy und reizt ihn ungemein.
Das Ballettstudio von Jannis‘ Mutter wurde vor- und nachmittags von kleinen Mädchen in Tüllröcken bevölkert. Abends war eine ganz andere Klientel dran: Männer und Frauen in Highheels. Während der Proben benutzten viele flache Schuhe, doch wenn es ernst wurde, trugen alle hohe Absätze.
Als Kind hatte Jannis die Stöckelschuhe seiner Mutter ausprobiert. Daraus war im Laufe der Jahre eine Sucht geworden, genau wie aus dem Tanzen. An letzterem war auch seine Mutter schuld. Sie hatte ihn von Kindesbeinen an mit ins Studio genommen, wo er aus Langeweile lieber mitmachte, anstatt rumzusitzen.
Im Teenageralter wechselte er auf eine Ballettschule, an der es spezielle Kurse für Männer gab. Dort machte er auch seine ersten sexuellen Erfahrungen. Nach seinem Schulabschluss entschied er, in die Fußstapfen seiner Mutter zu treten. Allerdings wollte er kein klassisches Ballett unterrichten, sondern seine eigene Tanzform.
Vielleicht wäre sein Plan gescheitert, wenn er Malte und Karim nicht getroffen hätte. Die beiden waren ebenfalls tanzverrückt. Zusammen studierten sie eine Choreografie ein, mit der sie beim Supertalent auftraten. Das brachte die nötige Publicity, um Jannis‘ Kurs Zulauf zu verschaffen. Zudem bekam er Anfragen von Stars und Sternchen, die ihn für ihre Videoclips buchen wollten.
Mittlerweile war Jannis gut im Geschäft. Seine Kurse waren stets ausgebucht und sein Terminkalender voll. Das war nicht über Nacht geschehen. Etliche Jahre hatte er praktisch von der Hand in den Mund gelebt und hart gearbeitet, bis regelmäßig Einnahmen flossen. Wer dachte, dass man über Nacht reich und berühmt wurde, war naiv.
Er schloss die Tür zum Studio auf und stolperte im Eingangsbereich über ein Ballettschläppchen. Die Mädchen ließen alles Mögliche liegen, von Schuhen über Schals, Mützen und Strumpfhosen. Nachdem er das Schläppchen in die Kiste, die dafür vorgesehen war, geworfen hatte, ging er ins Büro, um den Anrufbeantworter abzuhören. Seine Mutter hasste modernen Schnickschnack, besaß nicht mal ein Smartphone und nannte eine Anrufweiterleitung ein überflüssiges Übel.
Neben der Nachricht einer Ballettratten-Mutter, dass ihre Tochter am nächsten Tag verhindert war, befand sich auf dem Gerät eine Bitte um Rückruf von Brian Frischmann. Es geschahen noch Zeichen und Wunder. Seit rund drei Monaten telefonierte Jannis dem Kerl hinterher, bisher ohne Erfolg.
Er drehte sich mit dem Schreibtischstuhl zum Fenster und starrte sinnend ins Dunkel. Wollte Brian ihm bloß eine Absage übermitteln? In jedem Fall würde er den hochnäsigen Typen ein bisschen schmoren lassen, bevor er dessen Bitte erfüllte.
Im Gegensatz zu ihm war Brian mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen. Durch Eltern, die in der oberen Klasse der Schauspieler rangierten und sogar schon mal in Hollywood Rollen ergattert hatten, besaß der Typ Vitamin B in Hülle und Fülle. Das sollte nicht heißen, dass Brian ein schlechter Tänzer war - beileibe nein! Der Mann war echt gut. Sowas konnte man weder kaufen noch durch Beziehungen erwerben.
Jannis hingegen stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater war bald nach seiner Geburt gestorben. Seine Mutter hatte damals gerade das Ballettstudio eröffnet und musste hart ackern, um sie über die Runden zu bringen. Das war auch der Grund, weshalb er viel Zeit dort verbrachte. Im Büro hatte er seine Schularbeiten erledigt oder vor sich hin geträumt. Insofern war das Studio seine zweite Heimat.
Karim und Malte hatte er in einem Club in Wandsbek kennengelernt. Die beiden waren ihm durch ihren Tanzstil aufgefallen. Genau wie er zappelten die zwei nicht herum, sondern erfanden Figuren und benötigten dafür ziemlich viel Platz. Das ging natürlich nur, wenn der Laden nicht allzu voll war, also vor den Stoßzeiten. Entsprechend früh tauchten die beiden stets auf, ebenso wie Jannis.
Die Idee, sich beim Supertalent zu bewerben, hatte Malte. Fast ein Jahr verging, bis ihre Choreografie stand, ein weiteres, bis man sie in die Show ließ. Über die zweite Runde hinaus hatten sie es nicht geschafft, doch wie hieß es so schön? Dabeisein ist alles. Millionen Zuschauer hatten sie immerhin gesehen.
Inzwischen hatten Malte und Karim den Traum, vom Tanzen zu leben, aufgegeben. Beide kamen zwar in regelmäßigen Abständen ins Studio, gingen aber einem normalen Broterwerb nach. Malte arbeitete bei der Post, Karim in einem Supermarkt.
Während sich die Freundschaft mit Malte aufs Tanzen und gelegentliche Clubbesuche beschränkte, war die mit Karim weiter gediehen. Häufig war er zum Essen bei dessen Familie, die ihn praktisch adoptiert hatte, zu Gast. Karims Mutter stammte aus Ägypten und konnte fantastisch kochen. Sein Vater, mit Bierbauch und Schnauzer, wollte nicht so recht zu der zarten, hübschen Frau passen, aber die beiden schienen sich aufrichtig zu lieben. Auch Karims vier Geschwister sprachen dafür.
Telefonläuten riss Jannis aus seinen Gedanken. Er drehte sich mit dem Sessel um und betrachtete das Telefon. Schließlich griff er nach dem Hörer und meldete sich: „Ballettstudio Marschacht, Jannis am Apparat.“
„Hi, hier ist Brian. Wann können wir uns treffen?“
Was bildete sich der Kerl denn ein? Nach so vielen Wochen des Wartens sprang Jannis doch nicht auf Kommando. „Hi Brian. Schön, von dir zu hören.“
„Mir passt es am Donnerstag zwischen elf und zwölf.“
Ein wirklich riesiges Zeitfenster, überlegte er ironisch. „Moment. Ich muss erst in meinen Terminkalender gucken.“
Während er mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte trommelte, um Geschäftigkeit zu vermitteln, ging die Tür zum Studio auf und zu. Im nächsten Moment schaute Karim ins Büro. Jannis legte einen Finger über die Lippen, wies auf den Telefonhörer in seiner Hand und tat, als würde er wichsen. Karim runzelte die Stirn und verschwand wieder. Vermutlich dachte sein Kumpel, er hätte Telefonsex. Die Geste war ja auch etwas zweideutig.
„Diese Woche ist es schlecht“, sprach er in den Hörer. „Wie sieht es nächste Woche bei dir aus?“
Ein Seufzer drang an sein Ohr. „Ja, ja, hab schon verstanden. Du bist beleidigt. Schlag einfach einen Termin vor.“
Dumm war Brian jedenfalls nicht.
„Wie wäre es mit Freitagabend um sieben hier im Studio? Falls wir uns einig werden, können wir gleich eine Trainingseinheit einlegen.“
„Okay. Ich bin um sieben da. Ciao.“
Na also! Zufrieden grinsend legte Jannis auf und gesellte sich zu Karim, der, ein Smartphone in der Hand, in der Umkleidekabine saß.
„Das war Brian Frischmann“, erklärte er. „Endlich hat der Sack zurückgerufen.“
„Und was sollte diese komische Handbewegung? Hattet ihr Telefonsex?“
„Das sollte heißen: Der Wichser ist am Apparat.“
Karim gluckste. „Alles klar. Dann weiß ich beim nächsten Mal Bescheid.“
Sie zogen sich um und gingen in den Trainingsraum. Jannis stellte Musik an, ein Potpurri der Spice Girls, zu dem sie sich aufwärmten. Mit Karim machte es irren Spaß zu tanzen. Sie harmonierten perfekt, genau wie mit Malte. Das hatte ihnen ja auch die zweite Runde beim Supertalent beschert.
Nach und nach trafen weitere Leute ein. Um sieben waren alle da, ausgenommen Malte, der ja eh nur sporadisch auftauchte. Die meisten betrieben tanzen als Hobby. Lediglich zwei der Teilnehmer planten eine berufliche Tanzlaufbahn.
Nach kurzer Aufwärmphase stellte Jannis seine Choreographie zum alten Laura-Branigan-Hit Self Control vor. Karim kannte sie bereits, da sie sie zusammen erarbeitet hatten und tanzte mit ihm. Im Anschluss probierten es alle zusammen, bis der Raum vor Schweiß stank. Es gab einen Unfall: Bei einer Teilnehmerin brach der linke Absatz ab. Zum Glück blieb ihr Fuß heil. In Highheels zu tanzen barg Unfallgefahren, zugleich war es eine reizvolle Herausforderung.
Während die anderen duschten und sich umzogen, lüftete Jannis und polierte hier und da die Wandspiegel. Morgens kam zwar ein Putztrupp, aber er wollte sichergehen, dass kein Handabdruck zurückblieb. Manchmal neigte er zum Perfektionismus, manchmal zu Schlamperei. In seiner Wohnung, beispielsweise, sah es oft aus, als hätte ein Wirbelsturm darin gewütet. Karim nannte ihn deshalb Teilzeitschlampe.
Selbiger saß noch im Umkleideraum, als Jannis hereinkam. Die anderen waren bereits verschwunden. Er streifte seine verschwitzten Sachen ab, schnappte sich sein Duschtuch und ging in den Waschraum, wo er sich unter eine der Brausen stellte. Erst als er vergeblich nach Seife tastete fiel ihm ein, dass sie in seiner Tasche lag.
„Karim?“, brüllte er übers Wasserrauschen hinweg. „Kannste mir mein Duschgel bringen?“
Einen Moment später erschien sein Kumpel mit dem Gewünschten, reichte es ihm und begab sich wieder außer Reichweite des Wasserstrahls. „Gehen wir noch was trinken?“
Er gab Seife in seine Handfläche und begann, sich unter den Achseln zu waschen. „Weiß nicht ... Eigentlich bin ich erledigt.“
„Von dem bisschen Rumgezappel?“
„Heute Morgen hatte ich schon ein Workout mit Sabrina, du weißt schon, der neue Schlagerstern am Himmel.“
„Na gut. Du bist für heute entschuldigt.“
Jannis, der sich gerade der Brause zugewandt hatte, guckte über die Schulter, um etwas zu erwidern. Er ertappte seinen Kumpel dabei, ihm auf den Arsch zu starren, obwohl Karim rasch woanders hinguckte.
„Hast du sexuellen Notstand?“, erkundigte er sich spöttisch.
Karim zuckte mit den Achseln, weiterhin den Blick sonst wohin gerichtet. Jannis ließ es dabei bewenden. Was Sex betraf, war Karim etwas verklemmt. Allerdings waren das für ihn alle, die nicht freimütig über ihre Bettgeschichten plauderten.
Als er nach beendeter Dusche den Umkleideraum betrat, war Karim weg. Gemächlich zog er sich an, machte einen Rundgang durch alle Räume und löschte die Lichter.
Auf dem Heimweg, den er zu Fuß zurücklegte, fiel ihm das Telefonat mit Brian wieder ein. Er war gespannt, wie es sein würde, dem Snob Auge in Auge gegenüberzustehen. Bisher hatte er bloß Fotos und Videos von Brian gesehen. Die aggressive Art, mit der er tanzte, hatte Jannis auf die Idee für eine Choreographie gebracht. Sollte die Zusammenarbeit klappen, könnten sie vielleicht einige gemeinsame Projekte an Land ziehen.
Nach rund zehn Minuten erreichte er seine Wohnung. Ein totaler Glücksfall, dass er in der Nähe des Studios eine gefunden hatte. Sie lag in einem alten Rotklinkerbau, der vermutlich kurz nach Kriegsende entstanden war. Das schäbige Äußere täuschte: Innen war alles saniert und sah wie neu aus.
Im Flur hängte er seine Jacke an die Garderobe, schüttelte sich die Sneakers von den Füßen und ging auf Socken in die Küche. Mit einem Glas Wein ließ er sich im Wohnzimmer auf der Couch nieder und griff nach der Fernbedienung. Nach einer Weile Herumzappen blieb er bei einer Tanzshow hängen. Unglaublich, wer sich da als angeblicher Promi auf dem Parkett tummelte. Heutzutage reichte es aus, einmal mit einem Serienschauspieler oder Schlagersänger in die Kiste gesprungen zu sein, um als Star zu gelten.
Jannis hatte auch schon ein paarmal darüber nachgedacht sich hochzuschlafen. Bei Männern war das aber leider etwas schwieriger, noch dazu, wenn sie schwul waren. Jedenfalls kannte er keinen Homosexuellen, der es durch eine Affäre zu Ruhm und Geld gebracht hatte.
Er leerte sein Glas, schaltete die Glotze aus und verrichtete im Bad seine abendliche Routine. Beim Zähneputzen betrachtete er sich im Spiegel. Einige Zeit war er blond gefärbt rumgelaufen, doch mittlerweile zu seiner dunkelbraunen Haarfarbe zurückgekehrt. Das andere hatte ziemlich affig ausgesehen und ging als Jugendsünde durch, schließlich war er erst zwanzig gewesen, als er sich dafür entschied.
Am nächsten Morgen führte sein erster Weg ins Studio. Seine Mutter hatte ihn gebeten, nach dem Rechten zu sehen, da sie zu einem Arzttermin musste. Um zehn kam die erste Gruppe Kinder, weshalb bis dahin alles blitzsauber sein sollte.
Anschließend stand ein Termin mit einem Fernsehsender auf dem Programm. Man suchte jemanden, der den Kandidaten einer Sendung bewegungstechnisch auf die Sprünge half. Leider - oder zum Glück, denn Jannis hasste Castingshows - erteilte man ihm eine Absage. Das bedeutete zwar den Verlust einer erklecklichen Summe, doch das konnte er sich leisten. Die Zeiten, in denen er jedem beschissenen Auftrag hinterhergehechelt hatte, waren Geschichte.
Bei seinem Trainingsprogramm, das er sonst gern morgens absolvierte und wegen des Treffens auf mittags verschoben hatte, ergötzte er sich an dem Anblick der muskulösen Leiber der anderen Fitnesscenterbesucher. Sein Beuteschema: Groß, machohaft, Bodybuilder Figur. Leider hatten ihm diese Vorlieben reihenweise Dumpfbacken beschert. Er war jedoch überzeugt, dass irgendwann der Richtige unter seinen Auserwählten sein würde.
Gib zu, du hast Brian deswegen angerufen, flüsterte es spöttisch in seinem Schädel. Der Mann entspricht nämlich genau deinem Muster.
Quatsch! Der spielt in einer ganz anderen Liga!, gab er im Geiste zurück. Typen wie der verspeisen Männer wie mich zum Frühstück.
Also, nicht dass er etwas dagegen gehabt hätte. Er schnitzte zwar keine Kerben mehr für jeden Fick in seinen Bettpfosten, aber ein bisschen Sammelleidenschaft war noch vorhanden.
Im Laufe des Freitags wurde Jannis zunehmend nervöser. Er hatte bloß am frühen Nachmittag ein Date mit einem Countrysänger, um ein paar Tanzschritte einzustudieren. Den Rest der Zeit verbrachte er damit, über seine Choreografie und mögliche Szenarien nachzudenken, dass Brian ihm einen Vogel zeigte bis hin zu Begeisterung.
Um kurz vor sieben war er derart hibbelig, dass er durchs Studio tigerte. Mal wischte er hier einen winzigen Fleck auf den Spiegeln weg, mal schaute er auf die Uhr. Um zehn nach ertönte die Türglocke. Offiziell war geschlossen, doch die Tür unverriegelt. Also hatte Brian - sofern er es war - nicht mal probiert hereinzukommen. Das sprach für gute Manieren.
Betont langsam ging Jannis in den Vorraum, um die Eingangstür zu öffnen. Tatsächlich stand Brian davor und sah in natura noch besser aus als im Internet.
„Hi. Komm rein“, bat Jannis gespielt lässig, denn er zitterte innerlich. Warum eigentlich? Wenn Brian ablehnte, war das doch kein Weltuntergang.
Brian schlenderte an ihm vorbei und schaute sich nach allen Seiten um. Bestimmt war er luxuriöseres als das in die Jahre gekommene Ballettstudio gewohnt. Jannis‘ Mutter ließ zwar regelmäßig renovieren, doch man merkte dem Laden das Alter trotzdem an.
„Niedlich“, kommentierte Brian und stopfte beide Hände in die Hosentaschen. „Hast du was zu trinken?“
„Klar.“ Er ging an Brian vorbei zur Teeküche und guckte in den Kühlschrank. „Wasser, Orangensaft, Cola oder Weißwein?“
Letzteren hatte er vorhin von zu Hause mitgebracht. Normalerweise bevorrateten sie im Studio keinen Alkohol.
„Wasser, bitte“, rief Brian vom Flur her.
Jannis füllte zwei Gläser, begab sich wieder zu seinem Gast und wies mit dem Kinn in Richtung Büro. Er setzte sich nicht hinter, sondern auf den Schreibtisch.
Brian fläzte sich auf den Besucherstuhl, die langen Beine ausgestreckt. „Erzähl mal von deiner Idee.“
„Hast du schon mal auf Highheels getanzt?“
Brian schüttelte den Kopf.
„Mit ist etwas zu Michael Jacksons It don't matter if you're black or white eingefallen.“
Skeptisch lüpfte Brian eine Augenbraue. „Ausgerechnet zu der ollen Kamelle? Außerdem ist hat die ein ziemlich schnelles Tempo.“
„Traust du dir das nicht zu?“
„Keine Ahnung, ob ich das auf Stelzen hinbekomme.“ Brian leerte das Glas in einem Zug, sprang auf und stellte es auf den Schreibtisch. „Dann zeig mal, was du dir vorgestellt hast.“
Im Trainingsraum tauschte Jannis seine Sneakers gegen ein Paar Highheels, stellte Musik an und begann zu tanzen. Brian lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand und beobachtete ihn. Er versuchte, sich dadurch nicht nervös machen zu lassen. Ein Patzer könnte bedeuten, einige Wochen mit verstauchtem Knöchel rumzulaufen, ganz zu schweigen von seinem angeknacksten Stolz.
Plötzlich gesellte sich Brian zu ihm und fing an, seinen Bewegungen zu folgen. Das klappte erstaunlich gut. Ob es auch so gut funktionierte, wenn Brian auf hohen Absätzen balancierte?
Jannis beendete den Tanz und stoppte die Musik. „Willst du es auf Highheels probieren? Ich hab einige im Fundus.“
Brian zuckte mit den Achseln. „Wenn du welche in 45 hast, okay.“
Als er mit einem Paar in dieser Größe zurückkehrte, erwartete Brian ihn in Tanktop und Shorts.
„Ist dir warm?“, erkundigte er sich, wobei er die Schuhe überreichte.
„So mag ich es lieber. Mehr Bewegungsfreiheit.“ Brian ließ sich auf dem Boden nieder, um in die Highheels - es handelte sich um Schnürstiefel - zu schlüpfen.
Ihm sollte es reicht sein. Wenn’s nach Jannis ginge, könnte sich Brian auch ganz ausziehen. Er streifte sein Sweatshirt ab, hängte es über eine Stange und stöckelte zur Musikanlage. Sobald Brian stand, startete er erneut den Song.
Es bereitete ihm Genugtuung zu sehen, wie unsicher sich Brian auf den Higheels bewegte. Nach zwei Beinahe-Unfällen beschloss er, den armen Kerl erstmal mit hilfreichen Tipps zu versorgen und drehte die Musik leiser.
„Hey! Was soll das?“, beschwerte sich Brian mit empörter Miene. „Ich war gerade so gut drin.“
Also, an Selbstvertrauen mangelte es dem Typen jedenfalls nicht. „Möchtest du Ratschläge haben oder nicht?“
Brian stemmte beide Hände in die Seiten. „Und?“
Mit wenigen Worten erklärte Jannis, worauf es ankam, bevor er den Song wieder lauter stellte. Dank seiner Tipps funktionierte es schon wesentlich besser. Wie kaum anders zu erwarten riss Brian die Kontrolle an sich und veränderte Teile der Choreografie. Eigentlich konnte Jannis sowas auf den Tod nicht ausstehen, aber die machohafte Ader turnte ihn mächtig an. Überhaupt machte Brian ihn total an. Die schwellenden Brustmuskeln und Bizepse animierten seinen Speichelfluss. Glücklicherweise war eine Erektion wegen der Konzentration auf Schrittfolgen ausgeschlossen. Es blieb also beim unauffälligen Sabbern.
Am Ende des Lieds legte Jannis einen Arm um Brians Schultern, oder eher gesagt versuchte er es, wurde jedoch mit einem Wegdrehen vehement abgewiesen. Zudem warf Brian ihm einen kühlen Blick zu, der selbst kochendes Wasser zu Eis gefrieren lassen würde.
Ernüchtert setzte er eine aalglatte Miene auf. „Und? Wie sieht’s aus? Drehen wir zusammen einen Video?“
„Was willst du denn damit?“
„Vielleicht lässt du deine internationalen Kontakte spielen, damit wir oder einer von uns Fuß in der amerikanischen Musikszene fassen kann.“
„Ach so.“ Brian grinste. „Ich denke mal darüber nach. Hast du noch Wasser für mich?“
Jannis holte welches aus der Küche, nahm auf dem Rückweg ihre Gläser aus dem Büro mit und stellte alles im Trainingsraum auf den Boden. Brian hatte sich bereits aus den Highheels befreit und massierte sich die Zehen.
„Wie können Frauen bloß den ganzen Tag auf solchen Dingern laufen?“, sinnierte Brian, den Blick auf die geliehenen Exemplare gerichtet.
„Die sitzen vermutlich mehr, als dass sie laufen.“
„Das würde ich auch tun.“ Brian griff nach der Wasserflasche, schenkte ein Glas voll und leerte es in zwei Zügen.
Jannis folgte diesem Beispiel. Anschließend füllte er ihre Gläser neu, bevor er sich an seinen Schuhen zu schaffen machte.
„Generell gefällt mir die Idee. Mal was anderes“, meinte Brian. „Wie sieht dein Zeitplan aus?“
„Am liebsten hätte ich die Sache gestern im Kasten.“
„Okay. Ich gucke nachher in meinen Terminplan und sende dir mögliche Daten.“ Brian angelte nach den Klamotten, die er nahe der Wand deponiert hatte.
Zu Jannis‘ Bedauern verschwanden die Muskelmassen rasch unter Stoff. Zum Schluss schlüpfte Brian in Stiefel und stand auf.
„Wir hören uns. Mach’s gut.“ Sprach’s und marschierte aus dem Raum.
Einerseits euphorisch über die eventuell entstehende Zusammenarbeit, andererseits enttäuscht von der Zurückweisung, starrte er einige Momente Löcher in die Luft. Dann erhob er sich, um in seine Sneakers zu steigen und sammelte die Highheels ein.
Während er aufräumte überlegte er, was er mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Irgendwie hatte er gehofft, dass Brian und er ... tja, das war dummes Wunschdenken gewesen. Deshalb hatte er Malte, der durch die Clubs ziehen wollte, eine Absage erteilt. Es war erst neun, also noch früh genug, um sich seinem Kumpel anzuschließen.
Nachdem alles zu seiner Zufriedenheit erledigt war, verließ er das Studio und rief auf dem Heimweg Malte an. „Ich hab doch Lust wegzugehen“, fiel er mit der Tür ins Haus.
„Ach? Ich dachte, du wolltest dich von dem Oberarschloch flachlegen lassen“, erwiderte Malte, dem er von seinen Plänen - natürlich nur den offiziellen - erzählt hatte.
„Das mit Brian ist rein beruflich.“
Im Hintergrund lachte jemand, vermutlich Karim.
„Komm vorbei. Wir machen uns gerade ausgehfein“, bot Malte an.
„Bin in ungefähr einer Stunde da.“
„Bring Wein mit. Meine Vorräte dürften bis dahin vernichtet sein.
„Ich sehe, was ich tun kann“, entgegnete er, beendete die Verbindung und steckte das Smartphone zurück in seine Hosentasche.
In seiner Wohnung ging er direkt ins Bad, wobei er eine Spur aus Klamotten hinterließ. Unter der Dusche rief er sich Brians Körper in Erinnerung, was ihm eine Erektion bescherte. Mit seifigen Fingern nahm er sich des harten Problems an.
Neunzig Minuten später läutete er bei Malte. Prompt summte der Türöffner. Wahrscheinlich war mittlerweile der Wein alle und die beiden entsprechend erpicht darauf, an Nachschub zu kommen. Malte trank gerne und oft, Karim eher selten, aber wenn, dann richtig.
In der Wohnungstür wurden die beiden Flaschen, die er dabeihatte, mit großer Begeisterung begrüßt. Malte nahm sie an sich und schlug die Tür vor seiner Nase zu. Schmunzelnd klopfte Jannis, woraufhin sie wieder aufschwang.
„Sorry. Hab dich gar nicht gesehen“, behauptete Malte mit Unschuldsblick.
„Blödmann.“ Er tätschelte seinem Kumpel im Vorbeigehen die Schulter, stieg aus seinen Schuhen und begab sich direkt ins Wohnzimmer. „Hi Saufnase“, begrüßte er Karim, dem der Alkohol bereits rote Wangen beschert hatte.
„Wie war’s?“
Er zuckte mit den Achseln und ließ sich neben Karim auf die Couch plumpsen. „Ganz gut. Brian ist gar nicht so hochnäsig wie es den Anschein hat.“
„Also macht ihr was zusammen?“
Jannis nickte. „Sofern er sich wieder meldet.“
Wie aufs Kommando piepte sein Smartphone. Er zog es hervor und sah, dass Brian ihm eine Nachricht geschickt hatte. Es handelte sich bloß um drei Daten, ohne Gruß oder sonst was. Das konnte warten. Er schob das Gerät wieder in seine Hosentasche. „Sieht positiv aus.“
Gegen elf brachen sie auf. Als erstes fuhren sie auf die Reeperbahn, wo sie durch mehrere Clubs zogen, bis ihnen in einem die Musik gefiel. Leider änderte sich das schnell. Nach dem dritten Technostück wechselten sie erneut die Location, wo sie die gleiche Mucke erwartete. Sie beschlossen also, nach Wandsbek in den Goldenen Hirsch zu gehen. Da konnte man sich wenigstens darauf verlassen, dass der DJ ihren Geschmack teilte.
Am nächsten Tag wachte Jannis mit einem mächtigen Kater auf. Bis um fünf Uhr morgens hatten sie im Goldenen Hirsch gezecht und getanzt.
In einen Bademantel gehüllt richtete er sich auf der Couch im Wohnzimmer ein, bis die Kopfschmerztabletten das Dröhnen in seinem Schädel besiegt hatten. Brians Nachricht beantwortete er trotzdem erst abends, als er klar genug war, um die richtigen Worte zu finden.
„Mir passt Donnerstag am besten. Bei mir oder dir? LG Jannis“, textete er.
Das war ein bisschen zweideutig und auch so gemeint. Brians Erwiderung, die kurz darauf eintraf, fiel nüchtern aus: „Um neun bei dir.“
Enttäuscht starrte er aufs Display, da läutete seine Türglocke. Ihm war nicht bewusst, einen Gast zu erwarten. Als er den Öffner betätigte, fiel es ihm wieder ein: Er war mit Karim für einen Sofa-Film-Abend verabredet. Das hatten sie irgendwann im Laufe der Nacht abgesprochen, zu einem Zeitpunkt, als er schon ziemlich besoffen war.
Karim joggte die Stufen hoch, als wäre er in einen Jungbrunnen gefallen. Seinem Kumpel sah man die durchsumpfte Nacht kaum an. Der dunkle Teint war echt beneidenswert. Jannis hingegen hatte dunkle Augenringe und fahle Haut im Spiegel bemerkt. Daran könnte vielleicht der Besuch eines Sonnenstudios etwas ändern, doch davon alterte sie früher. Das wollte er um jeden Preis verhindern. Ein wenig Eitelkeit war ja wohl erlaubt.
„Ich hab uns das große Horrorpaket mitgebracht“, verkündete Karim und drückte ihm einen Stoffbeutel in die Hand.
„Dazu brauche ich bloß in den Spiegel gucken.“
„So schlimm ist es doch gar nicht.“ Karim tätschelte seine Wange. „Darf ich reinkommen?“
Jannis trat beiseite. „Bestellen wir was zu essen?“
„Klar. Ich bin für Pizza mit doppelt Käse.“
„Igitt! Lass uns lieber beim Chinesen bestellen.“ Er schloss die Tür und spähte in den Beutel. „Wow! Da steht uns ja Gänsehaut bevor.“
„Die bekomme ich auch, wenn ich an süß-saure Katze denke.“ Karim schüttelte sich übertrieben.
„Pft! Du und deine Vorurteile. Gerade als Sohn von Migranten solltest du toleranter sein.“
Grinsend legte Karim Jacke und Schuhe an der Garderobe ab und ging auf Socken in Richtung Wohnzimmer. Jannis latschte hinterher, stellte die Tasche auf den Couchtisch und zückte sein Smartphone.
„Also, was ist denn nun? Wirklich Pizza?“, hakte er nach.
„Meinetwegen nehmen wir einen Chinesen. Vielleicht hat der ja auch Pizza.“ Karim fing an, den Beutel auszupacken.
Auf der Speisekarte seines Favoriten gab es sowas nicht. „Wie wäre es mit doppelt gebratenen Nudeln?“
„Auch okay.“
Jannis tippte ihre Bestellung ein, bezahlte per PayPal und gesellte sich zu Karim auf die Couch.
In den folgenden Tagen beherrschte Brian sein Denken. Nachts hatte er feuchte Träume, die in einem nassen Ergebnis mündeten. Allmählich artete es zur Besessenheit aus.
Am Donnerstag fieberte er, ganz gegen seine Gewohnheit, dem Ende des Tanztrainings entgegen. Glücklicherweise glänzte Karim durch Abwesenheit, sonst hätte er seinen Kumpel rasch rauskomplimentieren müssen. Er hatte nämlich nicht verraten, dass Brian kam. Auch das widersprach seinem normalen Gebaren, denn sonst erzählte er Karim nahezu alles. Auch Dinge, die sein Kumpel nicht wissen wollte, wie Bettgeschichten. Allerdings tat er letzteres nur, um Karim zu foppen.
Sobald der letzte Teilnehmer den Raum verlassen hatte, lüftete Jannis und räumte auf. Wann immer Schritte im Flur laut wurden, spähte er durch die Tür, doch es waren jedes Mal nur Tänzer, die das Studio verließen.
Schließlich war der Umkleideraum leer und von Brian keine Spur. Jannis tigerte durch die Räume und schaute alle paar Sekunden auf die Uhr.
Um halb zehn, gerade wollte er eine bissige SMS schreiben, klappte die Eingangstür und Brian erschien; keine Spur schuldbewusst, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen.
„Hi.! Brian wedelte mit einem Paar luxuriöser Highheels. „Diesmal hab ich meine eigenen Wadenbrecher dabei.“
Bestimmt handgefertigt und mit Diamanten an den Absätzen, an denen Glitzersteine funkelten. „Dann können wir ja loslegen.“
Brian verschwand im Umkleideraum. Erstaunlicherweise war Jannis‘ Verärgerung verpufft. Sonst neigte er dazu, nachtragend zu sein.
Er stieg in seine Highheels, stellte Musik an und begann, seine Muskeln wieder aufzuwärmen. Nach kurzer Zeit kam Brian dazu und folgte seinem Beispiel.
Als Jannis es für ausreichend hielt, stoppte er das Band. „Kann ich eine Probeaufnahme machen oder ist dir das zu früh?“
„Nö, mach nur.“
Flink schaltete er die fest installierte Kamera ein. Anfangs hatte seine Mutter das für überflüssigen Schnickschnack gehalten, doch inzwischen wusste sie es zu schätzen. So manche Ballerinamutti ließ sich gegen Entgelt eine Kopie der Aufnahmen ihres Sprösslings geben.
Als die Aufzeichnung lief, startete er ihren Song und begab sich in Position. Dafür, dass sie erst das zweite Mal probten, klappte es super. Irgendwie hatte Jannis geahnt, mit Brian zu harmonieren. Wenn es im Bett auch so gut ... Bleib auf dem Teppich!, mahnte ihn sein Verstand. Der Typ steht nicht auf dich. Tja, leider, aber vielleicht änderte sich das ja noch.
Bisher hatte Jannis sehr selten eine Absage erhalten. Wer konnte schon einem gutaussehenden Typen mit dem Körper eines Tänzers widerstehen?
Nach der x-ten Wiederholung ging ihm die Puste aus. Schließlich hatte er schon vorher einiges geleistet. Außerdem war es mittlerweile nach elf und somit Zeit, Feierabend zu machen.
„Lass es für heute genug sein“, wandte er sich an Brian, der keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigte.
„Okay. Ich muss sowieso los.“ Brian stöckelte in Richtung Umkleideraum davon.
In der Hoffnung auf eine gemeinsame Dusche eilte er hinterher. Er wurde jedoch enttäuscht. Brian schlüpfte in Jogginghose, Sneakers und Jacke, klemmte sich die Highheels unter den Arm und fragte: „Wann machen wir weiter?“
„Schick mir Termine, wann es dir passt.“
„Alles klar. Dann noch einen schönen Abend.“ Brian tippte sich an eine imaginäre Mütze und ließ ihn allein
Beim Duschen und Anziehen grummelte Jannis vor sich hin. Anschließend guckte er sich die Aufzeichnungen an. Moment! Was war denn das? Er spulte eine Sequenz zurück und tatsächlich: Brian guckte ihm lüstern auf den Arsch! Na also! Zufrieden grinsend lehnte er sich zurück. Somit hatte er doch eine Chance. Er würde die harte Nuss schon knacken.
Am folgenden Nachmittag trafen Brians Terminvorschläge ein. Jannis passte nur Montagabend, da er an den anderen beiden Daten bereits verplant war.
„Dann sehen wir uns Montag um neun“, tippte er. „Übrigens sind die Aufnahmen ganz gut gelungen. LG Jannis.“
Malte und Karim wollten abends wieder losziehen, doch diesmal sagte er ab. Darauf, wieder abzustürzen, hatte er null Bock. Zweifelsohne würde es darauf hinauslaufen, weil Malte ihn stets zum Saufen animierte. Schon allein deshalb war es gut, dass sie sich nicht allzu oft sahen.
Samstagmittag besuchte er seine Mutter, die ihn zum Essen eingeladen hatte. Es gab die von ihm heißgeliebten gebratenen Kartoffelklöße mit Backobst. Das Rezept stammte von seiner Großmutter. Sie war leider schon vor zwanzig Jahren gestorben.
„Ich überlege, mich aufs Altenteil zurückzuziehen“, gestand seine Mutter, als sie zusammen am Tisch saßen. „Neulich hat mich eins der Mädchen Oma genannt. Manchmal fühle ich mich auch so.“
In Jannis‘ Augen war sie kein Stück gealtert, obwohl ... wenn er genauer hinsah, entdeckte er etliche Fältchen und graue Strähnen in den braunen Haaren. Im nächsten Jahr wurde sie sechzig. Es war verständlich, dass sie nicht mehr jeden Tag im Studio stehen wollte.
„Und wie stellst du dir das vor?“
„Entweder übernimmst du die Kleinen oder ich heuere jemanden an.“
Jannis‘ Gabel stoppte mitten in der Luft. „Ich?“ Vor seinem entsetzten inneren Auge sah er sich auf Spitzenschuhen Pirouetten drehen, womöglich noch im Tutu.
„War nur ein Scherz“, beschwichtigte ihn seine Mutter. „Jedenfalls muss bald was passieren.“
„Ich denke mal darüber nach.“ Er stopfte sich den nächsten Bissen in den Mund.
Sie wechselte das Thema, plauderte über die Nachbarn, von denen er die meisten noch kannte. Dennoch hing ihre Ansage wie ein Damoklesschwert über ihm. So lange seine Mutter selbst unterrichtete, kam sie einigermaßen mit den Einnahmen hin. Es reichte hinten und vorne nicht, um jemanden zu bezahlen. Das bedeutete, dass entweder er die Unterrichtsstunden übernahm oder das Studio verkauft werden musste. Letzteres zog nach sich, seinen Übungsraum zu verlieren, außer der neue Eigentümer ließ sich auf einen Deal ein.
Andererseits könnte er sich woanders einmieten. Inzwischen warfen seine Kurse etwas Geld ab. Hinzukamen die Einnahmen aus Coaching, die auch regelmäßig flossen. Es widerstrebte ihm aber, die heimatlichen Gefilde zu verlassen.
„Sohn? Wo bist du mit deinen Gedanken?“, riss seine Mutter ihn aus seiner Grübelei.
„Och, nur bei meiner aktuellen Choreographie.“
„Irgendwann wirst du dir mit deinem Getanze auf Stelzen die Haxen brechen.“ Sie schüttelte missbilligend den Kopf, jedoch mit einem nachsichtigen Lächeln.
Sonntag fand ein Mittagessen bei Karims Familie statt. Alle redeten durcheinander und es wurde viel gelacht. Von Karims Geschwistern waren drei, Scherin, Kiki und Ramses, anwesend. Marik hatte wegen Unpässlichkeit abgesagt. Vermutlich ein Kater, überlegte Jannis amüsiert. In dem Alter, Marik war Mitte zwanzig, hatte er jedes Wochenende rumgesumpft.
„Und? Träumst du immer noch vom Sprung über den großen Teich?“, wollte Ramses wissen.
„Klar. Wer tut das nicht?“, erwiderte Jannis mit einem Augenzwinkern.
„Ich“, meldete sich Scherin. „Die spinnen doch, die Amis.“
„Ich will da auch nicht hin“, pflichtete Kiki ihrer Schwester bei. „Da gibt’s ja noch mehr Rassisten als hier.“
„Alles Vorurteile“, mischte sich Karims Vater ein. „Ihr dürft nicht alle über einen Kamm scheren.“
„Ach, Papa.“ Karim lachte. „Du sagst doch auch immer, alle Fußballer sind zu blöde, das Runde ins Viereckige zu schießen.“
Karims Vater zog den Kopf ein und widmete sich dem Essen. Die Familie bedachte ihr Oberhaupt mit einem nachsichtigen Schmunzeln und fuhr fort zu plaudern.
Beim anschließenden Kaffee - im Hause Marschacht hätte es den erst gegen halb vier gegeben, weil seine Mutter es als Todsünde ansah, die heilige Kaffeezeit vorzuziehen - fragte Karim leise Jannis: „Wie läuft es mit Brian?“
„Sehr gut. Ich denke, wir haben den Video bald im Kasten.“
„Wie ist er denn so?“
Jannis zuckte mit den Achseln. „Professionell. Begabt.“
„Und menschlich gesehen?“
„Keine Ahnung. Er ist ziemlich verschlossen.“
„Aber du findest ihn heiß, nicht wahr?“
Was sollte er dazu sagen? Jannis nickte.
„Hab ich mir gedacht.“ Karim seufzte. „Pass bloß auf dich auf. Solche Typen gehen über Leichen.“
So lange Brian ihn totvögelte, konnte er damit leben. „Keine Sorge.“
„Von welchem Brian redet ihr? Brian Adams?“, mischte sich Scherin ein.
„Lebt der noch?“ Kiki feixte.
Es flogen noch ein paar dumme Sprüche hin und her, dann brach Ramses auf. Kurz darauf verließen auch Karim, Kiki und Jannis die Runde. Vor der Tür verabschiedete sich Kiki, die in die andere Richtung musste. Zusammen mit Karim steuerte Jannis den Bahnhof an.
„Kommst du nächste Woche wieder ins Studio?“, fragte Jannis, mit der Intention, ein Zusammentreffen mit Brian zu vermeiden.
„Weiß ich noch nicht. Vielleicht am Mittwoch. Vorher schaffe ich es nicht.“
Er atmete auf. „Das wäre klasse.“
An einer Ampel trennten sich ihre Wege. Karims Wohnung lag links, Jannis‘ Weg führte geradeaus weiter.
„Bis Mittwoch dann“, meinte Karim, klopfte ihm auf die Schulter und marschierte davon.
Nachdenklich guckte Jannis seinem Kumpel hinterher. Irgendetwas war anders als sonst. Oder hatte sich seine Wahrnehmung verändert?
Während der Heimfahrt grübelte er, ob Karim etwas bedrückte. Vielleicht Liebeskummer? In der Vergangenheit hatte es zwei kurze Beziehungen gegeben, nach denen Karim lange zu nichts zu gebrauchen war. Wenn sein Kumpel litt, dann richtig.
Schließlich legte er die Sache zu den Akten. Karim würde es ihm sagen, falls etwas nicht stimmte. Er dachte stattdessen an den Termin mit einem alternden Schlagersänger am folgenden Vormittag. Der Mann wollte auf Tournee gehen und dafür ein paar Tanzschritte einstudieren. Jannis musste sich ein Bild von der körperlichen Fitness des Typen machen, bevor er zur Tat schritt. Laut den Fotos im Internet dürfte es damit nicht gut bestellt sein. Sie sollten es daher vielleicht bei simplen Armbewegungen lassen, sonst kippte der Mann am Ende auf der Bühne tot um.
Wie beim letzten Mal ließ Brian ihn bis halb zehn warten. Zu dem Zeitpunkt hatten alle Kursteilnehmer das Studio bereits verlassen. War es Kalkül? Wollte Brian ihn unbedingt allein antreffen oder bloß den anderen aus dem Weg gehen?
Sie absolvierten zwei Proben, bevor Jannis das Aufzeichnungsgerät startete. Es lief super. Nach drei Durchgängen guckten sie sich das Ergebnis im Büro, wo ein großer Bildschirm an der Wand hing, an. Brian fläzte auf einem Stuhl, Jannis hockte auf der Schreibtischkante.
„Daran müssen wir noch feilen“, kritisierte Brian stirnrunzelnd.
„Hier und da könnte es geschmeidiger laufen“, stimmte er zu und trank einen Schluck Wasser.
Brian nahm ebenfalls einen Schluck. Vor der Videovorführung hatte er zwei Fläschchen aus der Küche besorgt.
„Heute hab ich aber keine Lust mehr.“ Brian leckte sich über die Lippen und fixierte Jannis‘ Schritt. „Jedenfalls nicht auf tanzen.“
Was für eine plumpe Anmache, dennoch sprang er, oder eher gesagt sein Schwanz, darauf an. Das Teil war heiß auf Sex, nachdem wochenlang Dürre geherrscht hatte, ausgenommen seiner Einhandeinlagen.
„Komm her!“, fordert Brian, eine Hand nach ihm ausgestreckt.
Wie von seinem Ständer gezogen rutschte Jannis von der Tischkante und schwang sich auf Brians Schoß. Ihre Lippen fanden sich zu einem brutal anmutenden Kuss. Brian attackierte seine Mundhöhle mit der Zunge. Anders ließ sich die überfallartige Eroberung nicht betiteln. Erneut war es eher Jannis‘ Schwanz als Kopf, der Gefallen daran fand.
„Blas mir einen“, murmelte Brian, als sich ihre Lippen kurz voneinander lösten.
Leichter gesagt als getan, wo doch sein Mund belegt war. Im nächsten Moment gab Brian ihn frei und drückte ihn an den Schultern unmissverständlich nach unten.
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2021
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