Cover

Schmutziges Geheimnis

Seit fünf Jahren ist Jonathan Harks geheimer Liebhaber. Von einem auf den anderen Tag hat er die Schnauze davon voll. Da trifft es sich, dass er die Chance bekommt, fern von Hamburg sein leidendes Herz mit Nordseeluft zu heilen. Leider will das Organ aber gar nicht genesen, sondern hängt weiterhin an Hark.







1.

„Bis nächste Woche“, verabschiedete sich Hark und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Kurz darauf fiel die Wohnungstür ins Schloss. Einige Momente blieb Jonathan noch liegen und starrte an die Decke, bevor er aufstand und in einen Bademantel schlüpfte.

Im Wohnzimmer schenkte er sich einen Whisky ein, mit dem er sich auf der Couch niederließ. In kleinen Schlucken leerte er das Glas, während an ihr Kennenlernen zurückdachte.

Vor ungefähr fünf Jahren war Hark, an jeder Hand ein Kind, in seinen Buchladen spaziert. Da kurz vor Weihnachten immer viel los war, hatte es eine Weile gedauert, bis sich Jonathan um die drei kümmern konnte. Hark suchte etwas zu lesen für die Kinder. Das Mädchen wollte unbedingt eine Pferdegeschichte, der Junge etwas mit Fußball.

Vom ersten Moment an hatte ihn der attraktive Kunde fasziniert. Dunkle Augen, ungebärdige, braune Haare, ein feingeschnittenes Gesicht. Natürlich kam es öfter vor, dass gutaussehende Männer die Buchhandlung aufsuchten, doch Hark haftete etwas Besonderes an. Eine Aura von Traurigkeit, trotz des Lächelns auf den hübschen Lippen.

Damals hatte er die Wünsche der Kinder befriedigt. Die beiden waren mit glücklichen Mienen, ihr Vater mit deutlicher Erleichterung, mit ihren Büchern in den Händen aus dem Laden gegangen.

Einige Tage später erschien Hark erneut, doch ohne Anhang. Ob Zufall oder Fügung des Schicksals: Es war wenig im Geschäft los. Angeblich suchte Hark ein Kochbuch, doch Jonathan wurde schnell klar, dass es um etwas anderes ging. Es waren die hungrigen Blicke und das ständige Eindringen in seine Komfortzone, die Hark verrieten.

Einige Stunden später hatten sie Sex in einem Hotelzimmer. Es war bar jeglicher Romantik abgelaufen, nur auf den Zweck konzentriert. Auf diese Weise hatten sie es rund ein Jahr getrieben, bevor sie ihre Zusammenkünfte in Jonathans Wohnung verlegten. An ihren Treffen hatte das wenig geändert. Sie dauerten stets maximal zwei Stunden und begrenzten sich auf Sex, unterbrochen von ein bisschen Geplauder.

Manchmal kam sich Jonathan vor wie ein Therapeut, wenn er Harks Klagen über das Eheleben zuhörte, zumal er von sich selbst nichts preisgab. Wozu auch? Es interessierte Hark eh nicht die Bohne, wie es ihm ging.

Die Zwillinge, damals zehn, waren inzwischen fünfzehn und pubertierten. Harks Gattin Sabine befand sich in einer ständigen Midlifecrisis, seit sie vor sieben Jahren dreißig geworden war. Im Büro - Hark war selbständiger Steuerberater - herrschte Zickenkrieg. Nur finanziell schien es rosig auszusehen. Jedenfalls jammerte Hark nie darüber, sondern bloß über alles andere.

Oft fragte sich Jonathan, was er an dem Scheißkerl - abgesehen von der hübschen Fassade - gut fand. Okay, okay, der Sex war ziemlich schön, allerdings auch einseitig. Hark war stets aktiv, nur nicht beim Blasen. Vermutlich wäre das zu schwul. Beim Analsex konnte man sich immer noch einreden, dass kein anderes Loch zur Verfügung stand. Ein Blowjob wäre hingegen ein klares Statement.

Seufzend stand Jonathan auf, holte sich Nachschub und ließ sich wieder auf die Couch plumpsen. Wider besseres Wissen hatte er all die Jahre gehofft, dass sich Hark für ihn entscheidet. Inzwischen war diese Hoffnung verflogen. Hark hatte sie auch nie bestärkt, immer betont, dass Familienzusammenhalt das Wichtigste war.

Wahrscheinlich hätte er trotzdem keinen Schlussstrich gezogen, wenn Marcel, der die Filiale auf Sylt leitete, ihn nicht um einen Tausch gebeten hätte. Es ging um drei Monate, die Marcel gern in Hamburg bei einer neuen Flamme verbringen würde. Na gut, neu war die Frau nicht, sondern schon ein halbes Jahr alt. Marcel wollte die Zeit nutzen, um sie zu überzeugen, nach Westerland überzusiedeln.

Jonathan hatte die Gelegenheit beim Schopfe gegriffen. Abstand tat not, um die Trennung von Hark überhaupt zu bewerkstelligen. Bliebe er in Hamburg, würde er bestimmt rückfällig werden.

Auf Harks dummes Gesicht, wenn am nächsten Mittwochabend niemand auf sein Klingeln hin öffnete, freute er sich schon jetzt. Schade, dass er es nicht filmen konnte. Was würde Hark in den zwei Stunden, in denen er angeblich bei einem Klienten die Buchführung erledigte, tun? Spazierengehen? Oder nach Hause fahren und eine neue Lüge dafür erfinden, wieso es so schnell gegangen war?

Das kann dir doch egal sein, flüsterte es in seinem Kopf. Das stimmte, dennoch würde er es gern wissen. Nach so langer Zeit als schmutziges Geheimnis stand ihm ja wohl ein wenig Genugtuung zu.

Jonathan leerte sein Glas, brachte es in die Küche und ging ins Bad, wo er sich unter die Dusche stellte. Damit, Harks Duft abzuwaschen, läutete er den Trennungsprozess ein. Blöde war, dass er sich am liebsten gar nicht gewaschen hätte, um noch möglichst lange von dem vertrauten Aroma zu zehren. Es war echt bitter nötig, sich frischen Wind um die Nase wehen zu lassen, um auf andere Gedanken zu kommen.



Am folgenden Tag gab er den Teil seines Gepäcks, der nicht in seinen Smart passte, auf und am Samstag, nach Ladenschluss, startete er in Richtung Niebüll. Pünktlich erreichte er den Autozug, der nach dreißig Minuten Fahrzeit in Westerland hielt.

Marcel erwartete ihn am Bahnhof. Gemeinsam fuhren sie zu der Ferienwohnung, die Marcel für ihn angemietet hatte. Sie befand sich in einem Wohnblock mit Tiefgarage, in unmittelbarer Nähe der Promenade.

„Du hast Glück. Morgen soll es den ganzen Tag Sonnenschein geben“, meinte Marcel, als der Lift sie in den 4. Stock beförderte.

„Tja. Dafür hast du Pech. Bei meiner Abfahrt hat es geregnet und das soll auch bis morgen Abend so bleiben.“

„Pft.“ Marcel machte eine wegwerfende Handbewegung. „Morgen komme ich wahrscheinlich eh nicht dazu, draußen rumzulaufen. Du weißt schon, Wiedersehensfreude und so.“

Obwohl er Marcel das Glück gönnte, empfand er ein bisschen Neid. Warum musste er sich ausgerechnet in einen verheirateten Schrankschwulen verlieben? „Verschone mich mit Einzelheiten.“

Marcel zwinkerte ihm zu. „Der Gentleman genießt und schweigt.“

Die Wohnung bestand aus einem Wohnraum mit Kochnische, Bad und einem Schlafzimmer. Vom Balkon, auf dem ein Tisch und zwei Stühle standen, blickte man aufs Meer. Die Ausstattung war älteren Datums, überwiegend Kiefernmöbel. Für einen längeren Zeitraum würde sich Jonathan eine andere Unterkunft suchen, doch drei Monate war es auszuhalten.

„Ist soweit alles okay?“, erkundigte sich Marcel.

„Wunderbar. Ich brauche allerdings noch die Schlüssel für den Laden.“

„Die gibt dir am Montag Melanie. Sie ist immer schon um acht im Geschäft.“

Bei Melanie handelte es sich um eine langjährige Mitarbeiterin, die Jonathan von früheren Besuchen auf der Insel kannte. „Dann ist soweit alles klar. Viel Spaß in Hamburg.“

„Wünsch mir Glück“, bat Marcel, klopfte ihm auf die Schulter und ging zur Tür. „Wenn ich sie innerhalb drei Monaten nicht überzeugen kann, werde ich wohl nach einer anderen Ausschau halten.“

„Ich drück dir die Daumen.“

Die Wohnungstür fiel Hinter Marcel ins Schloss. Jonathan rollte seinen Trolley ins Schlafzimmer, hievte ihn aufs Bett und entschied, nach etwas Essbarem zu suchen, bevor er sich ans Auspacken machte.

In Winterjacke und Schal gehüllt begab er sich zum Fahrstuhl. Wenig später hielt die Kabine auf seiner Etage. Ein älteres Paar befand sich darin. Er grüßte mit einem gemurmelten „Moin“ und gesellte sich zu ihnen.

„Frisch eingetroffen?“, fragte der Mann.

Jonathan nickte.

„Und ganz allein?“, wollte die Frau wissen.

Erneut nickte er. „Wo kann man in der Nähe gut essen?“

„Das Bratwurstglöckl ist ganz anständig. Oder die Taverne gegenüber“, erwiderte der Mann.

„Wo finde ich das Glöckl?“

„Kommen Sie mit uns. Wir wollen in die gleiche Richtung“, bot die Frau an.

Auf dem Weg erfuhr er, dass die beiden kurz vorm Rentenantritt eine Wohnung in dem Block gekauft hatten und nun die meiste Zeit dort verbrachten. Sie wirkten wie ein harmonisches Paar, was erneut Neid bei ihm auslöste. Es musste schön sein jemanden zu haben, den man liebte. Und mit dem man zusammen ist, ergänzte eine Stimme in seinem Kopf. Lieben tat er ja auch, doch leider den Falschen.

Sie verabschiedeten sich vorm Bratwurstglöckl, einem Lokal mit süddeutschem Holzhammercharme. Das Essen war so gut, wie es seine Zufallsbekanntschaften versprochen hatten. In Gesellschaft wäre es noch besser gewesen. Zum Glück gab es Smartphones, mit denen man sich von den mitleidigen Blicken der anderen Gäste ablenken konnte.

Während er sein Kalbsschnitzel mit Rotkohl und hausgemachten Spätzle genoss, dachte er darüber nach, was sich in den fünf Jahren geändert hatte. Wieso war er plötzlich unzufrieden mit etwas, - oder hielt es nicht mehr aus - was er zuvor so lange hingenommen hatte? War das Wegbrechen seiner Clique schuld? Die Kumpel, die er aus Studientagen kannte, waren inzwischen fast alle Familienväter. Entsprechend hatten sich die Interessen geändert. Man traf sich nur noch alle Jubeljahre, wenn überhaupt.

Anfangs, als er Hark kennenlernte, hatte er mit seinen Ex-Kommilitonen jedes Wochenende etwas zusammen unternommen. Daher war ihm die Lücke in seinem Leben wohl nicht aufgefallen. Im Laufe des vergangenen Jahres hatte sich einer nach dem anderen aus der Clique verabschiedet. Erst war Fred Vater geworden und weggeblieben, dann Oskar, dann Seth und zuletzt Michi. Der Rest, Josha, Martin und Malte, lebte in festen Beziehungen und mutierte zu Couchpotatos.

Seit Monaten verbrachte er viel zu viele Abende allein. Sein Credo lautete allerdings: Lieber allein, als gemeinsam einsam. Nach diesem Motto hatte er seine letzten beiden Beziehungen beendet. Obwohl er mit Hark bloß Sex hatte, war er sich in dessen Gegenwart nicht einsam vorgekommen. Das konnte aber auch an seiner Vernarrtheit liegen. Die war, trotz der Dauer ihres Verhältnisses, weiterhin vorhanden. Er hatte gelesen, dass Fernbeziehungen, wenn man keinen Alltag teilte, die Liebe länger frisch hielten.

Nachdem er gezahlt hatte, verließ er das Lokal und ging zum Strand. Starker, eisiger Wind blies vom Meer her, so dass er es nicht lange aushielt und in seine Wohnung zurückkehrte.

Vielleicht hatte ihn sein nahender vierzigster Geburtstag aus der Bahn geworfen, überlegte er, als er seinen Koffer auspackte. Auf keinen Fall wollte er bis in alle Ewigkeit ein schmutziges Geheimnis bleiben. Dann doch lieber ein sauberer Schnitt. Der wäre sauber, wenn du Hark über dein Vorhaben in Kenntnis gesetzt hättest, flüsterte sein Gewissen. Leider hatte es recht. Auf der anderen Seite galt es, erstmal sich selbst zu schützen. Insofern hatte er richtig gehandelt.

Der Fernseher im Wohnraum funktionierte. Das hatte er beim Anblick des alten Röhren-Modelles bezweifelt. Es gab sogar etliche Programme, doch wie meist interessierte ihn nichts von den laufenden Sendungen. Er schaltete die Glotze also wieder aus und machte es sich mit einem Buch auf der Couch gemütlich.

Am nächsten Tag bereite er aus den Vorräten, die er mitgebracht hatte, ein Frühstück zu. Es war herrlich, mit Blick auf die ruhig im Sonnenschein daliegende Nordsee zu speisen.

Anschließend zog er sich warm an und unternahm einen Spaziergang auf der Promenade. Es war nahezu windstill, was einige weitere Gäste an den Strand gelockt hatte. Vorwiegend sah er ältere Semester, jenseits der fünfzig. Lediglich eine Familie mit zwei missmutig dreinschauenden Teenagern begegnete ihm auf seiner Wanderung.

Nach einer Runde durch den Ortskern, wobei er die Auslagen in den Schaufenstern begutachtete, begab er sich zur Busstation. Erst fuhr er nach Norden, um sich in List umzuschauen, danach in Richtung Süden, wo er in Hörnum in ein Café einkehrte. Bei Kakao mit Schlagsahne und einem Stück Apfelkuchen ließ es sich gutgehen.

Am späten Nachmittag kam er wieder in Westerland an. Da er keine Lust hatte, fürs Abendessen erneut auszugehen, erwarb er bei einem Imbiss in der Fußgängerzone ein Fischbrötchen und in einem Kiosk zwei Flaschen Bier.

Den Abend verbrachte er wie den davor mit lesen. Sein literarisches Interesse war weit gefächert. Im Prinzip konsumierte er fast alles, mit Ausnahme von Schmonzetten. Momentan las er einen Nordseekrimi, der auf Sylt spielte.

Jonathan fand es besonders spannend, wenn er den Ort des Geschehens kannte. Allerdings hatte er sich schon ein paarmal geärgert, weil dem Autor schlampige Fehler unterlaufen waren. Man sollte schon anständig recherchieren, wenn die Handlung in unbekannten Gefilden spielte. Beispielsweise dauerte die Fahrt von Niebüll nach Westerland im Buch zwei Stunden. Das mochte dramaturgische Gründe haben, doch wenn man Tatsachen derart verbog, wurde der Plot zunehmend unglaubhaft. Er wollte sich mitten im Geschehen fühlen, so, als ob die Geschichte in Wirklichkeit passierte.



2.

Am Montagmorgen, als er um acht an die Ladentür klopfte, begrüßte Melanie ihn wie einen verlorenen Sohn. An ihren wogenden Busen gedrückt zu werden, fühlte sich wunderbar mütterlich an. Schmunzelnd ließ Jonathan das stürmische Willkommen über sich ergehen.

„Möchtest du Kaffee?“, fragte Melanie, als sie ihn wieder freigegeben hatte. „Hab gerade welchen gekocht.“

„Gern.“

Er folgte ihr in die Teeküche, in der ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen Platz fand. Sie war, neben dem Büro und den Toiletten, die einzige Aufenthaltsmöglichmöglichkeit für Personal. Wegen der horrenden Miete wurde jeder verfügbare Zentimeter für den Verkauf genutzt.

„Ich freu mich, dass du länger bleibst.“ Melanie füllte Kaffee in einen Becher mit der Aufschrift Chef. „Endlich mal ein bisschen Abwechslung.“

„Langweilst du dich etwa?“

Sie reichte ihm den Kaffeebecher. „Um diese Zeit ist hier doch echt nichts los.“

„Was ist mit deinen Kindern?“

Melanie winkte ab. „Die machen ihr eigenes Ding. Arne ist derzeit in Flensburg bei seiner Freundin und Annika bei meinem angehenden Schwiegersohn in Kampen.“

„Kampen? Also wird heiratet sie in den Adel ein?“

Erneut winkte sie ab. „Verarmter Adel. Er ist Hausmeister - pardon, Facility Manager in einer Appartementanlage.“

„Aber immerhin wohnt er in der richtigen Gegend.“

Sie rümpfte die Nase. „Von mir aus darf der Blanke Hans Kampen überfluten. Diese hochnäsigen Leute können mir gestohlen bleiben.“

Jonathan behielt die Bemerkung, dass vielleicht auch Kunden in dem Ort wohnten, für sich. „Magst du mir eine Einweisung geben?“

„Klar.“ Melanie scheuchte ihn aus der Teeküche ins Büro.

Außerhalb der Saison war sie - neben einer Aushilfe für Stoßzeiten, beispielsweise zu Weihnachten - die einzige Mitarbeiterin. Im Sommer beschäftigte Marcel meist drei bis vier weitere Leute, um die längeren Öffnungszeiten abzudecken. Zwei davon waren seit einigen Jahren die gleichen, der Rest wechselte regelmäßig.

Um halb zehn öffneten sie das Geschäft. Es warteten bereits zwei Kunden vor der Tür. Der eine, ein älterer Herr, wandte sich an Melanie, um ein Buch zu bestellen. Der andere, eine junge Frau, wollte ein Geschenk für einen Kindergeburtstag kaufen.

Nachdem die beiden den Laden verlassen hatten nutzte Jonathan die Gelegenheit, um sich genauer umzuschauen. Im Erdgeschoss lag hauptsächlich gängige Urlaubslektüre aus, zwischen Souvenirs von grässlich bis hässlich. Marcel hatte einst darauf bestanden, das Zeug ins Sortiment aufzunehmen. Laut dem Geschäftsbericht brachte es einiges ein. Warum man, beispielsweise, eine klobige Tasse mit dem Umriss von Sylt darauf mit nach Hause nahm, würde Jonathan niemals verstehen. Die Sachen waren weder hübsch, noch sonderlich originell.

Im Obergeschoss fand der interessierte Kunde aktuelle Bücher aus fast jedem Bereich. Von Esoterik bis hin zu Biografien war alles dabei. Eine Ecke war speziell auf Kinder ausgerichtet, sogar mit einer Lesekuschelecke. Dort hatte er vorhin für die Kundin ein passendes Geschenk ausgesucht.

Alles war peinlich sauber, wie er zufrieden feststellte. Hier und da zog er ein Buch, das seine Aufmerksamkeit erregte, aus dem Regal. Was die Auswahl betraf, hatte Marcel freie Hand. Auf diese Weise war bereits sein Vater, der die Filialen in Westerland, Hannover und Flensburg eröffnet hatte, verfahren. ‚Eigenverantwortung ist wichtig‘, pflegte sein alter Herr zu sagen. ‚Das vermittelt den Angestellten das Gefühl, selbständig zu sein.‘

Mit einem Krimi und dem Beziehungsratgeber Trennung - Eine Chance? in der Hand, stieg er die Treppe wieder runter. Melanie schmunzelte, als sie die beiden Bücher scannte.

„Gleich zwei Krimis?“, meinte sie trocken und legte ihm den Kassenbon zur Unterschrift vor.

„Das eine ist ein Drama“, korrigierte er sie, kritzelte seinen Namen auf die Quittung und las erst hinterher die Summe. „Bekomme ich keinen Mitarbeiter-Rabatt?“

„Buchpreisbindung“, flötete sie. „Wir dürfen nicht günstiger verkaufen.“

Er grinste amüsiert und verzog sich mit seiner Lektüre ins Büro, wo er einen Blick in den Ratgeber warf. Vermutlich eine Fehlinvestition. Die vermeintlich studierten Verfasser solcher Bücher sammelten doch meist lediglich Allgemeinwissen zusammen, um es - mit Anekdoten oder Bildern gewürzt - dem Leser als wissenschaftliche oder philosophische Erkenntnisse anzudrehen. Und warum hast du es dann gekauft?, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Um mich vom Gegenteil zu überzeugen?, gab er zurück.

Das zweimalige Bimmeln der Ladenglock trieb ihn zurück ins Geschäft. Ab da gaben sich Kunden praktisch die Klinke in die Hand. Vielleicht hatte der Regenguss, der vor den Schaufenstern niederging, sie ins Geschäft getrieben. Bei schlechtem Wetter waren Buchhandlungen - laut Loriot - eine willkommene Unterstellmöglichkeit. Dass die Hälfte der Kundschaft ohne einen Kauf den Laden wieder verließ, erhärtete diese Theorie.

Um eins schlossen sie und gingen zusammen in ein Bistro. Jonathan bestellte sich einen Krabbenburger, Melanie den Salatteller.

„Du hast es gut“, meinte sie mit einem neidischen Blick auf seine Essen, als der Kellner es serviert hatte. „Das Ding hat locker 1.000 Kalorien.“

„Ach, es sind bestimmt nur 999“, behauptete er grinsend, klemmte sich den Burger zwischen die Finger und biss herzhaft hinein.

Majo kleckerte auf den Teller. Damit hatten der Koch nicht gespart, genauso wenig mit den Krabben. Die eine oder andere flüchtete, als er versuchte, sie zu verspeisen. Eine klaute sich Melanie. Den Rest spießte er mit seiner Gabel auf und führte sie ihrem zugedachten Schicksal zu. Im Anschluss tranken sie Espresso, wobei sie plauderten, bis es Zeit war zurückzugehen.

Melanies Einladung, abends mit ihr und ihrem Gatten zu essen, schlug er aus. Momentan ertrug er keine glücklichen Pärchen. Ihr gegenüber log er, dass er sich erstmal akklimatisieren und sein Gepäck, das gleich nach ihrer Mittagspause eingetroffen war, in Ruhe sortieren müsste.

Sie nahm seine Ablehnung mit einem Zwinkern zur Kenntnis. „Wir machen es einfach so: Wenn dir nach Gesellschaft ist, sag Bescheid. Okay?“

Dankbar nickte Jonathan.

Als letzter, Melanie hatte bereits um fünf Feierabend gemacht, verließ er um sechs den Laden. Seine beiden Trolleys im Schlepptau legte er den kurzen Weg zu seinem Domizil zurück. Im Eingangsbereich traf er erneut das Paar, das ihm das Bratwurstglöckl empfohlen hatte.

„N’Abend“, grüßte er.

„Ziehen Sie jetzt richtig ein?“, fragte die Frau im Hinblick auf sein Gepäck.

„Ich bleibe immerhin drei Monate. Da braucht man das eine oder andere.“

„Dann wünsche ich angenehmes Auspacken.“ Der Mann nickte ihm lächelnd zu.

Nachdem er die Koffer im Wohnraum abgestellt hatte, ging er auf den Balkon und schaute ein Weilchen in die Ferne. In der Dunkelheit blinkten am Horizont die Lichter eines Schiffes. Der Sternenhimmel war spektakulär. Man hatte den Eindruck, es gäbe viel mehr Himmelskörper als über Hamburg.

Zurück im Wohnzimmer machte er sich daran, die Trolleys auszuräumen. Seine geliebte Leseleuchte kam nebens Bett, ein Stapel Magazine auf den Couchtisch.

Als er alles ausgepackt hatte, wirkte die Wohnung schon gemütlicher. Er verstaute die Koffer im Schlafraum auf und neben dem Kleiderschrank, bevor er sein Abendessen zubereitete: Schwarzbrot mit Tomatenscheiben und Käse.

Während er es verspeiste, blätterte er in dem Ratgeber. Bedauerlicherweise gehörte das Buch zu denen, die nur geschrieben worden waren, um Geld zu verdienen, statt echte Hilfestellung zu geben. Stirnrunzelnd betrachtete er das Foto der Autorin auf der Rückseite. Über eine Lesebrille hinweg guckte sie ihn an. Sollte das intelligent wirken? Auf ihn machte es eher einen impertinenten Eindruck.

Er aß den Rest Brot und bereitete einen Becher Tee zu, mit dem er sich auf die Couch hockte. Vielleicht hätte er Melanies Einladung doch annehmen sollen, um auf andere Gedanken zu kommen. Obwohl er versuchte es zu verdrängen, dachte er immer wieder an Hark; daran, ob er das Richtige getan hatte. Hätte er lieber das Gespräch suchen sollen? Vielleicht wusste Hark gar nicht, wie es um ihn stand.

Und selbst wenn: Er würde seine Familie nie für dich verlassen, erinnerte ihn eine Stimme in seinem Schädel.

Die Kinder sind inzwischen aus dem Gröbsten raus und mit seiner Frau klappte es nicht mehr besonders, hielt er gegen. Andererseits könnte er gelogen haben, lenkte er sofort ein. Um sein schlechtes Gewissen, dass er sie hintergeht, zu besänftigen.

Du weißt im Grunde gar nichts über ihn, meldete sich das Organ erneut zu Wort.

Na ja, einiges wusste er schon. Hark war zwei Jahre älter als er, also 41, und selbständiger Steuerberater mit einem Büro in Barmbek, drei Angestellte. Er wohnte in Winterhude, in einem schicken Stadthaus. Dieses Wissen stammte allerdings nicht von Hark, sondern aus dem Internet. Zugegeben: Jonathan hatte seinen Lover ein bisschen gestalkt. Er war sogar ein paarmal an dem Haus vorbeigegangen, wobei er einen Blick auf Harks Gattin, eine hübsche, große Blondine, erhascht hatte.

Energisch schob er die Gedanken beiseite, griff nach der Fernbedienung für die Glotze und fand eine Sendung, die ihn interessierte.



Der nächste Tag verlief wie der davor. Am darauffolgenden Mittwoch war derart wenig im Laden los, dass Jonathan Melanie eher nach Hause schickte. Zum Dank küsste sie ihn auf die Wange.

„Jetzt werde ich mich nie mehr waschen“, frotzelte er sie.

„Ach!“ Sie winkte ab. „Du bekommst morgen ein frisches Küsschen, also darfst du ruhig duschen.“

Dass er ihr freigab hatte den Vorteil, seinen Gedanken nachhängen zu können. Ständig sah er Hark vor sich, wie der vergeblich klingelte. Mal grinste er hämisch bei der Vorstellung, mal tat es ihm leid, sich um das Schäferstündchen gebracht zu haben. Sex mit Hark hatte ihm immer sehr gefallen, klar, sonst hätte er das Spielchen wohl kaum so lange mitgemacht. Es lag weniger an der Technik, sondern an der Person. Es war eben etwas Besonderes, mit Gefühl mit jemandem zu schlafen.

Kurz vorm Feierabend kam ein Kunde, der ein Buch bestellen wollte, in den Laden. Es handelte sich um ein sehr attraktives Exemplar. Also, bei dem Kunden, nicht bei der Lektüre, ein Buch über Steuergesetze.

„Morgen Nachmittag können Sie das Buch abholen“, verkündete Jonathan, nachdem er den Lagerbestand beim Verlag gecheckt hatte.

„Wunderbar. Was ist denn mit Marcel? Ist er krank?“

„Marcel hat für ein paar Wochen mit mir getauscht, um das Großstadtleben zu genießen.“

„Großstadt? Berlin?“

„Hamburg“, erwiderte Jonathan.

„Ich bin Rüdiger Schwarz. Mir gehört der Klamottenladen am Bahnhof“, stellte sich der Kunde vor.

„Angenehm. Jonathan Lüdenscheid. Mir gehört dieser Laden und noch drei weitere.“

„Hochachtung! Vier Geschäfte wären mir echt zu viel.“

„Ich hab ja fähiges Personal, siehe Marcel.“

„Den würde ich glatt abwerben.“ Rüdiger lachte. „Dann will ich dich - wir duzen uns hier alle - nicht länger von deinem wohlverdienten Feierabend abhalten. Bis morgen.“

Sinnend schaute er Rüdiger hinterher, als der den Laden verließ. Wenn ihn nicht alles täuschte, spielten sie in der gleichen Liga und wenn es Hark nicht gäbe, hätte er durchaus Lust, den Mann näher kennenzulernen. Tja ... ein Grund mehr, die langjährige Liaison zu beenden.

Aufgeräumt hatte er bereits, so dass er bloß alle Lichter ausknipsen und seine Jacke anziehen brauchte, bevor er die Ladentür von außen verriegelte. Beide Hände in den Taschen vergraben schlenderte er zu seinem Domizil.

Noch zwei Stunden, bis Hark seine Abwesenheit bemerkte. Jonathan war so unruhig, dass er keinerlei Appetit verspürte. Er streifte durch die Wohnung, nahm mal eine Zeitschrift zur Hand, warf sie wieder hin und schaute Mal um Mal auf die Uhr. Was erwartest du eigentlich?, fragte er sich um kurz vor acht. Dass Hark anruft und dir seine unsterbliche Liebe gesteht? Sowas gab es nur in Märchen. In der Realität würde Hark wohl nur mit den Achseln zucken und sich einen anderen Liebhaber suchen.

Um drei Minuten nach acht vibrierte sein Smartphone. Harks Nummer stand auf dem Display. Jonathan atmete tief durch und nahm das Gespräch an: „Hi.“

„Warum hast du nicht Bescheid gegeben, dass du nicht da bist?“, beklagte sich Hark.

„Schon vergessen, dass ich dich nicht anrufen soll, außer in Notfällen?“

„Das ist ja wohl ein Notfall! Ich steh hier dumm rum und niemand öffnet.“

„Das tut mir leid.“ Er gab sich keine Mühe, nicht sarkastisch zu klingen.

Kurz herrschte Stille, dann erwiderte Hark: „Kannst du bitte Klartext mit mir reden?“

Erneut holte Jonathan Luft, bevor er antwortete: „Unser Verhältnis ist vorbei.“

Wieder Schweigen, diesmal länger. Schließlich seufzte Hark. „Du hast einen anderen, richtig?“

Wäre lügen ratsamer als die Wahrheit? „Nein.“

„Aber warum willst du dann nicht mehr?“

Musste er das echt erklären? Er öffnete gerade den Mund, um etwas zu entgegnen, da stieß Hark hervor: „Ich will nicht, dass es vorbei ist!“

„Lass es uns nicht zerreden. Meine Entscheidung steht fest. Mach’s gut.“ Er legte auf und stellte das Gerät aus.

Sein Puls raste. Ihm war schwindlig und speiübel. Auf dem Balkon sog er kühle Luft in seine Lungen, bis das schmerzhafte Klopfen in seinem Brustkorb auf ein erträgliches Maß gesunken war. Bibbernd vor Kälte begab er sich wieder ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch plumpsen.

Das Gespräch mit Hark hatte seine Kräfte aufgezehrt. Er fühlte sich, als hätte er einen Marathon absolviert. Eine ganze Weile stierte er ins Leere, bis er sich aufraffte, um zumindest eine Scheibe Brot zu knabbern. Es war niemandem damit gedient, wenn er sich wegen Liebeskummer zu Tode hungerte.

‚Wie dramatisch‘, spottete es in seinem Schädel.

„Klappe“, gab er halblaut zurück und musste schmunzeln, weil es stimmte.



3.

„Schatz? Du bist schon wieder da?“, rief Sabine aus dem Wohnzimmer, als Hark im Flur seinen Mantel ablegte.

„Es war nur wenig zu tun.“

„Fragst du bitte bei Lena nach, ob sie und ihr Gast noch etwas zu trinken haben möchten.“

Vorhin war Lenas Freund eingetroffen. Sabine spielte stets den Anstandswauwau, indem sie die beiden alle halbe Stunde störte. Als ob innerhalb von dreißig Minuten nichts passieren könnte. Davon mal abgesehen fand Hark diese Observation unter aller Kanone. Schließlich war Lena aufgeklärt und würde garantiert keinen Mist bauen.

Trotzdem stieg er die Treppe hoch, klopfte an Lenas Tür und steckte den Kopf ins Zimmer. „Hi. Ich soll frage, ob ihr was trinken wollt.“

Lena rollte genervt die Augen. „Wir haben alles, bis auf Ruhe vor meinen Eltern.“

Hark zwinkerte ihr zu. „Ich verspreche, dass ich nicht wieder stören werde. Für deine Mutter kann ich allerdings nicht die Hand ins Feuer legen.“

Nasir, seit einem halben Jahr Lenas Freund, winkte ab. „Schon okay. Das macht meine Mutter auch.“

Der Junge war echt tiefenentspannt. Vielleicht lag das an den ägyptischen Genen. Hark schloss die Tür, betrachtete die Treppenstufen und entschied, dass er eine kurze Auszeit brauchte. Jonathans Korb hatte ihn ganz schön getroffen.

Im Schlafzimmer hockte er sich auf die Bettkante und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Was sollte er denn jetzt machen? Die Stelldicheins jeden Mittwoch waren sein einziger Lichtblick in der Ödnis des Alltags.

Nachdem er beschlossen hatte, am folgenden Tag Jonathans Buchladen aufzusuchen, begab er sich ins Erdgeschoss. Sabine saß im Wohnzimmer und guckte irgendeine Serie. Als er in den Raum kam, schenkte sie ihm keinen Blick, sondern murmelte bloß: „Alles okay da oben?“

„Natürlich. Ich denke, wir können unserer Tochter vertrauen.“

„Das tue ich auch, aber Nasir nicht.“

Genau wie seine Tochter verdrehte er die Augen gen Himmel. Widerspruch war zwecklos, daher hielt er den Mund und verkroch sich in sein Arbeitszimmer. Eigentlich war es eher eine Abstellkammer mit Schreibtisch. Er teilte sich den Raum mit zwei zusammengeklappten Wäscheständern, einem ausrangierten Schaukelstuhl, einer zerschrammten Kommode und einigen gerahmten Bildern, die Sabine nicht mehr leiden konnte.

Gerade hatte er sein Notebook aufgeklappt, da fiel die Haustür krachend ins Schloss. „Bin wieder da!“, rief sein Sohn.

„Das ist nicht zu überhören“, brummelte Hark.

„Papa?“ Lucas spähte ins Zimmer. „Wieso bist du schon wieder da?“

„Ging heute mal schneller.“

„Kann ich morgen bei Jörn übernachten?“

Seufzend schaute er vom Monitor hoch. „Du weißt doch ...“ „Nicht in der Woche“, unterbrach ihn sein Sprössling. „Ich weiß - ich weiß, aber können wir nicht mal eine Ausnahme machen?“

„Was sagt denn Jörns Mutter dazu?“

„Für sie ist das okay.“

„Na gut. Von meiner Seite kein Einspruch, wenn deine Mutter auch einverstanden ist.“

Sein Sohn winkte ab. „Dann kann ich das vergessen.“ Mit hängendem Kopf verschwand Lucas aus seinem Blickfeld.

Nachdenklich guckte er seinem Sohn hinterher. Ihm gefielen Sabines Erziehungsmethoden schon eine ganze Weile nicht. Sie behandelte die Zwillinge, als wären die beiden zwölf, anstatt bereits fünfzehn. Immer, wenn er sie darauf ansprach, mündete das in einem ätzenden Schlagabtausch. Sabine warf ihm stets vor, dass er sich null um die Kinder kümmern und ständig Kritik an ihr üben würde. Ein bisschen hatte sie sogar recht. Sie redeten ja sonst kaum miteinander, ausgenommen Belanglosigkeiten. Überhaupt war ihre Interaktionen stark eingeschränkt, einschließlich Sex, allerdings nicht erst seit gestern. Nicht umsonst hatte er sich in Jonathans Arme geflüchtet.

Nach der Geburt der Zwillinge hatte es angefangen. Einige Monate hielt Hark Sabines Unlust für eine postnatale Phase, doch die dauerte inzwischen fünfzehn Jahre. Zu Beginn hatte er sein Glück noch bei ihr versucht, doch irgendwann aufgegeben. Sie schien damit zufrieden zu sein.

Es war jedoch nicht nur ihre kalte Bett-Schulter, die ihn zu Jonathan getrieben hatte. Als sie sich damals im Buchladen trafen, war ein Funke übergesprungen. Er mochte alles an Jonathan, sowohl charakterlich als auch sonst. Wenn er in die blauen Augen schaute, kehrte bei ihm innere Ruhe ein; so, als ob er in seinen Heimathafen einlaufen würde.

Ein Gefühl, das er bei Sabine nie empfunden hatte. Natürlich mochte er die Mutter seiner Kinder und war auch scharf auf sie gewesen, doch das hatte die Zeit nicht überdauert. Zurückgeblieben war bloß die Erinnerung und Bedauern darüber, wie sich die Dinge entwickelt hatten.

Hark!“, riss Sabines Stimme ihn aus seinen Gedanken.

Er eilte ins Wohnzimmer. Wenn sie derart scharf klang, stand ein Donnerwetter bevor. „Was ist?“

Angesichts Lucas‘ bedrückter Miene ahnte er schon, was geschehen war.

„Wir waren uns doch einig, dass die Kinder außerhalb der Schulferien in der Woche nicht woanders übernachten.“ Sie bedachte ihn mit einem giftigen Blick. „Du kannst mir nicht derart in den Rücken fallen.“

„Lass uns doch mal eine Ausnahme machen. Lucas‘ Noten sind sehr gut. Wenn er mal einen Tag müde zur Schule geht, ist das doch kein Weltuntergang.“

Einen Moment stierte sie ihn böse an, dann wandte sie sich an Lucas: „Du hast deinen Vater gehört. Aber es bleibt eine Ausnahme!“

Lucas‘ Mundwinkel flogen hoch. „Danke! Ihr seid die besten!“

Sabine bekam einen schallenden Kuss auf die Wange, danach Hark, dann stürmte Lucas die Treppe hoch. Oben knallte eine Tür zu. Offenbar musste er seinem Sohn mal wieder die Nutzung von Türklinken erklären.

„Ich finde es unterirdisch, wie du mir in den Rücken fällst“, verkündete Sabine stirnrunzelnd.

„Tut mir leid. Nächstes Mal sag ich nein.“

Wortlos wandte sie sich wieder der Glotze zu. Wie er das hasste, diese stillschweigende Missbilligung! Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück und ließ sich vor dem Schreibtisch nieder. Morgen musste er die Sache mit Jonathan klären. Ohne ihre Schäferstündchen sah seine Zukunft düster aus.


Am nächsten Tag war in seiner Kanzlei so viel los, dass er erst nach Feierabend einen Abstecher in Jonathans Buchladen unternehmen konnte. Die Parkplatzsuche raubte ihm den letzten Nerv. Als er endlich eine passable Lücke gefunden hatte, atmete er ein paarmal tief durch, bevor er ausstieg.

Auf dem Weg zum Geschäft rief er sich die Sätze ins Gedächtnis, über die er in der vergangenen Nacht, während Sabine neben ihm schnarchte, lange gegrübelt hatte. Er wollte Jonathan ein gemeinsames Wochenende in Aussicht stellen; ihn damit beschwichtigen, dass die Geheimnistuerei ja nur noch ein paar Jahre sein musste, bis die Kinder aus dem Haus waren.

Hark war sehr wohl klar, dass niemand auf Dauer die zweite Geige spielen wollte. Allerdings hatte sich Jonathan nie beschwert. Genauer gesagt hatte Jonathan überhaupt nicht von ihnen gesprochen. Ihre Unterhaltungen hatten sich stets um Allgemeines oder die Vorfälle im Buchladen oder der Kanzlei gedreht. Okay-okay, auch um Sabine und die Kinder. Bei irgendwem musste er ja sein Herz ausschütten.

Dass er sich zu einem Mann hingezogen fühlte, war damals für ihn keine große Überraschung gewesen. Bevor er mit Sabine zusammenkam, hatte er mit beiden Geschlechtern - allerdings mit dem eigenen nur im Verborgenen - rumgemacht. Nach seiner Meinung schadete es seinem Ruf als Steuerberater, wenn er zu seiner Bisexualität stand. Es ging eh niemanden etwas an, mit wem er vögelte.

In der Buchhandlung Lüdenscheid war wenig los. Hark steuerte den Kassentresen an, hinter dem eine von Harks Anstellten stand. Nach dem Chef sah er sich dabei vergeblich um.

„Guten Tag. Ist Herr Lüdenscheid heute nicht im Haus?“, erkundigte er sich bei der Frau, die ein Namensschild als Hannelore auswies.

„Leider nein. Kann ich etwas für Sie tun?“

„Ist er morgen wieder da?“

Hannelore schüttelte den Kopf. „Herr Lüdenscheid ist ein paar Wochen weg.“

„Also macht er Urlaub?“

Erneutes Kopfschütteln. In diesem Moment gesellte sich ein Mann zu Hannelore, dem Schild am Revers zufolge Marcel und fragte: „Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“

„Ich suche Herrn Lüdenscheid. Telefonisch kann ich ihn nicht erreichen.“ Nach ihrem Telefonat hatte er es mehrfach probiert, doch vergeblich. „Ich bin sein Steuerberater und hab eine dringende Frage.“

„Versuchen Sie es mal in der Filiale auf Sylt. Dort sollte das Telefon funktionieren“, schlug Marcel vor.

„Sylt?“, echote Hark verständnislos.

„Herr Lüdenscheid war so freundlich, für einige Wochen mit mir zu tauschen. Ich leite sonst die Filiale in Westerland.“

„Danke für die Auskunft.“ Er zwang sich zu einem Lächeln, machte kehrt und marschierte aus dem Laden.

Also hatte sich Jonathan aus dem Staub gemacht! Was für ein Mist! Wie sollte er Sabine erklären, mal eben kurz nach Sylt zu müssen? Oder ließ sich ein Ausflug innerhalb eines Tages bewerkstelligen?

Sobald er im Wagen saß, konsultierte er sein Smartphone. Theoretisch war es machbar, morgens loszufahren und ungefähr zu der Zeit, zu der er sonst das Büro verließ, wieder in Hamburg einzutreffen. Das Ganze würde rund sechs Stunden Reisezeit für eine Stunde Aufenthalt bedeuten.

In Harks Augen kein akzeptabler Kosten-Nutzen-Effekt. Er suchte also nach der Lüdenscheid Filiale, speicherte die Telefonnummer und probierte es erneut auf Jonathans Handy. Oh Wunder! Sein Gespräch wurde angenommen.

„Hallo Hark. Ruf bitte nicht wieder an“, drang Jonathans Stimme an sein Ohr.

„Ich möchte aber mit dir reden.“

„Es gibt nichts mehr zu besprechen.“

„Das sehe ich anders“, protestierte er. „Ich möchte ...“ „Nein! Ruf! Nicht! Wieder! An!“, unterbrach ihn Jonathan und legte auf.

Mit einem frustrierten Brummen schloss Hark die Augen. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als nach Sylt zu fahren. Na, super! Und wie sollte er das anstellen? Einen Mandanten erfinden? Das würde Sabine ihm niemals abnehmen.

Während der Heimfahrt grübelte er über eine Lösung, doch es wollte ihm nichts einfallen. Wenn er die ganze Familie zu einem Wochenendtrip einlud, blieb ihm keine Zeit für Jonathan. Na ja, ein kurzes Gespräch sollte wohl drin sein. Andererseits würde es Jonathan kaum milde stimmen, wenn er mit Anhang auftauchte.

Zu Hause erwartete Sabine ihn auf gepackten Koffern. „Ich muss nach Frankfurt, zu Adelheid. Sie braucht mich. Ihr Mann will sich scheiden lassen“, verkündete seine Gattin.

Bei Adelheid handelte es sich um ihre Busenfreundin aus Kindertagen. „Soll ich dich zum Bahnhof bringen?“

Sie winkte ab. „Ich nehme ein Taxi. Ist schon bestellt.“

„Wissen die Kinder Bescheid?“

„Lucas hab ich es gesagt. Lena ist noch nicht da.“

„Wann kommst du zurück?“

„Voraussichtlich Montag. Vielleicht bleibe ich aber ein paar Tage länger. Vorsorglich hab ich nächste Woche Urlaub genommen.“ Sabine schlüpfte in ihren Mantel. „Kommst du klar?“

„Ich denke schon.“

„Ich ruf an, wenn ich angekommen bin.“ Sie küsste ihn auf die Wange, schnappte sich ihre Handtasche und den Trolley und marschierte zur Haustür.

„Grüß Adelheid von mir“, rief er ihr hinterher.

„Mach ich“, gab sie zurück, trat nach draußen und zog die Tür hinter sich zu.

Nachdenklich rieb sich Hark übers Kinn. War Sabines Spontantrip ein Zeichen? Räumte Gott ihm den Weg frei, damit er Jonathan zurückgewinnen konnte? Er drehte sich zur Treppe. „Lucas?“

Keine Antwort.

Lucas!

Nichts.

Er lief die Stufen hoch, klopfte an Lucas‘ Tür und spähte ins Zimmer. Sein Sprössling saß am Schreibtisch, Kopfhörer auf den Ohren und schrieb in ein Schulheft. Als er in den Raum trat, zuckte Lucas zusammen und starrte ihn aus erschrocken aufgerissenen Augen an.

„Sorry. Kannst du mal ...?“ Hark zeigte auf die Kopfhörer.

Lucas schob sie runter und hob fragend die Augenbrauen. „Ja?“

„Ich hab mich gefragt, ob wir am Wochenende mal ein bisschen Nordseeluft schnuppern sollten.“

„Nord-see-luft?“

„Ein Kurzurlaub auf Sylt“, erklärte Hark.

Lucas rümpfte die Nase. „Was soll ich denn da?“

„Am Strand liegen und hübschen Mädchen hinterhergucken?“

„Ha-ha! Sehr witzig! Aber wir können hinfahren, wenn du das gern möchtest. Immer noch besser, als hier abzuhängen.“ Sein Sohn setzte die Kopfhörer wieder auf und wandte sich dem Heft zu.

„Der König erklärt die Audienz für beendet“, murmelte Hark amüsiert, verließ das Zimmer und spähte in das nebenan.

Entgegen dem von Lucas sah es in Lenas Reich penibel aufgeräumt aus. Vor ungefähr zwei Jahren waren sämtliche Puppen in den Schrank verbannt und die Wände mit Postern zugekleistert worden. Zusammen mit der rosa Blümchentapete wirkte das etwas merkwürdig, aber so lange sich Lena nicht beschwerte, würde er nichts daran ändern.

Mit seinem Notebook setzte er sich im Wohnzimmer auf die Couch und hielt nach freien Quartieren in Westerland Ausschau. Rasch fand er etwas, das für sie geeignet war. Ein Appartement mit drei Zimmern, das man auch für einen Kurzaufenthalt buchen durfte. Das kostete zwar einen Aufpreis, doch lieber das, als ein Hotelzimmer.

Er schickte eine Anfrage an den Vermieter. Anschließend checkte er, welche Freizeitgestaltung in Westerland möglich war. Es gab ein Erlebnisbad und Kino. Das dürfte für die kurze Zeit doch reichen.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.01.2021

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /