Eine Anthologie der Homo Schmuddel Nudeln
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Copyright Texte: die Autoren
Fotos: depositphotos, shutterstock Cover-Design: Lars Rogmann
Korrektur: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Bettina Barkhoven, Sissi Kaiserlos
Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/
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Inzwischen blicken die Homo Schmuddel Nudeln auf sieben aktive Jahre zurück. 46.470 Euro wurden gesammelt und an gemeinnützige Organisationen weitergeleitet. Damit haben alle Beteiligten viel Gutes getan und etliche Karmapunkte erworben.
Auch du, liebe Leserin und lieber Leser, bist Teil des Projekts, weil ohne dich alle Mühe umsonst wäre. Danke dafür, dass du das Buch gekauft hast.
Eine frohe und besinnliche Weihnachtszeit wünschen
Sissi Kaiserlos im Nudelgewand sowie ihre Mitstreiter
Aus einem gemütlichen Spaziergang wird ein Outing der besonderen Art.
Gemächlich spazierte Mossad neben Ansgar her. Laub raschelte bei jedem Schritt. Er liebte den Herbst, wenn sich die Blätter in rotgoldenen Tönen verfärbten und die Luft herrlich nach Erde roch. Den Frühling mochte er auch sehr, wenn überall frisches Grün spross und die Welt aus ihrem Winterschlaf erwachte. Ach, eigentlich konnte er jeder Jahreszeit etwas abgewinnen.
„Hast du von dem Überfall neulich gehört?“, erkundigte sich Ansgar. „Ich bin ja echt kein ängstlicher Typ, aber seitdem trage ich Pfefferspray bei mir.“
„Als ob das was nützt. Wenn du Pech hast, setzt du dich damit selbst außer Gefecht.“
Ansgar zuckte die Achseln. „Mag sein, aber ich bin ein Glückskind.“
Was Mossad sehr an seinem Freund bewunderte, war der unerschütterliche Optimismus. Außerdem sah Ansgar gut aus und war intelligent. Da hatte Mutter Natur ihre Gaben reichlich verschenkt. „Na ja, lieber Pfefferspray als eine Pistole. Mit der könntest du bei dir ernstlich Schaden anrichten.“
„Ich bin Pazifist und fasse keine Waffe an.“
„Pfefferspray ist also keine Waffe?“
„Das ist ein Verteidigungsmittel.“
Alles eine Frage der Betrachtung. „Du könntest damit alte Omas überfallen und ihnen die Handtaschen rauben.“
„Pah!“ Ansgar winkte ab. „Das lohnt sich doch heutzutage nicht mehr. Selbst alte Damen wissen inzwischen, dass sie ihre Ersparnisse nicht mit sich rumtragen sollten.“
„Oder eine Bank.“
Erneutes Abwinken. „Banküberfall hat sich auch erledigt. Es gibt Zeitschlösser und kaum eine Bank hat so viel Geld auf Lager, dass es sich lohnen würde.“
„Ab wann lohnt es sich für dich?“
Ansgar schwieg einen Moment und guckte sinnend in die Ferne. „Fünf Millionen wären das Minimum. Schließlich sind Callboys, Drinks und gute Hotels teuer.“
Sein Freund tickte wie er und stand auf Männer. Das hatte sie während ihres Studiums zusammengeführt. Bislang war ihre Freundschaft platonisch, was Mossad zu gern ändern würde. Er stand vom ersten Augenblick an auf Ansgar. Wie sollte er auch nicht? Goldlöckchen, wie ihre Kommilitonen Ansgar spöttisch nannten, war ein Sahneschnittchen.
Da sie oft zusammen rumhingen, hatte man ihnen auch den Titel Schneeweißchen und Rosenrot verliehen. Mossad war das egal. So lange die anderen ihren Spaß daran hatten, war es für ihn okay. Erst wenn daraus böser Hohn wurde, löste das bei ihm Aggressionen aus. Seinen Langmut bezeichnete Ansgar manchmal als Lethargie. Auch damit konnte er leben.
„Am Sonntag ist bei meinen Eltern Mittagessen angesagt“, informierte ihn Ansgar. „Du sollst keine Blumen mitbringen, hat Mama befohlen.“
Immer, wenn er bei Ansgars Eltern eingeladen war, brachte er natürlich für die Hausherrin etwas mit. „Okay. Dann kaufe ich Pralinen.“
„Du darfst ihr gar nichts mehr schenken. Sie sagt, wenn du das nochmal tust, lädt sie dich nie wieder ein.“
Was für eine Zwickmühle. „Dann bringe ich deinem Vater was mit.“
Ansgar gluckste. „Kluger Schachzug.“
„Nur was?“
„Eine Zigarre?“, schlug Ansgar grinsend vor.
„Dann kriege ich Ärger mit deiner Mutter. Ach, mir fällt schon was ein. Ist ja noch ein bisschen hin.“ Schließlich war erst Dienstag. Mossad traute sich durchaus zu, innerhalb von vier Tagen einen Geistesblitz zu haben.
Ein Spaziergänger mit Hund kam ihm entgegen. Mossad fiel auf, dass ihnen vorher kein Mensch begegnet war. Bei dem grauen, nasskalten Wetter blieben die meisten wohl lieber zu Hause.
Der Hund, eine Promenadenmischung, schnupperte an Ansgars Bein. Sein Freund zog Tiere an wie Licht die Motten. Mossad hingegen wirkte auf Vierbeiner wie Weihwasser auf Vampire: Sie machten einen großen Bogen um ihn. Dabei liebte er Hunde und Katzen.
Ansgar atmete auf, als das Tier auf Herrchens Ruf hin weiter trabte. Sein Kumpel hatte ein gestörtes Verhältnis zu Hunden. Als Kind war Ansgar mal von einem gebissen worden. Mossad fand, dass man solches Erlebnis mit Mitte zwanzig verwunden haben sollte.
Allmählich ging das Grau des Nachmittags in beginnende Dunkelheit über. Ansgar blieb stehen. „Lass uns umkehren.“
„Okay“, brummelte Mossad.
Während sie den Weg zurück schlenderten, berührten sich ab und zu ihre Ellbogen. Ansgar hatte, genau wie Mossad, beide Hände in die Jackentaschen gestopft. Neben dem Herbstgeruch nahm er gelegentlich den frischen Duft seines Freundes wahr.
War er mit seinen Gefühlen allein? Manchmal glaubte er, in Ansgars blauen Augen mehr als kumpelhafte Zuneigung zu sehen. Verliebte sahen ja bekanntlich das, was sie ersehnten. Nachfragen, ob er sich irrte, ging natürlich nicht. Auch das war typisch für Verliebte: Bloß nicht über Emotionen reden. Man könnte sich ja blamieren. Na ja, in ihrem Fall sogar eine Freundschaft zerstören. Zudem war Ansgars Familie zu seiner geworden. Seine eigene hatte ihn nach seinem Outing verstoßen.
„Schwuchteln gibt es nicht in unserem Kreis“, lauteten die Worte seines Vaters, der in ihrer Familie die Gesetze erließ.
Mittlerweile hatte sich Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch über die Baumwipfel gelegt. Laternen, die in weitem Abstand aufgestellt waren, spendeten ausreichend Licht, um sich nicht zu verirren.
Plötzlich lösten sich ein paar Gestalten aus den Schatten und bauten sich vor ihnen auf. Die Typen waren eindeutig jünger als sie und genauso eindeutig in der Überzahl. Fünf gegen zwei. Wenn Mossad nicht alles täuschte, war der Moment gekommen, um Ansgars Pfefferspray zum Einsatz zu bringen.
„Na, ihr Schwuchteln“, ergriff der Typ, der in der Mitte stand, das Wort. „Ihr seht aus, als ob ihr tierisch Lust habt, unsere Schwänze zu lutschen.“
Woran der Knabe diesen Eindruck festmachte, entzog sich Mossads Kenntnis. Als er das letzte Mal in den Spiegel geguckt hatte, trug er noch kein Schild ‚exzessiver Schwanzlutscher‘ auf der Stirn. „Eher nicht“, antwortete er. „Außerdem suchen wir uns die Schwänze eh lieber selbst aus.“
„Also, ‘ne große Klappe haste ja schon mal. Da passt mein Riesendödel vielleicht sogar rein“, freute sich der Anführer und gab den vier anderen einen Wink.
Mossad war weder in Stimmung für einen Blowjob noch eine Prügelei. Letztere ließ sich wohl nicht vermeiden, wenn er ersteren verhindern wollte. „Vergiss es“, stieß er hervor, wobei er seine Jacke abstreifte.
Zwischen Mossads ‚Vergiss es‘ und dem Punkt, an dem die Typen Fersengeld gaben, geschah für Ansgar alles im Zeitraffer. Blinzelnd stand er da und versuchte, die Geschehnisse zu begreifen. Hatte sich sein Kumpel eben in einen Drachen verwandelt? Vorsichtig beäugte er Mossad von der Seite. Keine Schuppen, Riesenklauen und -schnauze. Bestimmt hatte er nur geträumt. Allerdings hing Mossads T-Shirt in Fetzen runter, was dagegen sprach.
„Geht’s dir gut?“, fragte Mossad mit besorgter Miene.
„Ähm ... ja. Ich muss mich ... muss mich wohl nur ein bisschen hinsetzen.“
Behutsam, als wäre er 90 statt 24, führte sein Freund ihn zur nächsten Bank. Ansgar klemmte seine Hände zwischen die Knie und bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. ‚Dir ist nichts passiert. Die Arschlöcher sind weg‘, sagte er sich im Geiste vor. ‚Ja, aber was hat sie in die Flucht geschlagen?‘, entgegnete sein Verstand.
„Möchtest du ein Kaugummi?“, bot Mossad an.
„Mhmja.“
Sein Kumpel holte eine Packung Wrigley’s hervor und hielt sie ihm hin. Mit einem gemurmelten Danke nahm sich Ansgar eines, wickelte es aus und steckte es sich in den Mund. Der Pfefferminzgeschmack war wunderbar normal. Überhaupt war doch alles normal. Sein Kumpel sah aus wie immer und die Umgebung wirkte auch nicht verändert.
„Falls du eben irgendetwas Merkwürdiges gesehen hast, vergiss es wieder. Es ist nicht real.“ Mossad tätschelte seine Schulter. „Nur ein Hirngespinst.“
„Kannst du Telepathie?“
„So ähnlich.“
„Was meinst du mit so ähnlich?“, hakte Ansgar nach.
„Na ja ...“ Mossad fuhr sich durchs Haar und schenkte ihm ein schiefes Grinsen. „In mir steckt ein zweites Lebewesen, das zutage tritt, wenn man es provoziert.“
„Also hast du dich doch verwandelt!“
„Öhm ... ja.“
Das musste er erstmal verdauen. Er musterte Mossad eindringlich, ohne einen Anhaltspunkt für die grüne Drachengestalt zu finden. Überhaupt: Sowas gab es doch gar nicht! „Du willst mich verarschen.“
Mossad zuckte mit den Achseln. „Betrachte es, wie du es willst. Hauptsache, du gehst nicht damit hausieren. Apropos: Wir sollten verschwinden, bevor die Arschlöcher mit den Bullen wieder auftauchen.“
Obwohl Ansgar keine Bedenken hatte, den Beamten entgegenzutreten, folgte er seinem Freund. Wie meist steuerten sie seine Wohnung an. Zum einen lag sie in der Nähe des Parks, zum anderen war Mossads Zimmer in einer 3-er WG wesentlich unkomfortabler.
Im Flur ließ Ansgar seine Jacke auf den Boden fallen, schüttelte sich die Sneakers von den Füßen und ging auf Socken in die Küche. Er nahm zwei Bier aus dem Kühlschrank, entfernte die Kronkorken und leerte eine Flasche zur Hälfte. Die andere schnappte sich Mossad und nippte daran.
„Ich fürchte, ich brauche zwei Pils auf Ex, um zu realisieren, dass in dir ein Drache haust.“ Er rülpste und setzte die Flasche erneut an seine Lippen.
Ironisch lüpfte Mossad eine Augenbraue. „Alkohol schärft neuerdings den Verstand?“
Ansgar zeigte ein Daumenhoch, da er noch mit Schlucken beschäftigt war.
„Ts.“ Kopfschüttelnd verließ Mossad die Küche.
Sein Kumpel war so oft bei ihm zu Gast, dass er sich schon wie zu Hause fühlte. Für Ansgar war das in Ordnung. Mossads Gegenwart besaß für ihn Wohlfühlfaktor. Daran änderte auch diese Drachen-Sache nichts. Oh Mann! Darauf musste er noch ein Bier exen!
„Leihst du mir ein T-Shirt?“, rief Mossad.
„Seit wann fragst du vorher?“
Das Quietschen der Kleiderschranktür verriet, dass sich Mossad bereits im Schlafzimmer aufhielt. Ansgar süffelte die restlichen Tropfen und nahm eine neue Flasche aus dem Kühlschrank. Nachdem er sie geöffnet hatte, spähte er in seine Schlafkammer. Wenn Mossad bei ihm übernachtete, dann stets auf der Couch, obwohl das breite Bett groß genug für zwei war. Angeblich, weil er schnarchte. Das tat er aber nur, wenn er ordentlich gepichelt hatte, was selten vorkam.
„Aber nimm nicht mein Lieblings-T-Shirt“, bat Ansgar, doch es war schon zu spät. Mossad hatte das schwarze Shirt mit Ed-Hardy-Aufdruck bereits über den Kopf gestreift. Die breite Brust wurde damit seinem Blick entzogen.
Sein Kumpel war auf typisch osmanische Weise hübsch: olivfarbene Haut, dunkle Locken und Glutaugen. Besonders schön fand er Mossads Mund mit den vollen Lippen. Also, natürlich rein platonisch. Schließlich war Mossad sein Freund und damit tabu.
„Bestellen wir Pizza?“ Mossad schloss den Kleiderschrank.
Ihm war das egal. Momentan hatte er keinen Hunger. „Ich hab welche im Tiefkühlfach.“
„Das ist noch besser, weil ich so gut wie pleite bin.“ Im Vorbeigehen kniff Mossad ihm in den Hintern.
„Hey!“, beschwerte sich Ansgar und trottete hinter seinem Freund her in die Küche. „Zeigst du mir nochmal den Drachen?“
Mossad verdrehte die Augen gen Himmel und steckte den Kopf ins Tiefkühlfach. „Calzone oder Pesto?“
„Mir egal.“ Er lehnte sich in den Türrahmen. „Kannst du dich auch ohne Stress verwandeln oder muss ich dich irgendwie bedrohen?“
„Womit willst du mich denn bedrohen? Mit Wattebäuschchen?“ Mossad warf zwei Pappschachteln auf die Arbeitsfläche und begann, sie aufzureißen.
„Ich blas dir einen, wenn du dich nicht für mich wandelst.“
Sein Kumpel hielt in der Bewegung inne. Schreckgeweitete Schokoaugen starrten ihn an.
„Ha, siehst du! Jetzt hast du Angst“, triumphierte Ansgar.
Mossad zeigte ihm einen Vogel und fuhr fort, die Kartons zu öffnen. Das weckte seinen Kampfgeist. Er stellte die Flasche beiseite und pirschte auf Mossad zu. Als er sich an dessen Jeansverschluss zu schaffen machte, wurden seine Hände weggeschlagen. Glutaugen funkelten ihn erbost an.
„Lass das!“, grollte Mossad.
„Dann wandle dich.“
Erneut tippte sich Mossad an die Stirn.
„Okay. Dann gibt’s einen Blowjob.“ Flink öffnete er Mossads Hose und griff hinein. Ihm fiel ein Halbsteifer in die Finger. Überrascht glotzte er Mossad an. „Da ist ein Laternenpfahl in deine Unterwäsche geraten.“
„Sehr witzig.“ Mossad rupfte seine Hand aus der Pants und wich zurück. „Lass die Finger von mir. Das ist mein Ernst!“
„Warum darf ich dich nicht anfassen?“, verlangte Ansgar zu wissen.
„Darum“, brummelte Mossad, knöpfte die Jeans wieder zu und steckte beide Hände in die Hosentaschen.
Normalerweise kannte sein Freund keine Erklärungsnot. Er runzelte die Stirn. „Verrate es mir. Ich kann keine Gedanken lesen.“
„Ich will das eben nicht!“
Mossads Starrköpfigkeit machte ihn rasend. Kurzerhand schnappte er sich das Fleischermesser von der Magnetleiste. „Soll ich die Wahrheit aus dir rausschneiden?“
„Du hast ja nicht mehr alle Tassen im Schrank.“
Wohl wahr. Seufzend legte er das Messer weg und rückte näher zu Mossad, der in der Ecke gefangen war. „Was ist los mit dir?“
„Nüx.“
Für ihn sah das aber anders aus. Er packte Mossad an den Schultern - den sehr breiten Schultern - und fing an, ihn zu schütteln. „Verrat’s mir schon!“
„Wenn ich mich verwandle, lässt du mich dann in Ruhe?“
Eigentlich war ihm das andere wichtiger, dennoch nickte er und ließ Mossad los.
„Geh ein Stück zurück“, bat sein Kumpel, zog sich das T-Shirt aus und ballte die Hände zu Fäusten.
Ansgar bezog wieder im Türrahmen Stellung. Gespannt guckte er zu, wie sich Mossads Haut zu Schuppen wandelte. Als Nächstes fuhr die Schnauze aus und an den Händen erschienen Krallen. Verdammt! Sein Freund war ein Dino! Schwankend zwischen Entsetzen und Faszination starrte er das Mossad-Monster an.
„Kannst du mich ver-ste-hen?“, brachte er nach einem Räuspern hervor.
Der Dino nickte.
„Aber reden kannst du nicht?“
Das Monster öffnete das Maul und stieß ein Grollen aus, bei dem sich alarmiert Ansgars Nackenhaare aufstellten. Sein Blick huschte an Mossad runter. Wieso passte die Jeans noch? Sie schien allerdings sehr eng geworden zu sein und vorneherum - mein lieber Herr Gesangsverein! Das war sicher keine Hasenpfote, die den Schritt derart ausbeulte.
Als sein Blick wieder hoch wanderte, bildete sich die Schnauze bereits zurück. Mossads gewohntes Gesicht erschien unter den Schuppen. Auch untenrum wurde sein Kumpel der Alte.
„Bist du jetzt zufrieden?“, brummelte Mossad, die Augenbrauen verärgert zusammengezogen.
„Seit wann kannst du das?“
„Ist vor ein paar Jahren das erste Mal passiert. Vielleicht hat mich eine Eidechse gebissen. Keine Ahnung.“
„Du meinst wie bei Spiderman?“
Mossad nickte. „Kann ich mich jetzt weiter um die Pizza kümmern? Ich hab Kohldampf.“
„Klar“, murmelte Ansgar, schnappte sich sein Bier und zog sich ins Wohnzimmer zurück.
Sein Freund war also ein Drachen-Wandler und weigerte sich, von ihm unsittlich berührt zu werden. Beides verstand er nicht. Na gut, das mit dem Wandler war eben so. Dafür konnte Mossad ja nichts. Was aber dieses Klemmschwester-Gehabe sollte, war ihm weiterhin unverständlich. Fand Mossad ihn eklig? Kein schöner Gedanke.
„Ich glaub, ich hau ab“, verkündete Mossad von der Tür her.
„Wieso das denn?“
„Du bist heute so zickig.“
„Nur weil ich wissen will, was an mir so verkehrt ist, dass ich deinen heiligen Schwanz nicht anfassen darf?“
Mossad senkte den Blick. „An dir ist nichts verkehrt.“
Halleluja! Aber was war es dann? „Also darf ich doch?“
„Nein!“
„Weißt du was?“ Ansgar knallte seine Bierflasche auf den Couchtisch und baute sich vor seinem Kumpel auf. „Mir geht dein Rumgezimpere mächtig auf die Eier.“
„Dann haue ich wirklich besser ab.“
Er hatte die Schnauze gestrichen voll, packte Mossad an den Ohren, beugte sich vor und presste seine Lippen auf ihre hübschen Gegenstücke. Sie waren so weich, wie sie aussahen, doch leider völlig passiv. Mossad nuschelte etwas, das sich nach einem gotteslästerlichen Fluch anhörte, dann umschlangen Ansgar starke Arme. Passiv verwandelte sich in aktiv. Mossad küsste ihn, dass ihm Hören und Sehen verging. Sein Schwanz jubelte vor Freude und plusterte sich auf.
„Du ... du verdammter Scheißkerl“, flüsterte Mossad, unterbrochen von einem hektischen Atemzug.
Antworten konnte er nicht, da sich erneut Lippen auf seine pressten. Eine Zunge schlüpfte in seine Mundhöhle. Holla! Küssen konnte Mossad wie ein Weltmeister. Wenn er auch derart meisterlich vögelte, wollte Ansgar sofort in die Horizontale. Ach, das würde er auch dann wollen, wenn Mossad eine Null im Bett wäre.
„Mach, dass ich aufhöre“, bat Mossad, die Stirn gegen seine gelehnt.
„Nix da! Es wird doch gerade richtig gut.“
Mossad bog den Kopf zurück und betrachtete ihn eindringlich. „Was ist hier los?“
„Merkst du das denn nicht?“
Keine Antwort.
„Ich bin tierisch in dich verliebt“, gestand Ansgar, dem das gerade erst bewusst geworden war.
Mossads Miene wurde weich, der Blick sanft. Die Augen wirkten wie geschmolzene Schokolade. „Nur weil ich ein Freak bin?“
„Quatsch! Das war bloß der Auslöser. Übrigens bist du als Drache höllisch scharf.“
„Perversling.“ Schmunzelnd beugte sich Mossad vor, um seine Lippen für einen sanften Kuss einzufangen. „Ich glaub, ich bleib noch ein bisschen.“
Manchmal wurden Wunder wahr. Mit jedem Kuss wuchs in Mossad die Glückblase, bis sie seinen ganzen Brustkorb vereinnahmt hatte. Er fühlte sich, als könnte er Bäume ausreißen. Na ja, das konnte er in seiner anderen Gestalt wirklich. Godzilla nannte er sein zweites Ich, das wie aus dem nichts in ihm gewachsen war.
„Lass uns die Pizza danach essen.“ Ansgar begann, ihn in Richtung Schlafzimmer zu dirigieren.
Wieder tauschten sie Küsse, was dazu führte, dass sie Bekanntschaft mit der Wand und Garderobe schlossen. Kichernd wie zwei Schulmädchen erreichten sie das Bett, wo hektisches Ausziehen begann. Für romantische Handlungen war Mossad zu ungeduldig und heilfroh, dass es Ansgar ebenso ging.
Nackt setzte er sich auf die Bettkante und schaute zu, wie Ansgar mit den Hosenbeinen kämpfte. Schließlich errang er den Sieg, zugleich streifte er die Socken ab. Wie Gott ihn schuf stand er da, in der Mitte mit einer prächtigen Latte ausgestattet. Mossad griff nach ihm, neigte sich runter und sog gierig den Moschusduft, den die Erektion verströmte, ein.
„Ich will keinen Blowjob. Ich will dich“, flüsterte Ansgar.
Gerührt und erregt schaute Mossad hoch. In den blauen Augen lag so viel Liebe, dass seine Kehle eng wurde. Wieso hatte er das vorher nie bemerkt? ‚Weil du blind bist, Holzkopf‘, antwortete sein Verstand.
Ansgar gab ihm einen Schubs, so dass er rücklings aufs Laken fiel und sprang hinterher. Wieder trafen sich ihre Lippen. Neugierige Hände gingen auf Entdeckungsreise. Er hatte Ansgar zwar schon oft halbbekleidet gesehen, doch es zu ertasten war ganz anders. Die Haut fühlte sich seidenglatt an. Mossad huldigte jeder kleinen Vertiefung und Erhebung, einigen natürlich mit mehr Intensität, wie den Halbkugeln im Süden.
„Will, dass du mich ...“ Ansgar küsste ihn aufs Kinn. „... dass du mich fickst.“
„Hier wird nicht rumgefickt. Wir machen Liebe.“
„Sag ich doch“, murmelte Ansgar, küsste ihn und kramte mit ausgestrecktem Arm in der Nachtschrankschublade herum.
Ohne ihre Knutscherei zu unterbrechen, schmierte sich Mossad die Finger mit Gleitgel ein. Er küsste auch weiter, als er sie Ansgar in den Hintern schob. Sein Freund nahm sie entspannt auf und nuschelte an seinem Mund: „Mach schon!“
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er beförderte Ansgar auf den Rücken, bog seine Beine hoch und begab sich in Position. Mit einer Hand führte er seinen Ständer, mit der anderen stützte er sich neben Ansgars Kopf ab. Sie verschmolzen an zwei Stellen, mit Blicken und körperlich. Mossads Herz jubelte mindestens so laut wie sein Schwanz.
Anscheinend konnte er doch Telepathie, denn Ansgar glotzte ihn total verklärt an und wisperte: „Jetzt gehörst du mir.“
Diesen Besitzerstolz fand er unheimlich sexy. Seine Hüften fingen an zu rotieren. Schlafwandlerisch traf er den Punkt, der Ansgar die geilsten Lustlaute entlockte. Sie schienen füreinander geschaffen zu sein.
Er beugte sich runter, um Ansgar zu küssen. Das tat er auf dem Weg zum Gipfel noch etliche Male, bis die Atemluft zu knapp wurde und nur noch zum Hecheln reichte. Ansgars eine Hand wanderte nach unten, die andere umfasste seine Wange. Im nächsten Moment explodierte ein Sternenregen. Jemand stöhnte so laut, dass es in Mossads Ohren klingelte. Dazu gesellte sich ein helleres Organ, das eindeutig Ansgar gehörte.
Keuchend sackte Mossad auf Ansgars Körper. Hitze schien sie zu verschweißen. Hinzukam der Klebstoff von Ansgars Samen. Noch nie hatte sich Mossad hinterher so gut, so allumfassend tiefenentspannt gefühlt. Vorsichtig zog er seine Ex-Erektion aus Ansgars Enge und ließ sich neben ihm aufs Laken fallen.
„Wow! Das will ich gleich nochmal“, verkündete er mit einem breiten Grinsen.
Ebenfalls lächelnd schlang Ansgar einen Arm um seine Taille. „Erst will ich Pizza.“
„Ach du Scheiße! Die hab ich wieder ins Tiefkühlfach gepackt.“
„Macht doch nichts. Die kann man wieder rausholen.“ Ansgar küsste ihn auf die Wange und schubste ihn auffordernd. „Das ist deine Aufgabe.“
„Wieso eigentlich? Du wohnst doch hier.“
„Aber du kannst besser Pizzen in den Ofen schieben.“
Grummelnd stand Mossad auf und wackelte auf dem Weg zur Tür absichtlich mit dem Hintern. In der Küche kümmerte er sich rasch um die Pizza, bevor er ein Bier aus dem Kühlschrank nahm.
Bei seiner Rückkehr ins Schlafzimmer erwartete ihn ein lasziv ausgestreckter Ansgar. Etwas, wovon er oft geträumt hatte. Sein Freund war heiß wie die Hölle. Helle Haut, teilweise von blondem Flaum überzogen. Zwei perfekt gerundete Arschbacken, ein ebenso perfekter Schwanz und hübsches Gesicht.
„Du guckst mich an, als wäre ich das Dessert.“ Mit dem Finger winkte Ansgar ihn heran. „Warum haben wir zwei Deppen so lange gebraucht, um zusammen im Bett zu landen?“
„Weil Vorfreude die schönste Freude ist?“, schlug Mossad vor.
„Hast du von mir geträumt?“ Ansgar nahm ihm das Bier weg und trank einen Schluck.
„Manchmal“, flunkerte er.
„Warum glaube ich dir nicht?“
„Okay-okay“, ruderte er zurück. „Es war öfter.“
„Versprichst du mir, dich niemals beim Sex zu wandeln?“
„Keine Sorge. Godzilla steht nicht auf Menschen.“ Er grabschte nach der Flasche.
„Meinst du, dass er irgendwann wieder weggeht?“
Mossad zuckte mit den Achseln. „Woher soll ich das wissen? Er ist ungefragt aufgetaucht, also wird er auch nicht Bescheid sagen, wenn er wieder geht.“
„Ich finde das heiß.“ Seufzend schmiegte sich Ansgar an ihn und streichelte seine Brust. „Hey, Godzi, hörst du mich? Von mir aus darfst du in Mossad drinbleiben. Er ist ein feiner Wirtskörper. Ich würde auch gern in ihn reinkriechen.“
„Dann tauschen wir nach der Pizza: du oben, ich unten.“
Ansgar guckte ihn mit leuchtenden Augen an. „Hab ich schon gesagt, dass ich total auf dich abfahre?“
„Brauchst du nicht. Dein belämmerter Gesichtsausdruck spricht Bände.“
Dafür biss Ansgar ihm spielerisch ins Kinn, was zu einer Knutscherei führte, in deren Verlauf Mossad den Inhalt der Bierflasche ins Bett kippte. Das verhinderte, dass sie gleich wieder übereinander herfielen.
So hatte Godzilla Mossad Glück gebracht, wenn auch auf indirektem Weg. Wer hätte das gedacht? Er hatte immer geglaubt, der schuppige Kerl würde ihm eher die Tour vermasseln. Tja, falsch gedacht.
Die Entscheidung, vor neun Monaten den alten Bauernhof in Nordfriesland, am Arsch der Welt (wie Mossad es gern nannte), zu erwerben, hatte Ansgar bisher keinen Tag bereut. Okay, ausgenommen das eine Mal, als der Sturm ein paar Ziegeln des maroden Dachs abgeräumt hatte. Es war eine elende Arbeit gewesen, Ersatz zu beschaffen und das Loch zu flicken.
„Grrrrrrrrrr“, grollte Godzilla, der vor seinen Füßen eine Plüschmaus abgelegt hatte, und wedelte mit dem Schwanz. Wohlgemerkt: mit dem hinteren. Der vordere baumelte friedlich vor den imposanten Eiern.
„Ja, ja, mein Schatz.“ Ansgar hob die Maus auf und schleuderte sie so weit weg, wie er konnte.
Sofort wetzte Godzilla hinterher. Das Tier war irre verspielt und liebte Mäuse. Die lebendigen zum Verspeisen, die unechten zum Spielen. Auf diese Weise ersparten sie sich die Anschaffung einer Katze.
Erneut brachte Godzilla ihm die Fellmaus. Wieder holte Ansgar aus und schmetterte das Teil ins Halbdunkel. Obwohl der Hof abgelegen war, schalteten sie in der Scheune, wenn sich Mossad wandelte, nie volle Beleuchtung an. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Niemals durfte Mossads zweite Gestalt auffliegen, damit er nicht im Versuchslabor der NASA oder sonst welcher Behörden landete.
„Jetzt ist es aber gut“, entschied er, als Godzilla wieder mit der Fellmaus in der Schnauze ankam. „Lass Mossad raus.“
Godzilla grummelte, gehorchte aber brav. Auch das war eine niedliche Eigenschaft des Drachens. Überhaupt mochte Ansgar die zweite Gestalt seines Liebsten sehr. Er würde sie vermissen, wenn sie je verschwinden sollte.
Trotz ihrer fünf gemeinsam verbrachten Jahre faszinierte ihn die Wandlung immer noch. Er konnte sich gar nicht daran sattsehen, wie die Schuppen zu menschlicher Haut wurden. Manchmal wähnte er sich in einem Fantasyfilm, wenn Mossad die andere Gestalt annahm.
„Godzilla ist traurig, dass du so wenig mit ihm spielst“, verkündete sein Schatz, sobald die Schnauze dem Menschenmund gewichen war.
„Wenig? Über eine Stunde hab ich das langweilige Bring-mir-die-Maus-zurück ausgehalten.“
„Weiß ich doch. Ich wollte dir nur die Nachricht übermitteln.“ Suchend schaute sich Mossad um. „Wo sind meine Klamotten?“
„Da, wo du sie hingepfeffert hast“, flötete Ansgar und begann, die Kleidungsstücke einzusammeln.
Mossads Jeans lag in einer Ecke, das T-Shirt hinter einem Heuballen. Unterdessen war sein Schatz in Pants geschlüpft und zog gerade Socken an, als Ansgar ihm den Rest hinlegte. Er beugte sich runter, küsste Mossad sanft auf die Lippen und flüsterte: „Wie sieht’s aus? Ist der Herr scharf?“
„Spitz wie Lumpi.“ Mossad grinste zu ihm hoch. „Leider muss das warten. Ich höre gerade den Wagen deiner Eltern vorfahren.“
Neben der zweiten Gestalt besaß Mossad ein tierisch gutes Gehör. Wahrscheinlich war das Godzilla, der auch verdammt sensible Ohren hatte. Der Dino hörte jedes Mäuschen auf hundert Meter Entfernung.
Im nächsten Moment vernahm Ansgar ebenfalls das Motorengeräusch. Mit einem bedauernden Seufzer ließ er Mossad allein und trat vor die Scheune. Seine Schwestern Sarah und Kira stiegen aus dem Wagen, gefolgt von seinen Eltern. Sein Vater begab sich zum Kofferraum, um das Gepäck heraus zu holen, während die anderen auf Ansgar zuliefen.
Es wurden Umarmungen und Küsschen getauscht. Mossad, der sich zu ihnen gesellte, bekam ebenfalls eine Portion davon ab.
„Ihr seht prächtig aus“, fand seine Mutter, kniff ihm in die Wange und tätschelte Mossads Brust. „Die Landluft tut euch gut.“
Landluft und viel Sex. Es verging kaum ein Tag, an dem sie es nicht dreimal trieben. „Das sagst du jedes Mal“, erwiderte Ansgar.
„Ihr seht auch jedes Mal besser aus.“ Seine Mutter klatschte in die Hände. „Und nun packt mal mit an. Dein Vater hat Hunger.“
Neben dem Gepäck für eine Übernachtung befand sich das Abendessen im Kofferraum. Ansgar trug den Korb mit zahlreichen Plastikdosen ins Haus, Mossad einen weiteren mit Getränken und eine Platte, auf der bestimmt ein Braten lag. Wenn ihre Familie zu Besuch kam, brachte seine Mutter stets Lebensmittel für einen Monat mit. Zugegeben, das war übertrieben. Sie reichten höchstens eine Woche.
Etwas später saßen sie am reich gedeckten Tisch. Zu kaltem Roastbeef gab es Bratkartoffeln, die Ansgars Mutter rasch in der Pfanne erhitzt hatte, selbstgemachte Remoulade, drei Sorten bunte Salate und Roséwein.
Hauptgesprächsthema war Kiras aufgelöste Verlobung. Ihr Ex-Zukünftiger hatte sich mit einer Influencerin vom Acker gemacht. Spöttische Vergleiche zu Influenza flogen hin und her. Zum Glück hatte Ansgars Schwester den Verlust schnell verwunden. So groß konnte die Liebe also nicht gewesen sein.
„Übrigens ...“, meldete sich Sarah zu Wort. „Ich hab Jurassic Park eins bis vier dabei. Gab’s neulich im Sonderangebot.“
„Den Dinosaurier-Kram müssen wir aber nicht alle gucken, oder?“, fragte Ansgars Mutter entsetzt.
Unter dem Gelächter hörte niemand, bis auf Ansgar, dass es in Mossads Brustkorb begeistert grollte. Godzilla liebte Dino-Filme. Einmal, als eine grottenschlechte Variante des Godzilla-Themas in der Glotze lief, hatte der Frechdachs versucht, Mossad zu verdrängen. Da sie allein waren, hatte sein Schatz es zugelassen. Schon merkwürdig, neben einem schuppigen Monster einen Monsterfilm zu schauen. Godzilla gefiel der Streifen so gut, dass er sich auf die Schenkel geklopft und bei jeder Szene, in der sein Namenskumpel etwas zerstörte, gewiehert hatte.
„Natürlich nicht. Nur, falls wir Langeweile bekommen“, wiegelte Sarah ab.
In Mossads Brustkorb ertönte ein enttäuschtes Grummeln.
„Dann machen wir lieber eine Nachtwanderung“, schlug Ansgar vor. „Oder wir spielen Monopoly.“
„Au ja!“, freute sich Kira. „Aber mit echtem Geld.“
Somit war das Thema Jurassic Park erstmal vom Tisch und eine Katastrophe abgewendet. Ansgar legte eine Hand auf Mossads Schenkel und beugte sich zu ihm rüber. „Wir leihen uns die Filme und gucken sie, wenn die Bagage wieder weg ist.“
Wenn ihn nicht alles täuschte, führte Godzilla ein Freudentänzchen auf. Mossad rutschte nämlich auf dem Stuhl hin und her und der Schenkel unter seinen Fingern vibrierte. Also, langweilig würde es ihm mit seinem Schatz nie werden, hatte er doch zu dem Preis von einem gleich zwei bekommen.
ENDE
Dirk
„Papa, bist du da?“
Mühsam rappelte ich mich vom Sofa auf.
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich tatsächlich verschlafen hatte.
Ich war vor über einer Stunde mit meiner Tochter zum Frühstücken verabredet gewesen und hatte es im wahrsten Sinne des Wortes verpennt.
Schuldbewusst und mit jeder Menge schlechtem Gewissen blickte ich mich in meinem Wohnzimmer um und schämte mich ein bisschen für das, was ich sah.
Es war ja nicht nur, dass ich mal wieder dringend Staub wischen müsste, nein, ich müsste aufräumen, entrümpeln, entsorgen und mein Leben wieder in den Griff bekommen.
Doch das war leichter gesagt als getan.
Ich rieb mir über das Gesicht, um ein wenig wacher zu werden.
Ja, rasieren könnte ich mich auch mal wieder. Doch wofür? Es war ja nicht so, als würde mich irgendwer wirklich ansehen. Mich erwartete auch niemand und …
„Papa, bist du wieder auf dem Sofa eingeschlafen?“
Mittlerweile hatte Jessica mich gefunden und sofort damit angefangen, die Zeitschriften, Fotoalben und Bücher, die verstreut auf dem Boden lagen, zusammen zu räumen.
„Kleines, das musst du nicht tun …“, protestierte ich schwach.
Sofort setzte sie sich neben mich und drückte mich an sich.
„Ach Papa, wir machen uns einfach Sorgen um dich, Mama, Frank und ich … du wolltest dich doch melden, wenn du dich einsam fühlst, und als du dann nicht zu unserer Verabredung aufgetaucht bist, da habe ich mir Sorgen gemacht.“
„Ich will keinem zur Last fallen.“
Mein Blick fiel auf das Fotoalbum, das meine Tochter in den Händen hielt. Ich spürte, wie meine Stimme versagte.
Jessicas Augen folgten meinem Blick und nach kurzem Zögern legte sie das Album auf meinen Schoß und öffnete es.
Sofort spürte ich, wie mir die Tränen in die Augen schossen.
Wann würde das endlich aufhören?
„Peter und du, ihr habt so glücklich ausgesehen.“
Vorsichtig, beinah schüchtern fuhr Jessica über mein Hochzeitsfoto.
„Das waren wir, meine Kleine, das waren wir.“
Ich konnte immer noch nicht glauben, dass zwischen dem Foto und heute kaum ein Jahr lag.
Wir hatten wirklich um die Wette gestrahlt – Peter und ich, Jessica und Greta und Frank.
Gott, wenn mir vor 20 Jahren mal jemand gesagt hätte, dass ich an der Seite meines Ehemannes, meiner Tochter, meiner Exfrau und deren neuem Mann einmal den glücklichsten Tag meines Lebens erleben würde, ich hätte laut gelacht.
Damals, als junger Vater, angehender Steuerberater, frisch gebackener Ehemann, hatte ich nicht geahnt, was das Leben für mich bereit halten würde.
Doch dann, nur fünf Jahre später, hatte alles anders ausgesehen – Greta und ich waren immer noch die besten Freunde, aber wir hatten festgestellt, dass wir auch nicht mehr als das waren. Auf keinen Fall genug für eine Ehe, also hatten wir uns getrennt und ich war einfach in das freistehende Haus nebenan gezogen.
Greta hatte schnell Frank kennengelernt, der musste sich zwar zuerst an mich als Dauergast im Haus gewöhnen, aber – und das rechnete ich ihm heute noch hoch an – er hatte mich und meine seltsame Rolle in Gretas Leben schnell akzeptiert.
Einige Jahre hatte ich mich gefragt, was nicht mit mir stimmte, dass ich alleine und als fünftes Rad am Wagen der neuen Familie meiner Exfrau so glücklich war.
Erst, als vor gut zehn Jahren dieser junge Künstler auf der Suche nach Beratung in mein Büro gestolpert war, hatte es ‚klick‘ gemacht und die Puzzleteilchen fielen dorthin, wo sie sollten.
Peter war Maler und Fotograf und brauchte dringend einen Steuerberater, denn seine erste Ausstellung war ein voller Erfolg gewesen und von jetzt auf gleich hatte er keine Ahnung, wie er mit dem plötzlichen Erfolg umgehen sollte.
Wir mussten in vielen Treffen seine Unterlagen sortieren und mir Idiot war zu Beginn gar nicht aufgefallen, dass er immer mit mir geflirtet hatte.
Bis … ja, bis zu dem Abend, an dem er mich einfach geküsst hatte. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, dass ich zuerst hatte protestieren wollen, ihm klarmachen, dass ich nicht schwul wäre. Doch dann hatte mit einem Mal alles Sinn ergeben!
Greta, Frank und Jessica waren in dieser Phase meine größten Unterstützer und Fans gewesen. Jeden Zweifel hatten sie mir ausgeredet und Peter mit offenen Armen in unserer Patchwork-Familie aufgenommen. Sie hatten uns verteidigt und Peter Mut gemacht, wenn ich zu feige war, um offen zu meiner Bisexualität zu stehen.
Zwei Monate später war Peter bei mir eingezogen und als dann endlich die ‚Ehe für alle‘ erlaubt gewesen war, hatten wir geheiratet.
Nur, um wenige Monate später für immer getrennt zu werden.
Ich konnte es heute manchmal immer noch nicht glauben.
Er war gerade mal 35 Jahre alt geworden, das war doch kein Alter, um zu sterben, oder?
Er hatte nicht geraucht, nur in Maßen getrunken, war viel sportlicher als ich und dann platzte eine einzige Ader in seinem Gehirn, während er wie immer bis spät in der Nacht in seinem Atelier gewesen war und von einem Tag auf den anderen blieb nur noch die Erinnerung.
„Papa, woran denkst du?!“
Jessicas Hand auf meinem Arm und ihre sanfte Stimme holten mich in die Gegenwart zurück.
Ich saß immer noch auf meinem Sofa, hatte immer noch dieselben Klamotten wie am Tag zuvor an und starrte auf mein Hochzeitsfoto.
Als ich den Blick hob und sah ich, dass auch die Augen meiner Tochter mittlerweile tränennass waren.
So weit war es schon gekommen, dass sie mit mir weinte und mich zu trösten versuchte.
War es nicht die Aufgabe der Eltern, die Kinder zu trösten und beschützen?
Erneut wischte ich mir über das Gesicht und atmete tief durch. Doch wie so oft bekam ich kein Wort heraus.
Es tat einfach immer noch so weh. Es war, als würde ein Stück von mir fehlen. Als wäre nie genug Luft zum Atmen da.
„Papa, so kann das nicht weitergehen! Seit Peters Tod igelst du dich ein, gehst kaum noch vor die Tür. Keiner erwartet, dass du auf Partys gehst oder weitermachst, als wäre nichts geschehen, aber ich lassen nicht zu, dass du dich aufgibst.“
Ich musste beinah lachen.
Da saß meine 20-jährige Tochter neben mir und hielt mir eine Strafpredigt.
„Du hast ja recht, mein Schatz, aber…“
„Nichts ‚Aber‘, du stehst jetzt auf und gehst unter die Dusche. Ich räume inzwischen ein bisschen auf und dann gehen wir aus. Irgendwohin, wo Menschen sind. Ich habe heute den ganzen Tag Zeit, wir werden schon etwas finden, was dir Freude bereitet. Und bevor du dich weigerst – ich kann auch Mama anrufen, mal sehen, was die sagt, wenn ich ihr erzähle, in welcher Stimmung ich dich angetroffen habe.“
Nun musste ich wirklich lachen, Jessica wusste, womit sie mir drohen musste, um mich dazu zu bringen, aufzustehen.
Greta tauchte beinah täglich bei mir auf und scheuchte mich durch die Gegend, damit ich mich nicht ganz vergaß.
Also küsste ich Jessica auf die Wange und stand tatsächlich auf, um mich zu duschen.
Ein Blick in den Spiegel zeigte mir, was ich im Grunde schon wusste.
Ich sah aus wie ein Waldschrat. Der ungepflegte Bart machte mich älter, als ich mit meinen 41 Jahren war. Meine Tränensäcke waren riesig, meine Haut aschfahl. Kein Wunder, ich war in den letzten sieben Monaten kaum vor die Tür gegangen und dann auch nur, wenn ich musste. Meine Kunden, sofern ich sie nicht verschreckt hatte, beriet ich telefonisch oder per Mail.
Mit einem Seufzen griff ich zum Langhaarschneider und stutzte, was schon lange hätte geschnitten werden müssen. Anschließend stellte ich mich unter die Dusche und fühlte mich danach fast wieder wie ein Mensch.
Zwar mit gebrochenem Herzen, aber ein Mensch.
Zurück im Wohnzimmer stellte ich fest, dass Jessica tatsächlich für Ordnung gesorgt hatte. Viele der Erinnerungsstücke, die ich in den letzten Monaten angestarrt hatte, konnte ich auf den ersten Blick nicht finden. Doch ich vertraute meiner Tochter, dass sie sie nicht weggeworfen, sondern nur weggeräumt hatte.
„So, Tochter, was hast du mit mir vor?“
Jessica begutachtete mich und als sie mir ein Lächeln schenkte, wusste ich, dass sie mit dem Ergebnis durchaus zufrieden war.
„Da du ja mit Sicherheit nichts gegessen hast, lade ich dich zum Italiener ein und dann möchte ich dir einen Vorschlag machen. Es ist ja nicht so, als hättest du viel zu tun, oder?!“
Ich sah sie ein bisschen schuldbewusst an.
Sie wusste sicherlich von ihrer Mutter, dass ich in letzter Zeit selten in meinem Büro anzutreffen gewesen war.
Peter und ich hatten gut gelebt, er hatte mit seiner Kunst genug für uns beide verdient, ich hatte mich vor allem um unsere Finanzen gekümmert, nur hier und da hatte ich einen Auftrag angenommen. Ich würde in den nächsten Jahren nicht Hunger leiden müssen. Und in meinen alten Job zurück konnte ich auch jeder Zeit.
„Und was genau willst du mir vorschlagen?“
„Das sage ich dir, wenn es so weit ist. Bis dahin, Papa, musst du dich gedulden. Und jetzt komm, du bist nur Haut und Knochen. Entschuldige, wenn ich das so sage, aber Peter würde mit dir schimpfen, wenn er dich so sehen müsste!“
Tief in mir drin, wusste ich, dass sie recht hatte und dass es weitergehen musste – irgendwie.
Leon
Rechnungen, Rechnungen, nichts als Rechnungen.
Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, wie mein Vorgänger den Laden so hatte runterwirtschaften können.
Ich saß erst seit ein paar Wochen an diesem Schreibtisch und wusste schon nicht mehr, wo mir der Kopf stand.
Wieso nur hatte ich mich breitschlagen lassen, das Tierheim zu leiten? Das war überhaupt nicht mein Ding!
Viel lieber würde ich mich den ganzen Tag um die Tiere kümmern, statt im Büro Akten zu wälzen.
Doch die Antwort war ganz einfach: Ich war die einzige Vollzeitkraft, am längsten hier und hatte vor Urzeiten mal ein BWL-Studium abgebrochen. Grund und Qualifikation genug, mir den Posten zu geben.
Ich konnte nur hoffen, dass die bald bevorstehende Weihnachtszeit wieder die Herzen und die Geldbeutel der Menschen öffnete und uns die Futterspendenboxen in den drei Supermärkten füllte. Aber ich wusste auch, dass in unserer Region das Geld nicht auf der Straße lag und jeder ein bisschen vom Kuchen abhaben wollte.
Wenn man dann überall um eine Spende gebeten wurde, dann musste man sich schon mal entscheiden. Und da mittlerweile auch die Tafeln Tierfutterspenden annahmen, sah es bei uns immer düsterer aus. Zum Glück hatte ich wenigstens einen alten Schulfreund, der die Tierarztpraxis seines Vaters übernommen hatte, dazu bringen können, uns zusammen mit seinem Team zu unterstützen.
Das Klingeln an der Eingangstür riss mich aus meinen trüben Gedanken.
Stöhnend erhob ich mich.
Hoffentlich fiel dieser Besucher nicht in eine meiner beiden verhasstesten Kategorien.
Also bitte keine Neuzugänge, die leider immer mit dem Beginn irgendwelcher Ferien, in diesem Fall den Herbstferien, einhergingen und bitte keine Familie mit kleinen Kindern, die nur mal gucken wollten, die Tiere aufdrehten, um anschließend doch zu einem Züchter zu fahren.
Trotzdem setzte ich mein schönstes Lächeln auf und öffnete die Tür. Man konnte ja nie wissen, vielleicht war es ein verwirrter Millionär, der unser kleines Heim als Haupterben einsetzen wollte?
Doch statt eines Erben sah ich mich einem Mann, der ein wenig jünger schien als ich, und einer blutjungen Frau gegenüber. Auf den ersten Blick vermutete ich, dass es sich um Vater und Tochter handelte. Wobei er dann sehr früh Vater geworden wäre.
„Hallo, ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen. Ist Nele da?“
Nele war eines der Mädchen, die ehrenamtlich ab und zu hier aushalfen, doch heute hatte sie sich krankgemeldet.
„Nein, da muss ich Sie enttäuschen. Soll ich ihr etwas ausrichten?“
„Hmm, das ist jetzt doof.“
Ich sah, wie der Mann unbehaglich von einem Bein aufs andere trat.
„Jessy, vielleicht sollten wir ein anderes Mal wiederkommen. Vielleicht hat der Herr gar keine Zeit …“
Er bedachte mich mit einem entschuldigenden, fast schüchternen Blick und griff nach der Hand seiner Begleiterin.
„Nein, Papa, wir sind jetzt hier. Es wird auch ohne Nele gehen.“
Aha, also doch der Vater.
Dann wendete sie sich wieder an mich.
„Nele hat nicht zufällig unseren Besuch angekündigt?! Nein? Das hatte ich befürchtet.“
Ich wurde langsam ungeduldig und außerdem blies der Wind Blätter ins Haus, etwas, was ich dann wieder beseitigen müsste. Ich hatte zwei Optionen – ich konnte den beiden einfach die Tür vor der Nase zuhauen oder sie hineinbitten.
Die Neugier siegte: „Kommen Sie doch erstmal rein. Vielleicht kann ich auch weiterhelfen. Um was geht es denn?“
Leise, so dass ich es fast nicht hören konnte, raunte der Mann seiner Tochter zu: „Schatz, bitte, ich weiß, was du vorhast, ich weiß aber nicht, was das bringen soll. Lass uns gehen.“
Doch er erntete einen traurigen, besorgten Blick, unter dem er zusammenzuckte, dann ergriff sie seine Hand und zog ihn hinter sich her ins Innere.
Ich stöhnte leise auf, ich wusste zwar nicht, was diese Jessy vorhatte, aber ich war mir nicht sicher, ob es mir gefallen würde.
Trotzdem führte ich das Paar durch den Eingangsbereich hin zu einem kleinen Tisch, an dem wir normalerweise alle Gespräche abwickelten.
„Also dann, wo drückt der Schuh und wie kann ich helfen?“
Die junge Frau legte ihre Hand auf das Bein ihres Vaters, ein Zeichen von Liebe, Fürsorge und Nähe. Es musste schön sein, Kinder zu haben. Mir war dies aus bestimmten Gründen verwehrt geblieben.
„Nun, zuerst einmal, danke, dass Sie sich für uns Zeit nehmen. Sie müssen Leon sein, oder? Nele hat mir viel von Ihnen erzählt.“
Ich musste unwillkürlich schmunzeln: „Nun, dann sind Sie mir gegenüber klar im Vorteil, denn ich weiß nicht, wer Sie sind.“
Die junge Frau lachte und das lockerte die Stimmung zum Glück auf. Auch ihr eher skeptisch und traurig dreinblickender Vater lächelte sie an.
Und dieses Lächeln tat etwas mit seinem Gesicht und meinem Bauch, was ich lieber nicht hinterfragte. Er schien vor lauter Zuneigung zu ihr von innen heraus zu strahlen und das ließ ihn jünger, freier und entspannter wirken.
„Dann will ich Sie mal aufklären. Mein Name ist Jessica Wilden und das ist mein Vater Dirk. Nele und ich kennen uns schon seit dem Kindergarten und als wir neulich zusammen essen waren, hat sie mir erzählt, dass im Tierheim immer freiwillige Helfer gesucht werden. Mein Vater hat im Augenblick … jede Menge“ – sie warf ihrem Vater einen liebevollen, aber auch fragenden Blick zu – „Freizeit und da dachte ich, er könnte hier vielleicht aushelfen…?!“
„Jessy!“
Ein Blick auf Dirk Wilden zeigte mir, dass er von diesem Plan nichts gewusst hatte und sich damit auch nicht wirklich wohl fühlte.
Und genau das sagte ich auch, wenn auch etwas diplomatischer.
Jessica grinste mich schief an und erwiderte dann: „Geben Sie uns bitte eine Minute?“
Höflich wie ich war, nickte ich ihr zu, stand auf und schlenderte zum Tresen, wo ich nicht ganz in Hörweite war, aber aufgrund der Lautstärke ihres Gesprächs doch das eine oder andere mitbekam.
„Schatz, was soll das?“
„Du hast es versprochen!“
„Ich … nichts für mich.“
„Du musst vor die Tür, Frank … machen uns Sorgen. Peter …“
„Lass Peter aus dem Spiel, das ist nicht fair! Ich kann das nicht!“
Dann hörte ich etwas, was mir fast das Herz brach, denn Jessica fing an zu weinen.
„Glaubst du, wir leiden nicht? Ich habe Angst um dich, bitte Papa, versuch es, für mich.“
Die Neugier brachte mich dazu, nun doch hinzusehen.
Dirk hatte den Arm um seine Tochter gelegt, offensichtlich kämpfte auch er mit den Tränen. Seine rechte Hand, an der er unverkennbar einen Ehering trug, streichelte über das Haar der jungen Frau, während er beruhigend auf sie einredete.
Ich war ein Romantiker, durch und durch und jeder, der mal einen Blick in mein Bücherregal geworfen hatte, konnte das bestätigen.
Was mochte ihre Geschichte sein?
Natürlich stand es mir nicht zu, danach zu fragen, stattdessen tat ich so, als gäbe es nichts Interessanteres, als den Stapel Zeitschriften, der vor mir lag.
Den Rest der Unterhaltung führten sie zu leise für meine Ohren.
Es dauerte noch ein paar Minuten, bis sie sich wieder voneinander lösten und – beide mit immer noch tränenfeuchten Augen – zu mir kamen.
Dirk lächelte mich vorsichtig an und hielt mir seine Hand, die ich reflexartig ergriff.
„Entschuldigung, ich habe mich vorhin nicht wirklich vorgestellt. Aber wie Sie mitbekommen haben, hat mich meine Tochter mit ihrer Idee etwas überfahren. So ganz überzeugt bin ich zwar immer noch nicht, aber Sie wissen, wie das ist. Unsere Kinder halten unsere Herzen in ihren Händen und man kann ihnen kaum etwas abschlagen. Wenn sie dann mit den richtigen Argumenten kommen, dann würde man alles tun, um sie glücklich zu sehen.“
Wieder spürte ich dieses Ziehen, diese Sehnsucht in meiner Brust und konnte mich gerade noch zurückhalten, ihm zu sagen, dass ich dieses Gefühl leider nicht kennen würde, als er sich räusperte und weitersprach.
„Nun, auch, wenn ich nicht hundertprozentig überzeugt bin, wenn Sie Hilfe brauchen, ich bin Ihr Mann. Sie können über mich und meine Zeit verfügen!“
Bevor ein Kopfkino der besonderen Art sich in meinem Gedanken breitmachen konnte, ließ ich seine Hand los und antwortete: „Keine Bange, ich bin für jede kleine Hilfe dankbar. Wenn Sie einen Führerschein und ein Auto haben, dann ist das schon gut.“
In Gedanken schickte ich ihn schon los, die Futterspenden in den Supermärkten abholen.
Dann fragte ich: „Kennen Sie sich denn mit Tieren aus?“
Nun wurde er ein bisschen rot: „Leider nein, wir hatten nie ein Haustier, dafür fehlte uns immer die Zeit und auch die Lust. Ich bin auch kein großer Hundemensch …“
Das bekam ich häufig zu hören und ich war jedes Mal froh, wenn diese Menschen sich auch keine Tiere anschafften.
„Aber ich kann zupacken, scheue mich nicht davor dreckig zu werden und ich kann jonglieren … zumindest mit Zahlen.“
Er lachte über seinen eigenen Witz und fuhr sich mit der Hand etwas verlegen über sein etwas zu langes, braunes Haar.
„Und was genau bedeutet das?“, fragte ich nach.
„Nun, ich bin Steuerberater oder zumindest habe ich das mal gelernt, viel gearbeitet habe ich in diesem Beruf nicht in den letzten Jahren …“
Wieder beendete er den Satz nicht und wieder vermutete ich dahinter eine Geschichte.
Doch die musste warten, denn im Moment war ich einfach nur happy.
„Wenn das so ist, dann sind Sie ein Geschenk des Himmels, denn ich kämpfe gerade mit der chaotischen Buchführung meines Vorgängers und steige einfach nicht durch. Wann können Sie anfangen?“
Gott, dieser Mann, egal, ob er nun freiwillig hier war oder wegen des Drucks, den seine Tochter auf ihn ausgeübt hatte, war genau das, was ich brauchte.
Wenn er Ordnung ins Büro bringen würde, dann würde es in der Tat weitergehen – irgendwie!
Dirk
Der Wind pfiff eisig um die Häuser, als ich mich auf den Weg zum Tierheim machte.
Seit etwas über einem Monat half ich dort nun aus und war mittlerweile sehr froh, dass Jessy mich dazu überredet hatte.
Anfangs war ich ja nicht so überzeugt davon gewesen. Aber Leons ruhige und freundliche Art, seine pure Freude darüber, dass ich die Akten auf Vordermann gebracht und mit meinen Verbindungen zur Künstlerwelt potentielle Sponsoren an Land gezogen hatte, seine Liebe und Hingabe für die Tiere, aber auch all die anderen ehrenamtlichen Helfer, das gab mir die Kraft, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen.
Niemand konnte mir meinen geliebten Mann wiedergeben, aber Jessy hatte recht, dass Peter es hassen würde, wie ich mich vor allem verschloss.
Doch das zu ändern, war leichter gesagt als getan – ich hatte nicht darum gebeten, mit 41 Jahren zum Witwer gemacht zu werden, das konnte einen schon mal aus der Bahn werfen, oder?
Der letzte Monat jedoch hatte etwas in mir verändert.
Ich schlief besser, ich dachte mehr an die schönen Zeiten mit meinem Mann, meine Wut sowie meine Trauer hatten sich immer weiter verändert. Ich wusste jetzt, dass Peter mir immer fehlen würde, aber ich wusste auch, dass es nicht gesund war, wenn ich zu viel in der Vergangenheit lebte. Die neue Aufgabe hatte mich tatsächlich aus meinem tiefen Loch gerettet und ich war sogar bereit, wieder neue Aufträge meiner Stammklienten anzunehmen.
Ich war noch nicht wieder ich selber, aber ich war auf dem Weg dorthin.
Um diese Erkenntnis zu feiern, hatte ich Greta und Frank für heute Abend zum Essen eingeladen, sie würden mich nachher im Tierheim abholen und wir würden zu einem Italiener in der Nähe gehen.
Ich blickte in den Himmel und schickte ein kleines Gebet zu meinem geliebten Mann: „Hey Darling, ich weiß, dass du da oben bist. Ich werd mich bessern und mehr auf mich achten, ich versprech’s! Ich vermisse dich! Aber es wird leichter – irgendwie!“
Als ich im Tierheim ankam, war Leon gerade dabei, einen Neuzugang aufzunehmen.
Es war ein Collie, so viel sah selbst ich.
Der Hund war verängstigt und winselte vor sich hin, hatte den Schwanz zwischen den Beinen eingekniffen und schien sich überhaupt nicht wohl zu fühlen.
Ich nickte Leon und dem jungen Paar zu, das den Hund gebracht hatte, und hörte mit halbem Ohr bei dem Gespräch zu, während ich die Post des Tages durchging.
„… Sammy hat meinem Vater gehört, doch der ist gestorben und in unser Leben passt einfach kein Hund …“
Trauer konnte ich in der Stimme des Mannes nicht hören, viel mehr klang er genervt und ungeduldig.
„Wir hatten uns überlegt, ob wir ihn einschläfern lassen sollen, aber er ist erst fünf Jahre alt. Nehmen Sie ihn?! Er frisst kaum und winselt den ganzen Tag. Meine Frau und ich wissen nicht mehr, was wir mit ihm machen sollen.“
Leon bemühte sich hörbar um Zurückhaltung: „Wollen Sie nicht erstmal versuchen, in Ihrem Umfeld einen Platz für Sammy zu finden oder ihn nicht doch selber behalten? Immerhin hat er Ihrem Vater viel bedeutet.“
„Wir wohnen in der Stadt, was sollen wir da mit so einem großen Vieh? Außerdem sind wir beide berufstätig…“
Leon seufzte, ich kannte ihn mittlerweile so gut, dass ich genau wusste, was ihm durch den Kopf ging. Er würde diesen Schnösel am liebsten rauswerfen und die Geschichte des Hundes brach ihm das Herz.
Er fing meinen Blick auf und lächelte mich traurig an.
„Dirk, könntest du dich um Sammy kümmern, während ich das hier regele?“
Hätte er mich das vor einem Monat gefragt, dann hätte ich nur mit dem Kopf geschüttelt, doch inzwischen hatte ich genug Erfahrung mit Tieren, um das zu erledigen.
Ich ging zu ihnen hinüber und ergriff Sammys Leine.
Leon berührte kurz meine Hand und nickte mir dankbar zu.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich leise auf Sammy einredend mit ihm nach hinten verschwand.
Wieso reagierte ich nur so auf Leons Berührung?
Sicher, er war ein netter Mensch und wir waren schnell zum kollegialen Du übergegangen. Wir hatten bei dem einen oder anderen Kaffee Smalltalk gehalten und über Gott und die Welt geredet. Er war ein angenehmer Gesprächspartner und guter Zuhörer. Aber dieses Flattern im Magen, das war neu und ich fühlte mich unwohl dabei.
Das hatte ich nicht mehr gefühlt, seit …
Doch den Gedanken verbot ich mir und begann lieber mit der Aufnahme der üblichen Daten. Später würde ein Tierarzt nach Sammy sehen und dann würden wir versuchen, ihn möglichst schnell weiterzuvermitteln. So ein schönes und gesundes Tier fand häufig ein neues Zuhause.
Also ließ ich Sammy auf den Tisch springen und redete dabei unsinniges Zeug vor mich hin. Leon hatte mir immer wieder gesagt, wie wichtig solche Monologe für die Tiere waren. Also hatte ich mich daran gewöhnt.
„Hey, Schöner, du vermisst dein Herrchen, nicht wahr? Das kann ich verstehen. Ihr wart lange zusammen und er war alles, was du gebraucht und gewollt hast, oder? Ich weiß, das Leben ist nicht fair, oder? Da hat man jemanden, mit dem man sein Leben verbringen will, und dann kommt das Schicksal und macht alles kaputt. Aber glaub mir, du wirst eine neue Familie finden, jemanden, der sich genauso gut um dich kümmert wie dein altes Herrchen…“
Meine Stimme schien den Hund zu entspannen und er ließ sich von mir streicheln, messen, wiegen und was sonst noch so anstand.
Plötzlich stand Leon neben mir und streichelte Sammy ebenfalls.
„Mann, an solchen Tagen könnte ich schreien. Heute Morgen habe ich eine Kiste mit Katzenjungen samt Muttertier vor der Tür gefunden und nun dieser arme Kerl. Am liebsten würde ich sie alle mit nach Hause nehmen…“
Ich lächelte ihn an. Mehr als einmal hatte er mir von seinem kleinen Zoo am Ortsrand erzählt und ich wusste, dass er seine Worte ernst meinte.
„Du kannst nicht alle retten, Leon, und so, wie Sammy aussieht, findet er bestimmt schnell ein neues Zuhause. Ich denke, um den musst du dir keine Gedanken machen.“
Erst jetzt fiel mir auf, wie nah wir uns standen.
Hatten wir das schon jemals?
Und wieso fiel es mir heute besonders auf?
Wieso sah ich heute, was für warme, braune Augen er hatte?
Innerlich schalt ich mich für diese Gedanken und wusste auch nicht, wo sie herkamen.
Leon hatte nie auch nur einen Schritt in meine Richtung gemacht, der irgendetwas anderes als reine Freundschaft bedeutet hätte.
Über private Dinge hatten wir nie gesprochen.
Und jetzt stand ich hier und … was?!
… und machte mich wahrscheinlich gerade völlig zum Affen.
Himmel, ich hatte in meinem Leben genau zwei Beziehungen gehabt.
Eine mit Greta und daraus war Jessy entstanden und dann Peter. Was wusste ich also von der Welt oder von Beziehungen?
Peter hatte sich immer halb totgelacht, wenn wir zusammen ausgegangen waren und ich nie mitbekommen hatte, wenn mich jemand anbaggerte.
Nicht, dass ich von Leon angebaggert werden wollte oder überhaupt wusste, ob er es wollte.
Aber die Tatsache, dass ich ihn nett, attraktiv und anziehend fand, nun, die ließ sich kaum verleugnen.
Genauso wenig wie die Tatsache, dass ich ihn anstarrte und er mich irgendwie fragend betrachtete.
Bildete ich es mir ein, oder beugte er sich ein wenig mehr in meine Richtung?
Ich räusperte mich und meine Stimme klang seltsam rau, als ich sprach.
„Ähm, also, ich lasse dich dann mal mit Sammy alleine. Im Büro wartet jede Menge Arbeit auf mich.“
Schnell ging ich um ihm herum und floh aus dem Zimmer, bevor ich noch etwas sagte oder tat, was so weit außerhalb meiner Komfortzone lag, dass ich gar nicht darüber nachdenken wollte.
Ich hörte, wie Leon mich nochmal rief, aber ich drehte mich nicht um.
Vielleicht hatte ich vorhin Peter gegenüber doch nicht gelogen.
Es wurde leichter und gleichzeitig auch komplizierter – irgendwie.
Leon
Was war das denn gewesen?
Ich schüttelte den Kopf, um ihn irgendwie klar zu bekommen.
Seit über vier Wochen arbeiteten Dirk und ich Seite an Seite und kamen in meinen Augen echt gut miteinander aus. Noch nie war ein solcher Moment wie eben vorgekommen. Einer, in dem ich mir nicht sicher war, was genau er von mir wollte.
Für einen kleinen Augenblick hatte sowas wie Verlangen oder Sehnsucht in seinen Augen gelegen – oder ich hatte Halluzinationen.
Natürlich gefiel mir Dirk.
Hallo? Ich war schließlich auch nur ein Mann, ein schwuler Mann, und Dirk sah gut aus. Er war nett, höflich, ein bisschen zurückhaltend und hatte immer diesen traurigen Touch in seinem Blick. Fast wie ein getretener Hund oder wie Sammy hier vor mir. Etwas, was den Beschützerinstinkt in mir weckte. Aber er hatte in all der Zeit immer eine gewisse Distanz gewahrt, unsere Gespräche waren immer nett, lustig, interessant aber nie persönlich gewesen. Ich kannte seine Geschichte nicht, ich wusste nicht, wieso er nicht in seinem gelernten Beruf arbeitete oder warum seine Tochter sich Sorgen um ihn machte.
Im Grunde war es ja auch egal, denn er war ein Segen für das Tierheim. Und das war das Einzige, was zählte – bis heute.
Bis ich gehört hatte, wie er mit Sammy gesprochen hatte.
Er hatte so verletzt geklungen, so einsam, fast, als könnte er dessen Verlust wirklich nachvollziehen.
Und dann die Art, wie er mich angesehen hatte.
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Texte: bei den Autoren
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Bettina Barkhoven, Bernd Frielingsdorf, Aschure, Sissi
Übersetzung: hoffentlich nicht nötig
Satz: Sissi Kaiserlos
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2020
ISBN: 978-3-7487-6651-3
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