Cover

Arztromane Vol. 11

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Anmerkungen: Dialoge werden nur auf Deutsch geführt, da sonst eine Übersetzung nötig wäre. Man möge verzeihen, dass ich mir diese Arbeit erspart habe. Mit Google-Übersetzer wäre ohnehin nur Müll dabei herausgekommen.

Die Details der Therapie sind frei erfunden. Eine Nachahmung ist nicht zu empfehlen.

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Fotos: depositphotos, shutterstock Cover-Design: Lars Rogmann

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

https://www.sissikaipurgay.de/


Die Hoffnung stirbt zuletzt

Jon, seit einem Unfall im Rollstuhl, ist unzufrieden mit seinem Status. Seine Freude hat er so gut wie alle weggebissen. Immer wieder sucht er im Internet nach einem Wunderheiler, der ihm seine Beine zurückgibt. Die Anzeige einer Klinik in Bad Aibling weckt sein Interesse. Leider verspricht man darin nichts, sondern warnt vielmehr vor eventuellen Folgen der angebotenen Therapie. Natürlich will er sich nicht verschlechtern und wenn er schon sterben muss, dann bitte im Vollrausch und nicht auf der Streckbank eines Folterknechts.

1.

Schweißgebadet wachte Jon auf. Einige Momente blinzelte er in die Dunkelheit, bis er sich vollständig aus dem Traumgespinst befreit hatte. Was für eine Scheiße! Obwohl der Unfall zwei Jahre zurücklag, träumte er immer noch davon. Wieder und wieder durchlebte er die Bruchteile von Sekunden, die es gedauert hatte, ihn vom fitten Radfahrer in einen Krüppel zu verwandeln.

Seufzend spähte er in Richtung Wecker. Die Leuchtziffern verrieten ihm, dass es vier Uhr morgens war. Da er bestimmt nicht wieder einschlafen konnte, knipste er die Nachttischleuchte an und hievte seine Beine über die Bettkante. Dank gezielten Übungen waren sie noch einigermaßen in Form, dennoch sah man ihnen an, dass sie keinen Zweck mehr erfüllten. Na ja, außer dem, seinen Körper zu komplettieren. Ohne sähe er noch beschissener aus.

„Eins, zwei, drei“, murmelte er, bevor er seinen Hintern vom Bett in den Rolli beförderte.

Die Ärzte meinten, er hätte Glück im Unglück. Seine Lähmung wäre lediglich inkomplett, eine Parese. Zudem war seine Erektionsfähigkeit nach rund einem Jahr zurückgekehrt. Das hatte ihm damals Hoffnung gemacht, dass seine Beine auch bald ihren Dienst wieder aufnehmen würden. Tja, Pustekuchen. Die Scheißdinger wollten ihm einfach nicht gehorchen.

Mittlerweile hatte er die Physiotherapie aufgegeben. Er konnte allein seine Übungen durchführen. In einem Zimmer seiner Wohnung, die sich im Erdgeschoss seines Elternhauses befand, hatte er einen Sportraum einrichten lassen. Jeden Tag trainierte er an den Geräten, was ihm ausgeprägte Brust- und Armmuskeln beschert hatte.

Ein weiterer Glücksfall war, dass die Versicherung seines Unfallgegners anstandslos gezahlt hatte. Dadurch war er in der Lage gewesen, die Räumlichkeiten baulich entsprechend verändern zu lassen. Seine Eltern besaßen nämlich nicht die Mittel dazu. Die beiden waren ins Obergeschoss gezogen, um Platz für ihn zu machen. Ohne sie wäre er echt am Arsch. Neben Tjure, seinem alten Kumpel, die einzigen realen sozialen Kontakte.

Jon rollte ins Wohnzimmer, wo er seinen Arbeitsplatz aufgebaut hatte. Vier Notebooks, drei riesige Monitore an der Wand. Er war freiberuflicher Softwareprogrammierer und verkehrte mit seinen Kunden nur via Internet. Ein Vorteil, weil ihn seine Behinderung im Berufsalltag nicht beeinträchtigte. Andererseits eine verdammt einsame Angelegenheit.

‚Du bist doch selbst schuld‘, mahnte ihn sein Verstand. ‚Wer hat denn alle Leute weggebissen?‘

‚So viele waren das nun auch wieder nicht‘, hielt er gegen, wendete und fuhr in die Küche, um die Kaffeemaschine in Betrieb zu setzen.

Wenn Tjure wüsste, dass er mit sich selbst redete ... Sein Kumpel wäre entsetzt. Apropos Tjure: Seit es Joshua gab, strahlte sein Freund mit der Sonne um die Wette. Tjures Sohn war aber auch ein Goldstück. Eigentlich mochte Jon keine kleinen Kinder - große allerdings auch nicht - doch für Joshua machte er eine Ausnahme. Wenn ihn die riesigen, himmelblauen Augen anschauten, schmolz sein Herz wie Butter in der Sonne.

Was seine ehemaligen Freundeskreis betraf: Er hatte die mitleidigen Blicke nicht ausgehalten. Eines der Mädels hatte ihm sogar Mitleidssex angeboten. Das war nicht ihr Wortlaut, aber warum hätte sie sonst mit ihm schlafen wollen? Bevor es passierte, hatte er ein paarmal vergeblich an ihr rumgebaggert, also dürfte seine Vermutung zutreffen.

Generell war Jon beiderseitig interessiert. Das hatte ihm in besseren Zeiten eine reiche Auswahl beschert. Jungfräulich war er jedenfalls nicht ins Zölibat gegangen.

Als der Kaffeeautomat den Betrieb aufnahm rollte er ins Bad, um zu pissen und sich Wasser ins Gesicht zu schaufeln. Im Spiegel betrachtete er seine blasse Visage. Seine Haare könnten mal wieder einen Schnitt vertragen, aber wen scherte, wie er auf dem Kopf aussah? Ihn jedenfalls nicht. Oder sollte er sich mal von rotblond in schwarz umfärben lassen? Dann ginge sein bleicher Look als hipper Style durch. ‚Was soll der Quatsch?‘, flüsterte es in seinem Schädel. ‚Du gehst nirgendwo hin, wo du damit jemanden beeindrucken kannst.‘

Jon fuhr zurück in die Küche, wo die Kaffeemaschine inzwischen finalisiert hatte. Die ersten Schlucke trank er direkt vor Ort, bevor er sich den Becher zwischen die Beine klemmte und ins Wohnzimmer wechselte.

Über Nacht waren etliche E-Mails mit Fehlermeldungen eingetroffen. Momentan fungierte er hauptsächlich als Troubleshooter für eine Software, die irgendein Vollidiot entworfen hatte. Das Zeug war so lückenhaft wie ein Fischernetz.

Beim zweiten Kaffee hatte er ein Viertel der Fehler bereits behoben. Meist Peanuts für einen Profi wie ihn. Jon programmierte seit seinem zwölften Lebensjahr. Anfangs nur Spiele, doch als ihn das zu langweilen begann, versuchte er sich in anderen Bereichen. Letztendlich war er bei ERP-Systemen hängengeblieben. Deren Komplexität forderte ihn sogar noch nach all den Jahren.

Draußen dämmerte es mittlerweile. Jon rollte zum Fenster und schaute zu, wie die Umgebung in graues Licht getaucht wurde. Früher war er an den Wochenenden erst um diese Zeit ins Bett gegangen. Freitag- und Samstagnacht hatte er in Clubs verbracht, um zu tanzen und Bräute oder Typen aufzureißen.

Seufzend wandte er sich ab und dirigierte den Rolli zurück zum Schreibtisch. Wie jeden Tag durchsuchte er das Internet nach Wunderheilern, die ihm seine Beine wiedergaben. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben. Schließlich schrieb man das Jahr 2020, war zum Mond geflogen und machte den Mars mit Roboterfahrzeugen unsicher.

Einen Magier fand er nicht, dafür - zum wiederholten Mal - das Inserat einer Klinik in Bad Aibling. Man suchte Probanden für einen neuartigen Therapieansatz. Das klang erst ziemlich vielversprechend, doch wenn man das Kleingedruckte las, schwand dieser Eindruck. Man sicherte sich praktisch gegen jede Eventualität ab, einschließlich des Todes einer Testperson. So mies es ihm auch mit seinem Handicap ging, wollte er doch noch nicht sterben. Jedenfalls nicht in solchem Programm. Da zog er einen Vollrausch mit anschließendem Exitus vor.

Eine Stunde später, er hatte inzwischen weitere Fehlermeldungen erhalten, klopfte es an der Haustür. Gleich darauf drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Schritte im Flur. Seine Mutter spähte ins Zimmer.

„Morgen, mein Schatz. Bereit für Frühstück?“

An den Wochenenden, wenn seine Eltern nicht zur Arbeit mussten, aßen sie morgens gemeinsam. „Ich denke schon.“

Sie verschwand aus seinem Blickfeld und begann, in der Küche zu rumoren. Ohne seine Eltern wäre er richtig am Arsch. Stoisch ertrugen sie seine miesen Phasen und verschafften ihm ein bisschen Normalität in seinem ansonsten aus dem Fugen geratenen Leben. Seine Mutter erledigte vieles für ihn und versorgte ihn mit warmen Mahlzeiten. Er brauchte die Gerichte bloß in die Mikrowelle zu stellen.

Sinnend guckte er in die Ferne. Sollte er es doch mal mit diesem Selbstmord-Programm versuchen? Vielleicht half es zumindest ein bisschen. ‚Oder du kannst dich ab dem Hals nicht mehr bewegen‘, mahnte sein Verstand. Eine Aussicht, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Als lebendiger Kopf stellte er sich das Leben endgültig beschissen vor.

Etwas später, am Frühstückstisch, fragte er in die Runde: „Würdet ihr jedes Risiko eingehen, um wieder laufen zu können?“

Seine Eltern tauschten einen Blick, wohl um rauszufinden, wer als erster sprechen sollte, dann antwortete seine Mutter: „Nicht jedes. Ich will ja nicht behaupten, dass du gut davongekommen bist, aber immerhin kannst du noch fast alle Körperteile, ausgenommen deiner Beine, gebrauchen.“

„Wie kommst du darauf?“, wollte sein Vater wissen.

„Es gibt in Deutschland eine Klinik, die eine neue Therapieform ausprobiert.“

„Du gibst dich nicht als Versuchskaninchen her!“, schimpfte seine Mutter.

„Und wie hoch sind die Chancen?“, erkundigte sich sein Vater.

„Ich denke fifty-fifty. Das geht aus der Anzeige nicht genau hervor.“

„Kann ich die mal sehen?“

„Ich druck sie dir nach dem Frühstück aus.“

Damit war das Thema erstmal vom Tisch. Seine Mutter erzählte ein paar Anekdoten aus ihrem Berufsalltag - sie war Sachbearbeiterin bei einer großen Versicherungsgesellschaft - und sein Vater steuerte ebenfalls einige bei. Anschließend übernahmen seine Eltern das Aufräumen, während Jon ins Wohnzimmer rollte, um die Anzeige auf den Drucker zu schicken.

Die Tinte war noch nicht trocken, da gesellte sich sein Vater zu ihm. Jon reichte ihm das Blatt, mit dem er sich in einem Sessel niederließ. Während sein Vater las, überflog er seine neuen E-Mails. Es war eine von Tjure darunter.

„Heute Abend grillen? Das letzte Mal für dieses Jahr. Um sechs bei mir.“

Grillen im Oktober? Warum eigentlich nicht. Schließlich war es trocken und die Sonne schien.

„Du hast recht“, meldete sich sein Vater zu Wort. „Das klingt sehr riskant. Ich würde mal einen Fachmann fragen.“

„Okay. Ich schicke es gleich Tjure.“ Mit wenigen Klicks hängte er die Anzeige an seine Antwort-E-Mail und schrieb dazu: „Soll ich was mitbringen? Bin dann um sechs da. Anliegend ein Inserat, in dem Selbstmordkandidaten gesucht werden. Guckst du dir das mal an?“

Nachdem er die Nachricht abgesandt hatte, wandte er sich wieder seinem Vater zu. „Der Spülkasten hat eine Macke.“

Sofort sprang sein Vater auf und eilte davon.

Jon kannte kaum einen Menschen, ausgenommen seiner Person, der so in seinem Beruf aufging. Sein alter Herr arbeitete als Hausmeister, neuerdings Facility-Manager genannt, für diverse Objekte. Man sollte meinen, dass man dann privat keine Lust mehr auf Reparaturen hatte, doch weit gefehlt. Sobald irgendetwas kaputt war, stürzte sich sein Vater förmlich darauf.

Rund eine Stunde später waren sein Spülkasten heil und seine Eltern zurück in ihre Wohnung gegangen. Jon legte eine morgendliche Trainingseinheit ein, bevor er sich erneut vor den Computer begab.

Von Tjure war eine Antwort eingetroffen: „Bring nur dich mit. Was diese Therapie betrifft: Ich finde, sie klingt interessant. Du solltest dir das mal näher angucken.“

Jon verdrehte die Augen gen Himmel. Sehr witzig! Wie sollte er das denn anstellen? Etwa hinfahren und zugucken, was die anderen Teilnehmer für Erfolge hatten? Gedanklich schloss er mit dem Thema ab und konzentrierte sich auf seine Arbeit.

2.

Zehn Minuten vor sechs läutete Jon bei Tjure. Marco öffnete die Tür, setzte ihm Joshua auf den Schoß und wies ihn an, gleich außen rum zur Terrasse zu fahren. Ein heikles Unterfangen, mit dem Goldstück auf den Beinen. Zum Glück klammerte sich Joshua an seiner Jacke fest, sonst wäre der Kleine bestimmt runtergeplumpst, da der Weg etwas holprig war.

Sobald er sein Ziel erreicht hatte, hob er Joshua hoch und erfreute sich an dessen einzähnigem Grinsen. „Na, mein Schnuckelchen. Alles klar bei dir?“

Joshua streckte die Hand nach seiner Nase aus.

„Oh nein! Deine scharfen Klauen sind mir zu gefährlich.“ Er setzte Joshua wieder auf seinen Schoß und wandte sich Tjure, der am Grill stand, zu. „Füttert ihr den Bengel mit Blei? Der wiegt ja inzwischen Tonnen.“

„Erstaunlich, nicht wahr?“

Marco kam mit einem Tablett nach draußen und stellte es auf dem Tisch ab. „Möchtest du Joshua die Flasche geben?“

„Klar. Immer her mit der Buddel.“ Er streichelte Joshuas Wange. „Liebe geht durch den Magen, nicht wahr, mein Herzchen?“

Da!“, stimmte der Kleine zu.

„Wart ihr mal mit ihm beim Logopäden?“, erkundigte sich Jon.

„Wozu? Er kann sich doch gut mitteilen.“ Marco huschte wieder ins Haus.

„Wegen dieser Therapie ...“ Eine Grillzange in der Hand drehet sich Tjure zu ihm um. „Soll ich mal mit dem zuständigen Arzt reden?“

„Das kann ich selber“, brummelte Jon. Er sprach genauso gut deutsch wie Tjure, außerdem brauchte er keine Amme.

Dada!“, stieß Joshua hervor, beide Arme nach Tjure - oder der Grillzange? - ausgestreckt.

„Nimm du Dada, ich kümmere mich um die Steaks“, schlug Jon vor, woraufhin Zange und Kind den Besitzer wechselten.

Angesichts der dicken Fleischlappen floss ihm das Wasser im Mund zusammen. Seine Mutter kochte vorwiegend vegetarisch. Nur an den Wochenenden gab es mal Geflügel oder Fisch. Ihr ging es, nach ihrer Aussage, körperlich besser damit. Ihm ehrlich gesagt auch, dennoch vermisste er seine regelmäßige Ration Fleisch.

Es wurde ein äußerst angenehmer Abend. Mit Marco und Tjure ließ es sich gut plaudern. Jon war bass erstaunt gewesen, dass sich sein langjähriger Freund als bi herausgestellt hatte. Wenn er das gewusst hätte ... Nein, der Gedanke, Tjure anzubaggern, wäre ihm trotzdem nie gekommen. Sowas zerstörte Freundschaften, die weitaus wertvoller waren, als ein einmaliger Fick. Sein Prinzip lautete nämlich: Niemals zweimal den gleichen Arsch und dieselbe Muschi. Tja ... inzwischen hatte sich das erledigt. Er war seiner rechten Hand absolut treu.



In den folgenden Tagen geriet das Selbstmordprogramm völlig in Vergessenheit. Jon war vollauf mit einem Softwarefehler beschäftigt, den er nicht beheben konnte. Sowas fuchste ihn! Verbissen arbeitete er an einer Lösung, wofür er sogar seinen Schlaf opferte. Eine unkluge Aktion, weil er übermüdet bloß Scheiße baute.

Er atmete auf, als er das Problem am Donnerstagvormittag endlich abhaken konnte. Den Erfolg feierte er, indem er eine Pizza mit extra viel Salami und Schinken orderte.

Nach einer langen Trainingseinheit im Gym-Raum checkte er sein E-Mail-Postfach. Die im Laufe der Woche eingetroffenen Fehlermeldungen hatte er nach Wichtigkeit sortiert. Vier neue verschob er in die entsprechenden Ordner. Im Spamfilter befanden sich elf Mails. Er markierte alle und klickte auf löschen, da stach ihm eine davon ins Auge. Absender war Dr. Bengt Schulz, Zentrum für Rückenmarksverletzungen, Bad Aibling.

Jon runzelte die Stirn. Woher hatte der Typ seine E-Mail-Addi? Er löschte die anderen Mails und öffnete die des Doktors.

„Sehr geehrter Herr Svensson, ich freue mich sehr, dass Sie sich für unser Programm interessieren. Als Termin für ein unverbindliches Gespräch schlage ich Freitag, den 16. Oktober um 11 Uhr vor. Wenn Sie einen anderen Termin wünschen oder ein Hotelzimmer reservieren möchten, melden Sie sich bitte bei meiner Assistentin Veronika unter der Rufnummer XXX oder per Mail unter Veronika.Basler@Klinikum-Bad-Aibling.de. Sie wird Ihnen gerne dabei behilflich sein. Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen und wünsche eine gute Anreise - Dr. Bengt Schulz.“

Hatte der Typ den Arsch offen? Er flog doch nicht zum Quatschen nach Deutschland. Dazu gab es schließlich das Internet. Oder war das eine List, um ihn nach seiner Ankunft in Gewahrsam zu nehmen? ‚Du spinnst, Alter!‘, mahnte die lästige Stimme in seinem Schädel.

„Ja, ja“, murmelte er und las die Mail erneut. Der Inhalt blieb gleich. Ach, drauf geschissen. Dann flog er eben hin. Ein Tapetenwechsel tat eh mal not.

Im Internet guckte er sich den Ort an und entschied, dass er ruhig eine Übernachtung einplanen sollte. Als nächstes buchte er Hin- und Rückflug und schaute sich nach einem Hotel um. Das Ambiente des Lindner, zumal es behindertengerecht war, gefiel ihm am besten. Er reservierte also ein Zimmer sowie Taxi, um ihn vom Flughafen zum Hotel zu bringen, und schickte eine Bestätigung des Termins an Veronika Basler.

Als Täter, der dem Doktor seine E-Mail-Adresse gegeben hatte, kam eigentlich nur Tjure in Betracht. Sollte er seinen Kumpel anrufen und zusammenstauchen? Ach nö. Dazu fehlte ihm momentan die Energie. Es reichte, wenn er das bei ihrem nächsten Treffen tat.

Nachmittags nahm Tjure ihm mit einer Mail den Wind aus den Segeln: „Hi, hab ganz vergessen dir zu erzählen, dass ich mit Dr. Schulz gesprochen habe. Er wird dich zu einem Gespräch einladen. Ich kann dich gern begleiten.“

Die Vorstellung, mit Tjure zu reisen, gefiel ihm zwar, aber er musste da allein durch. „Danke, aber ich bin schon groß und brauche keinen Scheiß-Babysitter. Sei froh, dass ich den armen Joshua nicht zum Halbwaisen machen möchte, sonst würde ich dich um einen Kopf kürzen.“

Einige Minuten später traf Tjures Antwort ein: „Da bin ich aber erleichtert!“

Da Jon das Getippe auf die Nerven fiel, wählte er kurzerhand Tjures Nummer. Sein Kumpel nahm sofort ab. „Hat sich Schulz schon gemeldet?“

„Hat er. Ich fliege nächste Woche hin.“

„Soll ich wirklich nicht mitkommen?“

„Nein, Papi, sollst du nicht.“

„Na gut. Wie sieht es aus? Eine Runde Schach am Sonntagnachmittag?“

„Wenn dich dein Göttergatte und Sohn entbehren können.“

„Die kommen klar. Ich bin dann um drei bei dir.“

„Mach dir keine Hoffnungen: Ich lass dich diesmal nicht gewinnen.“

Tjure gluckste. „Als ob du das jemals getan hast. Ich muss los. Mach’s gut.“

„Du auch“, brummelte Jon und beendete die Verbindung. Sinnend guckte er in die Ferne. Hatte er an alles gedacht? Ach ja, er wollte sich diesen Doktor noch anschauen.

Über die Person Bengt Schulz fand er wenig im Internet. Lediglich auf der Homepage der Klinik gab es ein Foto. Ansonsten existierten einige medizinische Abhandlungen, die ihn nicht die Bohne interessierten.

Er betrachtete Schulz‘ Konterfei. Ein lächelnder Mann mit Seitenscheitel. Auf den ersten Blick wirkte er sympathisch. Die Daten unter dem Bild waren nichtssagend, lediglich eine Art Lebenslauf. Seit 2019 war Schulz Oberarzt im Fachzentrum für Rücken und Wirbelsäule, davor Ober- und Assistenzarzt in einer anderen Klinik. Nach Jons Schätzung war Schulz ungefähr Mitte dreißig. Ein attraktiver Typ, der ihn in seinen aktiven Zeiten durchaus gereizt hätte. Er wechselte zu seinem E-Mail-Konto, um sich die nächste Fehlermeldung vorzunehmen.

3.

Der Flug hatte Jon einmal mehr klargemacht, als Behindi ein Mensch zweiter Klasse zu sein. Mit einem Ersatzrollstuhl war er ins Flugzeug gekarrt worden. Am Zielort musste er warten, bis man ihn wieder aus dem Vogel rausholte.

Bei dem bestellten Taxi für Rollifahrer handelte es sich um eines, in das er über eine Rampe gelangte, wofür er allerdings die Hilfe des Chauffeurs benötigte. Erneut fühlte er sich zweitklassig. Andererseits hätte er in einen normalen Wagen ebenfalls nur mit Unterstützung einsteigen können. Das söhnte ihn etwas mit der Situation aus.

Während der Fahrt dämmerte er vor sich hin. Um vier war er aufgestanden, da er um fünf am Flughafen sein musste. Eine kurze Nacht, in der er auch noch unruhig geschlafen hatte, lag also hinter ihm.

Das Hotel war so schön, wie die Bilder im Internet versprachen. Problemlos erreichte er mittels eines Fahrstuhls die Etage, in der sein großzügiges Zimmer lag. Rasch schaute er ins Bad, um sich zu vergewissern, dass er die Toilette benutzen konnte. Sie war zwar tiefer als seine daheim angebracht, doch es würde schon gehen, zumal sich seitlich an der Wand ein Haltegriff befand.

Nachdem er sich ein bisschen eingerichtet hatte, kontrollierte er sein Gesicht im Spiegel überm Waschbecken. Attraktiv sah anders aus, aber er wollte ja auch nicht zu einer Schönheitskonkurrenz. Ohnehin wurden Äußerlichkeiten überbewertet. Wie sagte seine Mutter immer so schön? Von einem hübschen Teller allein wurde man nicht satt.

Jon rief in der Rezeption an, damit man ihm ein Taxi bestellte und rüstete sich zum Aufbruch. Er hatte seine medizinischen Unterlagen dabei, die er in einem Rucksack an die Rücklehne seines Rollis hängte.

Bad Aibling war ein beschauliches Örtchen mit rund 18.000 Einwohnern. Altehrwürdige Gebäude überwogen im Ortskern. Die Klinik, vor der sie nach wenigen Minuten Fahrtzeit hielten, bestand hingegen aus mehreren, modernen Häusern.

Der Eingangsbereich, einen Lobby aus Glas und Marmor, wirkte steril. Jon rollte zum Tresen, hinter dem eine junge Frau saß. „Ich bin mit Doktor Schulz verabredet.“

Sie tippte auf ihrer Tastatur herum. „Sie sind Jon Svensson?“

„Richtig.“

„Ich sage dem Doktor Bescheid.“ Sie wies auf einen Bereich, in dem Sessel und niedrige Tische standen. „Bitte warten Sie dort, bis man Sie abholt.“

Jon rollte in die Aufenthaltszone. Auf den Tischchen lagen Zeitschriften. Neben bunter Presse gab es Prospekte der Klinik und ein örtliches Tagesblatt. Letzteres schnappte er sich und blätterte darin herum. Themen, wie die Wahl eines neuen Schützenkönigs, interessierten ihn nur gering. Er legte die Zeitung also zurück und nahm eine Illustrierte. Auch das Leben von C-Promis konnte ihn nicht fesseln. Trotzdem guckte er die Bilder an und wunderte sich, wie einfach heutzutage jemand in den Starhimmel aufstieg. Da reichte sogar, mit einem Semi-Promi zu kopulieren, um öffentliche Beachtung zu finden.

„Herr Svensson?“, riss ihn eine weibliche Stimme aus seinen Betrachtungen.

Er warf die Zeitschrift aufs Tischchen und schaute auf. Eine Blondine mit kompliziert aussehender Hochsteckfrisur stand vor ihm. „Ja?“

„Herzlich Willkommen. Ich bin Veronika Stadler.“ Sie reichte ihm die Hand. Kühle Finger, die sich wie toter Fisch anfühlten. „Doktor Schulz erwartet Sie bereits.“

Jon folgte ihr, wobei er nicht umhin kam zu bewundern, wie sicher sie auf ihren meterhohen Absätzen stöckelte. In solchen Dingern würde er sich garantiert die Haxen brechen.

Dr. Schulz‘ Refugium war so nüchtern eingerichtet wie das Sprechzimmer von Jons Hausarzt: Funktionale, weiße Möbel in weißem Ambiente. Der Mann hinterm Schreibtisch, in dem er sofort den Typen vom Foto wiedererkannte, erhob sich bei ihrem Erscheinen.

„Willkommen in der Aib-Klinik“, begrüßte ihn der Doktor. „Mögen Sie etwas trinken?“

„Kaffee, bitte. Oder ist sowas giftiges hier verboten?“, entgegnete Jon.

Schulz grinste, was ihn um Jahre jünger wirken ließ. Der Typ war wirklich eine Augenweide und in Natura noch heißer als auf dem Bild. „Koffein in Maßen ist der Gesundheit nicht abträglich.“ Und an Veronika gewandt: „Für mich bitte auch eine Tasse.“

Sie klackerte auf ihren Mörderabsätzen davon.

Schulz setzte sich wieder hin und bedeutete ihm, näher an den Schreibtisch zu rollen. „Ich freue mich, dass Sie die weite Reise auf sich genommen haben.“

„Zwei Stunden Flug ist doch ein Klacks“, winkte Jon ab.

„Sind Sie erst heute angereist oder schon gestern?“

„Ich komme praktisch direkt vom Flughafen.“

„Fliegen Sie heute noch zurück?“

Jon schüttelte den Kopf. „Erst morgen.“

„Wunderbar! Dann haben wir ja keinen Zeitdruck.“

Veronikas Rückkehr sorgte für eine kurze Pause. Als die Tassen vor ihnen standen und die Tür geschlossen war, ergriff Schulz wieder das Wort: „Soll ich Ihnen etwas über das Programm erzählen oder wollen wir mit Ihrer Krankheitsgeschichte beginnen?“

„Gibt es denn etwas, das nicht in der Anzeige stand?“

Schulz nippte am Kaffee, bevor er antwortete: „Es gibt etliche Details, die dort nicht aufgeführt sind.“

„Ich glaube, dafür bin ich momentan gar nicht aufnahmefähig. Ich wüsste nur gern, über welchen Zeitraum wir sprechen und wie hoch die Erfolgschancen sind.“

Der Doktor lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. Diese Geste schien man im Studium zu lernen, denn Jon hatte sie bei vielen Ärzten gesehen. Auch Tjure neigte dazu, wenn er dozierte.

„Wir reden über drei Monate, in denen Sie jeden Tag gefordert werden, einschließlich der Wochenenden.“ Schulz zwinkerte ihm zu. „Also kein Heimaturlaub von der Front. Was die Erfolgschancen betrifft, gibt es noch keine Werte. Zurzeit absolvieren zwei Probanden das Programm. Sie haben aber gerade erst angefangen.“

Jon griff nach seiner Tasse, um sie an seine Lippen zu führen. Der Kaffee schmeckte einigermaßen. Zumindest besser als die Scheiß-Plörre, die man ihm Flugzeug serviert hatte. „Und wie ist Ihre persönliche Einschätzung?“

„Ich würde das Programm nicht durchführen, wenn ich nicht von der Wirkung überzeugt wäre.“

Genauso hätte er an Schulz‘ Stelle auch geantwortet. „Müssen die Testpersonen in der Klinik wohnen?“

„Nicht direkt. Wir haben ein Gästehaus auf dem Gelände. Jeder Proband bewohnt ein kleines Appartement mit vollständiger Ausstattung.“

„Ich bin Freiberufler. Kann ich nebenher arbeiten oder würde das den Prozess beeinträchtigen?“

„Wenn Sie nicht zu erschöpft sind, dürfte das kein Problem sein.“

Jon bat darum, dass der Doktor doch ins Detail ging. Eine halbe Stunde - an der linken Wand hing eine riesige Uhr, weshalb er den Zeitraum so genau wusste - hörte er zu, dann merkte er, dass seine Aufnahmefähigkeit an ihre Grenzen geriet.

„Stopp!“, bat er mit erhobener Hand. „Das reicht erstmal.“

Schulz lächelte entschuldigend. „Sorry. Meine Begeisterung ist mit mir durchgegangen.“

„Kein Problem. Passiert mir auch manchmal.“ Jon hob seine leere Tasse. „Bekomme ich Nachschub?“

„Natürlich!“ Der Doktor nahm den Telefonhörer ab. „Veronika? Bitte besorgen Sie uns neuen Kaffee.“ Nachdem Schulz wieder aufgelegt hatte, wandte er sich an Jon: „Haben Sie Ihre Krankengeschichte dabei?“

Etwas umständlich angelte er den Rucksack von der Rückenlehne, um die Akte hervorzuholen und sie auf den Schreibtisch zu legen. „Da ist alles drin.“

„Wunderbar. Wollen Sie eine Pause einlegen, während ich lese? Sie könnten ein bisschen an die frische Luft.“

„Gute Idee.“ Jon wendete, da fiel ihm der Kaffee ein. „Serviert Veronika Getränke auch im Freien?“

„Nein. Wissen Sie was? Ich begleite Sie.“ Schulz stand auf, klemmte sich die Akte unter den Arm und ging zur Tür.

Kurz darauf saßen sie im klinikeigenen Garten, der Doktor auf einer Bank, zwischen ihnen ein Tablett mit frischem Kaffee. In der Sonne war es gut auszuhalten, zumal Windstille herrschte.

Mit einem genüsslichen Seufzen lehnte sich Jon zurück, um sein Gesicht den Sonnenstrahlen auszusetzen. Als er merkte, dass seine Augen drohten zuzufallen, richtete er sich wieder auf und griff nach seiner Tasse. Während er schlückchenweise trank, beobachtete er Schulz. Der hatte die Augenbrauen zusammengezogen, Beine übereinandergeschlagen und las konzentriert. Also, die Mitte dreißig hatte Schulz auf jeden Fall erreicht, den feinen Fältchen in den Augenwinkeln zufolge.

Ein Hund, der an seinen Füßen schnupperte, lenkte seine Aufmerksamkeit in diese Richtung. Es handelte sich um einen dieser Mini-Kläffer. Das Frauchen näherte sich und rief: „Hans-Hermann! Lass den Herrn in Ruhe.“

Wie konnte man seinen Hund bloß so nennen? Jon empfand Mitleid mit dem Köter, der sich von dem Befehl null beeindruckt zeigte und weiter an ihm herumschnüffelte.

Hans-Hermann!“, schimpfte die Frau und fügte an Jon gewandt sanft hinzu: „Entschuldigen Sie. Ich weiß gar nicht, was in meinen kleinen Liebling gefahren ist.“

Sie leinte das Tier an und zerrte es von ihm fort.

Schulz gluckste. „Wahrscheinlich sucht das arme Tier einen neuen Besitzer, der ihn umtauft.“

„Vielleicht hieß so ihr verstorbener Mann“, mutmaßte Jon.

Schmunzelnd vertiefte sich der Doktor wieder in die Akte. Schulz schien ein Schnell- oder Selektivleser zu sein, denn er hatte gut Dreiviertel schon durchgeackert. Wenn man sich mit der Materie auskannte, brauchte man natürlich nicht jedes Schreiben ausführlich studieren. Da reichte es, wenn man die relevanten Punkte raussuchte. Das kannte Jon, dem es verhasst war, Gebrauchsanweisungen zu lesen. Er überflog sie nur oder versuchte sein Glück gleich auf eigene Faust.

„Sehr interessant“, murmelte Schulz und klappte den Aktendeckel zu. „Sie sind ideal für das Programm.“

Darauf wusste Jon nichts zu erwidern.

Der Doktor schnappte sich die andere Tasse, nahm einen Schluck und fuhr fort: „Sind Sie in therapeutischer Behandlung?“

„Wozu? Meine Wirbelsäule ist lädiert, nicht meine Psyche.“

„Hätten Sie ein Problem damit, sich während des Programms einer zu unterziehen?“

Ich leg mich auf keine Scheiß-Couch und lass jemanden in meinem beschissenen Privatleben rumstochern!“, brauste Jon auf.

Stumm guckte Schulz ihn an. Ihm wurde bewusst, sich in der Wortwahl etwas vergriffen zu haben.

„Sorry“, brummelte er. „Ich wollte nur sagen, dass ich eine Therapie ablehne.“

„Das ist angekommen. Wären Sie generell bereit, sich mit mir zu unterhalten?“

„So lange Sie von mir keinen Seelenstriptease verlangen, können wir drüber reden.“

„Ich möchte während des Programms Ihr seelisches Wohlbefinden dokumentieren. Obwohl ich Schulmediziner bin, glaube ich an die Verbindung von Geist und Körper.“

„Na ja, das eine kann ja ohne das andere nicht, nicht wahr?“

„So ist es.“ Schulz schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Ich müsste kurz weg, nach einem meiner Patienten sehen. Möchten Sie die Zeit nutzen, um über eine Teilnahme nachzudenken?“

„Ich glaub, ich mach’s. Bleibt mir ja gar nichts anderes über.“

„Denken Sie trotzdem noch ein bisschen darüber nach. Immerhin opfern Sie einige Monate Ihres Lebens.“

Eines beschissenen Lebens. Seit dem Unfall hatte sich Jon jeden einzelnen Tag beschissen gefühlt. „Okay.“

Schulz reichte ihm die Akte und stand auf. „Ich würde gern mit Ihnen zu Mittag essen. Unsere Kantine bietet genießbare Kost an.“

„Wann und wo?“

Der Doktor zückte ein Smartphone und guckte aufs Display. „In einer halben Stunde im Foyer.“

„Gut. Ich warte da.“

Schulz nahm das Tablett mit ihren Tassen und eilte davon. Was für ein Sahneschnittchen. Bestimmt war der Doktor glücklich verheiratet und hatte zwei Kinder mit einer attraktiven Frau. Auf dem Schreibtisch hatte Jon kein Familienfoto gesehen, was allerdings nichts bedeuten musste.

Gemächlich rollte er zum Klinikeingang. In der Lobby steuerte er die Wartezone an und beäugte das Leseangebot. Schließlich schnappte er sich eine Illustrierte und vertiefte sich in die Welt der Reichen und Schönen.

Gerade hatte er einen Artikel über die Scheidung Jolie-Pitt durchgelesen, - Wahnsinn, wie viel Geld Leute verbrannten, nur um ihr Ego zu pflegen - als der Doktor vor ihm auftauchte. Er warf die Zeitschrift zu den anderen und hob fragend die Augenbrauen.

„Folgen Sie mir unauffällig“, bat Schulz mit einem süßen Grinsen und setzte sich in Bewegung.

Während er hinter dem Doktor herfuhr überlegte er, wie er bloß auf süß im Zusammenhang mit diesem Mann kam. Schulz war männlich-herb, sympathisch und intelligent, aber süß? Eventuell musste er doch mal zu einem Seelenklempner. Bei ihm war eindeutig eine Schraube locker.

„Vad skulle du vilja äta?“, fragte Schulz unvermittelt, als sie sich in die Schlange an der Essensausgabe eingereiht hatten.

„Vad finns det?“, erwiderte er, neugierig darauf, wie weit Schulz‘ Schwedischkenntnisse reichten.

„Frikadelle mit Beilagen, Gemüsepfanne mit Reis oder Seelachsschnitzel mit Kartoffelsalat. Entschuldigung, aber mein Sprachschatz auf Schwedisch ist äußerst beschränkt.“

„Ich finde, Sie machen das ausgezeichnet“, schleimte Jon mit einem Augenzwinkern. „Ich hätte gern die Frikadelle.“ Seine Oma, die inzwischen leider tot war, stammte aus Deutschland. Daher konnte er nicht nur die Sprache, sondern kannte sich auch mit deutschen Gerichten ganz gut aus.

Als sie an der Reihe waren bestellte Schulz und brachte ihr Essen zu einem Tisch an der großen Fensterfront. Als nächstes räumte der Doktor zwei Stühle beiseite, damit Jon den Platz einnehmen konnte. Glücklicherweise war der Tisch hoch genug, so dass seine Beine drunter passten. Das war nicht immer der Fall. Er hatte sich daher einen Restaurantführer für Krüppel angeschafft, in dem solche Kleinigkeiten akribisch aufgeführt waren.

„Wohnen Sie hier im Dorf?“, nahm Jon nach einigen Bissen die Unterhaltung auf.

Schulz schüttelte den Kopf. „Ich bin vor kurzem nach Rosenheim gezogen. Das ist auch schon sehr kleinstädtisch, aber gerade noch zu ertragen.“

„Und wo haben Sie vorher gelebt?“

„In Hannover. Langfristig möchte ich auch wieder in den Norden.“ Schulz spießte eine Kartoffel auf. „Wie haben Sie sich entschieden?“

„Ich mach bei dem Scheiß mit.“

Jons Gegenüber schmunzelte. „Ihre Ausdrucksweise ist manchmal etwas drastisch.“

„Sorry. Ich versuche mich zu bessern.“

Schulz, der gerade kaute, winkte ab.

„Müsste ich sofort anfangen oder kann ich es noch ein bisschen aufschieben?“

Der Doktor schluckte den Bissen runter und trank einen Schluck Wasser, ehe er antwortete: „Ganz wie Sie möchten.“

Ach, Scheiß drauf! Besser brachte er es gleich hinter sich. „Wann können wir starten?“

„Montag, sofern ich heute noch die nötigen Voruntersuchungen durchführe.“

„Und? Haben Sie dafür Zeit?“

Schulz, erneut am Kauen, nickte.

„Klasse! Kann ich am Montag eines der Appartements beziehen oder muss ich wieder ein Hotelzimmer buchen?“ Jon stopfte sich ein großes Stück Frikadelle in den Mund.

„Mit Beginn des Programms bringen wir Sie natürlich auf dem Gelände unter.“

Damit war erstmal alles geklärt. Er konzentrierte sich auf seine Portion. Das Gemüse war ein bisschen zerkocht, der Fleischklops etwas trocken. Ansonsten gab es nichts am Essen zu beanstanden.

Im Anschluss durfte er wieder in der Lobby warten, bis der Doktor ihn holte. Diesmal blätterte er im Klinikprospekt. Fotos von glücklichen Patienten und strahlendem Personal, was den Eindruck einer heilen Welt suggerierte. Davon ließ sich Jon nicht täuschen. Bestimmt waren viele der Bilder gekauft.

Schulz tauchte in dem Moment auf, in dem er anfing sich zu langweilen. Es ging in einen Raum, in dem ihm eine freundliche Krankenschwester literweise um Blut erleichterte. Er wurde gewogen (zum Glück kannte er die Tara des Rollis), sein Bauchumfang gemessen und er musste eine Urinprobe abgeben. Letzteres erforderte arge Konzentration, da er kurz nach dem Mittagessen pissen war. Der liebe Doktor hätte ihn ruhig vorwarnen können.

Danach war Schulz dran. Der Doktor guckte sich seine Augen mittels einer Stableuchte an, prüfte seine Reflexe und fragte nach seinem Stuhlgang und seiner Erektionsfähigkeit. Mittlerweile waren solche Auskünfte Jon nicht mehr peinlich. Bei nahezu jeder Untersuchung musste er sowas zu Protokoll geben.

Wie nicht anders zu erwarten wollte Schulz ihn auch nackig sehen. Na gut, Shorts und Socken durfte er anbehalten. Geduldig ließ er die Musterung und das Abtasten über sich ergehen.

Schließlich verkündete der Doktor: „Sie dürfen sich wieder anziehen.“

Schulz war so nett, ihm seine Klamotte, die er auf einen Stuhl gelegt hatte, zu reichen. Während er sie überstreifte, begab sich der Doktor hinter den Schreibtisch und tippte auf dem Notebook herum.

Als sich Jon zurück in seinen Rolli gehievt hatte, erkundigte er sich: „Wie geht es jetzt weiter?“

Schulz schaute hoch. „Geben Sie Veronika bitte so schnell wie möglich Bescheid, wann Sie am Montag hier eintreffen. Sie wird sich dann um alles kümmern und Ihnen entsprechende Informationen zukommen lassen.“

„Okay. Dann bin ich für heute entlassen?“

Der Doktor nickte. „Sie haben jetzt frei.“

„Wunderbar. Haben Sie einen Tipp, wo ich heute Abend gut essen kann?“

„Versuchen Sie es in der Rathausklause. Das Äußere wirkt zwar wenig ansprechend, aber das Essen ist hervorragend. Außerdem ist es behindertengerecht.“

„Danke. Schönes Wochenende und bis Montag.“

„Ebenso“, murmelte Schulz, bereits wieder am Tippen.

Jon verließ das Gebäude, steuerte den Park an und holte sein Smartphone hervor. Rasch buchte er einen Flug für Sonntagabend und rief Veronika an, um ihr mitzuteilen, dass er am Montag um acht auf der Matte stehen würde.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2020

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