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Arztromane Band 10 - Babyalarm

Marcos Schwester hat eine Affäre mit einem Arzt, der nach einigen Monaten zurück in seine Heimat Schweden reist. Sie wird schwanger, stirbt kurz nach der Entbindung bei einem Unfall. Marco steht mit dem Kind allein da. Er begibt sich auf die Suche nach Tjure Nilsson, den Vater des Kindes.

Marco hat nach einer kurzen Drogenkarriere auf den rechten Weg zurückgefunden. Er ist mit seinem Leben einigermaßen zufrieden, auch wenn die Zukunftsaussichten nicht sonderlich rosig sind. Als kleiner Angestellter eines Supermarktes wird er nie zu Reichtum kommen. Was er außerdem niemals bekommen wird, als schwuler Mann, ist ein Kind, wofür er sich hingegen glücklich schätzt. Das Schicksal macht ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung, denn plötzlich ist eines da.

1.

Marcos Smartphone vibrierte. Er zog es aus der Hosentasche, guckte aufs Display und verdrehte genervt die Augen. Seine Schwester rief an. Seufzend tippte er aufs grüne Symbol und hielt das Gerät an sein Ohr.

„Hi. Was gibt’s?“

„Wieso klingst du so grummelig? Störe ich?“, erwiderte Laura.

„War ’ne kurze Nacht.“

„Och, du Armer. Soll ich später wieder anrufen?“

„Quatsch! Ich bin ja wach.“ Mehr oder minder. Um fünf war er ins Bett gegangen und um halb zehn wieder aufgestanden. Nun war es elf und er lümmelte mit einem Becher Kaffee auf der Couch herum.

„Stell dir vor: Ich hab Tjure endlich rumgekriegt“, berichtete Laura. „Morgen gehen wir zusammen essen.“

Seit Wochen schwärmte ihm seine Schwester was von dem Hospitant aus Schweden vor. „Eine warme Mahlzeit ist kein Garant für späteren Sex.“

„Woran du nun wieder denkst.“ Sie schnaubte abfällig. „Ich möchte ihn einfach besser kennenlernen.“

„Bald geht der in seine Heimat zurück und alles war für die Katz.“

„Ach, das ist ja noch ein bisschen hin. Vielleicht kann ich ihn überreden zu bleiben.“

„Na, dann wünsche ich dir viel Erfolg.“

„Dankeschön. Ich wünsch dir weiterhin fröhliches Morgenmuffeln.“ Laura legte auf.

Schmunzelnd warf Marco sein Handy auf den Couchtisch und griff nach seinem Kaffeebecher. Er liebte seine Schwester über alles, auch wenn sie manchmal nervig war. Der Tod ihrer Eltern hatte sie zusammengeschweißt. Bei ihren Großeltern, vermögende, aber hartherzige Leute, aufzuwachsen, hatte ebenfalls dazu beigetragen.

Inzwischen waren auch die beiden verstorben. Wäre das nicht der Fall, hätten sie trotzdem keinen Kontakt. Marco hatte, im Anschluss an einen miesen Realschulabschluss, eine Drogenkarriere angestrebt, woraufhin sie ihn rauswarfen und baten, sich nie wieder blicken zu lassen. Aus Solidarität war seine Schwester ebenfalls ausgezogen. Sie hatte jedoch den rechten Weg nie verlassen und eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert.

Marco hingegen hatte mit verbotenen Substanzen experimentiert und sich prostituiert, um Drogen und Lebensunterhalt zu finanzieren. Mit einundzwanzig war er inmitten Erbrochenem aufgewacht, neben ihm zwei nackte, fremde Typen. Das hatte den Ausschlag gegeben, generell seine Richtung zu ändern.

Nach einer überbetrieblichen Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann war er bei einer großen Discounterkette untergekommen. Nicht sein Wunschberuf, aber was sollte er mit seinem Lebenslauf sonst anfangen? Nebenher - meist an den Wochenenden - jobbte er in einer Bar, um seine Finanzen aufzubessern. Reich wurde er dadurch nicht, konnte sich aber wenigstens das eine oder andere erlauben. Mal essen gehen, eine neue Klamotte oder ein neues Spiel für seine Playstation. Ansonsten sparte er eisern, um sich irgendwann den Führerschein und ein Auto zu leisten.



In den folgenden Tagen hörte er nichts von Laura. Das bedeutete wohl, dass es beim gemeinsamen Essen geblieben war. Andernfalls hätte sie es ihm brühwarm berichtet.

Am Samstagnachmittag, als er vom Einkaufen zurückkam, vibrierte sein Handy. Da er beide Hände voll hatte, ließ er das Gespräch auf seine Mailbox laufen. Erst nachdem er die Tüten in seiner Küche abgestellt hatte, zückte er das Gerät und schaute nach, wer versucht hatte ihn zu erreichen. Laura.

Marco ging ins Wohnzimmer, ließ sich auf der Couch nieder und rief sie zurück. „Na, was gibt’s Neues, Schwesterherz?“

„Ich glaube, er hat angebissen. Wir gehen heute ins Theater.“

„Du und Theater?“, wunderte er sich.

Sie seufzte. „Was tut man nicht alles für die Liebe.“

„Muss ich das verstehen?“

„Nö. Davon mal abgesehen interessiert mich das Stück wirklich“, behauptete Laura. „Was ist bei dir so los?“

„Nichts, wie immer.“

„Du solltest dir auch mal wieder einen Lover zulegen.“

„Lieber nicht. Das macht nur Ärger.“

„Weil du dir immer die Falschen aussuchst.“

„Ha, ha! Soll ich die Auswahl dir überlassen?“

„Vergiss es. Meine Menschenkenntnis ist genauso bescheiden wie deine.“ Sie kicherte. „Drück mir die Daumen, dass ich ihn nach dem Theaterbesuch zu einem Kaffee bei mir überreden kann.“

„Sollte diese Frage nicht von ihm kommen?“

„Er ist ziemlich zurückhaltend.“

„Vielleicht ist er einfach nicht interessiert.“

„Hallo? Du redest mit deiner umwerfend gutaussehenden und intelligenten Schwester!“

„Trotzdem kann es sein, dass du nicht nach seinem Geschmack bist. Vielleicht mag er hässliche, dumme Frauen lieber.“

„Daran kann ich ja arbeiten.“ Erneutes Kichern. „Ich muss jetzt los, zum Friseur. Mach’s gut und drück mir die Daumen.“

„Klar, mach ich.“ Marco ließ die Hand mit dem Smartphone sinken und guckte einen Moment ins Leere. Seine Schwester neigte schnell zu Schwärmereien. Vor Tjure war es ein Krankenpfleger, davor ein Anästhesist gewesen. Meist verschwand der Anflug Verliebtheit so rasch, wie er begonnen hatte. Auch diesmal würde es bestimmt so sein.

Er kratzte sich am Bart. Das Sauerkraut hatte er sich, aus einer Laune heraus, vor einigen Wochen stehen lassen. Seine Schwester fand den Vollbart sexy. Noch war Marco unschlüssig, ob ihm die Veränderung auch gefiel.

Nachdem er in der Küche aufgeräumt hatte, setzte er sich vor die Playstation. Seit seiner Abkehr von den illegalen Drogen, war er ein bisschen der Spielsucht verfallen. Mit seinem Wandel hatte er auch alle Kontakte zu alten Bekannten, die ihn bloß in Versuchung geführt hätten, abgebrochen. Neue Freundschaften waren bisher nicht entstanden. Ab und zu traf er sich mit Kollegen aus dem Supermarkt, doch das war alles nur oberflächlich, genau wie sein Verhältnis zur Belegschaft der Traumschiff -Bar.

Um sieben brach er zu seinem Zweitjob auf. Zu Fuß benötigte er rund zwanzig Minuten für den Weg. Diesmal kam es ihm weitaus länger vor, weil es Bindfäden regnete. Als er im Traumschiff ankam, war sein Haar klitschnass, Jeansjacke und Sneakers durchweicht.

„Du siehst ja aus wie zehn Tage Regenwetter“, scherzte Kalle, der hinterm Zapfhahn stand.

„Hör bloß auf! Ich glaub, ich schaff mir doch ’nen Regenschirm an.“ Marco eilte in den Flur, der zum Personalraum führte.

Flink wechselte er seine Schuhe gegen ein Paar Ersatz-Sneakers, zog das T-Shirt mit dem Bar-Logo an und versuchte vorm Spiegel, seine Frisur zu retten. Na gut, Frisur war eh übertrieben. Seine Haare ließen sich einfach nicht bändigen.

Zurück im Schankraum traf er auf Margit, die gerade ein Tablett leerer Gläser auf der Theke abstellte. „Gut, dass du da bist. Kannst du Tisch sieben übernehmen?“

Er guckte in die entsprechende Richtung. Es handelte sich um einen großen, runden Tisch, an dem ungefähr zehn Leute saßen. „Logo.“

Rasch schnappte er sich Block und Stift, bevor er zu den Gästen ging und deren Bestellung aufnahm. Im Traumschiff arbeitete man noch oldfashioned, statt mit modernen Geräten. Der Inhaber dachte zwar darüber nach, auf neue Technik umzusteigen, doch dieser Zustand dauerte bereits drei Jahre. Es war also zu hoffen, dass es noch lange so blieb. Marco liebte nämlich den altmodischen Charme des Ladens.

Wie so oft am Wochenende, wurde es erst ab zwei Uhr morgens leerer. Die letzten Gäste kehrte Kalle um halb vier aus dem Laden. Kurz darauf verließ Marco das Lokal und schlenderte gemächlich - inzwischen regnete es nicht mehr - nach Hause. Im Gehen checkte er sein Smartphone. Laura hatte eine Nachricht geschickt: „Theater war toll! Das danach weniger. Morgen mehr.“

Nanu? Hatte Tjure ihr einen Korb gegeben? Dann hätte sie allerdings ausführlicher geschrieben. Die SMS war um eins eingetroffen. Wann endete ein Theaterstück? Doch bestimmt weit vor Mitternacht.

Marcos steckte das Gerät zurück in seine Hosentasche. Er gönnte es Laura, endlich den richtigen Mann zu finden. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie absichtlich immer die Falschen abschleppte. Vielleicht eine Folge ihrer Kindheit? Die Ehe ihrer Großeltern schien nicht sehr glücklich gewesen zu sein. Ständig hatten sich die beiden angegiftet, wenn sie nicht gerade auf Laura und ihm rumhackten. Mit solchen Vorbildern erlitt man doch ein lebenslanges Trauma.

An seine Eltern erinnerte sich Marco nur verschwommen. Er war fünf, seine Schwester drei, als sie bei einem Bootsunfall umkamen. Damals hatten sie Laura und ihn bei den Großeltern gelassen, um mit Freunden auf einer Yacht rumzuschippern. Ein Sturm hatte sie das Leben gekostet. Ihre Leichen wurden einige Tage später aus dem Wasser gezogen.

Daheim angekommen trank er warme Milch mit Honig, ein zuverlässiges Mittel, um sich zu entspannen. Als er gegen halb fünf mit Bett lag, fielen ihm sofort die Augen zu.



Nerviges Klingeln weckte ihn einige Zeit später. Er blinzelte in das im Schlafzimmer herrschende Dämmerlicht und brauchte einen Moment, um das Geräusch zu lokalisieren. Es handelte sich um die Türglocke. Das konnte zu dieser frühen Morgenstunde, um zehn an einem Sonntag, eigentlich nur Laura sein.

Tatsächlich stand seine Schwester vor der Tür. Wortlos drängelte sie sich an ihm vorbei und steuerte die Küche an. Marco schloss die Wohnungstür und latschte ins Bad, wo er sich einigermaßen passabel herrichtete. Anschließend schlüpfte er im Schlafzimmer in Jogginghose und ein Shirt, bevor er sich zu Laura gesellte.

„Morgen, Schwesterherz“, begrüßte er sie.

„Hi Brüderchen. Hab ich dich geweckt?“ Sie sah weder schuldbewusst aus, noch klang sie so.

Er winkte ab. „Schon okay. Was treibt dich mitten in der Nacht her?“

„Essen wir Eier zum Frühstück?“ Sie spähte in seinen Kühlschrank.

Marco nahm am Tisch, der knapp in den Raum passte, Platz. „Wenn du welche findest.“

Triumphierend zeigte sie ihm einen Karton, in dem sich zwei Eier befanden. „Wie möchtest du sie? Gekocht oder gebraten?“

„Gebraten, bitte.“

„Das machst du dann aber selbst.“ Mit diesen Worten drückte sie ihm den Eierkarton in die Hand und wandte sich dem Kaffeeautomaten zu.

Seufzend, weil er viel lieber zugeguckt hätte, machte sich Marco ans Werk. Zwischendurch nippte er an dem Kaffee, den Laura ihm reichte.

Als sie wenig später einander gegenüber am Tisch saßen, fing sie an zu berichten. „Es war total merkwürdig. Tjure hat zwar selbst gefragt, ob er noch auf einen Kaffee zu mir raufkommen dürfe, trotzdem ... Im Nachhinein frage ich mich, ob er bloß Mitleid mit mir hatte. Auch der Fick fühlte sich danach an.“

„Wie kommst du darauf?“

„Keine Ahnung. Ist halt nur so ein Gefühl.“ Laura stach die Gabel derart vehement ins Spiegelei, als wollte sie es erstechen. „Hinterher hat er gemeint, dass es mit uns nicht passen würde und dass es ihm leidtäte.“

„Also war der Sex nicht gut?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Eigentlich schon. Immerhin hat er mich zum Kommen gebracht.“

„Hat er wenigstens ein Kondom benutzt?“

„Nö. Ich nehm doch die Pille. Außerdem hasse ich dieses Rumgefummele mit dem Latex.“

„Damit fummelst doch nicht du rum, sondern dein Lover.“

„Mag sein. Mir geht’s trotzdem auf den Senkel. Keinen Schimmer, wie ihr das aushaltet.“

„Ihr?“

„Na, du und deinesgleichen.“

„Es muss eben sein. Wer will schon HIV oder Tripper oder ähnlichen Dreck bekommen.“

„Jedenfalls ist er danach gegangen. Ich denke, das war’s dann.“ Laura schob sich einen Bissen Ei in den Mund.

Eines musste er seiner Schwester lassen: Sie war kein Kind von Traurigkeit. Wenn ihre Liebe nicht erwidert wurde, zuckte sie mit den Achseln und wandte sich dem nächsten zu. „Und für dich ist das okay?“

„Was soll ich denn sonst tun? Ihm hinterher laufen?“ Sie schnaubte abfällig. „Nein danke.“

Den Rest des Frühstücks vertilgten sie schweigend. Einer der großen Vorteile seiner Schwester: Sie plapperte nicht ständig.



2. Sechs Monate später

„Wie konntest du das nicht bemerken?“ Marco fuhr sich durchs Haar und atmete tief durch. „Soweit zu dem Thema, Gummis wären nervig.“

„Nun mach mir auch noch Vorwürfe!“, schoss seine Schwester zurück. „Das kann ich jetzt echt gut gebrauchen!“

„Sorry. Ich bin bloß total entsetzt. Ein Kind! Was für eine Scheiße!“ Er sprang auf und fing an, im Wohnzimmer auf und ab zu laufen. „Weiß der Vater Bescheid?“

„Der ist schon seit zwei Monaten wieder in Schweden.“

„Sicher, dass es Tjure ist?“

„Ich bin nicht, so wie Maria, von Gott befruchtet worden.“ Er konnte förmlich durchs Telefon sehen, dass sie die Augen verdrehte.

„Also gibt es gar keine andere Möglichkeit?“

„Nein! Ich bin schließlich keine Bezirksmatratze.“

„Bitte, was?“

„Na, das weibliche Gegenstück vom Bezirksbefruchter.“

„Ach so. Das wollte ich damit auch gar nicht sagen.“ Erneut raufte er sich die Haare. Er wurde Onkel! Das musste er erstmal verkraften. „Und du bist sicher, dass du es austragen willst?“

„Ich bringe keine Kinder um.“

„Okay.“ Er holte tief Luft. „Okay-okay. Wir kriegen das schon hin.“

„Das wollte ich hören. Kommst du mit zur Geburtsvorbereitung?“

Nein! Niemals!

„Bitte, Marco.“

„Na gut. Aber zum Frauenarzt begleite ich dich nicht.“

„Marco. Bitte!“

„Oh Mann! Das überstehe ich niemals ohne seelischen Schaden.“

„Du wirst ja wohl die Muschi deiner Schwester ansehen können, ohne dadurch ein Trauma zu bekommen.“

„Und wenn doch? Bezahlst du den Therapeuten?“

„Klar.“ Sie kicherte. „Paula hat sich angeboten, mal den Babysitter zu spielen. Es ist also soweit schon alles in Butter.“

Paula war ebenfalls Krankenschwester und Lauras beste Freundin.

„Na, super. Und was ist mit dem ganzen Zeug, das ein Baby braucht? Wächst das auf Bäumen?“ Seine Schwester war finanziell genauso schlecht gestellt wie er, bloß aus anderen Gründen: Sie shoppte für ihr Leben gern.

„Ich hab bei eBay eine Wiege für fünf Euro gefunden. Den Rest kann ich bestimmt auch günstig ersteigern.“

„Ich geb dir was dazu.“

„Das ist süß von dir.“ Sie schickte ihm einen Luftkuss. „Ich muss los. Meine Patienten warten auf mich.“

„Pass auf dich auf.“

„Logo. Du auch.“ Erneut hörte er ein Schmatzen, dann legte sie auf.

Marco tippte aufs rote Symbol, steckte das Handy in seine Hosentasche und starrte in die Ferne. Ein Baby! Dazu noch ohne Vater! Was für ein Riesen-Bullshit! Reichte es nicht, dass sie ohne Eltern großgeworden waren?

‚Reg dich ab. Vielleicht findet sich ja bis zur Geburt noch ein Typ, der deine Schwester heiratet‘, flüsterte es in seinem Kopf. ‚Klar! Mit dickem Bauch.‘ Im Geiste zeigte er der Stimme einen Vogel.

Andererseits passierten oft Dinge, die man für unmöglich hielt, beispielsweise Lauras Schwangerschaft trotz Pille. Laut ihrer Aussage hatte seine Schwester nicht vergessen sie zu nehmen. Sie schob das Malheur auf Unzuverlässigkeit des Wirkstoffes. Vielleicht hatte es auch an den ständig wechselnden Schichten gelegen. ‚Vielleicht war es doch eine unbefleckte Empfängnis‘, höhnte es in seinem Schädel.

Nachdenklich zauste er seinen Bart. Im Grunde war es doch nicht sein Problem. Klar würde er helfen, wo er konnte, aber Laura erwartete bestimmt nicht, dass er deswegen seine Jobs vernachlässigte. Davon mal abgesehen war das eh unmöglich. Auch im Traumschiff fiel demnächst jemand aus, nämlich Kalle, der Vater wurde und ein Jahr Erziehungsurlaub nahm.

Marco setzte sich wieder auf die Couch und drehte den Ton der Glotze, den er wegen des Telefonats runter gepegelt hatte, lauter. Es lief ein Krimi aus einer Reihe, die er regelmäßig verfolgte. Eigentlich war er kein Fan dieses Genres, doch der Kommissar mit zahlreichen Schrullen gefiel ihm sehr gut. Beispielsweise der übertriebene Ordnungssinn sorgte immer wieder für Schmunzler. Zum Entspannen war das genau die richtige Medizin.



Am Donnerstag der darauffolgenden Woche begleitete er Laura zum Gynäkologen. Sie bestand darauf, dass er mit ins Sprechzimmer kam. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Als sich Laura auf den grässlichen Stuhl legte, schaute er überall hin, nur nicht in ihre Richtung.

„Geht’s Ihnen gut?“, erkundigte sich Doktor Maßhalmer.

„Öhm ... ja.“

„Sie sind ganz käsig. Kippen Sie mir hier nicht um.“ Der Doktor wandte sich Laura zu und tat, was immer er auch tun musste.

Eine gefühlte Äon später verkündete Maßhalmer: „Alles Bestens.“ Und an Marco gerichtet: „Sie können Ihre Augen jetzt wieder öffnen.“

Innerhalb der folgenden Wochen lernte er alles Mögliche, was er noch nie wissen wollte. Besonders die Geburtsvorbereitungskurse gingen ihm auf die Nerven. Er hatte Mühe, sich mit dummen Sprüchen zurückzuhalten. Wenn er doch mal einen losließ, guckten ihn die gestrandeten Wale an, als wäre er Abschaum. Von den anwesenden Männern hingegen erntete er hier und da ein Augenzwinkern und Laura lachte sich stets schlapp.

Drei Tage vor dem errechneten Termin riss ihn sein Smartphone aus dem Schlaf. Das vereinbarte Notsignal blinkte auf dem Display: „S.O.S.!“

In Windeseile sprang er in seine Klamotten, verließ die Wohnung und kehrte gleich wieder um, weil er seine Börse vergessen hatte. Joggend legte er den Weg zu seiner Schwester - normalerweise eine halbe Stunde - innerhalb von zehn Minuten zurück. Sie wartete bereits mit gepackter Tasche.

Am Abend desselben Tages erblickte Joshua Samuel - den zweiten Namen hatte er aussuchen dürfen - Schwerdtfeger das Licht der Welt. Die Ehre, die Nabelschnur zu durchtrennen, lehnte Marco ab. Er hatte schon genug damit zu tun, das ganze Drumherum zu verkraften.

Als man ihm seinen Neffen in die Arme legte - ein zerknautschtes Bündel Menschlein - entschädigte ihn das für all die Mühe. Joshua Samuel war grottenhässlich, aber in seinen Augen ein perfektes Baby. Vorsichtshalber zählte er Zehen und Finger, alle in ausreichendem Maß vorhanden, bevor er den Jungen seiner Schwester übergab.

„Ist er nicht wunderschön?“, erkundigte sie sich sichtlich erschöpft.

Dass sie nach all den Stunden Wehen überhaupt reden konnte, war bewundernswert. „Geht so. Aber er ist ein toller Junge.“

„Und er sieht aus wie sein Vater.“

Als ob man das bei dem Schrumpelwurm erkennen könnte. „Vielleicht wächst sich das noch zurecht.“

Sie beachtete ihn gar nicht, sondern glotzte verliebt Joshua an. Einen Moment ließ das Personal sie noch, dann wurde das Baby ihr wieder weggenommen. Marco durfte den Kreissaal endlich verlassen, die Schutzkleidung ausziehen und im Flur warten, bis man Laura auf ein Zimmer verlegt hatte.

Sie empfing ihn mit einem müden Lächeln. „Hey, du Held.“

„Du bist die Heldin des Tages. Ich wäre vor Schmerzen gestorben.“

„Weichei.“

„Ich lass dich jetzt mal schlafen. Hat man dir gesagt, wie lange du bleiben musst?“

Laura gähnte. „Nö. Ist mir momentan eh piepegal.“

Marco küsste sie auf die Stirn, bevor er sich auf den Heimweg machte.

Bis zu dem Augenblick, in dem der Wurm aus Laura rausgeflutscht war, hatte er Joshua verflucht. Kaum war das ungeborene Leben auf der Welt, geriet sämtliche Quälerei in Vergessenheit. Andernfalls wäre die Menschheit wohl schon ausgestorben.



Nach drei Tagen durfte Laura mit Joshua Samuel das Krankenhaus verlassen. Marco holte die beiden ab und begleitete sie im Taxi nach Hause. Sein Neffe verbrachte die Fahrt in dem gebrauchten Maxi-Cosi, den er spendiert hatte.

Mittlerweile sah Joshua, der die ganze Zeit schlief, weniger zerknittert aus. Von proper war er aber auch noch weit entfernt. „Ist er nicht ein bisschen klein?“, wandte sich Marco an seine Schwester.

„Er ist völlig okay. Wäre er größer, hätte es mich wohl zerrissen.“

Schnell schüttelte er die Vorstellung von einer reißenden Vagina ab. Schließlich wollte er nicht impotent werden. Es reichte, dass er das ganze Blut und den Schleim, wohl die Nachgeburt, gesehen hatte. Zum Arzt war er wirklich nicht befähigt, nicht mal zum Krankenpfleger.

Als das Taxi vor Lauras Adresse hielt, beglich er den Fahrpreis und nahm sich des Maxi-Cosis an. Laura brauchte nur ihre Tasche schultern.

In ihrer Wohnung brachte Marco seinen Neffen ins Schlafzimmer, wo inzwischen die Wiege aufgebaut war. Joshua suchte sich diesen Moment aus, um zu erwachen und lauthals zu brüllen. Erschrocken wich er ein Stück zurück. Wahnsinn! So ein kleiner Bursche und schon solches Organ! Vielleicht wurde aus Joshua ein Opernsänger.

„Och, hat mein Schatz schon wieder Hunger“, gurrte Laura, die plötzlich neben ihm stand. Furchtlos näherte sie sich dem Schreihals, hob ihn aus dem Korb und wiegte ihn in ihren Armen.

Marco ergriff die Flucht. Im Wohnzimmer war der Lärm besser zu ertragen. Kurz darauf verstummte das Gebrüll. Vermutlich, weil Laura seinen Neffen an ihre Brust gestöpselt hatte.

Sein letzter Besuch bei seiner Schwester war einige Zeit her. Er beäugte die neuen Bilder an den Wänden, das vor DVDs und Büchern überquellende Regal und den Nippes auf der Fensterbank. Es würde ihn verrückt machen, inmitten solchem Tand zu wohnen.

Vorsichtig wagte er einen Blick ins Schlafzimmer, wo Laura auf dem Bett saß, Joshua an der Brust. „Willst du auch einen Kaffee?“

„Pfefferminztee, bitte.“

„Ich dachte, für Stillende ist Koffein unbedenklich.“ Jawohl, er hatte sich schlau gemacht.

„Ich mag aber im Moment keinen Kaffee.“

In der Küche bereitete er je einen Becher Tee und Kaffee zu. Beide balancierte er ins Schlafzimmer und ließ sich neben Laura nieder. Sein Neffe hatte die Fingerchen in das weiche Fleisch ihrer Titte gekrallt und nuckelte friedlich. So gefiel ihm Joshua sehr gut. Vielleicht sollte man Kinder dauernd, bis sie in die Schule kamen, an der Brust lassen.

„Hast du denn genug Milch?“, erkundigte er sich.

„Keine Ahnung. Im Krankenhaus hat er Zusatzkost bekommen. Mal sehen, wie wir hier klarkommen.“

Joshua seufzte. Seine Augen fielen ihm zu, die Hand erschlaffte. Laura streichelte seine runde Wange. „Essen macht ihn immer müde.“

Noch ein Grund, das Kind ständig zu füttern.

„Ups! Ich glaube, eine frische Windel ist fällig“, meinte seine Schwester naserümpfend.

Im nächsten Moment kann die Geruchswolke auch bei Marco an. Rasch inhalierte er Kaffeeduft. Nein, als Vater taugte er wirklich nicht.

„Guck zu, damit du es lernst“, instruierte ihn Laura, stand auf und trug Joshua zum Wickeltisch, einer Kommode, die sie mit einem entsprechenden Aufsatz versehen hatte.

Aus sicherer Entfernung verfolgte er den Vorgang. Es sah ziemlich einfach aus, was jedoch daran liegen konnte, dass Joshua es teilnahmslos über sich ergehen ließ. Bestimmt war es schwerer, wenn sein Neffe putzmunter war.

Nachdem Laura den Jungen versorgt hatte, legte sie ihn in die Wiege. Prompt fing Joshua an zu jammern. Befand sich etwa eine Erbse unter dem Laken? Seine Schwester nahm Joshua wieder hoch und redete Babysprache, Gutschi-Gutschi, was hat denn mein kleines Scheißerle und so. Mütter verfielen bei Kindern offenbar in geistige Umnachtung. Marco würde niemals mit Joshua auf diese Weise sprechen!

Lauras Gebrabbel bewirkte, dass Joshua aufmerksam zuhörte. Kaum hatte seine Schwester ihn wieder ins Bett gestopft, begann er erneut zu weinen. Kopfschüttelnd verzog sich Marco ins Wohnzimmer. Vom Zugucken wurde ihm ganz flau im Magen. Hoffentlich dauerte es ein paar Jährchen, bis er als Babysitter zum Einsatz kam.

Er leerte seinen Becher, stellte ihn in die Spülmaschine und verabschiedete sich von seiner Schwester, die neben der Wiege Wache hielt.



3.

Sein Wunsch wurde leider nicht erhört. Es vergingen nur zwei Monate, bis Laura ihn bat, für eine Nacht den Babysitter zu spielen. Sie wollte unbedingt mal wieder auf die Piste. Schließlich hatte sie schon vor der Geburt etliche Wochen aufs Weggehen verzichtet.

Inzwischen war Joshua abgestillt. Marco wusste, wie man die Ersatzmilch zubereitete, wie man windelte und welche Tricks halfen, um seinen Neffen zu besänftigen. Er hatte Joshua bereits stundenweise betreut und sie kamen gut miteinander klar. Insofern stellte eine Nacht keine große Herausforderung dar. Das glaubte er jedenfalls, bis ungefähr zehn Uhr abends.

Joshuas Weinen rief ihn ins Schlafzimmer, wo das Reisekinderbett aufgebaut war. Die Windel war voll. Einigermaßen geschickt verpasste er seinem Neffen eine neue. Trotz des nun trockenen Popos heulte Joshua weiter. Der Versuch, mit einem Fläschchen für Ruhe zu sorgen, schlug fehl. Schnuller? Nein Danke! Er trug Joshua im Zimmer auf und ab, wobei er leise summte. Kein Erfolg. Schließlich begann er, auf seinen Neffen einzureden, wie er es von Laura kannte: „Na, was ist denn, mein Zuckerstückchen? Sag dem lieben Onkel Marco doch bitte, was er tun soll.“

Das wirkte. Aus großen Augen starrte Joshua ihn an und stellte das Geschrei ein. Schnell sprach er weiter: „So ist es brav. Wir wollen ja nicht das ganze Haus aufwecken, nicht wahr? Was bist du doch für ein süßer Spatz.“

Joshua grinste und produzierte Spuckebläschen. Machte sich sein Neffe über ihn lustig? Ach, egal. Hauptsache, es war endlich wieder still.

„Was hältst du davon, wenn wir zusammen ein bisschen fernsehen?“

Sein Neffe streckte eine Hand aus und versuchte, seinen Bart zu erreichen. Rasch brachte er sich in Sicherheit. Die kleinen Fingerchen konnten ganz schön schmerzhaft kneifen und ziehen.

„Ich wusste, dass dir das gefällt“, säuselte er, wobei er Joshua ins Wohnzimmer trug.

Schon bald pennte sein Neffe in seinen Armen ein. Marco brachte ihn zurück ins Kinderbett. Wenig später verrichtete er sein abendliches Ritual und kroch ebenfalls unter seine Decke. Als er das Licht gelöscht hatte, hörte er Joshua laut atmen, so, als ob die Dunkelheit das Geräusch verstärkte.



Irgendwann weckte ihn beständiges Wimmern. Er spähte in Richtung Radiowecker - ja, er besaß noch so ein altmodisches Ding. Halb zwei. War Joshuas Windel schon wieder durchweicht? Das konnte eigentlich nicht sein, dennoch holte er seinen Neffen aus dem Bett und schnupperte an dessen Hinterteil. Es schien alles in Ordnung zu sein, dennoch jammerte Joshua weiterhin.

„Was ist denn los?“, erkundigte er sich flüsternd. Natürlich kam keine Antwort. „Möchtest du mit in mein Bett?“

Kurzerhand nahm er Joshua mit unter seine Decke. Der Bursche duftete gut, nach Puder und kleinem Kind. Anscheinend gefiel es seinem Neffen, denn das Gejammere fand ein Ende. Wenig später vernahm er gleichmäßige Atemzüge. Vielleicht hatte das ungewohnte Bett den Süßen verunsichert. Mit einem Seufzer schloss er die Augen und folgte Joshua ins Reich der Träume.



Nach diesem Übernachtungsbesuch war sein Neffe regelmäßig bei Marco zu Gast. Einmal pro Woche - wenn sein Dienstplan es ermöglichte auch zweimal - gab Laura Joshua bei ihm ab, um durch die Clubs zu ziehen.

Wenn sie den Jungen am nächsten Morgen abholte, sah sie oft total fertig aus. Kein Wunder, wenn man sich die ganze Nacht um die Ohren schlug. Außerdem stellte Marco manchmal eine Fahne fest. Er war aber der letzte, der seiner Schwester deswegen Vorwürfe machen durfte. Schließlich hatte er selbst einige Jahre auf der Überholspur zugebracht.

Drei Monate gingen auf diese Weise vorbei. Joshua wuchs und gedieh prächtig. Wenn Marco ihn auf seine Krabbeldecke legte, kullerte er wie verrückt herum und versuchte, sich auf alle Viere zu erheben. Noch klappte das nicht, aber so verbissen, wie Joshua es probierte, war es nur noch eine Frage der Zeit.

An einem Freitagabend - mal wieder hatte Laura seinen Neffen bei ihm abgeliefert - oder eher gesagt Samstagmorgen, um drei Uhr Nachts, riss die Türglocke Marco aus dem Schlaf. Verwirrt blinzelte er in die Dunkelheit. Es läutete erneut, woraufhin er förmlich aus dem Bett sprang, um dem Störenfried die Meinung zu geigen.

„Was soll das?“, zischte er in die Gegensprechanlage.

„Herr Schwerdtfeger?“, gab eine männliche Stimme zurück.

Ach du Scheiße! War das etwa ein Bulle? „Ähm ... ja.“

„Können wir kurz raufkommen?“

Er betätigte den Summer, holte seinen Bademantel, schlüpfte hinein und öffnete die Wohnungstür. Wie vermutet tauchten zwei Beamte in seinem Blickfeld auf. Plötzlich hatte er eiskalte Hände. Es konnte nur einen Grund geben, weshalb die beiden bei ihm aufkreuzten: Laura.

„Ist was mit meiner Schwester?“, stieß er hervor, sobald die beiden den Treppenabsatz erreicht hatten.

Der ältere mit grauem Schnauzbart räusperte sich. „Es tut uns leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihre Schwester tot aufgefunden haben.“

„Tot?“, flüsterte Marco.

„Jegliche Wiederbelebungsversuche waren erfolglos. Vorbehaltlich der Obduktion gehen wir von einem Drogendelikt aus.“

Was für ein Hohn! Da nahm er den Scheiß jahrelang und lebte noch und seine Schwester probierte es nur einmal aus und dann das! Oder war ihm etwas entgangen?

„Sollen wir einen Notfallseelsorger bestellen?“, erkundigte sich der zweite Beamte.

„Nein. Nein, es geht schon.“ Marco schlang die Arme um seinen Oberkörper. „Wo ... wo hat man sie denn gefunden?“

„In der Nähe des Goldbekkanals.“

Lauras bevorzugte Gegend zum Weggehen.

„Sind Sie sicher, dass Sie zurechtkommen?“, hakte der zweite Polizist erneut nach.

„Ich denke schon.“

Der erste Beamte reichte ihm eine Visitenkarte. „Melden Sie sich, wenn Sie Fragen haben.“

„Danke“, murmelte Marco, der sich wie im falschen Film fühlte. Bestimmt träumte er das alles nur.

„Nochmals herzliches Beileid.“ Polizist eins tippte sich an die Mütze und begann, die Stufen wieder hinab zu gehen. Zwei folgte ihm.

Langsam schloss Marco die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Seine engste Vertraute, sein einziges Familienmitglied war nicht mehr. Halt! Joshua war noch da. Oh Gott! Was sollte er denn jetzt mit seinem Neffen machen? Würde man ihm Joshua wegnehmen? Und wenn nicht: Wie sollte es weitergehen? Er konnte doch den Jungen nicht neben seinen ganzen Jobs betreuen.

In der Küche ließ er sich auf einen Stuhl plumpsen und stierte ins Leere. Plötzlich brach ein Schluchzer aus ihm hervor. Sein Brustkorb schmerzte unter der Wucht. Tränen begannen zu fließen.

Nach einer Weile, als er den stärksten Druck abgebaut hatte, holten ihn Selbstvorwürfe ein. Warum hatte er nicht besser auf seine Schwester aufgepasst? Immerhin war sie die jüngere von ihnen. Er hätte sehen müssen, worauf es hinauslief.

Ein Geräusch aus dem Schlafzimmer veranlasste ihn, angespannt zu lauschen. Eigentlich schlief Joshua inzwischen durch. Da war es wieder, ein klägliches Wimmern.

Marco ging rüber und hob Joshua aus dem Kinderbett. Es war tröstlich, den kleinen, warmen Körper auf dem Arm zu haben. Während er unsinniges Zeug murmelte, wiegte er Joshua hin und her. Sein Neffe beruhigte sich schnell, schnaufte und schlief an seiner Brust wieder ein.

Er ließ sich auf dem Bett nieder und hauchte ein Küsschen auf Joshuas Schopf. „Nun sind wir ganz allein. Was mache ich denn jetzt nur?“

‚Warte doch erstmal ab. Vielleicht haben sich die Bullen geirrt‘, flüsterte es in seinem Kopf. ‚Vielleicht ist das gar nicht Laura, sondern eine Fremde, die Lauras Börse geklaut hat.‘

Mit Joshua im Arm legte er sich hin und starrte ins Leere, bis die Dämmerung ins Zimmer kroch. Sein Neffe regte sich. Zeit fürs erste Fläschchen.

Als acht Uhr vorbei ging, ohne dass Laura wie verabredet auftauchte, war es amtlich: Seine Schwester war tot. Sie verspätete sich nie.



Die folgenden Tage vergingen voller Betriebsamkeit. Es gab so vieles zu erledigen und Joshua verlangte auch nach Aufmerksamkeit. Bei der Sichtung von Lauras Finanzen erlitt Marco einen gelinden Schock. Die Kontoauszüge umfassten rund zehn Jahre. Anscheinend hatte sie von ihren Großeltern etwas geerbt, oder von anderer Seite eine höhere Summe erhalten, doch das meiste davon bereits ausgegeben. Das hatte sie ihm nie erzählt. Es erklärte Joshuas üppige und neuwertige Ausstattung. Von wegen eBay und so.

Aus ihrer Wohnung nahm er lediglich Joshuas Sachen mit, außerdem ein paar Andenken, wie Fotos und ihren alten Teddy. Den Rest ließ er von einem Unternehmen ausräumen, das genug Verwertbares fand, um die Dienstleistung zu einem günstigen Preis auszuführen. Lauras Auto gab er an einen Gebrauchtwagenhändler. Er hätte es zwar gern behalten, aber wozu, wo er doch keinen Führerschein besaß. Zudem fraß es mehr Geld, als ihm zur Verfügung stand. Den Erlös und das, was nach Begleichung von Lauras Beerdigungskosten überbleiben würde, wollte er für Joshua auf ein Sparkonto legen.

Das Jugendamt wurde bei ihm vorstellig, um Joshuas Pflege zu regeln. Da Laura den Vater als unbekannt angegeben hatte, war Marco der einzige Verwandte. Sofern er sich das zutraute, würde man ihm Joshua überantworten.

Natürlich nahm er die Pflegschaft an. Seinen kleinen Schatz wollte er keinesfalls in fremde Hände geben. Wie er es allerdings bewerkstelligen sollte, für ihrer beider Lebensunterhalt aufzukommen, war ihm ein Rätsel. Das Pflegegeld deckte zwar einiges ab, aber sein Zweitjob war in jedem Fall Geschichte. Momentan galt das ebenfalls für seinen Haupterwerb. Er musste Erziehungsurlaub beantragen, um sich um Joshua zu kümmern.

Nachdem der ganze Papierscheiß erledigt und Laura begraben war, hatte er endlich Muße, um über die Zukunft nachzudenken. Joshua sollte nicht in Armut aufwachsen. Lösung eins wäre, demnächst reich zu werden. Leider wusste er keinen Weg, wie er legal an viel Geld kommen konnte. Er wusste nicht mal einen illegalen. Lösung zwei lautete, Joshuas Vater zur Kasse zu bitten. Dafür brauchte er aber erstmal dessen vollständigen Namen und die Adresse.

Paula, die an der Beerdigung teilgenommen hatte, erklärte sich bereit zu helfen. Innerhalb von zwei Tagen war er in Besitz der ganzen Daten. Sie hatte ihre Beziehung zur Personalabteilung zur Personalabteilung spielen lassen. Unter anderem kannte er nun Tjures Handynummer, Geburtsdatum, Größe und Augenfarbe.

Zusammen mit Joshua, dessen Rolle in Zugucken bestand, entwarf er etliche Briefe, die er allesamt zerknüllte. Es half alles nichts: Er musste das persönlich mit dem Riesenarschloch klären, zumal Joshua der lebende Beweis für Tjures Vaterschaft war. Die blonden Haare und blauen Augen hatten sich nämlich wirklich durchgesetzt.

„Aga“, meinte Joshua, der auf seinem Schoß saß und fuchtelte mit den Ärmchen.

„Genau. Wir müssen zu deinem Arsch... ähm, Papa fahren und ihm gehörig die Meinung sagen.“

„Dah!“ Joshua stach mit den Fingern in die Luft.

„Richtig! Dem werden wir die Leviten lesen!“

Sein Neffe giggelte, griff nach dem Papierball und stieß diesen stattdessen vom Tisch. Prompt bogen sich die Mundwinkel nach unten.

„Na, na, nicht weinen.“ Mit ausgestrecktem Arm angelte Marco nach dem Ball, bekam ihn knapp zu fassen und gab ihn Joshua. Eine überflüssige Aktion, da der Papierball gleich wieder auf dem Boden landete.

Bevor Joshua erneut missmutig werden konnte, stand Marco auf und ging mit ihm ins Wohnzimmer, wo er seinen Neffen auf die Krabbeldecke legte. Er hatte echt Glück im Unglück. Der Bursche war generell ein fröhliches Kind, das sich leicht ablenken ließ. Voller Eifer begann Joshua, sein Spieltrapez zu bearbeiten. Um ihn herum verstreut: Zwei Knabberbücher, eine Motorikschleife, Bausteine, diverse Plüschtiere.

Das war nur ein kleiner Teil der gesamten Ausstattung. Laura hatte Joshua förmlich mit dem Kram überschüttet. Weder darum noch um Klamotten brauchte sich Marco in den nächsten Monaten Sorgen machen. Davon gab es mehr als reichlich. Vielleicht konnte er den Kram später auf eBay verscherbeln, um Sachen für größere Kinder zu kaufen.



4.

Tjure Nilsson war 35 Jahre alt und wohnte in Stockholm. Auf Google suchte Marco den Wohnort und staunte nicht schlecht. Die Adresse lag im Stadtteil Gröndal, fast direkt am Wasser. Na gut, davon gab es viel in Stockholm, trotzdem ... Mit Streetview schaute er sich das Objekt genauer an. Eines war sicher: Joshuas Vater war kein armer Mensch.

Bei der Gelegenheit sah er sich nach einer Pension oder einem Hotel um und notierte die Namen, um sie später direkt anzusurfen. Er fand auch ein großes Klinikum in der Nähe von Tjures Anschrift. Arbeitete er dort?

Als nächstes widmete er sich dem Problem, wie er am günstigsten nach Stockholm kam. Gäbe es Joshua nicht, würde er das billigste Transportmittel wählen. So jedoch musste er darauf achten, dass er genug Gepäck mitnehmen konnte und Joshua es bequem hatte. Der Flixbus, Reisezeit 20 Stunden, kam somit nicht infrage.

Fliegen - rund zwei Stunden Reisezeit - wäre klasse, zumal es preiswerte Tickets gab, aber war das für Joshua zu belastend? Schließlich wurde der Kleine erst sechs Monate.

Mit der Bahn schied leider aus. Sechsmal Umsteigen, bei einer Reisezeit von mindestens 12 Stunden pro Strecke, war deutlich zu anstrengend.

„Oder was sagst du dazu?“, wandte er sich an Joshua, der gerade das Knabberbuch besabberte. Blaue Augen waren auf ihn gerichtet, doch eine Antwort blieb aus. „Du hast recht. Das geht gar nicht. Also fliegen wir.“

Bevor er sich um die Flugtickets bemühte, fahndete er nach einem Quartier. Letztendlich buchte er ein Hotelzimmer für zwei Nächte für 150 Euro. Kindgerecht sah das Etablissement nicht aus, aber das hatte es mit den teureren gemein. Nachdem er auch die Tickets bestellt hatte, ließ er sich gegen die Couchlehne sinken. Travelmanagement war ganz schön anstrengend. Den ganzen Tag wollte er sowas nicht machen.

„Bald lernst du deinen Papa kennen“, informierte er Joshua. Sein Schatz nahm das stumm zur Kenntnis, ließ von dem Buch ab und begann, mit einer Rassel zu lärmen. Na ja, vielleicht war das ein Statement, eine Art Beifall.

Bis zur Abreise gab es einiges zu tun. Das Jugendamt musste informiert und vom Kinderarzt eine Einschätzung über Joshuas Flugtauglichkeit eingeholt werden. Marco besorgte einen Rollkoffer, ein Tragetuch, - mittlerweile wog sein Neffe sechs Kilo, also zu viel, um ihn ständig auf dem Arm zu haben - sowie diverses andere Zeug, das man für einen Kurztrip benötigte. Den meisten Platz nahm Joshuas Kram ein. Schon krass, was so kleine Kerle alles brauchten. Marco musste sich arg beschränken, was seine Sachen betraf. Da er kein eitler Typ war, kratzte ihn das nicht.

Zwei Wochen später, an einem Freitagmorgen, brach Marco mit Joshua zum Flughafen auf. Schon vorher war ihm aufgefallen, dass er die Blicke weiblicher Passanten auf sich zog, wenn er seinen Neffen bei sich hatte. Nun, wo sie offensichtlich zu zweit verreisten, war es noch extremer. Die Frauen im Zugabteil hatten regelrecht Herzchen in den Augen.

Eine sprach ihn sogar an: „Sie haben aber einen süßen Sohn. Wo soll es denn hingehen?“

„Nicht wahr? Wir fahren zu seiner Mutter“, erwiderte er, woraufhin die Dame ihn nicht weiter belästigte.

Joshua erwies sich als äußerst flugtauglich. Weder der Start noch die Landung erzeugten bei dem Goldjungen irgendwelche panischen Reaktionen. Währenddessen unterhielt er mit seinem Gebrabbel Marcos Sitznachbarn oder träumte friedlich vor sich hin.

Am Stockholmer Flughafen gönnte sich Marco den Luxus, ein Taxi zu nehmen. Zuvor hatte er recherchiert, wie man am besten zu ihrer Unterkunft kam und entschieden, dass die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln indiskutabel war. Damit wären sie fast so lange unterwegs, wie der gesamte Flug gedauert hatte.

Nach einer halben Stunde hielt das Taxi vor ihrem Urlaubsdomizil, einem gemütlich wirkendem Haus mit Holzfassade. Marco entrichtete den Fahrpreis und gab ein großzügiges Trinkgeld, woraufhin der Chauffeur sein Gepäck bis ins Foyer brachte.

„Ha en vacker semester.” Der Mann grinste Joshua an. „Ha kul med din far.”

Vacker Semester? Vermutlich hieß das Urlaub. „Vielen Dank.“

Daaa!“, meldete sich Joshua lautstark zu Wort, griff mit einer Hand in seinen Bart und wedelte mit dem anderen Arm.

Weiterhin schmunzelnd marschierte der Taxifahrer davon. Marco näherte sich der Rezeption, wobei er vorsichtig Joshuas Fingerchen aus seinem Vollbart löste. Vielleicht sollte er das Kraut abrasieren. Joshua schien es zwar zu lieben, aber allmählich war Marco es leid.

In ihrem Zimmer setzte er seinen Neffen auf dem Doppelbett ab und checkte den Raum auf Gefahrenquellen. Inzwischen war ihm die Vaterrolle in Fleisch und Blut übergegangen. Joshua kam immer an erster Stelle.

Nachdem er eine hohe Bodenvase auf den Balkon verbannt hatte, war er zufrieden. Joshua erkundete derweil rollenderweise das Bett. Kurz bevor sein Neffe über den Rand fallen konnte, nahm er ihn wieder auf den Arm.

„Zeit für eine Windel“, stellte er fest, als ihm eine strenge Geruchsnote in die Nase stieg.

Als das erledigt sowie der Inhalt eines Fläschchens in Joshua verschwunden war, setzte er sich vors Notebook und holte den Stadtplan Gröndals auf den Bildschirm. Zu Fuß waren es ungefähr zehn Minuten bis zu Tjures Adresse. Marco beschloss, gegen vier dort vorstellig zu werden. Er gesellte sich zu dem schlafenden Joshua aufs Bett.

 

Im Prinzip unterschied sich Stockholm nicht sonderlich von Hamburg, mit den Mietskasernen und vielen leerstehenden Läden. Wären die Schilder in fremder Sprache nicht, hätte er sich fast zu Hause gefühlt.

Tjures Adresse lag am Ende einer Anliegerstraße. Problemlos gelangte Marco durch die Gartenpforte aufs Grundstück. Während er aufs Haus zuschritt, guckte er sich aufmerksam um. Entweder war Tjure Hobbygärtner oder beschäftigte Fachpersonal, denn alles war akribisch gepflegt.

Auf sein Läuten hin geschah nichts. Wahrscheinlich war Tjure noch auf der Arbeit. Sofern er Schichtdienst hatte, könnten alle weiteren Versuche genauso im Sande verlaufen. Marco zückte sein Smartphone, setzte sich auf die Bank an der Hausvorderseite und wählte Tjures Nummer. Da er fest damit gerechnet hatte, auf die Mailbox umgeleitet zu werden, schrak er zusammen, als stattdessen eine echte Stimme erklang: „Nilsson.“

„Ja, hallo ... ähm ...“, stammelte er perplex, atmete tief durch und begann von neuem: „Hallo, mein Name ist Marco Schwerdtfeger. Ich bin der Bruder von Laura.“

„Laura? Ach ja. Geht’s ihr gut?“

„Eher weniger. Ich würde das gern persönlich mit Ihnen besprechen.“

„Zurzeit bin ich nicht in Hamburg.“

„Deshalb bin ich in Stockholm, genauer gesagt vor Ihrem Haus.“

Einen Moment herrschte Stille, dann vernahm wer wieder Tjures Organ: „In einer halben Stunde bin ich da. Eher schaffe ich es nicht.“

„Wunderbar. Ich warte so lange.“

Wortlos legte Tjure auf. Marco steckte sein Handy zurück in die Hosentasche, stand auf und ging zurück zur Gartenpforte. Gemächlich schlenderte er runter zum Flußufer. Oder nannte sich das hier anders? Fjordufer vielleicht?

Joshua, der bisher brav an seiner Brust gelegen hatte, begann zu zappeln. Verständlich. Marco hätte auch keinen Bock, festgeschnürt so viel Zeit zu verbringen. Er nahm auf einer Bank Platz, befreite Joshua aus dem Tragegurt und setzte ihn auf seinen Schoß.

„Na, schon aufgeregt? Gleich sehen wir deinen Papa“, plauderte er, wobei er durch Joshuas weiches, blondes Haar kraulte.

Sein Schatz strahlte ihn an.

„Du freust dich also?“, resümierte Marco. „Seine Stimme klingt schon mal nett. Wenn er dir ähnlich sieht, ist er ein unheimlich attraktiver Typ.“

Joshua verzog die Miene, als ob er sich konzentrieren müsste. Oh-oh! Meist bedeutete das einen dicken Klops in die Windel. Kaum war der Gedanke zu Ende gebracht, begann Joshua kläglich zu wimmern.

„Ach du grüne Neune! Ich kann dich doch nicht hier windeln.“ Marco schaute sich um. Es war nicht sonderlich belebt, aber für seinen Geschmack zu viele Leute unterwegs, Joshuas Geschäft zu beseitigen.

Kurzerhand packte er seinen Schatz wieder in das Tragetuch und begab sich zurück zu Tjures Grundstück. Auf der Bank, auf der er vorhin gesessen hatte, legte er Joshua ab und stellte die Windeltasche daneben. Ohne ging er nie mehr aus dem Haus, seit mal ein Malheur geschehen war.

„Musstest du ausgerechnet jetzt pupsen?“, fragte er Joshua, wobei er ihn aus der Wolljacke - ein Designermodell - schälte.

Sein Neffe jammerte zahnlos vor sich hin.

„Ja, ja, ich weiß, dumme Frage. Wenn einer quer liegt, dann muss er raus“, laberte Marco weiter und befreite Joshua aus dem Strampler.

Eine strenge Duftnote schlug ihm entgegen. Unglaublich, was der Junge für Stinkbolzen produzierte. Seufzend fischte er Feuchttücher aus der Windeltasche und begann, den braunen Popo zu säubern. Er war so konzentriert auf sein Tun, dass er einen gelinden Schock erlitt, als ihn jemand von hinten ansprach: „Hallo Marco.“

Er atmete tief durch, blickte über die Schulter und verlor angesichts des blonden Halbgottes erneut die Sprache.

„Süßer Junge“, meinte Tjure und grinste Joshua, der das Wimmern eingestellt hatte, an. „Dein Sohn?“

„Nein, deiner“, platzte Marco heraus und hätte sich im nächsten Moment am liebsten die Zunge abgebissen.

Tjure guckte so verdattert wie ein Mondkalb. Marco beeilte sich, Joshua eine frische Windel zu verpassen. Die vollgeschissene legte er neben die Tasche und zog seinen Neffen wieder an.

„Hab ich das richtig verstanden?“, erkundigte sich Tjure.

„Sorry. Eigentlich wollte ich dir das schonend beibringen.“

Kritisch beäugte Tjure Joshua, der ein Sonnenscheinlächeln aufgesetzt hatte. „Wie alt ist der Bursche?“

„Fast sechs Monate.“

Marco konnte förmlich sehen, wie es in Tjures Schädel ratterte. Offenbar rechnete er aus, wann Joshua gezeugt worden war. Schließlich hakte er nach: „Woher soll ich wissen, dass du mich nicht anlügst? Wo ist überhaupt Laura?“

Anscheinend sah man ihm an, dass der Verlust weiterhin schmerzte, denn Tjures Gesichtszüge wurden etwas weicher. „Verstehe. Wie ist es passiert?“

„Ein Drogenunfall.“

„Mein Beileid.“ Erneut musterte Tjure Joshua. „War sie schon abhängig, bevor der Kleine zur Welt kam?“

„Laura war nicht abhängig! Ich gehe davon aus, dass sie nur ein bisschen experimentiert hat und unglaubliches Pech hatte.“

„Gesund sieht der Junge jedenfalls aus.“ Tjure klapperte mit einem Schlüsselbund. „Kommt mit rein. Wir können bei einem Kaffee weiterreden.“

Das Geklimper erregte Joshuas Aufmerksamkeit. Wie gebannt starrte er den Schlüsselbund an und stieß hervor: „Da!

„Nein, das ist kein Spielzeug“, belehrte Tjure ihn in sanfter Tonlage.

Da-da!“, beharrte Joshua und machte Anstalten, fuchsig zu werden.

Marco verdrehte die Augen. Sein Neffe konnte sehr anstrengend werden, wenn er etwas wollte. Er kramte eine Rassel aus der Windeltasche, die er Joshua zeigte. Ein Stirnrunzeln war die Folge, dann griff der Bursche zu.

Ihr Einzug ins Haus wurde von vehementem Rasseln begleitet. Das Gebäude wirkte, mit der weißen, hohen Front, von außen imposant, innen war es gemütlich. Gestreifte Tapeten in Pastelltönen, halbhoch getäfelte Wände. Es überwog gelb, hellgrün und weiß. Der Boden bestand aus blanken Dielen.

„Oder möchtest du was anderes trinken?“, fragte Tjure. „Wasser? Tee? Apfelsaft?“

„Nein. Kaffee, bitte. Kann ich die Windel irgendwo entsorgen?“

Tjure führte ihn in die Küche, einem Palast im Vergleich zu seinem winzigen Raum. Ein dreiteiliger Abfallsammler befand sich unter der Spüle. Marco warf die volle Windel in den grauen Behälter. Im nächsten Moment flog die Rassel auf den Fußboden. Joshua schnappte sich an deren Stelle seinen Bart und fing an, daran zu ziehen.

Während er versuchte, die Fingerchen aus dem Kraut zu lösen, hob Tjure die Rassel auf und legte sie auf die Arbeitsplatte. Anschließend beschäftigte sich sein Gastgeber wieder mit dem Kaffeeautomaten. Ein ohrenbetäubender Lärm erfüllte die Küche, was Joshua dermaßen ablenkte, dass Marco seinen Bart aus den kleinen Krallen befreien konnte.

Geh doch schon mal ins Wohnzimmer!“, rief Tjure über den Lärm hinweg.

Nur allzu gern nahm er die Einladung an. Das Wohnzimmer erstrahlte ebenfalls im skandinavischen Flair. Unter dem Esstisch sowie in der Couchecke lagen bunte Teppiche. Ein Kamin mit weißer Umrandung zog Marcos Blick an. War der echt?

Gah!“, krähte Joshua und begann, wild zu zappeln.

Marco begab sich zur Couch, ließ sich nieder und hob seinen Neffen aus dem Tragetuch. Kaum saß Joshua auf seinem Schoß, hörte das Herumgerudere auf. Mit großen Augen studierte er die Umgebung. Es schien ihm zu gefallen, denn er schnaufte und lehnte sich gegen Marcos Brust, als wollte er sagen: Hier ist es in Ordnung, hier kann ich mich entspannen.

 

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2020

Alle Rechte vorbehalten

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