Dr. Thomas Hagenow, Zahnarzt, hat vor einigen Jahren seine Frau verloren. Seit seine Tochter ausgezogen ist, besteht sein Leben aus essen, trinken, arbeiten und schlafen. Am Heiligabend klingelt ein Nachbar, der Zahnschmerzen hat, bei ihm. Daraus entwickelt sich eine Weihnachtsnotgemeinschaft, die Thomas‘ eintönigem Dasein mehr Farbe verleiht.
Laut Wettervorhersage sollte es schneien. Thomas guckte aus dem Fenster und stellte fest, dass man sich mal wieder geirrt hatte. Strahlend blauer Himmel bei Temperaturen um fünf Grad. Selbst wenn Wolken aufzogen, würde die weiße Pracht schmelzen, noch bevor sie den Boden erreichte. Na ja, davon, dass das Zeug liegenblieb, hatte ja auch keiner gesprochen.
Seufzend guckte er auf die Uhr. Halb zwölf. Seine Sprechstunde dauerte noch dreißig Minuten. Vier feste Termine und zwei Notfälle hatte er verarztet und seine Assistentin Monika bereits nach Hause geschickt. Es würde sich wohl kaum, so kurz vorm Fest, am Vormittag des Heiligabends, ein weiterer Patient zu ihm verirren.
Erfahrungsgemäß bekam man erst Zahnschmerzen, wenn alle Praxen geschlossen hatten, also am Wochenende oder an Feiertagen. Woran das lag, entzog sich seiner Kenntnis. Thomas kannte dieses Phänomen selbst. Vielleicht lauerte ein fauler Zahn nur darauf, dass man sich entspannte, um sich zu Wort zu melden? Über die Psyche des Gebisses gab es noch keine Forschungen, weshalb sich leider kein Nachschlagewerk anbot, um seinen Wissensdurst zu stillen.
Er betrachtete den künstlichen Weihnachtsbaum, den Monika in seinem Sprechzimmer aufgestellt hatte. Sie war für jahreszeitliche Deo zuständig. Im Frühjahr, zur Osterzeit, tummelten sich in dem Raum Plastikhasen mit Kiepen auf dem Rücken, im Herbst künstliche Kürbisse. Thomas mochte den Sommer, wenn kein unnützer Krempel herumstand. Leider war der immer viel zu kurz.
Seine verstorbene Frau - Karola war nur 40 geworden, als sie einem tückischen Blutkrebs erlag - hatte ihr Heim auch stets dekoriert. Seit ihrem Tod sah Thomas‘ zu Hause immer gleich aus. Er mochte das. Den ganzen Tand aus Kunststoff hatte er schon immer gehasst und nur Karola zuliebe ertragen.
Glücklicherweise hatte ihre Tochter Griseldis dieses Faible nicht geerbt. Sie kam sowieso eher nach ihm als nach Karola. Die gleichen braunen Augen und Haare, ein ähnlich trockener Humor und die Vorliebe fürs Handwerk. Nur lebte sie ihr Talent anderweitig aus, nämlich am Theater. Griseldis, gelernte Tischlerin, arbeitete in Köln als Bühnenbildnerin.
Thomas verließ den Behandlungsraum, um sich in seinem Büro hintern Schreibtisch zu setzen. Auch dort hatte sich Monika ausgetobt und einen Plastikweihnachtsbaum installiert. Zusätzlich standen auf der Fensterbank scheußliche Wichtel mit Weihnachtsmützen. Damit er in das Ambiente passte, hatte sie ihm auch solche Mütze geschenkt. Eigentlich würde er das Ding nicht mal mit spitzen Fingern anfassen, doch in einem Anfall von Galgenhumor stülpte er es sich über den Kopf. Garantiert sah er damit dämlich aus.
Zwanzig vor zwölf. Abermals seufzend ließ er sich gegen die Sessellehne sinken. Leider erwartete ihn zu Hause die gleiche Ödnis, wie sie in der Praxis herrschte. Seit Griseldis vor anderthalb Jahren ausgezogen war, kam ihm sein Heim viel zu groß und viel zu leer vor. Was sollte er allein mit 120 Quadratmetern?
Entschlossen verdrängte er die trüben Gedanken, setzte sich gerade hin und öffnete eine Patience. In letzter Zeit vertrieb er sich die Zeit häufig mit solchen Spielen.
Als er das nächste Mal auf die Uhr guckte, war es Viertelnach. Er fuhr den Computer runter, hängte seinen Arztkittel über die Stuhllehne, schloss die Vordertür ab und begab sich durch die Verbindungstür in sein Heim. Praktischerweise lag die Praxis im vorderen Bereich seines Eigenheims.
Als Griseldis noch klein war, hatte sie oft in der Anmeldung oder seinem Büro gesessen, wenn Karola etwas erledigen musste. Später, im Teenageralter, hatte sie manchmal bei den Abrechnungen geholfen oder das Telefon angenommen.
Als hätte er telepathisch Verbindung aufgenommen, vibrierte sein Handy. Er fischte es aus seiner Brusttasche und betrachtete lächelnd Griseldis‘ Konterfei auf dem Display.
„Hallo Schatz“, nahm er das Gespräch an.
„Na, Papa, wie ist es so bei dir?“
„Wie immer: Ruhig.“
„Macht es dir echt nichts aus, wenn ich erst übermorgen komme?“
„Natürlich nicht. Feier schön mit deinen Freunden.“ Griseldis wollte mit einigen Leuten vom Theater zu einer After-Christmas-Party gehen.
„Na gut. Aber wenn du einsam bist, ruf mich an“, bat sie.
„Mach ich“, versprach er in dem Wissen, dass er es nicht tun würde.
„Wir sehen uns dann übermorgen. Hab dich lieb.“
„Ich dich auch. Tschüss, mein Schatz.“ Als er das Smartphone sinken ließ fiel ihm auf, dass er immer noch die dämliche Mütze trug. Er zog sie sich vom Kopf und warf sie auf die Garderobe.
Mit einem Imbiss, bestehend aus Käse auf Schwarzbrot, machte er es sich auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich. Wie jeden Tag studierte er die Zeitung und löste das Kreuzworträtsel auf Seite sieben.
„Stadt in Italien mit vier Buchstaben“, murmelte er, wobei er mit dem Kuli gegen sein Kinn tippte. „Pisa?“
Pisa passte, womit das Blutgefäß eine Ader und keine Vene war. Er kritzelte auf dem Papier herum und ärgerte sich, keinen Bleistift benutzt zu haben. Griseldis würde ihm einen Vogel zeigen und anmerken, dass man im Internet zuhauf Kreuzworträtsel fand, für die man weder Kuli noch Bleistift brauchte.
Das unerwartete Läuten der Türglocke ließ ihn zusammenzucken. Er legte den Kuli beiseite, stand auf und ging nachsehen, wer ihn heimsuchte.
Vor der Tür stand ein Mann, den er vom Sehen kannte. Der Typ wohnte in einem der Reihenhäuser weiter unten in der Straße.
„Hallo. Was kann ich für Sie tun?“ Dumme Frage. Der Mann presste eine Hand gegen die Wange, also dürfte es sich um Zahnschmerzen handeln.
„Tschuldigung, dass ich störe. Ich weiß, die Sprechstunde ist vorbei, aber könnten Sie trotzdem mal gucken?“
„Natürlich. Gehen Sie bitte zum Vordereingang der Praxis. Ich lass Sie gleich rein.“ Thomas schloss die Tür und wusch sich rasch die Hände, bevor er rüberging.
„Haben Sie Ihre Krankenkassenkarte dabei?“, erkundigte er sich, als der Mann in die Anmeldung trat.
„Klar.“
Während der Typ eine Börse zückte, schloss er die Tür wieder ab und ging hinter den Tresen. Als er die Karte durchs Lesegerät zog, wusste er endlich den Namen seines Besuchers: Peter Schmidt.
„Sie können schon in den Behandlungsraum gehen“, bat er. „Ich bin gleich bei Ihnen.“
Sein Patient schlurfte davon. Flink studierte Thomas die Daten. Schmidt war 42 und wohnte in der Hausnummer 10. Wenn er sich recht erinnerte war es das Eckhaus, über das Karola oft gesagt hatte, es sähe dort aus wie bei den Hottentotten. Für seine Gattin galten Fenster ohne weiße Stores und ungepflegte Gärten als Anzeichen von drohender Verlotterung.
In seinem Büro schlüpfte er in den Arztkittel und nahm einen frischen Mund-Nasen-Schutz aus der Schublade. Schmidt saß bereits auf dem Behandlungsstuhl, die Augen geschlossen und mit einer Miene, die von heftigen Schmerzen kündete.
„Wann hat es denn angefangen?“, wollte Thomas wissen, wobei er Schmidt ein Papierlätzchen umband.
„Letzte Woche. Ich dachte aber, es geht wieder weg. Zwischendurch war es nicht so schlimm.“
Er ließ sich auf seinem Rollhocker nieder, fuhr den Behandlungsstuhl in die Horizontale und zog die Lampe heran. Brav sperrte Schmidt den Mund auf, als er sich mit Besteck bewaffnet über ihn beugte.
Auf den ersten Blick erkannte er das Problem. Im Bereich der Backenzähne hatte sich ein Abszess gebildet. Er öffnete die Blase mit einem winzigen Schnitt und griff nach dem Absauger. Anschließend kontrollierte er die Tiefe der Zahnfleischtaschen. Da bestand Handlungsbedarf.
Während er eine aseptische Spülung der Wunde vornahm, ließ er den Absauger in Schmidts Mund hängen. Mehr konnte er vorläufig nicht tun. An Schmidts etwas entspannterem Gesichtsausdruck erkannte er, dass der schlimmste Schmerz bereits verschwunden war.
„So, das war’s“, verkündete er, schob die Lampe beiseite und ließ die Behandlungsstuhllehne in die Senkrechte fahren. „Für weitere Maßnahmen melden Sie bitte sich nach den Feiertagen. Wir sollten eine Parodontose-Behandlung vornehmen, aber vorher brauche ich die Kostenzusage Ihrer Krankenkasse.“
Schmidt spülte sich den Mund aus, tupfte sich die Lippen mit dem Lätzchen ab und lächelte ihm kläglich zu. „So schlimm?“
„Sowas kommt in den besten Familien vor“, scherzte Thomas. „Ich fülle schon mal den Antrag aus.“
In der Anmeldung setzte er sich hinter den Tresen. Das Formular war reine Routine. Meist machte das zwar Monika, doch er bestand darauf, jeden Verwaltungsakt auch selbst zu beherrschen. Schließlich war sie nicht ständig da oder könnte mal länger ausfallen.
Schmidt tauchte vorm Tresen auf. „Sorry nochmal, dass ich Sie gestört habe. Gruß auch an Ihre Frau und Tochter.“
„Mhm“, machte Thomas, auf den Monitor konzentriert. Im nächsten Moment schaute er irritiert hoch. „Woher wissen Sie ...?“
„Ich hab ein gutes Gedächtnis.“
Wie peinlich! Er hatte ja noch nicht mal gewusst, wo Schmidt genau wohnte. „Meine Tochter ist ausgezogen und meine Frau verstorben. Sie haben also nicht gestört.“
„Oh! Mein Beileid.“
„Ist schon ein paar Jahre her.“ Er guckte wieder auf den Bildschirm.
„Manches verjährt nie.“
Darauf erwiderte er lieber nichts. Ehrlich gesagt war ihre Ehe am Ende gewesen. Ohne die Krankheit wäre es auf eine Scheidung hinausgelaufen. Karola hatte die Schnauze voll von seiner lauwarmen Zuneigung und von Trennung geredet, kurz bevor sie ihre Diagnose erhielt. Danach war davon keine Rede mehr. Natürlich nicht. Im Gegenteil: Karola hatte sich auf ihn gestützt und dankbar seine Fürsorge angenommen. In ihren letzten Lebenswochen waren sie sich näher gewesen als in all den Jahren davor. Eines hatte er ihr dennoch in dieser Zeit nicht verraten: Dass er mehr dem eigenen als dem schönen Geschlecht zugeneigt war. Das mochte er sich selbst ja kaum eingestehen.
Thomas druckte den Antrag aus, legte ihn auf den Tresen und einen Kuli daneben. „Bitte unterschreiben Sie unten rechts.“
Schmidt gehorchte. „Dann verbringen Sie den Heiligabend allein?“
Er zuckte mit den Achseln. „Sieht so aus.“
„Das sollte niemand, vor allem nicht nach solchem Verlust.“
„Ach.“ Thomas winkte ab. „Mir bedeutet der Tag nichts.“
„Darum stehen bei Ihnen auch überall Weihnachtssachen herum.“ Schmidt reichte ihm Formular und Kuli zurück.
„Die Schuld meiner Mitarbeiterin.“ Er legte das Dokument auf den Scanner. „Möchten Sie eine Kopie?“
„Danke, nein.“
Während das Gerät leise summte entstand Schweigen. Schmidts Blick war in die Ferne gerichtet, daher erlaubte sich Thomas eine kurze Bestandsaufnahme. Äußerlich schrie alles an dem Mann Öko: Die langen Haare, die zu einem Zopf gebunden waren, der bunte Pullover und die lila Jeans. Dazu passten der verwilderte Garten und die fehlenden Gardinen. Moment! Du denkst ja wie Karola!, ermahnte er sich im Geiste.
„Tja, also ...“ Schmidt klopfte auf den Tresen. „Nochmals vielen Dank. Und schöne Weihnachten.“
„Gleichfalls.“
Nach dem Intermezzo in der Praxis kam Thomas sein Heim noch leerer vor. Er bereitete sich einen Kaffee aus Intantpulver zu, mit dem er sich wieder vors Kreuzworträtsel setzte.
Im Grunde waren die Dinger doch sterbenslangweilig. Die Fragen waren immer die gleichen und der Preis, der dem Einsender der richtigen Lösung blühte, völlig uninteressant. Aktuell gab es ein Wellness-Wochenende für zwei Personen in Bergisch Gladbach zu gewinnen. Was sollte er damit? Griseldis würde ihn keinesfalls begleiten, was er ihr nicht verdenken konnte. Wellness ... das wäre etwas für Karola gewesen.
Seufzend schlug er die Zeitung zu und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Vieles von dem Tand, den Karola aufgestellt hatte, war im Mülleimer gelandet. Einige Stücke hatte er stehenlassen, weil es sonst zu kahl aussähe. War der Zeitpunkt gekommen, um sich vollkommen neu einzurichten? Auch die Buchen-Möbel hatte Karola ausgesucht. Das helle Holz erinnerte Thomas an den Kindergarten. Er fand es damals schon zu nüchtern.
Von Unruhe getrieben sprang er auf und begann, durch die Räume zu wandern. Auch im Schlafzimmer herrschte Buche vor. Der sechstürige Kleiderschrank mit den verspiegelten Türen - ein Monstrum, von dem er mit seinem Kram nur ein Viertel nutzte. Den Rest hatten Karolas Sachen und Bett- sowie Tischwäsche belegt.
Das ehemalige Kinderzimmer. Griseldis hatte kaum etwas daraus mitgenommen. Auf dem Regal über dem Bett saßen in Reih und Glied ihre Puppen und Stofftiere. Auf der Fensterbank: Eine vertrocknete Zimmerpflanze. Thomas besaß keinen grünen Daumen. Er nahm den Topf mit, als er in den nächsten Raum ging.
Das Gästezimmer war mit einer Schlafcouch, Nachttisch, einem zweitürigen Kleiderschrank und einem Stuhl möbliert. Wann hatte hier das letzte Mal jemand genächtigt? Seit Karolas Tod jedenfalls niemand. Davor war ab und zu eine ihrer Freundinnen über Nacht geblieben. Da Thomas zu keiner von ihnen ein herzliches Verhältnis gepflegt hatte, existierten diese Kontakte nicht mehr.
Er brachte die Zimmerpflanze auf die Terrasse. Erstaunt bemerkte er, dass die Temperatur erheblich gesunken war. Außerdem hatte es angefangen zu schneien. Dicke Flocken fielen dicht an dicht vom Himmel.
Einige Momente stand er da und bestaunte das Naturschauspiel. Schnee war in Hamburg überaus selten. Wenn es nach ihm ginge, bräuchte es gar keinen geben. Als Grundstücksbesitzer verpflichtete ihn das Zeug dazu, die angrenzenden Gehwege zu räumen und zu streuen. Apropos: Wie war es um seine Streusalzvorräte bestellt?
In der Garage befand sich ein Sack davon. Wann er den gekauft hatte, wusste er nicht mehr. Er ging zurück ins Haus und nahm seine Wanderung wieder auf. Im Grunde gefiel ihm Griseldis‘ Zimmer am besten. Der Rest strahlte Kälte aus. War das schon immer so gewesen?
Der Rest Kaffee war inzwischen kalt. Thomas bereitete einen neuen zu, mit dem er sich vors Fenster im Wohnzimmer stellte. Der Garten war sein Revier. Lediglich die Blumentöpfe auf der Terrasse hatte Karola stets bepflanzt. Sein ganzer Stolz war ein Buchsbaum, den er in Form eines Teddys geschnitten hatte. Na gut, man erkannte kaum, dass es einer sein sollte, doch wenn man es wusste ... Vergiss es! An dir ist kein Gärtner verlorengegangen.
Seufzend wandte er sich ab, stellte seinen Becher auf den Couchtisch und holte sein Notebook. Als er Peter Schmidt Hamburg in die Suchmaschine eintippte, erschienen etliche Treffer auf dem Monitor. Natürlich. Der Name war ja nicht gerade originell. Er wechselte zur Bildersuche und siehe da: Sein Nachbar lächelte ihm von einem der Fotos entgegen.
„Schmidt Biokost-Vertrieb“, las er halblaut.
Der Link unter dem Bild führte ihn zu der entsprechenden Homepage. Es sah so aus, als ob Schmidt von daheim einen Versandhandel betrieb. Jedenfalls war die Geschäftsadresse identische mit der privaten. Wie machte er denn das mit dem Lager? Etwa in der Garage?
Nachdenklich nippte Thomas an seinem Kaffee. Konnte man von sowas leben? Gingen Biokost-Kunden nicht lieber in einen Biomarkt, anstatt im Internet zu kaufen? Die Antworten könnte ihm nur Schmidt geben. Sollte er mal hingehen und fragen? Idiot! Es ist Heiligabend! Da wird Schmidt mit seiner Familie beschäftigt sein. Außerdem fragt man sowas nicht.
Er klappte den Deckel des Notebooks zu, griff nach der Fernbedienung und zappte ein bisschen herum. Vergeblich. Keine Sendung, nicht mal die unweihnachtlichen, vermochte es, ihn zu fesseln.
Draußen schneite es weiterhin. Der Rasen war mittlerweile unter einer weißen Schicht verschwunden. Wenn der Gehweg auch so aussah wurde es Zeit, dass er seiner Pflicht nachkam.
Warm angezogen begab er sich zur Garage, um einen Besen zu holen. Derart ausgerüstet fing er an, den Gehweg vom Schnee zu befreien. Selbst solche dünne Schicht war gefährlich. Falls jemand darauf ausrutschte, würde man ihn dafür verklagen.
Inzwischen dämmerte es. Im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnte ein Weihnachtsmuffel. Dort war alles dunkel, bis auf ein schwach erleuchtetes Fenster. Daneben wohnte ein Weihnachtsjunkie. Das ganze Gebäude war mit Lichterketten versehen, genau wie jeder Baum und Strauch. Auf dem Dach befand sich ein Schlitten, gezogen von sechs Rentieren. Das Teil fand Thomas besonders scheußlich, wobei es neben dem anderen Kitsch kaum noch ins Gewicht fiel.
Nachdem er vor seinem Grundstück gefegt hatte, tat er das gleiche vorm Nachbarhaus. Einmal dabei, entfernte er auch den Schnee - na gut, eher Puderzucker - vom Bürgersteig für das daneben liegende Haus und jenes, das danach kam. Da er noch genug Energie hatte führte er sein Tun fort, bis er Schmidts Reihenhaus erreichte.
Während er mit dem Besen hantierte, guckte er aus dem Augenwinkel in den Garten. Kraut und Rüben. Die Büsche waren nicht geschnitten, die Rabatten ebenfalls. An einem verkrüppelten Apfelbaum hingen ein paar winzige Äpfel. Neben der Garage stapelten sich Holzkisten, vermutlich von Warenlieferungen. Im Fenster, das der Straße zugewandt war, brannte Licht. Bestimmt handelte es sich um die Küche. Reihenhäuser waren ja alle ähnlich geschnitten.
Plötzlich tauchte Schmidt in seinem Sichtfeld auf. Erschrocken stellte Thomas fest, dass er unverblümt das Haus anglotzte und wandte sich schnell ab, doch zu spät: Schmidt trat ans Fenster und winkte ihm zu. Mist! Nun stand er als Spanner da. Würde er den Gruß nicht erwidern, stünde er auch noch als unhöfliche da, also hob er ebenfalls die Hand.
Schmidt verschwand, um in der Haustür wieder aufzutauchen. „Hallo Doktor. Das ist aber lieb, dass Sie bei mir fegen.“
„Ach, nicht der Rede wert. Ich war gerade dabei und da dachte ich ...“ Er zuckte mit den Achseln.
„Darf ich mich mit einem Punsch bei Ihnen bedanken?“
Ein kühles Bier wäre ihm lieber. Von der Arbeit war ihm ziemlich warm geworden. „Sehr gern.“
„Dann kommen Sie rein.“ Schmidt machte eine einladende Handbewegung und trat zurück.
Vor der Tür lehnte Thomas den Besen gegen die Wand, putzte seine Schuhe auf der Matte ab und folgte Schmidt ins Haus. Wie vermutet befand sich rechts die Küche, links ein Gäste-WC. Von außen wirkte das Gebäude klein, von innen erstaunlich geräumig.
„Hübsch haben Sie es“, merkte er an, wobei er skeptisch einen räudigen Flickenläufer, der auf den Fliesen lag, beäugte.
„Danke. Schauen Sie sich ruhig um. Ich kümmere mich um den Punsch.“ Schmidt ging in die Küche.
Geradeaus lag das Wohnzimmer, von dem man auf die Terrasse blickte. Auch dort stapelten sich Holzkisten. Thomas guckte sich um. Der Raum war gemütlich eingerichtet, aber für seinen Geschmack zu vollgestopft. Eine Dreisitzer-Couch, ein Zweisitzer und drei Sessel gruppierten sich um einen niedrigen Tisch. Vorm Fenster stand ein Esstisch mit acht Stühlen. Eine Wand wurde von einem Regalsystem vereinnahmt, in dem Bücher, CDs, Schnickschnack, Fernseher und Musikanlage Platz fanden. An den restlichen Wänden hingen Bilder aller möglichen Stilrichtungen.
„Setzen Sie sich“, bat Schmidt, der zwei Becher hereinbalancierte. „Und ziehen Sie bitte Ihre Jacke aus.“
Thomas gehorchte, ließ sich auf dem Zweisitzer nieder und legte die Jacke neben sich aufs Polster. Mit einem gemurmelten „Danke“ nahm er einen der Becher entgegen.
„Wie Sie sehen, ist bei mir kein Weihnachten.“ Schmidt ließ sich auf den Dreisitzer plumpsen. „Hier wäre auch gar kein Platz für einen Tannenbaum.“
„Wo ist denn Ihre Familie?“
Schmidt zog eine Grimasse. „Die ist vor einigen Monaten ausgezogen.“
„Oh!“ Mehr fiel ihm dazu nicht ein.
„Lasse hat leider einiges hiergelassen und anscheinend auch nicht vor, den Schei... ähm, Kram je abzuholen.“
„Lasse? Ihr Sohn?“
„Mein Ex.“
Thomas fiel die Kinnlade runter. Schmidt war schwul?
„Sorry. Ich hätte Sie schonend darauf vorbereiten sollen“, brummelte Schmidt grinsend.
„Unsinn. Wir leben schließlich im 21. Jahrhundert. Da sind fremd... öhm, alternative Lebensformen gang und gäbe.“
„Dafür gucken Sie aber ganz schön entsetzt.“
Erwischt! „Das ist nur die Überraschung. Ich hätte Sie niemals für ... ähm, für schwul gehalten.“
„Weil ich kein Schild auf der Stirn trage?“
„Ich fürchte, ich rede nur Stuss.“ Thomas seufzte. „Betrachten Sie mich als nicht zurechnungsfähig. Dieses Jahr geht mir Weihnachten echt an die Nieren.“
„Mir auch. Es ist das erste Mal seit fünf Jahren, dass ich allein bin.“ Schmidt nippte am Punsch.
Fünf Jahre hatte Schmidt mit diesem Lasse zusammen gelebt? Wieso war ihm das nie aufgefallen? Weil du blind durch die Gegend rennst, wenn du es denn überhaupt mal tust. Ein Nachteil seines kurzen Arbeitswegs war, dass er selten aus dem Haus kam. Vielleicht sollte er sich einen Hund anschaffen. Das würde ihn zwingen, dreimal täglich eine Runde zu laufen und dabei nachbarschaftliche Kontakte zu pflegen.
Er setzte ebenfalls den Becher an seine Lippen. Holla! Das Zeug schmeckte nach mehr. Nach einem weiteren Schluck fragte er: „Ist das Bio-Punsch?“
„Du hast wohl ... Sorry, dass ich einfach zum Du wechsle, aber das Sie ist mir einfach zu gestelzt. Ist das okay?“
Thomas nickte.
„Du hast wohl rausgefunden, womit ich handle, nicht wahr?“
Erneut nickte er.
„Generell teste ich alle Produkte, bevor ich sie in mein Programm aufnehme. Dieser Glühwein ...“ Peter hielt den Becher hoch. „... ist eine Gratisprobe. Wie findest du ihn?“
„Sehr schmackhaft. Eine würzige Note und süßlich im Abgang.“
Sein Gastgeber prustete leise. „Nette Umschreibung. Mir gefällt er auch.“
„Und du arbeitest von zu Hause aus?“
„Meistens. Ab und zu besuche ich Bioläden, um meine Produkte zu bewerben. Ich bin also Vertreter und Händler in einer Person.“
Es lag Thomas auf der Zunge zu fragen, ob sich das Geschäft lohnte, doch das schickte sich nicht. Es ging ihn auch nichts an. „Ich bin übrigens Thomas.“
„Angenehm. Peter.“ Selbiger prostete ihm zu.
In zwei Zügen leerte er seinen Becher. „Tja ... ich will dich nicht länger aufhalten.“
„Wovon? Davon, allein Trübsal zu blasen?“
Thomas, der schon Anstalten machte aufzustehen, ließ sich zurück aufs Polster plumpsen. „Wieso Trübsal?“
„War ein Scherz. Ich hab vor, einen Horrorfilmmarathon einzulegen, als Kontrastprogramm zu all dem besinnlichen Scheiß.“
„Wow! Das ist wirklich eine krasse Maßnahme.“
„Nicht wahr?“ Peter grinste ihn an. „Allerdings macht das allein weniger Spaß als zu zweit. Wie sieht’s aus? Bist du dabei?“
Horror war nun echt nicht Thomas‘ Filmgenre, andererseits die Aussicht auf sein leeres Heim genauso wenig berauschend. „Generell schon, aber muss es durchgehend Horror sein?“
„Wir können das Programm auch mischen. Mein Ex hat mir eine ganze Batterie Filme hinterlassen.“
„Das hört sich schon besser an.“
„Und dazu gibt’s Pizza. Ich hab vorhin, bevor ich bei dir aufgekreuzt bin, Teig vorbereitet.“
„Ach, wie geht’s überhaupt deinem Zahn?“
„Gut. Er muckt gar nicht mehr.“
„Ich möchte auch was beisteuern. Vielleicht Knabberkram? Ich hab Chips, Erdnüsse, Flips und Salzstangen im Angebot.“
„Prima! Hol alles her. Und bring Rutschesocken mit. Falls du keine hast, leih ich dir welche.“
Rutschesocken? Nein, sowas besaß er wirklich nicht, aber vielleicht hatte Griseldis ein Paar dagelassen. „Ist das echt okay für dich? Wir kennen uns doch kaum.“
„Heute sind wir uns doch schon ganz nahe gekommen. Du warst nur wenige Zentimeter von meinem Gebiss entfernt.“
So betrachtet stimmte das. „Wann soll es überhaupt losgehen?“
„Sofort? Ich sehe keinen Grund, nicht sofort anzufangen. Oder hast du noch was vor?“
Thomas schüttelte den Kopf. „Ich hol dann mal die Sachen.“
Auf halbem Weg fiel ihm ein, dass sein Besen noch an Peters Hauswand lehnte. Ach, denn konnte er später mitnehmen.
Daheim kramte er sämtliche Naschvorräte hervor und packte sie in einen Stoffbeutel. Auch die Flasche Sekt, die er extra für Heiligabend gekauft hatte, kam in den Beutel. Als er in Griseldis‘ Kleiderschrank nach Socken suchte merkte er, dass er gutgelaunt vor sich hin summte. Er hielt inne und überlegte, ob er einen Fehler beging. Was soll daran falsch sein, den Abend in netter Gesellschaft anstatt allein zu verbringen?, erkundigte sich sein Verstand. Es war auch eher eine Gefühlssache.
Thomas schlug die Bedenken in den Wind und wühlte weiter. Erstaunlich, was seine Tochter alles dagelassen hatte. Rosa Unterwäsche, einige Strumpfhosen in der gleichen Farbe und - Tadaaa! - Rutschesocken, leider ebenfalls pink. Dafür dürften sie ungefähr passen, denn Griseldis lebte auf großem Fuß. Sie trug Schuhgröße 42, er 44.
Die Socken stopfte er also zum Rest und begab sich auf den Rückweg.
In der Zeit, in der Thomas unterwegs war, bereitete Peter die Pizza vor. Er schnitt Tomaten, Zwiebeln, Champignons und Knoblauch und rieb Käse. Als weiteren Belag gab es Tofu, Lammsalami oder Sardinen zur Auswahl. Er würde von allem nehmen, aber vielleicht mochte Thomas etwas davon nicht.
Gerade entfernte er das Geschirrtuch, mit dem er den Hefeteig abgedeckt hatte, da ertönte die Türglocke. Er legte das Tuch wieder über die Schüssel und ließ Thomas herein. „Hilfst du mir bei der Pizza?“
„Natürlich. Ich bin nicht nur zum Essen hier“, erwiderte Thomas. „Nimmst du das schon mal?“
Mit dem prall gefüllten Stoffbeutel ging Peter zurück in die Küche. Ganz zuoberst lag ein rosa Bündel, das sich als Rutschesocken mit Herzchenmotiv entpuppte. Na, wer hätte gedacht, dass der liebe Doktor auf sowas stand? Schmunzelnd legte er die Socken beiseite und holte als nächstes eine Flasche Sekt hervor.
„Die ist leider nicht Bio“, entschuldigte sich Thomas in seinem Rücken.
Er drehte sich um. „Macht doch nichts.“
„Und die Socken sind von meiner Tochter.“
Entweder hatte Thomas‘ Tochter Riesenfüße oder es handelte sich um eine Ausrede. Peter war das egal. Beides fand er charmant. „Wenn du dich ausgezogen hast, können wir loslegen.“
Kaum waren die Worte raus ging ihm auf, wie doppeldeutig sie klangen. „Ich meine, wenn du Jacke und Stiefel ausgezogen hast“, besserte er eilig nach.
„Hab dich schon richtigverstanden“, entgegnete Thomas mit deutlicher Belustigung und entschwand in den Flur.
Peter räumte die restlichen Sachen aus dem Stoffbeutel, faltete diesen zusammen und legte ihn, zusammen mit den Socken, auf den Küchentisch. Anschließend nahm er das Geschirrtuch wieder vom Teig und holte ein Backblech aus dem Ofen.
Auf Strümpfen und ohne Mantel kehrte Thomas in die Küche zurück, nahm auf einem Stuhl Platz und streifte sich die rosa Rutschesocken über. Mit den Dingern an den Füßen wirkte der Doktor gleich weniger steif.
„Magst du irgendwas davon nicht?“, erkundigte sich Peter, wobei er auf die Auswahl Pizzabelag, die er auf dem Tisch aufgebaut hatte, wies.
„Hm ... also, Tofu muss nicht sein. Das Zeug ist wie alkoholfreies Bier: Der Magen freut sich auf Fleisch und bekommt nur ein Ersatzprodukt.“
Grinsend schüttelte Peter den Kopf über diese Begründung. „Aber der Rest ist okay?“
„Du darfst alles auf die Pizza packen. Ich esse, was auf den Tisch kommt.“
Erneut schüttelte er den Kopf, doch diesmal nur innerlich. Was war das denn für eine Einstellung? „Öffnest du bitte die Sardinenbüchse und schneidest die Salami klein?“
In einträchtigem Schweigen widmeten sie sich der Zubereitung ihres Abendessens. Aus der Dämmerung wurde Dunkelheit. Es hatte aufgehört zu schneien und die Temperatur war offenbar wieder gestiegen, denn von dem Weiß war kaum noch etwas übrig.
Gegen halb sechs schob Peter das Backblech in den Ofen und verkündete: „In ungefähr dreißig Minuten dürfte sie fertig sein.“
„Darf ich dein Bad benutzen?“, erkundigte sich Thomas.
„Klar. Wenn du duschen möchtest, findest du Handtücher ...“ „Ich meinte das Gäste-WC“, fiel Thomas ihm ins Wort.
Er feixte. „Ach so. Da steckt in der Bezeichnung doch schon die Erlaubnis drin.“
„Es ist trotzdem höflicher zu fragen.“
„Lass dich nicht von mir ärgern“, entgegnete er, zwinkerte Thomas zu und wandte sich zur Spüle, um seine Hände zu waschen.
Anschließend räumte er die Küche auf, wobei sich sein Gast wieder zu ihm gesellte. Es kam ihm immer noch wie ein Wunder vor, dass ausgerechnet Thomas ihm Gesellschaft leistete. Vorhin hatte er nämlich nicht den Eindruck gehabt, dass der Doktor sonderlich zugänglich wäre. Tja, so konnte man sich irren.
Im Irren war er sowieso ganz groß. Fünf Jahre hatte er geglaubt, mit Lasse und ihm stimmte alles. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass sein Partner schon lange unzufrieden war. Jedenfalls hatte Lasse das behauptet. Kurzerhand war das Arschloch mit Sack und Pack aus- und bei dem jüngeren Nebenbuhler eingezogen.
„Warum knirschst du mit den Zähnen?“, riss Thomas ihn aus seinen Erinnerungen.
„Sorry, hab ich gar nicht gemerkt.“
„Vielleicht sollten wir bei deinem nächsten Besuch in meiner Praxis einen Abdruck für eine Aufbissschiene machen.“
„Hilft die auch gegen Schnarchen?“
„Leider nicht. Wieso? Hast du damit Probleme?“
„Ich nicht, aber mein Ex.“ Peter warf den benutzten Putzlappen in die Spüle. „Aber der ist ja Geschichte.“
„Also hast du eben wegen ihm so verbissen geguckt?“
„Manches ist schwer zu verdauen. Wegen eines Jüngeren verlassen zu werden knabbert wohl bei jedem am Selbstbewusstsein.“ Seufzend zog er das Zopfgummi aus seinem Haar und befestigte es neu. „Wollen wir noch einen Punsch probieren?“
„Gute Idee.“
„Mach es dir ruhig schon im Wohnzimmer gemütlich.“
„Soll ich irgendetwas mitnehmen?“
Peter angelte ein Tablett von den Oberschränken, belud es mit dem Knabberkram und reichte es Thomas, der damit von dannen zuckelte.
Nachdem er einen Topf mit Punsch zum Erhitzen auf den Herd gestellt hatte, lehnte er sich, die Arme vor der Brust verschränkt, gegen die Arbeitsfläche. Sein Blick wanderte zum Fenster. Gegenüber, bei Familie Neumann, herrschte Festbeleuchtung. In der Küche sah er Silke mit einem der drei Kinder hantieren.
Er erinnerte sich daran wie Heiligabend früher, als seine Mutter noch lebte, verlief. Lange hatte sie ihm vorgemacht, es gäbe einen Weihnachtsmann. Selbst als er zu alt dafür war, zelebrierte sie die Bescherung weiterhin auf diese Weise: Um vier schickte sie Peter stets in sein Zimmer und ermahnte ihn dort zu bleiben, bis sie ihn rief. Rund zehn Minuten später holte sie ihn und behauptete, der Weihnachtsmann hätte seine Geschenke gebracht. Dabei lagerten die schon lange in ihrem Kleiderschrank, wie er bereits im Alter von sieben rausgefunden hatte.
Jedes Päckchen wurde vorsichtig ausgepackt. Schon früh hatte sie ihm beigebracht, das Papier nicht zu zerreißen. Es sollte wiederverwendet werden. Obwohl sie nur über ein schmales Budget verfügte, gab es stets einen ganzen Berg Geschenke. Darunter waren viele nützliche Sachen, wie Buntstifte oder ein neuer Füller. Seinen sehnlichsten Wunsch, einen neuen Vater, hatte sie ihm nie erfüllt. Sein Erzeuger war noch vor seiner Geburt abgehauen. Danach hatte sie nie wieder etwas mit einem Mann angefangen.
Blubbern lenkte seine Aufmerksamkeit zum Herd. Rasch stellte er die Platte aus und füllte den Punsch in zwei Becher. Der Geruch von Zimt und Vanille erfüllte die Küche. Von der würzigen Duftnote her schnitt dieser Glühwein schon mal besser ab als der andere, der ein bisschen nach Kaugummi gerochen hatte.
Im Wohnzimmer hockte Thomas vor den DVDs, die er vorhin auf den Couchtisch gestapelt hatte. „Na, ist was dabei, das dir gefällt?“
„Ich hab die harmloseren rausgesucht. Sowas ...“ Thomas hielt ein DVD hoch. „... kann ich nicht gucken. Davon bekomme ich Alpträume.“
Es handelte sich um Nightmare. „Den finde ich auch ziemlich gruselig.“ Er ließ sich neben Thomas nieder und stellte die Becher auf den Tisch.
Unter den harmlosen Filmen befand sich Die Klapperschlange von John Carpenter. Sie beschlossen, damit anzufangen.
Zwanzig Minuten später klingelte der Backofentimer. Eigentlich war Peter allergisch dagegen, vor der Glotze zu essen, doch an Heiligabend machte er eine Ausnahme.
Als der Abspann der Klapperschlange lief, brachte er die Reste - es war über die Hälfte übrig - in die Küche und kehrte mit der Flasche Sekt sowie zwei Gläsern zurück. „Stoßen wir auf Jesus‘ Geburt an?“
„Auf Jesus und auf meine Tochter. Griseldis ist das Beste, das mir je passiert ist.“
„Griseldis?“ Er setzte sich wieder neben Thomas. „Wie kommt sie mit dem Namen klar?“
„Inzwischen findet sie ihn cool. Als Kind hat sie oft geschimpft, dass sie anders heißen will.“
„Verständlich.“ Peter ließ den Korken knallen und füllte die Gläser.
„Das war Karolas Idee. Ich konnte es ihr nicht ausreden.“
„Eltern sind manchmal grausam.“ Er schob Thomas eine der Sektflöten zu. „Also: Auf Jesus und Griseldis.“
Sie stießen an. Nach dem süßen Punsch prickelte der kühle, trockene Tropfen angenehm auf der Zunge. Bei nächsten Film, Sleepy Hollow, öffneten sie eine Tüte Salzstangen.
„Johnny Depp ist ziemlich attraktiv“, murmelte Thomas, den Blick auf die Mattscheibe gerichtet.
Überrascht guckte Peter seinen Gast an. Normalerweise fiel Männern das Aussehen ihrer Geschlechtsgenossen nicht auf. Na gut, es gab Ausnahmen, doch generell stimmte das. „Ich finde Kurt Russel heißer.“
„Mhm. Der ist auch nicht übel.“
„Oder Jason Statham.“
Erneut brummelte Thomas zustimmend.
Es lag ihm auf der Zunge, weitere sexy Typen zu nennen, doch er ließ es bleiben. Schließlich wollte er seinen Gast nicht provozieren oder in Verlegenheit bringen. Es war ihm sowieso egal, wie Thomas tickte. Sie verbrachten lediglich einen Abend miteinander und danach würden sie sich wahrscheinlich erst wieder in der Praxis sehen.
Im Laufe des Films bemerkte er, dass Thomas mehrfach ein Gähnen unterdrückte. Peter passierte das Gleiche, daher erhob er keine Einwände, als sein Gast im Anschluss an Sleepy Hollow verkündete: „Ich glaub, ich muss ins Bett.“
Er geleitete Thomas in den Flur. „Möchtest du deinen übrigen Knabberkram wieder mitnehmen, oder wiederholen wir demnächst solchen Filmeabend?“
Thomas, bereits in Stiefeln, entgegnete: „Solchen Marathon bestimmt nicht. Zwei Filme maximal.“
„Kommt deine Tochter morgen?“
Sein Gast schüttelte den Kopf und schlüpfte in die Winterjacke. „Erst am 2. Weihnachtstag.“
„Dann lass uns doch morgen weitermachen.“ Wieso drängelte er eigentlich dermaßen energisch? Weil du ihn magst, flüsterte es in seinem Kopf.
„Gern.“ Thomas schenkte ihm ein Lächeln. „Zum Ausgleich bist du dann aber mein Gast.“
„Nur wenn ich die Pizzareste mitbringen darf.“
„Oh ja. Die war wirklich sehr, sehr lecker.“
„Hast du auch eine Filmbibliothek?“
„Auf jeden Fall kann ich etliche Kinderfilme bieten, wie Shrek oder Ice Age.“
„Schönes Kontrastprogramm zu heute. Wann darf ich bei dir aufschlagen?“
„Gegen fünf?“, schlug Thomas vor.
„Abgemacht. Dann bis morgen.“
„Bis morgen“, erwiderte Thomas, öffnete die Haustür und trat nach draußen. „Schlaf schön.“
Das tat er tatsächlich, beduselt von dem Alkohol und schönen Abend.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2020
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